3

Die an mein Ohr dringende Melodie schien zunächst die Treppe heraufzukommen, dann kurz auf der Stelle zu treten, um sich schließlich verzweifelt in den Treppenschacht zu stürzen – auf einmal nahm man die kurzen Momente von Stille zwischen den einzelnen Tönen wahr. Doch die Finger des Pianisten fingen die Melodie ein, setzten sie wieder auf die Stufen, und alles begann von vorn, nur einen Absatz tiefer. Der Ort, an dem dies geschah, erinnerte an das Treppenhaus auf dem Twerskoi Nummer acht, nur nahm die Treppe im Traum, nach oben wie nach unten, kein Ende. Ich verstand plötzlich, daß jedwede Melodie ihren genauen Sinn hat. Die gerade zu hören war, demonstrierte die metaphysische Unmöglichkeit des Selbstmords – nicht seine Verwerflichkeit, sondern seine Unmöglichkeit. Und außerdem wollte es mir in diesem Moment scheinen, als wären wir alle nur Töne, die einem unbekannten Pianisten unter den Fingern entgleiten, nichts als kleine Terzen, schwebende Sexten, dissonante Septimen in einer grandiosen Sinfonie, die ganz zu hören keinem von uns beschieden ist. Der Gedanke betrübte mich zutiefst; mit Trauer im Herzen tauchte ich aus den bleiernen Tiefen des Traums.

Einige Sekunden brauchte ich, um herauszubekommen, wo ich eigentlich war und was in jener seltsamen Welt vor sich ging, in die mich nun schon sechsundzwanzig Jahre lang allmorgendlich eine geheimnisvolle Kraft hinauskatapultierte. Ich trug eine schwere Jacke aus schwarzem Leder, Reithosen und Stiefel. Etwas drückte mir schmerzhaft in den Oberschenkel. Ich drehte mich auf die Seite und ertastete unter dem Bein die hölzerne Schatulle, in der die Mauserpistole steckte; ich sah mich um. Über mir wölbte sich ein Seidenbaldachin mit gelben Quasten von erlesener Schönheit. Der Himmel draußen vor dem Fenster war wolkenlos blau, und blaßrot schimmerten die Dächer in der kalten Wintersonne. Auf der anderen Seite des Boulevards, genau gegenüber meinem Fenster, war eine blechverkleidete Kuppel zu sehen, die mir im nächsten Moment wie der Bauch einer riesigen, Metall gewordenen Kreißenden erschien.

Plötzlich merkte ich, daß ich die Musik nicht geträumt hatte – sie kam von hinter der Wand. Ich überlegte, wie ich in diesen Raum geraten war, und da traf es mich wie ein elektrischer Schlag: Mir fiel ein, was gestern gewesen war und daß ich mich in Grigori von Ernens Wohnung befand. Ich sprang vom Bett, fegte zur Tür – und stoppte.

Nebenan, in dem Zimmer, wo Grigori von Ernen lag, spielte jemand Klavier, und zwar genau jene Mozart-Fuge in f-Moll, zu der mich den Abend zuvor das Kokain und die Melancholie inspiriert hatten. Mir wurde buchstäblich schwarz vor Augen – ich stellte mir einen Leichnam vor, über den ein Mantel geworfen war, und die Leichenfinger kamen hervor und griffen hölzern in die Tasten; ich begriff, daß der gestrige Alptraum noch nicht zu Ende war. Die Bestürzung, die mich erfaßte, ist schwer zu beschreiben. Ich blickte mich im Zimmer um, sah das große, hölzerne Kruzifix mit dem Leib Christi aus edlem Silber an der Wand, bei dessen Anblick mich ein seltsames Gefühl beschlich, etwas wie ein Déjà-vu – so als wäre mir dieser metallene Körper erst vor kurzem im Traum begegnet. Ich nahm das Kruzifix von der Wand, zog die Mauser aus der Tasche und trat auf Zehenspitzen hinaus in den Korridor. Mein Gedankengang war ungefähr folgender: Wenn man schon davon ausgeht, daß ein Toter Klavier spielen kann, so darf man wenigstens annehmen, daß er das Kreuz fürchtet.

Die Tür des Zimmers, in dem der Flügel stand, war angelehnt. Ich näherte mich ihr, wobei ich so leise wie möglich aufzutreten versuchte, und spähte hinein. Lediglich die Kante des Flügels war zu sehen. Ich atmete ein paarmal tief durch, stieß mit dem Fuß gegen die Tür, daß sie weit aufsprang, und tat einen Schritt in das Zimmer – das schwere Kreuz fest in der einen, die schußbereite Waffe in der anderen Hand. Als erstes sah ich Grigori von Ernens Stiefel aus der Ecke ragen; friedlich ruhte er unter seinem grauen, englischen Leichentuch.

Ich wandte mich zum Flügel um.

Dahinter saß der Mann in der schwarzen Bluse, dem ich tags zuvor im Restaurant begegnet war. Dem Anschein nach um die Fünfzig; geschwungener, buschiger Schnurrbart, angegraute Schläfen. Man konnte den Eindruck haben, daß er mein Erscheinen gar nicht bemerkt hatte – mit geschlossenen Augen, ganz in die Musik vertieft, saß er da. Sein Spiel war allerdings vorzüglich. Auf dem Deckel des Flügels sah ich eine Pelzmütze aus feinstem Karakullammfell mit rotem Moireband und einen bizarr geformten Säbel in prächtiger Scheide liegen.

»Guten Morgen«, sagte ich und ließ die Mauser sinken.

Der Mann hinter den Tasten hob die Lider und maß mich mit einem forschenden Blick. Seine Augen waren schwarz und stechend, ihrem beinahe physischen Druck standzuhalten bereitete mir einige Mühe. Als er das Kreuz in meiner Hand sah, huschte ein Lächeln über seine Lippen.

»Guten Morgen«, sagte er, ohne sein Spiel zu unterbrechen. »Freut mich zu sehen, daß Sie schon frühmorgens ans Seelenheil denken.«

»Was tun Sie hier?« fragte ich und legte das Kruzifix behutsam neben dem Säbel ab.

»Ich versuche mich«, sagte er, »an einem recht schwierigen Stück. Leider ist es für vier Hände geschrieben, und gleich kommt eine Stelle, mit der ich allein nicht zu Rande komme. Würden Sie so freundlich sein, mir zu helfen? Das Stück dürfte Ihnen ja bekannt sein.«

Wie in einer Art Trance steckte ich die Pistole weg, stellte mich neben ihn hin und griff, den Moment abpassend, in die Tasten. Mein Kontrapunkt hechelte dem Thema hinterher, ich verspielte mich mehrfach; dann fiel mein Blick wieder auf Grigori von Ernens gegrätschte Beine, und die ganze Absurdität der Situation wurde mir gewahr. Ich taumelte zur Seite und starrte meinen Besucher an. Der hörte zu spielen auf und saß einige Zeit reglos, wie in Gedanken versunken, da. Dann lächelte er, streckte die Hand aus und ergriff das auf dem Instrument liegende Kruzifix.

»Furchtbar«, sagte er. »Ich habe nie verstanden, warum Gott uns Menschen ausgerechnet in einem häßlichen Menschenkörper erscheinen mußte. Um wieviel angemessener wäre, sagen wir, eine vollkommene Melodie – eine, die man wieder und wieder hören möchte.«

»Wer sind Sie?« fragte ich.

»Ich heiße Tschapajew«, sagte der Fremde.

»Der Name sagt mir nichts«, erwiderte ich.

»Weshalb ich ihn auch benutze«, sagte er. »Für meine Freunde bin ich Wassili Iwanowitsch. Aber das wird Ihnen vermutlich genauso wenig sagen.«

Er stand auf und reckte sich; dabei knackten seine Gelenke vernehmlich. Der dezente Duft eines teuren englischen Eau de Cologne wehte mir entgegen.

»Sie haben gestern in der ›Spieldose‹ Ihr Köfferchen vergessen«, sagte er, und seine schwarzen Augen schienen mich zu durchbohren. »Da ist es.«

Ich blickte zu Boden und sah neben einem Fuß des Flügels Grigoris schwarzes Hebammenköfferchen stehen.

»Ich danke Ihnen«, sagte ich. »Wie sind Sie eigentlich hier hereingekommen?«

»Ich hatte zu läuten versucht«, sagte er, »aber die Klingel funktioniert wohl nicht. Und die Schlüssel steckten. Ich sah, daß Sie schliefen, und beschloß zu warten.«

»Aha«, sagte ich.

In Wirklichkeit verstand ich gar nichts. Wie hatte er erfahren, wo ich zu finden war? Zu wem war er überhaupt gekommen – zu mir oder zu Grigori von Ernen? Wer war er, was wollte er? Und wieso – diese Frage quälte mich am allermeisten – wieso spielte er diese verdammte Fuge? Ahnte er etwas? (Um die bemäntelte Leiche in der Ecke machte ich mir, nebenbei gesagt, die wenigsten Sorgen – in Tschekistenquartieren war dies sozusagen ein üblicher Einrichtungsgegenstand.)

Tschapajew schien meine Gedanken zu lesen.

»Wie Sie gewiß schon vermuten«, sagte er, »ist es nicht nur das Köfferchen, das mich zu Ihnen führt. Ich reise noch heute an die Ostfront, wo ich eine Division zu befehligen habe. Ich benötige einen Kommissar. Der vorige … Nun ja, sagen wir, er hat die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Ich war gestern Zeuge Ihres Agitationseinsatzes, und Sie machten keinen üblen Eindruck auf mich. Babajasin ist übrigens auch sehr zufrieden. Ich möchte, daß Sie in den mir anvertrauten Truppenteilen die politische Arbeit übernehmen.«

Mit diesen Worten knöpfte er die Brusttasche seines Hemdes auf und reichte mir ein doppelt gefaltetes Blatt Papier. Ich entfaltete es und las:

 

An Gen. Ernenzoff. Auf Befehl des Gen. Dsershinski haben Sie sich umgehend der Verfügung des Kommandeurs der Asiatischen Reiterdivision Gen. Tschapajew zwecks Verschärfung der politischen Arbeit zu unterstellen. Babajasin

 

Darunter prangte der mir bereits bekannte verwaschene lila Stempel. Wer ist bloß dieser Babajasin? dachte ich verwirrt und hob den Blick.

»Wie darf man Sie denn nun wirklich nennen?« fragte Tschapajew augenzwinkernd. »Grigori oder Pjotr?«

»Pjotr«, sagte ich und leckte mir über die ausgetrockneten Lippen. »Grigori ist mein altes literarisches Pseudonym. Das gibt immerzu Verwechslungen, müssen Sie wissen. Manche nennen mich immer noch Grigori, wie sie es von früher gewohnt sind, andere Pjotr.«

Tschapajew nickte. Er nahm Säbel und Mütze vom Flügel.

»Also, Pjotr«, sagte er. »Mag sein, daß es Ihnen ungelegen kommt, aber unser Zug geht bereits heute. Nichts zu machen. Es ist Krieg. Haben Sie in Moskau vorher noch etwas zu erledigen?«

»Nein«, sagte ich.

»In diesem Fall schlage ich vor, daß wir gemeinsam aufbrechen, und zwar unverzüglich. Gleich geht das Regiment der Weber aus Iwanowo auf Transport, da muß ich hin, und Sie möchte ich gern dabeihaben. Gut möglich, daß Sie schon einen Auftritt bekommen. Haben Sie viel Gepäck?«

»Nur das da«, sagte ich und deutete auf das Köfferchen.

»Hervorragend. Ich werde noch heute anweisen, daß man Sie im Stabswaggon unterbringt und versorgt.«

Er begab sich zur Tür.

Ich nahm mein Köfferchen und trat hinter ihm in den Flur. In meinem Kopf herrschte ein heilloses Chaos. Der Mann, der vor mir den Flur durchquerte, machte mir angst. Ich wußte noch nicht, wer er war – seine Manieren ließen überhaupt nicht an einen roten Kommandeur denken, und doch schien er einer zu sein; außerdem waren Stempel und Unterschrift auf dem heutigen Befehl die gleichen wie gestern. Man durfte daraus schließen, daß dieser Mensch genügend Einfluß besaß, an ein und demselben Morgen bei dem obersten Bluthund Dsershinski und jenem obskuren Babajasin vorzusprechen und günstige Order zu erlangen.

An der Garderobe blieb Tschapajew stehen und nahm einen langen, blauen Mantel vom Haken; quer über die Vorderseite waren drei Streifen von rotschillerndem Moiré genäht. Solche Mäntel galten als der letzte Rotgardistenschrei – üblicherweise waren diese Brustbänder allerdings aus gewöhnlichem roten Fahnentuch. Tschapajew zog den Mantel an, setzte die Mütze auf und schnallte sich den Riemen mit der Pistole um, zuletzt hakte er den Säbel ein und wandte sich zu mir um. Ein seltsamer Orden an seiner Brust fiel mir ins Auge: ein Silberstern mit Kügelchen an den Zackenenden. Kein weiteres Symbol, keine Inschrift, nichts. Tschapajew bemerkte meinen Blick.

»Ein Neujahrsschmuck?« fragte ich.

Tschapajew lachte gutmütig auf.

»Nein«, sagte er. »Das ist der Oktoberstern-Orden.«

»Nie gehört.«

»Mit etwas Glück verdienen Sie sich den auch. Sind Sie so weit?«

Ich beschloß, den Moment zu nutzen, da der Tonfall unseres Gesprächs halbwegs inoffiziell schien. »Genosse Tschapajew«, fing ich an, »ich hätte da eine Frage an Sie, die Ihnen merkwürdig vorkommen mag.«

»Ich höre«, sagte er mit höflichem Lächeln und klopfte mit der langen gelben Stulpe seines Handschuhs rhythmisch gegen die Säbelscheide.

»Sagen Sie ehrlich«, ich blickte ihm direkt in die Augen, »wieso haben Sie Klavier gespielt? Und wieso gerade dieses Stück?«

Tschapajew schmunzelte in seinen Bart.

»Was denken Sie«, sagte er. »Als ich in Ihr Zimmer schaute, da lagen Sie und schliefen und pfiffen so ein bißchen im Traum vor sich hin, und es war – zugegeben, nicht ganz sauber intoniert – diese Fuge. Und ich bin ein großer Mozartfreund, müssen Sie wissen. Ich habe früher am Konservatorium studiert und mich auf eine Laufbahn als Musiker vorbereitet. Aber seither hat sich vieles im Leben verändert. Wieso interessiert Sie das so sehr?«

»Nur so«, sagte ich. »Ein seltsamer Zufall, weiter nichts.«

Wir traten ins Treppenhaus. Die Schlüssel steckten tatsächlich im Schloß. Mechanisch sperrte ich ab, warf die Schlüssel in die Jackentasche und lief hinter Tschapajew die Treppe hinunter Dabei fiel mir ein, daß ich nie im Leben die Angewohnheit besessen hatte zu pfeifen. Schon gar nicht im Traum.

Beim Hinaustreten auf die sonnige, frostige Straße fiel mein Blick als erstes auf den langen, graugrünen Panzerwagen – denselben, den ich am Vortag auf der Straße vor dem Varieté hatte stehen sehen. Solch ein Auto war mir bis dahin noch nicht begegnet – offenbar eine Novität aus den Werkstätten der Vernichtungswissenschaften. Die Außenhaut war dicht an dicht mit groben, halbmondförmigen Nietenköpfen bedeckt; die Motorhaube erinnerte an einen stumpfen Rüssel und war von zwei mächtigen Scheinwerfern flankiert; die stählerne, leicht abgewinkelte Vorderfront schaute mit ihren beiden schrägen Sehschlitzen, die den halbgeschlossenen Augen eines Buddhas glichen, drohend in Richtung Nikitskaja Ploschtschad. Obenauf schließlich der zylindrische Geschützturm; das gegen den Twerskoi-Boulevard gerichtete MG-Rohr war seitlich durch zwei sich nach vorn verjüngende Stahlblenden geschützt. In der Bordwand gab es eine kleine Tür.

Scharen von Kindern umringten das Gefährt – manche mit Schlitten oder auf Schlittschuhen. Während die ausgewachsenen Idioten mit dem Umbau einer imaginären Welt befaßt waren, lebten diese Kinder immerhin noch in der Wirklichkeit: zwischen Schneehaufen im Sonnenlicht, auf den schwarzen Spiegeln zugefrorener Gewässer und in der mystischen Stille zugeschneiter nächtlicher Hinterhöfe. Zwar waren auch diese Kinder bereits vom Bazillus des über Rußland hereingebrochenen Wahnsinns befallen (man sah es an den Blicken, die sie auf Tschapajews blitzenden Säbel und meine Mauserpistole warfen), doch schimmerte in ihren blanken Augen ein Angedenken an etwas, das mir lange entfallen war – vielleicht die unbewußte Erinnerung an den Ursprung allen Seins, von dem sie sich, wiewohl schon eingesunken in des Lebens schändliche Wüsten, noch nicht allzu weit entfernt hatten.

Tschapajew ging zu dem Panzerwagen und klopfte ein paarmal gegen die Bordwand. Sofort sprang der Motor an, und das Hinterteil des Fahrzeugs hüllte sich in eine blaugraue Rauchwolke. Gerade als Tschapajew die Tür öffnete, hörte ich in meinem Rücken Bremsen quietschen. Neben uns kam eine Limousine zum Stehen. Ihr entstiegen vier Männer in schwarzen Lederjacken und verschwanden in demselben Eingang, aus dem wir gerade gekommen waren. Mein Herz begann zu rasen. Sie kommen mich holen! dachte ich. Der Gedanke kam mir wohl deshalb, weil die vier mich an die Schauspieler in den schwarzen Regenmänteln erinnerten, die gestern Raskolnikows Leiche von der Bühne getragen hatten. Einer der Männer blieb in der Haustür stehen und sah zu uns herüber.

»Schneller«, rief Tschapajew mir aus dem Panzerwagen zu. »Sonst wird es hier drinnen zu kalt.«

Ich warf mein Köfferchen ins Wageninnere, kletterte hastig hinterher und schlug die Tür zu.

Das Interieur des düsteren Gefährts begeisterte mich auf Anhieb. Der kleine, durch eine Zwischenwand vom Chauffeur abgetrennte Raum wirkte wie ein Coupé im Nordexpreß – zwei schmale, lederbezogene Bänke, dazwischen ein kleiner Tisch und ein Teppich auf dem Fußboden erzeugten, ungeachtet der Enge, ein Gefühl von Behaglichkeit. In das Dach war ein rundes Oberlicht eingelassen, durch das der massive Sockel des verhüllten Maschinengewehrs zu sehen war; zum Geschützturm hinaufführte eine kleine, durchbrochene Wendeltreppe, die in einer Art Drehstuhl mit Fußstützen endete. Als Beleuchtung diente ein elektrisches Lämpchen, hell genug, um ein Bild betrachten zu können, das an den vier Rahmenecken an die Wand geschraubt war. Es war eine kleine Landschaft im Stile John Constables: Brücke über einen Fluß, Gewitterwolke am Horizont nebst ein paar romantischen Ruinen.

Tschapajew griff nach dem Trichter der Wechselsprechanlage und befahl:

»Zum Bahnhof.«

Sanft setzte sich der Panzerwagen in Bewegung – man bekam es im Inneren kaum mit. Tschapajew ließ sich auf einer der Bänke nieder, mit einer Handbewegung lud er mich ein, gegenüber Platz zu nehmen.

»Ein phänomenales Fahrzeug«, sagte ich und meinte es durchaus ehrlich.

»Ja«, sagte Tschapajew, »der Wagen ist ganz ordentlich.

Wobei ich die moderne Technik eigentlich nicht mag. Wenn Sie erst mein Pferd gesehen haben …«

Er langte unter den Tisch und holte ein zusammengeklapptes Spielbrett hervor.

»Wie wär's mit einer Partie Tricktrack?« fragte er.

Ich zuckte mit den Achseln. Er klappte das Brett auf und legte die schwarzen und weißen Steine aus.

»Genosse Tschapajew«, begann ich, »worin besteht meine Arbeit genau? Um welche Fragen wird es gehen?«

Mit einer gemessenen Bewegung glättete Tschapajew seinen Schnurrbart.

»Wissen Sie, Pjotr, unsere Division ist ein komplizierter Organismus. Ich nehme an, Sie werden nach und nach in den Alltag hineinfinden und Ihren Platz, wie man so sagt, selbst ausmachen. Es wäre verfrüht, darüber zu reden, wo genau er sein wird. Ihr gestriger Auftritt hat mir aber gezeigt, daß Sie ein tatkräftiger Mann sind, noch dazu mit einem Gespür für das Wesentliche. Solche Leute haben wir nötig. Sie sind am Zug.«

Während ich die Steine auf das Brett warf, überlegte ich, wie ich mich verhalten sollte. Daß er tatsächlich ein Kommandeur der Roten war, schien mir kaum glaubhaft – aus irgendeinem Grunde meinte ich zu wissen, daß er das gleiche wahnwitzige Spiel spielte wie ich, nur mit mehr Erfahrung und darum virtuoser und wohl gar nach eigenem Gutdünken. Andererseits gründeten meine Vermutungen ausschließlich auf seiner intelligenten Art zu reden und der hypnotischen Kraft seiner Augen, was für sich genommen nichts bedeuten mochte. Auch der arme Grigori zum Beispiel war außerordentlich intelligent gewesen, und Dsershinski, der Häuptling der Tscheka, galt in okkulten Kreisen als begabter Hypnotiseur. Eigentlich, so dachte ich, war schon die Frage falsch gestellt: Kein einziger der roten Kommandeure war im Grunde ein roter Kommandeur. Jeder von ihnen mühte sich nach Kräften, einem gewissen infernalischen Maß zu genügen und sich so zu geben, wie ich es tags zuvor getan hatte, nur skrupelloser. Was Tschapajew anging, so konnte ich die Person, die sein militärischer Aufzug vorstellte, nicht ganz ernst nehmen. Andere taten es augenscheinlich – Babajasins Order zeigte dies ebenso wie der Panzerwagen, in dem wir saßen. Mir war nicht klar, was er von mir wollte, doch beschloß ich fürs erste, mich an die von ihm vorgeschlagenen Spielregeln zu halten; ohnehin hegte ich zu ihm ein instinktives Vertrauen. Ich weiß nicht, wie es kam, doch wähnte ich diesen Menschen ein paar Stockwerke über mir in dem unendlichen Treppenschacht unseres Daseins, den ich am Morgen im Traum gesehen hatte.

»Bedrückt Sie etwas?« fragte Tschapajew, während er die Steine über das Brett flitzen ließ. »Irgendein Gedanke, der Sie quält?«

»Das ist vorbei«, erwiderte ich. »Aber sagen Sie, ist Babajasin der Entschluß leichtgefallen, mich an Sie abzutreten?«

»Nein, Babajasin war nicht dafür«, sagte Tschapajew. »Dafür schätzt er Sie zu sehr. Ich mußte die Sache mit Dsershinski regeln.«

»Heißt das«, fragte ich, »daß Sie persönlich miteinander bekannt sind?«

»Ja.«

»Na, so was! Dann kennen Sie womöglich auch Lenin, Genosse Tschapajew?« fragte ich mit leichter Ironie.

»Flüchtig«, erwiderte er.

»Das möcht ich sehen.«

»Warum nicht. Wenn Sie wollen, sofort.«

Das war ein starkes Stück. Verdutzt blickte ich ihn an, doch er blieb ernst. Seelenruhig schob er das Spielbrett beiseite, zog den Säbel aus der Scheide und legte ihn auf den Tisch.

Dieser Säbel hatte, so muß man sagen, manches Merkwürdige an sich. Sein langer, silberner Griff war reich ziseliert: ein Kreis mit einem hockenden Hasen, zwei Vögel links und rechts, der Raum dazwischen mit feinstem Ornament gefüllt. Der Griff endete in einem Knauf aus Jade, an den eine geknüpfte Seidenschnur geknotet war, kurz und dick, mit lila Quaste. Hinter dem Griff folgte ein rundes, schmiedeeisernes Stichblatt; die blitzende Klinge war lang und leicht gekrümmt – kurz, es war im Grunde gar kein Säbel, sondern eines dieser fernöstlichen Schwerter, vermutlich ein chinesisches. Ich kam jedoch nicht dazu, die Waffe noch eingehender zu betrachten, denn Tschapajew löschte das Licht.

Nun saßen wir in völliger Dunkelheit. Ich sah absolut nichts, hörte nur das gleichmäßige Brummen des Motors (die Schalldämpfung des gepanzerten Fahrzeugs war, nebenbei gesagt, vorzüglich, nicht der geringste Straßenlärm drang herein) und spürte ein leichtes Schaukeln. Tschapajew rieb ein Streichholz an und hielt es über den Tisch.

»Schauen Sie auf die Klinge«, sagte er.

Ich blickte in den verschwommenen rötlichen Widerschein, der sich auf der stählernen Fläche abzeichnete. Er hatte eine merkwürdige Tiefe – so als sähe ich durch eine leicht beschlagene Scheibe in einen langen, kaum beleuchteten Korridor. Über den Lichtfleck glitt ein schwaches Flimmern, und dann sah ich einen kraftlosen alten Mann in aufgeknöpfter Jacke den Korridor entlangschleichen, kahlköpfig und unrasiert; die rötlichen Stoppeln auf seinen Wangen gingen in einen struppigen Kinn- und Oberlippenbart über. Der Mann bückte sich, streckte die zittrigen Hände aus, und ich sah nun, daß sich ein Kätzchen mit großen, traurigen Augen in eine Ecke des Korridors drückte. Das Bild war außerordentlich klar, wenn auch verzerrt, wie von einer Christbaumkugel gespiegelt. Plötzlich mußte ich husten. Da zuckte Lenin zusammen (er war es, kein Zweifel!), drehte sich um und starrte in meine Richtung. Ich hatte den Eindruck, daß er mich sah; eine Schrecksekunde lang waren seine Augen weit, dann wurde der Blick verschlagen und ein bißchen verschämt; grinsend drohte mir Lenin mit dem Finger und sagte:

»Warte nur, balde ruhest auch du!«

Tschapajew blies auf das Hölzchen, und das Bild fiel in sich zusammen; ich sah gerade noch, wie das Kätzchen Reißaus nahm, und wußte im selben Moment, daß ich all das nicht von der Klinge des Säbels abgelesen hatte; auf unerklärliche Weise war ich eben noch dort gewesen und hätte, dessen war ich mir sicher, das Kätzchen mit Händen greifen können.

Das Licht ging an. Entgeistert starrte ich auf Tschapajew, der den Säbel schon in die Scheide zurückgesteckt hatte.

»Wladimir Iljitsch beim Wiederlesen von Goethe«, sagte er.

»Was war das?« fragte ich.

Tschapajew zuckte die Achseln.

»Lenin«, sagte er.

»Hat er mich gesehen?«

»Wohl nicht direkt. Ich denke, er hat gespürt, daß jemand im Raum war. Aber das wird ihn nicht besonders aufgeregt haben. Er ist so etwas gewöhnt. Auf ihn sind viele Blicke gerichtet.«

»Aber wie haben Sie denn … Ich meine, wie ging das? War es Hypnose?«

»Nicht mehr als alles übrige«, sagte er, mit dem Kopf zur Wand deutend und auf das, was dahinter lag.

»Wer sind Sie wirklich?« fragte ich.

»Das fragen Sie mich heute schon zum zweitenmal. Und es bleibt dabei, daß ich Tschapajew heiße. Das ist vorläufig alles, was ich Ihnen sagen kann. Lassen Sie den Dingen ihren Lauf. Sie dürfen mich aber im privaten Gespräch ruhig mit Wassili Iwanowitsch ansprechen. ›Genosse Tschapajew‹ klingt so furchtbar feierlich.«

Ich wollte noch weitere Erklärungen fordern, als eine plötzliche Eingebung mich davon abhielt. Ich verstand, daß meine Hartnäckigkeit zu nichts führen würde; sie konnte sogar schaden. Das Verblüffendste aber war, daß dieser Gedanke nicht von mir stammte – ich spürte, er kam, wie auch immer, von Tschapajew.

Das Auto verlangsamte die Fahrt. Aus dem Wechselsprecher klang die verzerrte Stimme des Chauffeurs:

»Der Bahnhof, Wassili Iwanowitsch!«

»Hervorragend«, gab Tschapajew zur Antwort.

Einige Minuten wurde hin- und hermanövriert, bevor der Wagen endgültig zum Stillstand kam. Tschapajew setzte die Mütze auf, erhob sich von der Bank und öffnete den Schlag. Kalte Luft strömte in die Kabine, mit ihr drangen die rötlichen Wintersonnenstrahlen und der dumpfe Lärm Hunderter durcheinanderschwirrender Stimmen herein.

»Vergessen Sie Ihr Köfferchen nicht«, sagte Tschapajew und sprang behende auf die Erde. Das gemütliche Halbdunkel des Wagens verlassend, folgte ich ihm blinzelnd nach.

Wir befanden uns mitten auf dem Vorplatz des Jaroslawler Bahnhofs, umgeben von einer wogenden Menge Menschen, die unterschiedlich gekleidet, doch allesamt bewaffnet waren und zu etwas wie einem Karree formiert standen. Vor den Reihen liefen irgendwelche roten Kommandeure niederer Chargen mit blankgezogenen Säbeln auf und ab. Als Tschapajew auftauchte, ertönten zunächst einzelne Rufe, dann schwoll der allgemeine Lärm der Stimmen an und verfestigte sich Sekunden später zu einem donnernden »Hurra«, das den Platz mehrere Male umrundete.

Der Panzerwagen parkte neben einem mit gekreuzten Flaggen geschmückten Bretterpodium, das einem Schafott nicht unähnlich sah. Einige Militärs standen oben und unterhielten sich; bei unserem Erscheinen applaudierten sie. Tschapajew eilte die knarrenden Stufen hinauf, und ich sah zu, daß ich hinterherkam. Mit einigen der Offiziere (einer von ihnen im gegürteten Biberpelz) wechselte Tschapajew einen flüchtigen Gruß, trat dann nach vorn an die Brüstung der Richtstatt und hob die Hand mit der gelben Stulpe, wodurch er die Menge zum Schweigen brachte.

»Jungs!« rief er mit etwas knödelnder Stimme. »Weswegen ihr hier seid, wißt ihr. Muß man nich groß palavern. Sehn wir mal, wie die Sache läuft. Werden das schon schaukeln. Wär ja gelacht, was? An der Front is kein Zuckerschlecken natürlich, is ja mal klar. Mit Däumchendrehen is da nich viel, was dachtet denn ihr.«

Mir fiel auf, wie plastisch Tschapajews Bewegungen waren: Während er sprach, drehte er sich gleichmäßig nach allen Seiten und teilte die Luft vor seiner Brust mit energischen Hieben der gelb behandschuhten Rechten. Der Sinn seiner immer hurtiger dahinfließenden Rede entglitt mir; danach zu urteilen, wie die Arbeiter die Hälse reckten, wie sie lauschten und nickten und hin und wieder zufrieden in sich hineingrinsten, schien er etwas zu sagen, was ihnen ohne weiteres einleuchtete.

Jemand zog mich am Ärmel. Erschrocken fuhr ich herum und sah einen jungen Mann vor mir stehen: klein, mit schütterem Oberlippenbärtchen, rotgefrorenen Wangen und Augen von der Farbe wäßrigen Tees, die an einem klebenblieben.

»Ff-fuh«, sagte er.

»Was?«

»Ff-fuh … Furmanow«, sagte er und streckte mir eine breite Hand mit kurzen Fingern entgegen.

»Schöner Tag heute«, erwiderte ich und preßte die Hand in meiner.

»Ich bin der Kh-kh-kommissar des Ww-weberregiments«, sagte er. »Wir haben miteinander das Vw-vergnügen. Gleich sind Sss-sie dran. Bitte ku-kurz fassen. Der T-t-transport wartet.«

»In Ordnung.«

Argwöhnisch betrachtete er meine Hände.

»Sind Sie in der Pa-pa-partei?«

Ich nickte.

»Sch-sch-schon lange?«

»Ungefähr zwei Jahre.«

Furmanow schaute zu Tschapajew hinüber.

»Ein Ha-ha-haudegen. Aber man muß auf ihn aufpassen. Ich ha-hab gehört, er üh-übertreibt öfters. Bei den Soldaten hat er einen Stein im B-b-b-b … im Brett. Sie verstehen ihn.«

Er nickte zu der stumm lauschenden Menge auf dem Platz hinunter, über die Tschapajews Worte flogen:

»Der Sache keine Schande machen! Das ist Sache! Hauptsache! Einer steht fürn andern ein, damit keiner nich nackig dasteht, nich wahr. Und was wär das fürn Krieg, wenn einem der Arsch schon vorher auf Grundeis ginge, sagt doch mal? Das sag ich euch, da beißt man sich durch, da beißt die Maus kein Faden ab, bei meinem Kommandeursbohei, und jetzt spricht zu euch der Kommissar.«

Tschapajew trat von der Brüstung zurück.

»Jetzt du, Petka«, befahl er, daß alle es hören konnten.

Ich ging nach vorn.

Es fiel einem nicht leicht, auf diese Menschen hinunterzublicken und sich vorzustellen, welch traurige Geschicke ihrer harrten. Man betrog sie wieder einmal, wie sie von Kindesbeinen an betrogen worden waren, und so blieb für sie alles beim alten; aber daß der Betrug – damals wie heute – so plump, so possenhaft primitiv vonstatten ging, sprach jeder Menschlichkeit hohn. Die Gefühle und Gedanken derer, die da unten standen, waren so ärmlich wie die Fetzen, die sie am Leib trugen, mit ihnen gingen sie, eskortiert von einer dümmlichen Zirkusnummer dahergelaufener Leute, in den Tod. Aber, so dachte ich weiter, unterschied sich meine Lage denn von der ihren? War ich, da ich die wahre Natur der mein Leben obwaltenden Mächte genauso wenig begriff wie sie (oder, schlimmer noch, sie zu begreifen mir einbildete), um einen Deut besser dran als diese besoffenen Proleten, die man für die Parole von der »Internationale« sterben schickte? Nur weil ich Hegel und Herzen und irgendeinen Hölderlin las? Lächerlich.

Etwas sagen mußte ich gleichwohl.

»Genossen Arbeiter!« grölte ich. »Euer Kommissar, Genosse Furmanow, hat darum gebeten, daß ich mich kurz fasse, denn der Transport steht bereit. Ich denke, wir werden noch Zeit zum Reden haben, jetzt möchte ich euch bloß sagen, daß mir das Herz in Flammen steht. Heute, Genossen, habe ich Lenin gesehen! Hurra!«

Ein einziges, langanhaltendes Dröhnen legte sich über den Platz. Als der Lärm verebbt war, fuhr ich fort:

»Und nun, Genossen, für euch die letzten Worte auf den Weg vom Genossen Furmanow!«

Furmanow nickte mir dankbar zu und schritt zur Brüstung. Tschapajew zwirbelte sich den Bart und lachte, während er etwas mit seinem Nebenmann im Biberpelz besprach. Als er mich herankommen sah, klopfte er dem Offizier auf die Schulter, nickte den übrigen zu und verließ die Tribüne. Derweil hatte Furmanow zu sprechen begonnen:

»Genossen! Uns bleiben noch wenige Minuten. Wenn die letzten Glocken verklungen sein werden, legen wir ab zu fernen Gestaden voller mächtiger, marmorner Klippen, an denen wir uns stählen werden.«

Er sprach jetzt, ohne zu stottern, fließend und mit klingender Stimme.

Wir schlugen uns durch die Phalanx der Arbeiter (als ich sie, die ehrerbietig Platz machten, so ganz aus der Nähe sah, kam mir mein Mitgefühl fast gänzlich abhanden) und liefen zum Bahnhof hinüber. Tschapajew ging schnellen Schrittes, so daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen. Ab und zu erwiderte er einen Gruß, indem er die Hand mit der gelben Stulpe kurz an die Mütze riß. Sicherheitshalber tat ich ihm diese Geste nach und beherrschte sie nach kurzer Zeit so vortrefflich, daß ich mich all diesen über den Bahnhof wuselnden Möchtegern-Übermenschen beinahe schon zugehörig fühlte.

Als wir den Bahnsteig endlich erreicht und überquert hatten, sprangen wir hinunter auf den gefrorenen Boden und irrten nunmehr durch das Labyrinth der verschneiten Waggons auf den Rangiergleisen. Überall schauten wir in müde Gesichter; die immergleiche Grimasse der Verzweiflung ließ all diese Männer wie zu einer neuen Rasse verschmelzen. Mir fiel ein Gedicht von Solowjow dazu ein, und ich mußte lachen.

»Was haben Sie?« fragte Tschapajew.

»Nichts weiter«, sagte ich. »Ich weiß jetzt, was Panmongolismus ist.«

»Was denn?«

»Ach, so eine Lehre«, sagte ich, »die zu Zeiten von Dschingis-Khan in Polen Mode war.«

»Aha«, sagte Tschapajew. »Interessant, was Sie so für Wörter kennen.«

»Na, im Vergleich zu Ihnen ist es bei mir nicht weit her. Das wollte ich Sie noch fragen: Was ist denn ein Bohei?«

»Ein was?« fragte Tschapajew und runzelte die Stirn.

»Ein Bohei«, wiederholte ich.

»Wo haben Sie das denn aufgeschnappt?«

»Wenn ich mich nicht irre, haben Sie in der Rede vorhin von Ihrem Kommandeursbohei gesprochen.«

»Ach so«, Tschapajew schmunzelte, »jetzt weiß ich, wovon Sie reden. Wissen Sie, Pjotr, wenn man zu den Massen spricht, ist es vollkommen gleichgültig, ob die Worte, die man wählt, für einen selbst Sinn haben. Wichtig ist nur, daß die anderen sie verstehen. Man muß auf die Erwartungen der Massen eingehen. Manche erreichen das, indem sie sich die Sprache aneignen, die die Masse spricht. Ich bevorzuge den direkteren Weg. Wenn Sie also wissen wollen, was ein Bohei ist, dürfen Sie nicht mich fragen. Fragen Sie die, die auf dem Platz standen.«

Mir war, als verstünde ich, was er meinte. Schon vor längerem hatte ich einmal ganz ähnliche Schlüsse gezogen, nur betrafen sie damals Gespräche über Kunst, die mich ob ihrer Einförmigkeit und Ziellosigkeit allzeit deprimierten. Da mich die Art meiner Betätigungen zwangsläufig mit einer Vielzahl hartgesottener Hohlköpfe aus literarischen Kreisen zusammenbrachte, hatte ich die Fähigkeit entwickelt, an ihren Gesprächen teilzuhaben, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, worum sie sich gerade drehten, wobei ich mit so absurden Wörtern wie »Realismus«, »Theurgie« oder »theosophischer Koks« frei zu jonglieren lernte. In Tschapajews Terminologie hieß das: die Sprache zu lernen, die die Masse spricht. Selbst aber, soviel verstand ich, gab er sich gar nicht die Mühe, den Sinn der Wörter, die er benutzte, zu ergründen. Wie er das anstellte, war mir allerdings unklar. Vielleicht fiel er in eine Art Trance und empfing so die Emanationen in der Luft liegender Erwartungen, um daraus das Muster zu stricken, das der Menge vertraut war.

Den Rest des Weges schwiegen wir. Tschapajew führte mich immer weiter weg vom Bahnhof; zwei-, dreimal waren wir schon unter stillgelegten Zügen hindurchgekrochen. Es herrschte Ruhe, nur von ferne tönten manchmal die übertrieben schrillen Pfiffe der Lokomotiven. Endlich blieben wir vor einer Reihe von Waggons stehen – darunter war ein gepanzerter. Auf dessen Dach rauchte anheimelnd der Schornstein, und an der Tür hielt jemand Wache. Es war ein stattlicher Bolschewik mit gegerbtem asiatischen Gesicht, den ich insgeheim sofort »Baschkire« taufte.

Wir stiegen also an dem salutierenden Baschkiren vorbei in den Waggon und standen auf einem kurzen Gang. Tschapajew wies auf eine der Türen.

»Das ist Ihr Coupé«, sagte er und zog seine Uhr aus der Tasche »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich Sie ein Weilchen allein lassen – ich habe noch ein paar Anweisungen zu geben. Die Lokomotive und die Wagen mit den Webern müssen angehängt werden.«

»Der Kommissar von denen, dieser Furmanow, hat mir nicht gefallen«, sagte ich. »Eine künftige Zusammenarbeit könnte schwierig werden.«

»Zerbrechen Sie sich doch nicht den Kopf über Dinge, die nicht in der Gegenwart liegen«, sagte Tschapajew. »Das Künftige, wie Sie es nennen, will erst einmal heraufbeschworen sein. Vielleicht wird es in Ihrem Künftigen gar keinen Furmanow geben. Vielleicht gibt es dort nicht einmal Sie.«

Ich wußte nicht, was ich auf solche Merkwürdigkeiten sagen sollte, und schwieg.

»Richten Sie sich ein, und entspannen Sie ein wenig«, sagte er. »Wir sehen uns zum Abendessen.«

Das Coupé machte einen verblüffend zivilen Eindruck; vor das Fenster in der gepanzerten Wand war eine Gardine gezogen, und auf dem kleinen Tisch stand eine Vase mit Nelken. Plötzlich fühlte ich, wie ausgelaugt ich war, und ließ mich sogleich auf dem Bett nieder; da saß ich und konnte mich eine Zeitlang nicht mehr rühren. Dann fiel mir ein, daß ich mich tagelang nicht gewaschen hatte; ich trat hinaus auf den Gang. Und seltsam: Hinter der ersten Tür, die ich aufs Geratewohl öffnete, waren Waschraum und Toilette.

Ich genoß die heiße Dusche (anscheinend wurde das Wasser mit einem Kohleofen erhitzt), kehrte zurück ins Coupé und entdeckte, daß das Bett inzwischen bezogen war, auf dem Tisch dampfte ein Glas starker Tee. Ich trank mich satt, streckte mich auf dem Bett aus und schlummerte, berauscht vom fast vergessenen Duft des frisch gestärkten Lakens, sehr bald ein.

Als ich erwachte, war es beinahe dunkel. Den Waggon erschütterte ein rhythmisches Beben, die Räder ratterten über Schienenstöße. Auf dem Tisch (da, wo vorhin das leere Teeglas gestanden hatte) fand sich nun, wer weiß woher, ein Bündel Kleider: darin ein tadelloser schwarzer Anzug, ein Paar glänzende Lackschuhe, Hemd, Unterwäsche und mehrere Krawatten – man durfte offenbar wählen. Ich wunderte mich über gar nichts mehr. Anzug und Schuhe paßten wie angegossen; nach einigem Zögern entschied ich mich für eine schwarzgepunktete Krawatte und besah mich in dem Spiegel, der in der Tür eines Wandschranks eingelassen war. Der Anblick stellte mich zufrieden, auch wenn der Stoppelbart sich etwas unvorteilhaft auswirkte. Ich zog eine der blaßlila Nelken aus der Vase, knickte den Stengel ab und fädelte mir die Blüte ins Knopfloch. Wie unerreichbar schön erschien mir in diesem Moment mein früheres Petersburger Leben!

Ich verließ das Coupé, näherte mich der Tür am Ende des Gangs und klopfte. Es kam keine Antwort. Ich klinkte die Tür auf und blickte in einen geräumigen Salon. In seiner Mitte stand ein Tisch, gedeckt für drei, mit leichten Speisen und einigen Flaschen Champagner; außerdem gab es Kerzen, deren Flammen im Takt mit dem Rattern der Räder zuckten. Es roch ein klein wenig nach Zigarre. Die Wände waren in hellen Goldtönen tapeziert; dem Tisch gegenüber befand sich ein großes Fenster, hinter dem sich die Lichter der Nacht langsam durch die Dunkelheit schnitten.

In meinem Rücken regte sich etwas. Ich zuckte zusammen und wandte mich um. Hinter mir stand der Baschkire, den ich vor dem Waggon gesehen hatte. Er warf mir einen stoischen Blick zu, kurbelte dann das in der Ecke stehende Grammophon mit dem silberglänzenden Trichter an und senkte die Nadel. Schaljapins schmetternder Baß erklang – etwas von Wagner, wie mir schien. Ich fingerte in der Tasche nach den Papirossy, während ich überlegte, für wen wohl das dritte Gedeck auf dem Tisch bestimmt sein mochte.

Lange mußte ich nicht nachdenken. Die Tür ging auf, Tschapajew erschien. Er trug einen schwarzen Samtanzug, ein weißes Hemd und eine blutrote Fliege aus demselben purpurschillernden Moiréstoff, der auch seinen Mantel zierte. Gleich hinter Tschapajew betrat eine junge Frau den Salon.

Sie trug das Haar extrem kurz – man konnte es schwerlich eine Frisur nennen. Auf die sich kaum abzeichnende, von dunklem Samt verhüllte Brust fiel eine Kette aus stattlichen Perlen; ihre Schultern waren breit und kräftig, die Oberschenkel recht schmal. Ihre Augen waren leicht angeschnitten, was ihr nur noch mehr Anmut verlieh.

Kein Zweifel, sie war von vollkommener Schönheit – nur daß diese Schönheit nicht viel Weibliches an sich hatte. Selbst meine erhitzte Phantasie wußte diese Augen, dieses Gesicht, diese Schultern nicht in dem schwülen Dunkel eines Alkovens unterzubringen. Nicht zu gebrauchen für die gonorrhoischen Buninschen Heuschober, o nein! Auf der Eisbahn dagegen konnte man sie sich gut vorstellen. Ihre Schönheit barg etwas Ernüchterndes, sie erschien schlicht und ein wenig traurig; nicht jene ausgestellte, laszive Keuschheit war an ihr, die einem schon im Petersburg der Vorkriegsjahre zuwider gewesen war – nein, dies hier war die echte, natürliche, von sich überzeugte Vollkommenheit, neben der jede Art von Wollust so öd und fad erschien wie der Patriotismus eines Schutzmanns.

Sie sah mich an und wandte sich dann zu Tschapajew um, wobei eine Perle an ihrem bloßen Hals mich anblitzte.

»Das ist also unser neuer Kommissar?« fragte sie.

Ihre Stimme klang ein wenig dumpf, aber angenehm. Tschapajew nickte.

»Macht euch bekannt«, sagte er. »Pjotr. Anna.«

Ich stand vom Tisch auf, nahm ihre kühle Hand und wollte sie an meine Lippen führen, was sie jedoch nicht zuließ; sie erwiderte den Gruß nur mit einem förmlichen Händedruck in der Art der Petersburger emancipées. Ich hielt ihre Hand einen Moment lang fest.

»Sie ist eine hervorragende MG-Schützin«, sagte Tschapajew. »Hüten Sie sich also, sie herauszufordern.«

»Kann es denn sein, daß diese zarten Finger irgendwem den Tod bringen?« fragte ich und gab ihre Hand frei.

»Es kommt ganz darauf an«, sagte Tschapajew, »was Sie mit dem Tod meinen.«

»Gibt es diesbezüglich unterschiedliche Standpunkte?«

»O ja«, sagte Tschapajew.

Wir setzten uns an den Tisch. Der Baschkire entkorkte mit verdächtigem Geschick eine Flasche Champagner und schenkte ein.

»Lassen Sie mich das Glas erheben«, sagte Tschapajew und fixierte mich mit seinen hypnotischen Augen, »auf die schreckliche Zeit, in die wir hineingeboren wurden, und auf all jene, die selbst in diesen Tagen nicht aufhören, nach der Freiheit zu streben.«

Die Logik seiner Worte schien mir eigentümlich: War die Zeit denn nicht nur deswegen so schrecklich, weil »all jene«, wie er sich auszudrücken beliebte, nach der sogenannten Freiheit strebten? Oder wessen Freiheit war gemeint – und Freiheit wovon? Anstatt etwas zu entgegnen, nippte ich lieber vom Champagner. (Dieses einfache Rezept befolgte ich stets, wenn Champagner auf dem Tisch war und das Gespräch sich um Politik drehte.) Nach den ersten Schlucken merkte ich plötzlich, wie hungrig ich war, und begann zu essen.

Es ist schwer zu beschreiben, welche Gefühle ich empfand. Was hier vor sich ging, war so unwirklich, daß die Unwirklichkeit schon nicht mehr zu spüren war; so pflegt es im Traum zu sein, wenn der Verstand, in einen Strudel phantastischer Visionen geworfen, gleich einem Magneten jedes kleinste, vom üblichen Lauf der Dinge her vertraute Detail an sich zieht und ihm seine ganze Aufmerksamkeit schenkt, womit er noch dem verworrensten Alptraum den Anschein tagtäglicher Routine verleiht. Einmal hatte ich geträumt, ich säße aufgrund einer unglücklichen Verquickung von Ereignissen als Engel auf der Spitze der Peter-Pauls-Kathedrale, des heftig blasenden Windes wegen damit beschäftigt, die Jacke zuzuknöpfen, deren Knöpfe einfach nicht in die Löcher rutschen wollten – und mich verwunderte längst nicht so sehr, daß ich mich dort droben am Petersburger Himmel wiederfand, wie der Umstand, daß diese simplen Handgriffe nicht glücken wollten. Etwas Ähnliches widerfuhr mir im Augenblick – mein Bewußtsein ließ das Irreale des Geschehens außen vor; der Abend selbst schien normal zu verlaufen, und wäre nicht das sanfte Schaukeln des Wagens gewesen, hätte man sich in einem der kleinen Petersburger Cafés wähnen können, vor dessen Fenstern die Laternen der Fuhrwerke vorüberzogen.

Ich aß schweigend und schielte nur hin und wieder zu Anna hinüber. Sie gab Tschapajew, der ihr etwas von Lafetten und Geschützen erzählte, knappe Antworten, doch war ich von ihr so tief beeindruckt, daß ich dem Gesprächsfaden nicht zu folgen vermochte. Die absolute Unzugänglichkeit ihrer Schönheit bekümmerte mich; ich wußte, daß mit begehrenden Händen nach ihr zu greifen so sinnlos war, als versuchte man einen Sonnenuntergang mit dem Kücheneimer abzuschöpfen.

Als das Abendessen beendet war, räumte der Baschkire die Teller vom Tisch und brachte den Kaffee. Tschapajew lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rauchte eine Zigarre an. Sein Gesicht bekam einen sonnigen und etwas schläfrigen Ausdruck; lächelnd blickte er zu mir herüber.

»Sie sehen bedrückt aus, Pjotr«, sagte er, »sogar ein bißchen verstört, mit Verlaub. Dabei muß ein Kommissar – an sich glauben, verstehen Sie? Er muß, wie soll ich sagen, er muß zupackend sein, rücksichtslos und seiner selbst vollkommen sicher. Jederzeit.«

»Meiner selbst bin ich durchaus sicher«, sagte ich. »Nicht ganz sicher bin ich mir nur, was Sie betrifft.«

»Nanu? Was gibt Ihnen Rätsel auf?«

»Darf ich offen sein?«

»Aber selbstverständlich. Anna und ich bitten geradezu darum.«

»Ich kann nicht recht glauben, daß Sie tatsächlich ein roter Kommandeur sind.«

Tschapajew hob die linke Braue.

»Ach ja?« fragte er, und sein Erstaunen schien echt. »Wie denn das?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Es kommt mir alles wie eine Maskerade vor.«

»Heißt das, Sie wollen mir meine Sympathien für das Proletariat nicht abnehmen?«

»Doch, doch, das schon. Ich selbst habe, als ich heute auf der Tribüne stand, etwas Ähnliches gefühlt. Und trotzdem … «

Ich wußte plötzlich nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte. Eine peinliche Stille hing im Raum – dezent durchbrochen von dem Löffelchen, mit dem Anna in ihrem Kaffee rührte.

»Wie hätte denn Ihrer Meinung nach ein richtiger roter Kommandeur auszusehen?« fragte Tschapajew und schüttelte sich die Zigarrenasche vom Jackettschoß.

»Wie Furmanow«, antwortete ich.

»Na hören Sie, Pjotr, mit dem Namen kommen Sie mir heute schon zum zweitenmal. Wer ist denn dieser Furmanow?«

»Der Herr mit dem klebrigen Blick«, erläuterte ich. »Der heute zu den Webern gesprochen hat, nach mir.«

Anna klatschte unversehens in die Hände.

»Genau«, sagte sie, »die Weber haben wir ganz vergessen, Wassili Iwanowitsch. Wir hätten ihnen längst einen Besuch abstatten müssen.«

Tschapajew nickte.

»Jaja«, sagte er, »Sie haben vollkommen recht, Anna. Ich wollte es vorhin selbst vorschlagen, aber dann hat mich Pjotr so durcheinandergebracht, daß es mir wieder entfallen ist.«

Er wandte sich an mich.

»Wir sollten auf dieses Thema unbedingt noch einmal zurückkommen. Aber einstweilen könnten Sie uns doch Gesellschaft leisten, oder?«

»Mit Vergnügen.«

»Also vorwärts«, sagte Tschapajew und erhob sich vom Tisch.

Wir verließen den Stabswaggon entgegen der Fahrtrichtung. Das Ganze wurde für mich immer sonderbarer. Mehrere Waggons, durch die wir kamen, waren dunkel und dem Anschein nach völlig leer. Nirgendwo Licht, kein einziger Laut aus den Abteilen. Daß hinter den polierten Nußbaumpaneelen, die die Glut von Tschapajews Zigarre widerspiegelten, rote Regimenter kampierten, konnte man sich schwer vorstellen. Doch ich wollte darüber nicht nachsinnen.

Einer der Waggons endete nicht wie die anderen in einem geschlossenen Übergang zum nächsten, sondern mit einer einfachen Schlußtür, hinter deren Scheiben man die schwarze Winternacht davonjagen sah. Der Baschkire machte sich einen Moment lang am Schloß zu schaffen, dann zog er die Tür auf; das donnernde Gepolter der Räder und ein Wirbel von Schneeflocken, die wie Nadeln pikten, drangen in den Gang herein. Hinter der Tür kam eine kleine, überdachte Plattform mit Geländer zum Vorschein, so wie man sie von den Straßenbahnen her kennt, und noch dahinter hob sich der dunkle, massige Schatten des nächsten Wagens ab; eine Brücke gab es nicht, so daß unklar war, wie Tschapajew sich die Visite bei seinen neuen Heerscharen vorgestellt hatte. Ich trat als letzter auf die kleine Plattform hinaus. Tschapajew stützte sich auf das Geländer, tat einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, und der Fahrtwind trug ein paar glutrote Funken in die Nacht.

»Sie singen«, sagte Anna, »hört ihr?«

Die Frau hob die Hand, wie um ihre Haare im Wind zusammenzuhalten, und ließ sie im nächsten Moment wieder sinken – ihr Haarschnitt machte die Geste überflüssig. Noch vor kurzem mußte sie eine ganz andere Frisur gehabt haben.

»Hören Sie das?« fragte sie noch einmal und drehte sich zu mir um.

Tatsächlich drang durch das Rattern der Wagenräder ein recht manierlicher, harmonischer Gesang herüber. Ich horchte genauer hin und verstand auch die Worte:

Wir Schmiede sind stark, unser Geist ist der Hummer
Wir schmieden die Schlüssel zum Glück
Der Hammer wiegt schwer, und er fliegt, und er wummert
Die Brust sprengt er frei Stück um Stück, Stück um Stück!

»Merkwürdig«, sagte ich. »Wieso singen sie vom Schmieden, wenn sie doch Weber sind? Und was haben sie mit dem Hummer am Hut?«

»Wieso Hummer? Hammer!« sagte Anna.

»Ach, Hammer? Alles klar. Schmiede und Hammer, das paßt zusammen. Nur daß es eigentlich Weber sind. Weiß der Teufel, was das soll.«

Auch wenn der Text keinen Sinn ergab – das durch die Winternacht schwebende Lied hatte etwas Berückendes an sich und schien wie aus fernen Zeiten zu stammen. Was vielleicht gar nicht an dem Lied lag, sondern am Zusammenklang der vielen Männerstimmen mit dem Pfeifen des Windes, den schneebedeckten Weiten und den wenigen kleinen Sternen am Himmel. Als der Zug um eine Kurve zog, sah man die lange Kette schwarzer Waggons – darin saßen sie und sangen, und das offenbar in völliger Dunkelheit, was den geheimnisvollen Eindruck noch verstärkte. Einige Zeit hörten wir schweigend zu.

»Es könnte etwas Skandinavisches sein«, sagte ich dann. »Wissen Sie, es gab da einen Gott mit einem Zauberhammer, den er wie eine Waffe handhabte. Ich glaube, es war in der Älteren Edda. Ja genau, das übrige paßt auch gut! Der reifbedeckte Waggon da – das ist doch Thors Hammer, den er nach dem unsichtbaren Feind geworfen hat! Er fliegt uns hinterher, und keine Macht kann ihn aufhalten!«

»Sie haben eine lebhafte Phantasie«, bemerkte Anna. »Sagen Sie bloß, der Anblick dieses dreckigen Eisenbahnwagens treibt in Ihnen solche Blüten?«

»Wo denken Sie hin«, sagte ich. »Ich gebe mir bloß Mühe, ein angenehmer Gesprächspartner zu sein. In Wirklichkeit denke ich an ganz etwas anderes.«

»Und das wäre?« fragte Tschapajew nach.

»Etwas an diesem Zug erinnert mich an uns Menschen. Ob wir es wollen oder nicht, immer ziehen wir einen Troß unbeleuchteter, gräßlicher, irgendwann einmal von irgendwem übernommener Waggons hinter uns her. Und all diese Anhängsel, dieses sinnlose Sammelsurium von Hoffnungen, Ansichten und Ängsten nennt sich nun Leben. Und es gibt keine Möglichkeit, diesem Schicksal zu entgehen.«

»Wer sagt das«, entgegnete Tschapajew. »Eine Möglichkeit gibt es.«

»Und Sie wissen, welche?« fragte ich.

»Natürlich.«

»Vielleicht sind Sie so freundlich, sie zu verraten?«

»Nichts leichter als das«, sagte Tschapajew und schnipste mit den Fingern.

Es schien, als hätte der Baschkire nur auf dieses Zeichen gewartet. Er stellte die Laterne auf dem Fußboden ab, tauchte geschickt unter dem Geländer weg, beugte sich über diverse Kuppelmechanismen, die in der Dunkelheit nicht zu erkennen waren, und begann wie wild zu hantieren. Man hörte ein leises Klirren, worauf der Baschkire so flink auf die Plattform zurückgeklettert kam, wie er zuvor von ihr verschwunden war.

Die schwarze Waggonwand vor uns begann sich langsam von uns zu entfernen.

Ich sah Tschapajew an. Ungerührt hielt er meinem Blick stand.

»Es wird langsam kalt«, sagte er, so als sei nichts geschehen.

»Wir sollten in den Salon zurückkehren.«

»Ich komme gleich nach«, erwiderte ich.

Allein auf der Plattform zurückgeblieben, blickte ich ein Weilchen schweigend vor mich hin. Noch war der Gesang der Weber zu vernehmen, doch von Sekunde zu Sekunde blieb die Wagenkette weiter zurück; sie erschien mir wie der eben abgeworfene Schwanz einer flüchtenden Eidechse. Es war ein großartiger Anblick. Ach, hätte ich doch ebenso einfach, wie Tschapajew sich gerade von seinen Leuten getrennt hatte, diese ganze düstere Bande getürkter Ichs, die meine Seele schon so viele Jahre ruinierte, hinter mir lassen können!

Gleich darauf begann auch ich zu frieren. Ich ging zurück in den Waggon, verriegelte die Tür hinter mir und tastete mich vorwärts. Als ich im Stabswaggon anlangte, fühlte ich eine solche Müdigkeit, daß ich, ohne den Schnee von der Jacke zu schütteln, geradewegs in mein Coupé ging und aufs Bett fiel.

Aus dem Salon, wo Tschapajew und Anna saßen, drangen Rufe und Gelächter. Ein Champagnerkorken knallte.

»Pjotr!« rief Tschapajew. »Nicht schlafen! Zu uns!«

Nach dem eisigen Wind, der mich auf der Plattform durchgeblasen hatte, tat mir die Wärme des Abteils außerordentlich wohl. Allmählich bemächtigte sich meiner sogar die Vorstellung, ich läge in einer Badewanne und nähme das heiße Bad, von dem ich schon tagelang träumte. Als die Vorstellung sich anschickte, Wirklichkeit zu werden, begriff ich, daß ich am Einschlafen war. Auch daß das Grammophon anstelle von Schaljapin plötzlich die Mozart-Fuge spielte, mit welcher der Tag begonnen hatte, war ein Anzeichen dafür. Ich ahnte noch, daß ich auf keinen Fall einschlafen durfte, konnte jedoch nichts mehr dagegen tun, ergab mich und stürzte im selben Moment kopfüber ins Leere – das heißt in jenen tiefen Schacht zwischen den Mollakkorden, der mich am Morgen so frappiert hatte.