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»He! Nicht schlafen!«

Jemand rüttelte mich sacht an der Schulter. Ich hob den Kopf, schlug die Augen auf und sah in ein mir vollkommen fremdes Gesicht – rund, füllig und von einem sorgfältig gestutzten Bart umkränzt. Dazwischen ein freundliches Lächeln, das in mir jedoch nicht den Wunsch weckte zurückzulachen. Und ich wußte sogleich, warum. Es lag an dieser Kombination von gepflegtem Bartkranz und kahlrasiertem Schädel. Der Herr, der sich da über mich beugte, gemahnte an einen jener Spekulanten, die gleich nach Ausbruch des Krieges scharenweise in Petersburg eingefallen waren und Handel trieben mit allem und jedem. In der Regel stammten sie aus der Ukraine und hatten zwei ausgeprägte Merkmale gemein: eine schier unerschöpfliche Vitalität und ein gleichbleibendes Interesse an den neuesten okkulten Strömungen in der Hauptstadt.

»Wladimir Wolodin«, stellte der Bärtige sich vor. »Man kann auch einfach Wolodin zu mir sagen. Da Sie es vorzogen, wieder mal Ihr Gedächtnis zu verlieren, kann es nicht schaden, neu Bekanntschaft zu schließen.«

»Pjotr«, sagte ich.

»Vermeiden Sie heftige Bewegungen, Pjotr«, sagte Wolodin. »Als Sie noch schliefen, hat man Ihnen vier Kubik Taurepam gespritzt, der Morgen wird also etwas trübe für Sie werden. Wundern Sie sich nicht, wenn Dinge oder Personen um Sie her einen widerwärtigen und deprimierenden Eindruck auf Sie machen.«

»Oh, mein Lieber«, sagte ich, »darüber wundere ich mich schon lange nicht mehr.«

»Nein«, sagte er, »ich meine etwas anderes. Es kann passieren, daß Ihnen die Situation, in der Sie sich befinden, auf einmal unerträglich ekelhaft vorkommt. Auf unbeschreibliche, unmenschliche Art grotesk und sinnlos. Vollkommen lebensfremd.«

»Ja, und?«

»Achten Sie nicht darauf. Das kommt von der Spritze.«

»Ich werd's versuchen.«

»Prima.«

Ich bemerkte plötzlich, daß dieser Wolodin splitternackt war. Außerdem war er naß und kauerte auf einem weißen Kachelboden, auf den das Wasser von seinem Körper hinuntertroff. Der Anblick war für sich genommen schockierend, am schwersten daran auszuhalten war jedoch die vollkommen entspannte Unzüchtigkeit seiner Pose, die unergründliche Gelassenheit, mit der er, einem Affen gleich, den langen, sehnigen Arm auf dem Kachelboden aufstützte. Diese Hemmungslosigkeit gab zu verstehen: Auf dieser Welt ist es für ausgewachsene, behaarte Männer das Normalste und Natürlichste, nackt auf dem Boden zu hocken, und wer anders darüber denkt, wird es im Leben nicht leicht haben.

Was die Spritze anging, so schien der Mann recht zu haben. Mit meiner Wahrnehmung ging in der Tat etwas Seltsames vor sich. Eben hatte Wolodin sekundenlang für sich allein existiert, ohne Hintergrund, wie auf einem Paßfoto. Erst nachdem ich sein Gesicht und seine Gestalt ausgiebig und in allen Einzelheiten betrachtet hatte, begann ich darüber nachzudenken, wo dies alles geschah. Und erst nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, erstand dieser Ort vor meinen Augen. Jedenfalls hatte ich so das Gefühl.

Wir befanden uns in einem großen, durchgängig weißgekachelten Raum, in dem fünf gußeiserne Badewannen standen. Ich lag in der hintersten; das Wasser darin war, wie ich gerade mit Unbehagen feststellte, recht kalt. Wolodin schenkte mir ein letztes, aufmunterndes Lächeln, drehte sich auf der Stelle und hüpfte mit einer abstoßenden Gelenkigkeit – direkt aus der Hocke und fast ohne zu spritzen – in die Nachbarwanne.

Außer Wolodin lagen noch zwei andere in den Wannen: ein langhaariger Blonder mit blauen Augen und Fusselbart, der aussah wie ein alter slawischer Recke, und ein dunkelhaariger Junge mit blassem, etwas femininem Gesicht und übermäßig ausgebildeter Muskulatur. Beide blickten mich herausfordernd an.

»Sie scheinen uns wirklich nicht mehr zu kennen«, sagte der bärtige Blonde nach ein paar Sekunden der Stille. »Semjon Serdjuk ist mein Name.«

»Pjotr«, erwiderte ich.

»Maria«, sagte der junge Mann aus der Wanne am anderen Ende des Raums.

»Wie bitte?«

»Maria, Maria«, wiederholte er mit offenkundigem Mißbehagen. »Das ist ein Name. Es gab zum Beispiel einen Schriftsteller, Erich Maria Remarque, kennen Sie den nicht? Nach dem bin ich genannt.«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Wohl einer von den Neuen?«

»Außerdem gibt es noch Rainer Maria Rilke. Nie gehört?«

»Doch, doch, den schon. Kenn ich sogar persönlich.«

»Sehen Sie, der hieß Rainer Maria, und ich bin einfach Maria.«

»Sie müssen entschuldigen«, sagte ich, »aber Ihre Stimme kommt mir bekannt vor. Haben Sie nicht diese merkwürdige Geschichte von dem Flugzeug erzählt, von Rußlands alchimistischer Ehe mit dem Westen und so weiter?«

»Ja«, antwortete Maria, »was fanden Sie daran so merkwürdig?«

»Eigentlich gar nichts. Ich hatte nur irgendwie angenommen, daß Sie eine Frau sind.«

»In gewissem Sinne ist das auch richtig«, entgegnete Maria.

»Wie unser Chef sagt, ist meine Pseudopersönlichkeit unstrittig eine Frau. Sie sind nicht zufällig einer von diesen heterosexuellen Chauvinisten?«

»Nein, nein«, sagte ich, »mich wundert bloß, daß Sie die Pseudopersönlichkeit so einfach zugeben. Glauben Sie denn selber nicht daran?«

»Ich glaube an gar nichts«, sagte Maria. »Das kommt bei mir alles von der Gehirnerschütterung. Und hier bin ich bloß wegen der Doktorarbeit, die der Chef schreibt.«

»Was denn für ein Chef?« fragte ich verwundert, da dieses Wort schon wieder fiel.

»Professor Kanaschnikow. Der Abteilungsleiter. Er forscht nämlich über Pseudopersönlichkeiten.«

»Stimmt nicht ganz«, mischte Wolodin sich ein. »Das Thema, an dem er arbeitet, heißt Persönlichkeitsspaltung.

Maria ist da ein relativ simpler und wenig verzwickter Fall, und überhaupt kann man bei ihm nur unter Vorbehalt von einer Persönlichkeitsspaltung sprechen; dagegen sind Sie, Pjotr, das kostbarste Pferd im Stall. Bei Ihnen ist die Pseudopersönlichkeit so weit und im Detail entwickelt, daß sie Ihre eigentliche fast vollständig verdrängt und überformt. Die Spaltung ist so blitzsauber, daß man seine helle Freude hat.«

»Alles Quatsch«, meldete sich Serdjuk, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. »Bei Pjotr liegt der Fall an sich ganz simpel. Auf struktureller Ebene unterscheidet er sich von Maria fast gar nicht. Der eine identifiziert sich mit nem Vornamen, der andere mit nem Nachnamen. Der Unterschied ist, daß Pjotr stärker verdrängt. Er weiß ja nicht mal mehr seinen richtigen Namen und nennt sich Ernenzoff oder sonstwie.«

»Wie ist denn mein richtiger Name?« fragte ich, Böses ahnend.

»Pjotr Pustota«, gab Wolodin Auskunft. »Und Ihre Störung hängt damit zusammen, daß Sie die Existenz Ihrer eigentlichen Persönlichkeit verneinen und durch eine völlig andere ersetzt haben, die von A bis Z erfunden ist.«

»Trotzdem, strukturell kein komplizierter Fall, ich bleibe dabei«, ergänzte Serdjuk.

Ich spürte Ärger in mir hochsteigen – daß so ein dahergelaufener Psychopath sich erlaubte, mich als simplen Fall zu klassifizieren, empfand ich als Kränkung.

»Meine Herren, Sie diskutieren hier wie ein Ärztekollegium«, sagte ich. »Irgendwie dämlich, finden Sie nicht?«

»Wieso dämlich?«

»Alles hätte seine Ordnung«, erläuterte ich, »wenn Sie in diesem Haus die weißen Kittel anhätten. Aber wieso belegen Sie ein Bett, wenn Ihr Urteilsvermögen so ungetrübt ist?«

Wolodin blickte mich ein paar Sekunden wortlos an.

»Ich bin Opfer eines Unglücksfalls«, sagte er.

Serdjuk und Maria prusteten vor Lachen.

»Was mich betrifft«, sagte Serdjuk, »so kann ich mit keiner Pseudopersönlichkeit aufwarten. Gewöhnlicher Suizidversuch plus Alkoholismus. Und festgehalten werde ich hier bloß, weil man mit drei Fällen noch keine Dissertation schreibt. Rein aus statistischen Gründen.«

»Wart's ab«, sagte Maria. »Du bist auf der Garrotte der Nächste. Wir werden ja hören, was es mit deinem Alkoholsuizid auf sich hat.«

Inzwischen war ich endgültig zu Eis erstarrt – wobei ich nicht wußte, ob es an der Spritze lag, die, wie Wolodin meinte, meine Umwelt in ein Ekelpaket verwandeln würde, oder ob das Wasser tatsächlich so kalt war.

Gottlob ging in diesem Moment die Tür auf, und zwei weißbekittelte Männer erschienen. Irgendwie kam ich darauf, daß der eine Sherbunow hieß und der andere Barbolin. Sherbunow hatte eine große Sanduhr in der Hand, Barbolin trug einen ganzen Berg Unterwäsche.

»Wir kommen jetzt hübsch heraus«, verkündete Sherbunow fröhlich und schwenkte die Sanduhr.

Der Reihe nach wurden wir mit einem riesigen, geblümten Laken abgetrocknet, sodann halfen die beiden uns in einheitlich quergestreifte Schlafanzüge, durch die das Geschehen sogleich einen maritim-militärischen Anstrich bekam. Anschließend wurden wir aus dem Badezimmer hinaus- und einen Flur entlanggeführt. Auch dieser endlose Flur kam mir bekannt vor – beziehungsweise nicht er, sondern der undefinierbare Medizingeruch, der dort hing.

»Können Sie mir vielleicht sagen, warum ich hier bin?« wandte ich mich unterwegs mit gedämpfter Stimme an den hinter mir gehenden Sherbunow.

Vor Verwunderung bekam der Mann große Augen.

»Als ob du das nicht selber wüßtest«, sagte er.

»Eben nicht«, sagte ich, »ich bin zwar schon soweit anzunehmen, daß ich krank bin. Aber was war der Anlaß für die Einlieferung? Bin ich schon lange hier? Und was für Handlungen werden mir konkret zur Last gelegt?«

»Alles Fragen, die du dem Professor stellen kannst«, sagte Sherbunow. »Wir haben keine Zeit zum Schwätzen.«

Ich fühlte mich maßlos niedergeschlagen. Vor einer weißen Tür mit aufgemalter »7« blieben wir stehen. Barbolin schloß sie auf, und wir wurden eingelassen. Es war ein Raum mit vier Betten, die längs der Wände aufgestellt und bezogen waren. Vor dem vergitterten Fenster stand ein Tisch. Außerdem gab es ein weiteres Möbel – halb Liege, halb flacher Sessel, mit Gummischlaufen für Hände und Füße. Trotz dieser Schlaufen wirkte das Ding nicht bedrohlich. Es sah ausgesprochen medizinisch aus, so daß mir sogar die blödsinnige Wortverbindung »urologischer Stuhl« in den Sinn kam.

»Sie entschuldigen«, wandte ich mich an Wolodin, »ist das etwa die Garrotte, von der Sie sprachen?«

Wolodin warf mir einen kurzen Blick zu und deutete dann zur Tür. Dort stand Professor Kanaschnikow.

»Garrotte?« fragte er und legte die Stirn in Falten. »Wenn ich mich recht entsinne, ist die Garrotte ein Stuhl, worauf man die Delinquenten im mittelalterlichen Spanien erdrosselt hat, richtig? Welch düstere, deprimierte Wahrnehmung der Umwelt! Sie Pjotr, können nichts dafür, Sie haben ja heute morgen eine Spritze bekommen. Aber Sie, Wolodin? Da muß ich mich doch sehr, sehr wundern.«

Während er so vor sich hinredete, gab der Professor Sherbunow und Barbolin ein Zeichen, sich zu entfernen, und trat selbst in die Mitte des Zimmers.

»Das hier ist gewiß keine Garrotte«, sagte er. »Es ist ein ganz gewöhnlicher Stuhl, den wir für unsere Gruppensitzungen benötigen. Bei einer dieser Sitzungen waren Sie gestern schon dabei, Pjotr, gleich nach Ihrer Rückkehr aus der Einzelzelle, allerdings in einem so bedenklichen Zustand, daß Sie kaum etwas davon behalten haben dürften.«

»Sagen Sie das nicht. Ich weiß noch so einiges«, erwiderte ich.

»Um so besser. Trotzdem will ich noch einmal in kurzen Worten erläutern, worum es hier geht. Die von mir entwickelte und praktizierte Methode könnte man als turbojungianisch bezeichnen. Ich gehe davon aus, daß Sie mit den Ansichten von Jung vertraut sind.«

»Pardon, wie war der Name?«

»Carl Gustav Jung. Ich sehe schon, die psychische Aktivität ist bei Ihnen einer strengen Zensur seitens der Pseudopersönlichkeit unterworfen. Und da letztere im Jahr neunzehnhundertachtzehn-neunzehn lebt, darf man sich nicht wundern, daß Ihnen dieser Name anscheinend entfallen ist. Obwohl, vielleicht haben Sie ja wirklich noch nie von ihm gehört?«

Ich zuckte erhaben die Achseln.

»Kurz und gut, es gab da einen Psychiater namens Jung. Seine therapeutischen Methoden gründeten auf einem sehr einfachen Prinzip. Er brachte seine Patienten so weit, daß bei ihnen ganz ungezwungen Symbole an die Oberfläche des Bewußtseins traten, anhand deren man eine Diagnose stellen konnte. Indem man sie entschlüsselte, meine ich.«

An dieser Stelle setzte Professor Kanaschnikow ein listiges Lächeln auf.

»Meine Methode sieht nun allerdings ein bißchen anders aus«, sagte er. »Nur das Prinzip ist das gleiche. Nähme man Jung beim Wort, müßte man Sie nämlich in die Schweiz verfrachten, in irgend so ein Alpensanatorium, dort auf die Couch legen, in umständliche Gespräche verwickeln und wer weiß wie lange darauf warten, daß es die Symbole nach oben schwemmt. Das können wir uns nicht leisten. Statt einer Couch haben wir das da«, der Professor deutete auf den Sessel, »dazu gibt es eine kleine Spritze, und dann können wir zugucken, wie die Symbole hochkommen – in Scha-a-a-ren! Entschlüsselung und Therapie nehmen wir anschließend in die Hand. Einleuchtend?«

»Mehr oder weniger«, sagte ich. »Und wie funktioniert das mit der Entschlüsselung?«

»Das werden Sie erleben, wenn es soweit ist, Pjotr. Die Sitzungen machen wir immer freitags, so daß Sie in drei … nein, in vier Wochen an der Reihe sein werden. Ehrlich gesagt, bin ich in Ihrem Fall besonders gespannt – die Arbeit mit Ihnen macht Spaß, großen Spaß sogar. Obwohl ich das natürlich von Ihnen allen behaupten darf, meine lieben Freunde.«

Professor Kanaschnikow lächelte und ließ dabei eine Woge inniger, zügelloser Liebe durch den Raum strömen, sodann verbeugte er sich und legte die Hände ineinander.

»Machen wir uns nun an die Übungen«, sagte er.

»Was denn für Übungen?« entfuhr es mir.

»Na, es ist doch schon halb zwei«, sagte der Professor auf die Uhr schauend. »Zeit fürs heilästhetische Praktikum.«

Wenn man absah von den hydropsychologischen Prozeduren, die mich aus dem Schlaf geholt hatten, war dieses heilästhetische Praktikum das Lästigste, was mir in diesen Mauern bis dahin widerfahren war – woran auch die Spritze ihren Anteil haben mochte. Das Praktikum fand in dem Zimmer statt, das an unseren Schlafsaal angrenzte. Es war groß und schummrig; auf einem langen Tisch in der Ecke lagen lauter bunte Knetebrocken, tönerne Pferdemißgeburten von der Art, wie künstlerisch begabte Kleinkinder sie kneten, Schiffsmodelle aus Pappe, zerbrochene Puppen und Bälle. Aus der Mitte des Tisches ragte eine große Aristoteles-Büste aus Gips – und ihr gegenüber, auf vier mit braunem Wachstuch bezogenen Stühlen, Zeichenbretter auf den Knien, saßen wir. Die ästhetische Therapie bestand darin, daß wir mit Bleistiften, die an den Stühlen festgebunden und noch dazu in schwarzen Weichgummi gewickelt waren, die Büste abzuzeichnen hatten.

Wolodin und Serdjuk steckten immer noch in ihren gestreiften Schlafanzügen, Maria hatte das Oberteil ausgezogen und trug statt dessen ein Hemdchen mit weitem, fast bis zum Nabel hinunterreichendem Ausschnitt. Alle waren sie dieses Ritual offensichtlich gewohnt und führten ihre Stifte geduldig über das Papier. Sicherheitshalber machte auch ich eine schnelle, flüchtige Skizze, bevor ich das Zeichenbrett beiseite legte und mich umschaute.

Die Spritze tat wohl immer noch ihre Wirkung, denn mir geschah annähernd dasselbe wie zuvor in der Wanne. Ich war einfach nicht fähig, die Wirklichkeit im ganzen aufzunehmen. Die einzelnen Elemente der Umgebung nahmen immer in dem Moment Gestalt an, da ich hinschaute, so daß ich allmählich den schwindelerregenden Eindruck gewann, daß mein Blick es war, der sie erschuf.

Auf diese Weise entdeckte ich, daß die Wände des Zimmers mit kleinformatigen Zeichnungen behängt waren. Einiges davon war sehenswert.

Etliche stammten zweifellos von Maria. Es waren die ungelenksten von allen, wahre Kinderkritzeleien, auf denen das Flugzeugthema in immer neuen Varianten auftauchte, jedesmal mit einem mächtigen phallischen Auswuchs bestückt. Manchmal stand das Flugzeug auf dem Schwanz, wodurch die Darstellung christliche Obertöne gewann, die, nebenbei gesagt, recht blasphemisch ausfielen. Im großen ganzen fand ich Marias Zeichnungen nicht weiter fesselnd.

Dafür weckte ein anderer Zyklus mein außerordentliches Interesse, und dies nicht nur, weil der Autor sichtlich über künstlerische Talente verfügte. Die Zeichnungen waren auf obskure Weise japanisch inspiriert. Die meisten von ihnen, sieben oder acht, schienen eine Abbildung zu reproduzieren, die man irgendwo gesehen zu haben meinte: einen Samurai mit zwei Schwertern und unzüchtig entblößter Scham, der mit einem Stein am Hals vor einem Abgrund steht. Zwei, drei andere Zeichnungen stellten ein Reiterlager dar, mit Bergen am Horizont – letztere erstaunlich gekonnt, im traditionellen japanischen Stil ausgeführt. Die Pferde waren an Bäumen angebunden, unweit von ihnen hockten die abgesessenen Reiter in weiten, bunten Gewändern im Gras und tranken aus irgendwelchen Näpfen. Den stärksten Eindruck aber machte auf mich eine erotische Zeichnung: ein Mann mit einem kleinen blauen Käppchen und entrücktem Gesichtsausdruck sowie eine Frau (breite Wangenknochen, ein slawisches Gesicht, das einem nicht geheuer vorkam) in völliger Hingabe.

»Erlauben Sie eine Frage, meine Herren«, konnte ich nicht an mich halten, »wem gehören diese japanischen Blätter dort?«

»Sag, Semjon, wem gehören deine Zeichnungen? Bestimmt der Klinik?« fragte Wolodin vorlaut.

»Die sind von Ihnen, Herr Serdjuk?«

»Von mir«, erwiderte Serdjuk und schaute mich mit seinen tiefblauen Augen von unten her an.

»Großartig«, sagte ich. »Wenn auch ein bißchen düster.«

Darauf sagte er nichts.

Die dritte Serie Zeichnungen – die, wie ich nun vermuten durfte, von Wolodin stammte – war sehr unkonkret und impressionistisch in der Ausführung. Auch hier gab es ein durchgängiges Thema: drei dunkle, verschwommene Gestalten im Kreis um ein loderndes Feuer und eine senkrecht auf sie herniederfallende Lichtsäule. Die Komposition erinnerte an das berühmte Bild mit den drei Jägern am Lagerfeuer, nur daß man annehmen mußte, in dem Feuer wäre gerade eine Mine explodiert.

Schließlich schaute ich zur gegenüberliegenden Wand – und zuckte zusammen.

Dies war wohl nun das heftigste Déjà-vu in meinem Leben. Schon beim ersten Blick auf den zwei mal zwei Meter großen Karton voller winziger bunter Figürchen fühlte ich eine innige Verbindung zu diesem sonderbaren Objekt. Ich erhob mich vom Stuhl und trat näher.

Besagter Blick fiel auf den oberen Teil des Kartons, wo eine Art Schlachtplan zu sehen war, wie man ihn in Geschichtslehrbüchern findet. Im Zentrum des Plans befand sich ein schraffiertes blaues Oval, worin in Großbuchstaben das Wort SCHIZOPHRENIE stand. Drei dicke, rote Pfeile liefen von oben darauf zu – einer auf direktem Wege, die anderen beiden im Bogen, um sich in die Seiten des Ovals zu bohren. »Insulin«, »Aminasin« und »Sulfasin« stand an den Pfeilen. Von dem Oval senkrecht nach unten ging ein gestrichelter blauer Pfeil, darunter stand: »Krankheit geht zurück«.

Nachdem ich diesen Plan studiert hatte, wechselte ich zur unteren Hälfte des Bogens. Die zahlreichen hier abgebildeten Personen, die unendlich vielen Details, auch die Verworrenheit des Ganzen ließen an eine Illustration zu Tolstois Roman »Krieg und Frieden« denken – sämtliche Romanfiguren und die ganze Handlung auf einmal wiedergebend. Gleichzeitig wirkte die Manier der Darstellung kindlich, denn genau wie auf Kinderzeichnungen waren sämtliche Regeln der Perspektive und des Sinns außer Kraft gesetzt. Die rechte Seite des Bildes zeigte eine große Stadt. An der grellgelben Kuppel der Isaak-Kathedrale konnte ich erkennen, daß Petersburg gemeint war. Durch seine Straßen, die stellenweise bis ins kleinste gezeichnet, dann wieder in der Art von Stadtplänen nur mit einfachen Linien markiert waren, verliefen Pfeile und gestrichelte Linien, wie es sie auch auf dem Schema darüber gab – man konnte sich vorstellen, daß sie zusammen die Lebensbahn eines Menschen nachzeichneten. Von Petersburg führte eine punktierte Linie nach Moskau, das sich gleich nebenan befand. In Moskau waren nur zwei Örtlichkeiten hervorgehoben: der Twerskoi-Boulevard und der Jaroslawler Bahnhof. Vom Bahnhof weg kroch ein doppelfädiges Spinnennetz von Eisenbahnlinien in alle Richtungen auseinander, wurde, der Mitte des Blattes näher rückend, immer breiter und größer, bis es sich in eine Zeichnung verwandelte, die einigermaßen den Gesetzen der Perspektive folgte. Schienen liefen auf einen Horizont von goldgelben Weizenfeldern zu; auf den Schienen stand, in Qualm und Wasserdampf gehüllt, ein Zug.

Der Zug war in aller Ausführlichkeit gezeichnet. Die Lokomotive schien von etlichen Granattreffern aufgerissen; aus den Löchern in ihrem tonnenförmigen Leib wälzten sich dicke, schwarze Rauchwolken, und aus der Kabine hing der tote Lokomotivführer. Auf dem ersten Waggon hinter der Lok sah man einen Schützenpanzerwagen stehen (muß ich betonen, daß mir das Herz bis zum Hals schlug?), den Gewehrturm auf das gelbe Weizenmeer gerichtet. Die Turmluke stand offen, Annas kurzgeschorener Kopf schaute hervor. Der gerippte Lafettenschwanz spuckte Feuer auf das Schlachtfeld, in die Richtung, die Tschapajews Säbel wies; denn natürlich war er es, der neben dem Panzerauto auf dem Güterwagen stand. Tschapajew trug eine hohe Pelzmütze und einen zottigen schwarzen Mantel, zugeknöpft bis zum Hals und bis zu den Sohlen reichend; seine Pose war wohl eine Spur zu theatralisch.

Dem Zug auf dem Bild fehlten wenige Meter bis zur Bahnstation, die nur zum kleineren Teil auf dem Karton Platz gefunden hatte; das Bahnsteiggeländer und das Schild mit der Aufschrift »Losowaja« waren gerade noch zu sehen.

Ich suchte auf der Zeichnung den Feind zu entdecken, den Anna auf ihrem Turm im Visier hatte, sah aber nur eine Anzahl flüchtig hingeworfener, fast bis zu den Schultern im hohen Weizen versteckter Silhouetten. Man gewann den Eindruck, als hätte der Zeichner keine genaue Vorstellung gehabt, gegen wen die Kampfhandlungen gerichtet waren und was sie bezweckten. Was nun diesen Zeichner betraf, so blieben mir leider wenig Zweifel, um wen es sich dabei handelte.

 

DIE SCHLACHT BEI
LOSOWAJA

 

war mit großen Buchstaben unter die Zeichnung gemalt. Daneben stand, von anderer Hand geschrieben:

 

Tschapajew der Trapper – Petka in der Klapper

 

Mit einem entschlossenen Ruck drehte ich mich zu den anderen um.

»Meine Herren, finden Sie nicht, daß das zu weit geht? Ist das die feine Art, die anständige Leute voneinander erwarten dürfen? Oder erwarten Sie von mir, daß ich Gleiches mit Gleichem vergelte? Na? Würde Ihnen das gefallen?«

Wolodin und Serdjuk guckten zur Seite, Maria tat so, als hätte er nichts gehört. Eine Zeitlang starrte ich die drei an und versuchte zu ergründen, wer von ihnen diese Geschmacklosigkeit begangen haben konnte, doch keiner gab sich eine Blöße.

Ehrlich gesagt, mich ritzte die Sache nicht allzu sehr, und meine Empörung war zum größeren Teil gespielt. Viel mehr nahm mich die Zeichnung selbst gefangen; ich hatte sofort gespürt, daß etwas darauf nicht stimmte. Ich wandte mich ihr wieder zu und suchte herauszubekommen, was es war. Es schien irgendwo in der Gegend zwischen dem Schlachtplan oben und dem Zug unten zu liegen, da, wo der Himmel sein sollte – ein größeres Stück Kartonfläche war leer gelassen, der Sog eines Vakuums ging von ihm aus. Ich trat zum Tisch und wühlte aus dem Plunder, der sich dort türmte, den Stummel eines Rötelstiftes und ein fast neues Stück Zeichenkohle hervor.

Die nächste halbe Stunde war ich damit beschäftigt, den Himmel über dem Weizenfeld mit schwarzen Klecksen detonierender Schrapnells zu füllen. Ich zeichnete sie alle gleich – ein kohlschwarz ausgemaltes Wölkchen und nach allen Seiten fliegende Splitter, von denen jeder eine lange Rötelspur hinter sich herzog.

Das Ergebnis kam einem berühmten Gemälde von van Gogh nahe (ich hatte vergessen, wie es hieß), wo über einem Weizenfeld unzählige schwarze Krähen schwärmten, jede von ihnen ein dickes, fettes »V«. Ich dachte wieder einmal daran, wie ausweglos doch das Schicksal des Künstlers in dieser Welt war. Dieser Gedanke, der mir immer eine bittere Befriedigung bereitet hatte, erschien auf einmal unerträglich falsch. Nicht nur, weil er so banal war, nein, es steckte auch eine Art korporative Unredlichkeit darin: Alle Kunstschaffenden sprachen ihn aus, wo sie gingen und standen, und erklärten sich damit einer bestimmten existentiellen Kaste zugehörig. Warum nur? Bot denn das Schicksal einer Maschinengewehrschützin oder eines Sanitäters eher einen Ausweg? War in ihnen weniger Pein, weniger Absurdität? Und überhaupt, hat die unermeßliche existentielle Tragödie des Menschen irgend etwas damit zu tun, zu welchen Verrichtungen er im Laufe seines Lebens genötigt wird?

Ich drehte mich zu meinen Kollegen um. Serdjuk und Maria waren ganz in Aristoteles' Büste vertieft (Maria hatte vor Anspannung sogar die Zungenspitze zwischen die Lippen geschoben), während Wolodin gespannt verfolgte, wie sich die Zeichnung auf dem großen Karton veränderte. Als er spürte, daß ich ihn ansah, erschien ein forschendes Lächeln auf seinem Gesicht.

»Wolodin«, fing ich an, »darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Aber bitte.«

»Was machen Sie beruflich?«

»Ich bin Unternehmer«, sagte Wolodin. »Ein neuer Russe, wie man heute so sagt. Jedenfalls war ich das. Warum fragen Sie?«

»Ich hatte eben so einen Gedanken … Es heißt immer: ein tragisches Künstlerschicksal, ein tragisches Künstlerschicksal. Wieso behauptet man das ausgerechnet von den Künstlern? Das ist irgendwie nicht ehrlich. Verstehen Sie, Künstler sind auffällige Persönlichkeiten, und wenn ihnen etwas zustößt, wird das bekannt, und alle schauen hin. Wer spricht dagegen von … Na gut, von Unternehmern hört man manchmal noch was. Aber sagen wir, von einem Lokführer? Selbst wenn sein Leben eine einzige Tragödie ist?«

»Sie gehen an die Sache von der falschen Seite heran, Pjotr«, sagte Wolodin.

»Wieso?«

»Sie verwechseln die Begriffe. Die Tragödie spielt sich nicht im Leben des Künstlers oder des Lokführers ab, sondern im Kopf des Künstlers oder des Lokführers.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nur so«, murmelte Wolodin und beugte sich über sein Zeichenbrett.

Eine Weile wußte ich mit Wolodins Worten nichts anzufangen, dann dämmerte mir, was er sagen wollte. Doch die Schlaffheit meines Geistes, verursacht von der Spritze, ließ keine Reaktion zu.

Ich kehrte zu dem Bild zurück und malte einige kompakte schwarze Rauchsäulen über das Feld, wobei ich fast die ganze Kohle verbrauchte. Zusammen mit den Schrapnellklecksen gaben sie dem Bild etwas Tristes, Untröstliches. Mir wurde darüber ganz seltsam zumute, und ich füllte den Horizont schnell mit kleinen Reiterfiguren, die über die Weizenfelder dahinfegten und den Angreifern in die Quere zu kommen trachteten.

»An Ihnen ist ein Schlachtenmaler verlorengegangen«, bemerkte Wolodin, der hin und wieder von seinem Zeichenbrett aufsah, um einen Blick auf meinen Karton zu werfen.

»Das müssen gerade Sie sagen«, erwiderte ich. »Wer malt denn ständig explodierende Scheiterhaufen?«

»Explodierende Scheiterhaufen?«

Ich deutete zur Wand, wo die Zeichnungen hingen.

»Wenn Sie meinen, das wären explodierende Scheiterhaufen, dann habe ich dazu nichts weiter zu sagen«, gab Wolodin zu verstehen. »Absolut nichts.«

Mir schien, er war gekränkt.

»Was soll es denn sein?«

»Die Niederkunft des himmlischen Lichts«, erwiderte er. »Sieht man denn nicht, daß es von oben kommt? Da, ich hab es extra noch mal deutlicher gezeichnet.« – Eine Kette von logischen Schlüssen rasselte mir durch den Kopf.

»Wenn ich recht verstehe, ist es das himmlische Licht, weswegen Sie hier ein Bett belegen?«

»Sie verstehen recht.«

»Das verwundert mich nicht. Ich hatte gleich das Gefühl, daß Sie ein ungewöhnlicher Mensch sind«, sagte ich höflich. »Was genau wirft man Ihnen vor? Daß Sie dieses Licht gesehen haben? Oder daß Sie versucht haben, jemandem davon zu erzählen?«

»Daß ich es bin«, sagte Wolodin. »Wie zumeist in diesen Fällen.«

»Jetzt scherzen Sie aber«, sagte ich. »Ich meine, im Ernst …«

»Ich hatte zwei Gehilfen«, sagte Wolodin mit einem Achselzucken, »ungefähr so alt wie Sie. Hygienebeauftragte könnte man sagen, Entsorgungsspezialisten. Ohne solche Leute kommt man in der Marktwirtschaft nicht weit. Die sind übrigens auch auf dem Bild – die zwei Schatten dort, sehen Sie? Ja. Kurz, ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, mit ihnen über die höhere Materie zu reden. Und einmal ergab es sich, daß wir in den Wald fuhren, und da habe ich es ihnen … Wie soll ich sagen. Es war alles echt. Ich mußte es nicht extra zeigen, sie haben es von allein gesehen. Also, dieser Moment ist hier wiedergegeben. Und er hat so auf sie gewirkt, daß sie es eine Woche später gemeldet haben. Was für Idioten – jeder von denen hatte persönlich zehn Leichen im Keller, und trotzdem haben sie gemeint, es würde im Vergleich zu dem, was sie zu petzen hatten, nicht ins Gewicht fallen. Niedere Instinkte haben die Menschen heutzutage, kann ich Ihnen sagen.«

»Da haben Sie recht«, erwiderte ich und mußte plötzlich an etwas ganz anderes denken.

Zum Mittagessen brachte Barbolin uns in eine kleine Kantine, die gewisse Ähnlichkeiten mit dem Wannenbad hatte – nur gab es anstelle der Wannen vier identische Plastiktische, dazu einen Ausgabeschalter. Ein einziger Tisch war eingedeckt. Während des Essens wurde fast nicht gesprochen. Als ich mit der Suppe fertig war und mir den Grützbrei vornehmen wollte, merkte ich, daß Wolodin den Teller von sich geschoben hatte und mich anstarrte. Zuerst bemühte ich mich, nicht darauf achtzugeben, doch nach einer Weile wurde es mir zuviel, ich hob die Augen und starrte herausfordernd zurück. Wolodin lächelte friedfertig (ich will dir nichts Böses, sollte das heißen) und sagte:

»Wissen Sie was, Pjotr, ich habe das Gefühl, als hätten wir uns bei einem für mich hochwichtigen Anlaß schon einmal gesehen.«

Ich zuckte die Achseln.

»Sie haben nicht zufällig einen Bekannten mit rotem Gesicht, drei Augen und einer Halskette aus Totenschädeln?« forschte er weiter. »Der um die Feuer tanzt? Krummsäbel schwingt? So ein Großer, he?«

»Kann schon sein«, sagte ich höflich, »aber ich wüßte im Moment nicht, von wem Sie reden. Die Beschreibung ist zu allgemein, wissen Sie. Könnte sozusagen auf jeden zutreffen.«

»Schon klar«, sagte Wolodin und beugte sich über seinen Teller.

Ich langte nach der Kanne, um mir Tee ins Glas zu gießen, doch Maria schüttelte den Kopf.

»Würde ich Ihnen nicht raten«, sagte er leise. »Brom. Führt zum Absterben der natürlichen Sexualität.«

Wolodin und Serdjuk tranken den Tee umstandslos.

Nach dem Essen wurden wir in den Schlafsaal zurückgebracht, worauf sich Barbolin sogleich verzog. Meine drei Nachbarn, die den Tagesablauf hier anscheinend gewohnt waren, schliefen ein, kaum daß sie in ihre Betten gekrochen waren. Ich lag ausgestreckt auf dem Rücken und starrte lange Zeit zur Decke, den für mich seltenen Zustand völliger Gedankenlosigkeit genießend – vielleicht ein letzter Ausläufer der Wirkung meiner Morgenspritze.

Eigentlich ist das Wort »Gedankenlosigkeit« nicht ganz zutreffend, schon weil mein Bewußtsein, von allen Gedanken befreit, weiterhin auf äußere Reize reagierte, wenn auch ohne jede Reflexion. Und da ich merkte, daß mein Kopf zu denken aufgehört hatte, war der Gedanke, ohne jeden Gedanken zu sein, bereits geboren. Es zeigte sich, daß die vollkommene Abwesenheit von Gedanken ein Unding ist, denn sie ist nicht zu registrieren. Sie wäre sozusagen gleichbedeutend mit dem Nicht sein.

Den Zustand fand ich jedenfalls wunderbar, weit entfernt vom gewohnten Ticken des eingefahrenen Verstandes. Es gibt ja Menschen, die sich um die eigenen psychischen Abläufe nicht kümmern. Ein bestimmter Zug an ihnen hat mich stets besonders verblüfft. Sie können lange Zeit abgeschottet von äußeren Reizen leben, vollkommen bedürfnislos – und plötzlich, ohne jeden sichtbaren Auslöser, setzt sich ein willkürlicher psychischer Prozeß in Gang, der sie zu unvorhersehbaren Handlungen treibt. Auf den außenstehenden Beobachter muß das verrückt wirken: Da liegt einer auf dem Rücken, eine Stunde, zwei oder drei, und plötzlich springt er auf, fährt in seine Latschen und läuft in unbekannte Richtung los – weil irgendein Gedanke ihn aus irgendeinem Grund (vielleicht auch völlig grundlos) auf ein bestimmtes Gleis gesetzt hat. Die meisten Leute sind so, und diese Schlafwandler bestimmen den Lauf der Dinge auf dieser Welt.

Das meine Lagerstatt umgebende Universum war voll von Geräuschen der verschiedensten Art. Einige vermochte ich zuzuordnen – das Klopfen eines Hammers auf der Etage über uns, das etwas entferntere Rütteln des Windes an den Fensterläden, das Krakeelen der Krähen –, und dennoch blieb das meiste unklar. Einfach sagenhaft, wieviel Neues sich dem Menschen eröffnet, wenn es ihm auch nur für eine Sekunde gelingt, das mit versteinertem Trödel vollgestopfte Bewußtsein zu räumen! Wir wissen nicht einmal, woher die meisten der Geräusche kommen, die wir hören – von allem übrigen ganz zu schweigen. Welchen Sinn kann es demnach haben, mit dem wenigen, was wir von der Welt zu wissen glauben, nach Erklärungen für unser Schicksal und unsere Handlungsweisen zu suchen! Genauso hoffnungslos wie der Versuch, das Innenleben einer wildfremden Person mit hirnrissigem Sozialkitsch zu erklären, wie Kanaschnikow es tut, dachte ich, und mir fiel plötzlich meine dicke Akte ein, die bei ihm auf dem Tisch lag. Ich dachte daran, daß Barbolin beim Weggehen vergessen hatte, die Tür zu verriegeln. Und sogleich, im Bruchteil einer Sekunde, entfaltete sich in meinem Kopf ein irrwitziger Plan.

Ich sah mich um. Seit Beginn der Mittagsruhe waren bestimmt schon zwanzig Minuten vergangen, und meine drei Zimmergenossen schliefen. Das ganze Haus schien entschlummert zu sein – bisher war kein Mensch auf dem Gang vorbeigelaufen. Vorsichtig warf ich die Decke ab, fuhr in meine Latschen, stand auf und schlich mich zur Tür.

»Wohin?« flüsterte es in meinem Rücken.

Ich drehte mich um. Aus der hintersten Ecke des Zimmers blickte mich das forschende Auge von Maria an – in dem schießschartenartigen Spalt zwischen dem Laken und der Decke, die er sich über den Kopf gezogen hatte, konnte ich es sehen.

»Aufs Klo«, flüsterte ich zurück.

»Sei nicht zickig!« wisperte Maria. »Dort steht der Topf. Vierundzwanzig Stunden Gummizelle, wenn sie es mitkriegen.«

»Lieber aufrecht und im Stehen«, entgegnete ich und schlüpfte auf den Gang hinaus.

Er war leer.

Ich erinnerte mich dunkel, daß Professor Kanaschnikows Arbeitszimmer neben einem hohen, halbrunden Fenster lag, hinter dem ich die Krone eines riesigen Baumes gesehen hatte. Der Gang, auf dem ich stand, machte ganz weit vorn einen Knick nach rechts, an dieser Stelle spiegelte sich das Tageslicht auf dem Linoleum in hellen Flecken. Gebückt lief ich dorthin und erblickte das Fenster. Auch die Tür zum Arbeitszimmer erkannte ich an der edlen Goldklinke sofort.

Einige Sekunden hockte ich da, das Ohr an das Schlüsselloch gepreßt. Aus dem Zimmer drang kein Laut. Schließlich wagte ich es und schob die Tür einen Spalt weit auf. Im Zimmer war keiner. Auf dem Schreibtisch lagen mehrere Akten; meine jedoch, die dickste von allen (wie sie ausgesehen hatte, erinnerte ich mich genau), befand sich nicht am alten Platz.

Verzweifelt sah ich mich im Zimmer um. Jener tranchierte Herr auf dem Plakat schaute mit gnadenlosem Optimismus auf mich herab; mir wurde angst und bange. Irgend etwas bedeutete mir, daß im nächsten Moment die Wärter zur Tür hereinkommen mußten. Nahe daran, mich auf der Stelle umzudrehen und auf den Gang zu flüchten, sah ich plötzlich, daß eine Akte aufgeklappt unter den auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Papieren lag.

 

Taurepam-Kur angesetzt (intravenös, vor Wasseranwendung) Ziel: Dämpfung ling.-kinäst. Funktionen bei gleichzeit. Aktivierungpsychomotor. Komplex…

 

Weitere lateinische Wörter folgten. Ich schob die Papiere beiseite, klappte den Aktendeckel um und las:

 

Akte:
PJOTR PUSTOTA

 

Ich setzte mich in Professor Kanaschnikows Sessel.

Die allererste Eintragung (in einem in die Kladde eingelegten Heft) war so alt, daß die violette Tinte schon verblaßt war und eine gewissermaßen historische Färbung angenommen hatte, wie man es aus Dokumenten kennt, in denen von Leuten die Rede ist, die längst nicht mehr unter den Lebenden weilen. Ich las mich sogleich fest.

 

In früher Kindheit keine Klagen über psychische Auffälligkeiten. Lebensfroher, sanfter, umgänglicher Knabe. Gut in der Schule, schrieb gern Gedichte (ohne bes. ästhet. Wert). Erste pathol. Devianzen im Alter von ca. 14 J. festgestellt. Verschlossenheit u. Gereiztheit ohne Vorliegen äuß. Gründe. Hat sich nach Auss. d. Eltern »von der Familie entfernt«, Zustand emot. Entfremdung. Kontakt zu Freunden abgebrochen – angebl. wg. Hänseleien bzgl. seines Namens Pustota. Gleiches geschieht nach Auss. Pat. seitens Erdkundelehrerin, die ihn mehrfach »Pustekuchen« nennt. Drast. Abfall schul. Leistungen. Beginnt in dieser Zeit verstärkt philos. Lit. zu lesen: Hume, Berkley, Heidegger – alles, was irgendwie die philos. Aspekte des Nichts bzw. Nichtseins behandelt. Zeigt von da an Neigung zur »metaphysischen« Bewertg. alltäglichster Vorgänge; behauptet immer wieder, er sei den Altersgefährten in der »Kühnheit des Lebenswurfs« überlegen. Schwänzt immer öfter die Schule. Daraufhin konsultieren die Eltern den Arzt.

Kontaktaufnahme mit Psychiater fällt Pat. leicht. Zutraulich. Über sein Innenleben gibt Pat. folg. Auskunft: Er habe ein »besonders konzipiertes Weltempfinden«. Denke »trefflich und ausgiebig« über seine Umwelt nach. Seine psych. Aktivität beschreibend, erklärt Pat., das Denken »verbeiße« sich gewissermaßen in einen Gegenstand., um zum Wesen vorzudringen. Infolge dieser mentalen Besonderheit vermag Pat. »jede gestellte Frage, jedes Wort, jeden Buchstaben zu analysieren u. dabei bis ins kleinste zu zerlegen«, wobei in seinem Kopf ein »triumphaler Chor vieler miteinander streitender Ichs« existiere. Sieht sich ausgesprochen unschlüssig a) aufgrund des Studiums der »alten Chinesen«, b) weil »die Orientierung im Wirbel von Tönen und Farben innerlicher Widersprüche schwierig« sei. Andererseits lt. eig. Auss. zu »freiem Gedankenflug« fähig, welcher ihn über alle »Laien« erhebe. Diesbezügl. klagt Pat. über Einsamkeit und Unverstandensein durch andere. Keiner sei imstande, »in Resonanz« zu ihm zu denken.

Pat. behauptet, er könne sehen und fühlen, was »Laien« unzugänglich sei. Sieht z.B. in Falten von Gardinen u. Tischdecken, Tapetenmustern etc. gewisse Linien, Muster, Formen, die »die Schönheit des Lebens« bezeichnen. Dies sei sein »Goldenes Los«, d.h. der Anreiz, weshalb Pat. tagtäglich die »unfreiwillige Bürde der Existenz« auf sich nehme.

Pat. hält sich für einzigen Nachfolger der großen Philosophen der Verg. Repetiert ausführl. »Reden an das Volk«. Beschwert sich nicht bez. Unterbringung i. Psychiatrie, da überzeugt, daß seine »Eigenentwicklung« unabhängig vom Aufenthaltsort »ihren Gang« gehe.

 

Einige Formulierungen waren fett mit Kopierstift unterstrichen. Ich blätterte um. Der nachfolgende Text war mit »Organoleptische Indikationen« überschrieben. In ihm dominierte weitgehend das Lateinische. Hastig blätterte ich weiter. Das mit lila Tinte vollgeschriebene Heft war nicht in den Ordner geheftet – vermutlich war es aus einer anderen Akte eingewandert. Vor dem nächsten, umfänglichsten Teil der Akte kam ein Blatt, auf dem stand:

 

Petersburger Periode
(Bezeichnet den fixesten der Wahninhalte. Wiederholt hospitalisiert.)

 

Doch ich kam nicht dazu, auch nur ein Wort aus diesem zweiten Teil der Akte zu lesen. Draußen auf dem Flur erklang die Stimme des Professors, der einem Unbekannten in gereiztem Ton etwas auseinandersetzte. Hastig ordnete ich die Blätter auf dem Tisch ungefähr so, wie sie zuvor gelegen hatten, und stürzte zum Fenster – mir war als erstes die Idee gekommen, mich hinter der Gardine zu verstecken. Sinnlos: Der Stoff lag beinahe glatt an den Scheiben an.

Kanaschnikows murrende Stimme schien schon ganz in der Nähe der Tür. Offenkundig las er einem der Wärter die Leviten. Ich schlich nach vorn und blickte durchs Schlüsselloch. Zu sehen war niemand – vermutlich standen der Inhaber dieses Kabinetts und sein Gesprächspartner doch noch ein paar Meter weiter, um die Ecke.

Meine nächsten Handlungen erfolgten einigermaßen instinktiv. Geschwind lief ich aus dem Zimmer, preschte auf Zehenspitzen zu einer gegenüberliegenden Tür und tauchte in die dunkle, staubige Abstellkammer dahinter. All dies gerade noch zur rechten Zeit. Das Gespräch hinter der Ecke brach ab, und keine Sekunde später erschien Professor Kanaschnikow in dem schmalen Abschnitt des Flurs, der durch den Türspalt einzusehen war. Vor sich hin fluchend, verschwand er im Kabinett. Ich zählte bis fünfunddreißig (wieso bis fünfunddreißig, weiß ich nicht – nie zuvor in meinem Leben hatte diese Zahl eine Rolle gespielt), sprang hinaus auf den Gang und huschte geräuschlos zum Schlafsaal.

Keiner hatte meine Rückkehr bemerkt – der Flur blieb leer, und meine Mitmenschen schliefen. Wenige Minuten, nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte, ertönte auf dem Korridor die Weckmelodie; beinahe gleichzeitig kam Barbolin herein und gab bekannt, daß im Schlafsaal heute eine Kakerlakenvertilgung stattfinde und deshalb für diesen Tag ein zweites heilästhetisches Praktikum angesetzt sei.

Augenscheinlich hält die Atmosphäre eines Irrenhauses den Menschen zur Demut an. Keiner dachte daran zu rebellieren oder nur irgendwie kundzutun, daß es unmöglich war, so viele Male nacheinander Aristoteles zu zeichnen. Einzig Maria brummelte etwas Unwirsches in seinen Bart. Er war schon mit übler Laune aus dem Bett gestiegen, vielleicht hatte er schlecht geträumt – nach dem Wecken ging er gleich zum Spiegel und studierte gründlich sein Gesicht. Es gefiel ihm offenbar nicht so recht, denn er massierte sich einige Minuten lang mit kreisenden Handbewegungen die Haut rings um die Augen.

Mit großer Verspätung trudelte er dann im Ästhetikzimmer ein und dachte sichtlich nicht daran, Aristoteles zu zeichnen, wie das die übrigen, darunter auch ich, bereits artig taten. Er hockte sich in eine Ecke, wand sich ein gelbes Band um den Kopf, das seine Haarpracht anscheinend gegen einen irgendwo in den Weiten seiner Psyche brausenden Wind schützen sollte, und nahm uns auf eine Weise in Augenschein, als sähe er uns zum erstenmal.

Über die Windstärke vermag ich nichts zu sagen, fest stand, daß sich düstere Wolken im Raum zusammenbrauten. Wolodin und Serdjuk schenkten Maria keinerlei Beachtung, und auch für mich war es wohl besser, Kinkerlitzchen wie diese einfach zu übersehen. Doch das anhaltende Schweigen bedrückte mich, und ich beschloß, es zu brechen.

»Sie verzeihen, Herr Serdjuk, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich ein Gespräch mit Ihnen anzuknüpfen versuchte?«

»Aber woher denn! Tun Sie sich keinen Zwang an«, entgegnete Serdjuk galant.

»Ich hoffe, die Frage erscheint Ihnen nicht gar zu taktlos, aber wieso sind Sie eigentlich hier?«

»Wegen Entrücktheit.«

»Ach was? Kann man deswegen eingeliefert werden?«

Serdjuk maß mich mit einem langen Blick.

»Aktenkundig bin ich als suizidal-vagabundierendes Syndrom in Verbindung mit Delirium tremens. Aber keiner weiß, was das ist.«

»Erzählen Sie doch mal«, bat ich.

»Was gibt es da groß zu erzählen. Ich hab in einem Keller auf der Nagornoe Chaussee gelegen. Und zwar aus rein privaten und äußerst stichhaltigen Gründen, bei vollem, quälendem Bewußtsein. Und da kreuzt ein Bulle auf, mit Blaulicht und Knarre. Will den Ausweis sehen. Ich hab ihn vorgezeigt. Dann wollte er natürlich Geld. Ich gab ihm alles, was ich hatte – so an die zwanzigtausend. Er nimmt das Geld und will trotzdem nicht gehen. Ich hätte mich zur Wand drehen und ihn vergessen sollen, aber nein – laß ich Idiot mich doch auf ein Gespräch mit ihm ein. Wieso, sag ich, hast du's ausgerechnet auf mich abgesehen, gibt's dort oben auf der Straße nicht genug Gangster? Der Bulle war redselig – hat Philosophie studiert, wie ich hinterher erfahren hab. Doch, sagt er, da gibt's jede Menge. Aber sie stören die Ordnung nicht. Wie das denn, frag ich weiter. Also, sagt der Bulle. Ein normaler Gangster ist wie? Du guckst ihn an und weißt, er hat nur eins im Kopf: irgendwen um die Ecke bringen, ausrauben oder was weiß ich. Und der, der von ihm ausgeraubt wird, stört die Ordnung auch nicht weiter, der liegt da mit zertrümmertem Schädel und denkt, Scheiße, ausgeraubt. Du aber liegst hier rum – spricht er zu mir –, und man sieht gleich, du hast Flausen im Kopf. Man könnte denken, du tätst an das, was um dich rum ist, gar nicht glauben. Oder an allem zweifeln.«

»Und was haben Sie geantwortet?« fragte ich.

»Ja, was schon. Ich sag zu ihm: Kann sein, ich hab tatsächlich so meine Zweifel. Schon die Weisen aus dem Fernen Osten haben gesagt, die Welt ist eine Illusion. Das von den Weisen hab ich natürlich nur so gesagt, um ihm im Niveau entgegenzukommen. So primitiv, wie der war. Da ist er richtig rot geworden und hat gesagt: Was bildest du dir ein? Ich hab an der Uni mein Diplom über Hegel geschrieben und laufe trotzdem jetzt hier mit der Knarre rum. Und du meinst, nur weil du irgendeinen Artikel aus ›Wissenschaft und Religion‹ aufgeschnappt hast, kannst du dich einfach so im Keller verkriechen und an der Wirklichkeit zweifeln? Also kurz, ein Wort gab das andere, und dann hat er mich mitgenommen, erst aufs Revier und dann hierher. Da war ein Kratzer am Bauch, wo ich mich geschnitten hatte an ner zerbrochenen Flasche, den haben sie mir als Suizidversuch ausgelegt.«

»Ich würde ja alle, die an der Wirklichkeit zweifeln, überhaupt hinter Gitter bringen«, mischte sich unerwartet Maria ein. »Die gehören nicht ins Irrenhaus, sondern ins Gefängnis. Wenn nicht noch ganz woandershin.«

»Warum, wenn ich fragen darf?« erkundigte sich Serdjuk.

»Willst du das wirklich wissen?« fragte Maria griesgrämig. »Dann komm her, ich erklär's dir.«

Er verließ seinen Eckplatz bei der Tür, ging zum Fenster, wartete, bis auch Serdjuk dort angelangt war, und wies mit seinem muskulösen Arm nach draußen.

»Siehst du den 600er Mercedes, der da steht?«

»Ja«, sagte Serdjuk.

»Ist das auch eine Illusion?«

»Höchstwahrscheinlich ja.«

»Weißt du, wer in dieser Illusion durch die Gegend fährt? Der Verwaltungsdirektor unserer netten Anstalt. Sie nennen ihn den kleinen Wowtschik, mit Spitznamen Nietzscheaner. Schon mal gesehen?«

»Ja.«

»Was hältst du von ihm?«

»Ein Gangster, keine Frage.«

»Dann überleg mal. Dieser Gangster hat, sagen wir, zehn Leute umgelegt, bis er sich so ein Auto kaufen konnte. Heißt das also, die zehn hätten ihr Leben umsonst gelassen, weil das Auto nämlich eine Illusion ist? Was ist? Merkst du, daß die Sache stinkt?«

»Ich merk schon«, sagte Serdjuk finster und kehrte zu seinem Stuhl zurück.

Währenddessen hatte Maria anscheinend auch wieder Lust zum Zeichnen bekommen. Er holte sein Brett aus der Ecke und setzte sich neben uns.

»Nein«, sagte er, während er mit zusammengekniffenen Augen auf die Aristotelesbüste starrte, »wenn du irgendwann hier rauskommen willst, mußt du Zeitung lesen und Gefühle zulassen. Nicht an der Wirklichkeit zweifeln. Zu Sowjetzeiten, da haben wir mit Illusionen gelebt. Aber heute ist die Welt real und erkennbar. Kapiert?«

Serdjuk zeichnete schweigend weiter.

»Bist du vielleicht andrer Meinung?«

»Schwer zu sagen«, sagte er so finster wie zuvor. »Daß die Welt real ist, bezweifle ich. Erkennbar ist sie allemal, das weiß ich schon lange. Und zwar am Geruch.«

»Meine Herren«, fing ich an, da ich spürte, daß Zank auszubrechen drohte, und das Gespräch auf neutrales Territorium zu lenken suchte, »können Sie mir vielleicht sagen, warum wir hier immerzu Aristoteles zeichnen?«

»Sagen Sie bloß, das ist Aristoteles?« fragte Maria. »Drum guckt der so ernst. Nein, keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich haben sie den auf dem Dachboden als erstes gefunden.«

»Maria, stell dich nicht blöd«, sagte Wolodin. »Du weißt genau, daß hier nichts zufällig passiert. Du hast doch eben erst selber die Dinge beim Namen genannt. Warum sitzen wir alle miteinander in der Klapper? Sie wollen uns hier auf den Boden der Realität zurückbringen. Und diesen Aristoteles zeichnen wir deshalb, weil er es war, der die Realität mitsamt den 600er Mercedessen erfunden hat, in die du so gern entlassen werden möchtest.«

»Soll das heißen, es hat sie vor ihm nicht gegeben?« fragte Maria.

»Es hat sie vor ihm nicht gegeben«, erwiderte Wolodin, wie aus der Pistole geschossen.

»Wie kann das sein?«

»Das verstehst du nicht«, sagte Wolodin.

»Dann versuch es mir zu erklären«, sagte Maria. »Vielleicht versteh ich es ja doch.«

»Gut, dann sag mir, wieso ist dieser Mercedes real?« fragte Wolodin.

Ein paar Sekunden dachte Maria angestrengt nach.

»Weil er aus Eisen gemacht ist, darum«, sagte er dann. »Kann man hingehen und anfassen.«

»Du willst also sagen, daß eine gewisse Substanz, aus der er besteht, ihn real macht?«

Maria überlegte.

»So ungefähr«, sagte er.

»Siehst du, das ist der Grund, weshalb wir den Aristoteles abzeichnen. Vor ihm gab's keine Substanzen«, sagte Wolodin.

»Und was gab's statt dessen?«

»Es gab ein oberstes Himmelsmobil, im Vergleich zu dem dein 600er Mercedes ein Scheißding ist. Dieses Himmelsmobil war absolut vollkommen. Und alle Bilder und Begriffe, die man sich zur Automobilität macht, steckten in dem drin. Und die sogenannten realen Autos, die auf den Straßen des Alten Griechenland fuhren, galten als seine unvollkommenen Schatten. Secondhandprojektionen, weiter nichts. Verstehst du?«

»Verstehe. Und was weiter?«

»Weiter ist der Aristoteles gekommen und hat gesagt: Leute, daß es das Himmelsobermobil gibt, ist mal klar. Und alle irdischen Kraftfahrzeuge sind selbstredend nur Zerrbilder im lausigen, blinden Spiegel des Seins. Dagegen ließ sich damals nichts sagen. Aber, sagte Aristoteles, außer dem Prototypen und den Zerrbildern gibt's noch was. Das Material nämlich, das die Form des Autos annimmt, die Substanz, die über eine Eigenexistenz verfügt. Das Eisen, wie du dich ausdrückst. Und diese Substanz hat die Welt real gemacht. Mit ihr hat diese ganze beschissene Marktwirtschaft angefangen. Vor ihr waren alle Dinge auf dieser Welt nur Schatten und Bilder, und wie real die sind, kann sich jeder vorstellen. Real ist nur das, was die Bilder hervorbringt.«

»Na, wissen Sie«, bemerkte ich leise, »das ist noch die große Frage.«

Wolodin ignorierte meine Worte.

»Verstanden?« fragte er Maria.

»Verstanden«, sagte Maria.

»Was hast du verstanden?«

»Ich hab verstanden, daß du ein Vollidiot bist. Autos im Alten Griechenland. Da muß man sich doch an den Kopf greifen.«

»Puh«, sagte Wolodin. »Wie kleinlich und mustergültig. Wenn du so weitermachst, werden Sie dich wirklich bald entlassen.«

»Geb's Gott«, sagte Maria.

Serdjuk hob den Kopf und blickte Maria konzentriert ins Gesicht.

»Weißt du, Maria«, sagte er, »ich finde, du hurst in letzter Zeit ziemlich viel herum. In geistiger Hinsicht, meine ich.«

»Mann, ich muß hier raus, verstehst du? Ich will hier nicht ein Leben lang versauern. Wer will mich in zehn Jahren noch haben?«

»Du bist ein Schaf, Maria«, sagte Serdjuk mit Verachtung in der Stimme. »Begreifst du denn nicht, daß du und Arnold … daß eure Liebe nur hier eine Chance hat?«

»Hüte deine Zunge! Sonst hau ich dir Drecksstück mit der Büste den Schädel ein!«

»Probier's doch, du Clown«, sagte Serdjuk, der blaß geworden war und jetzt aufstand. »Probier's!«

»Ich probier's gar nicht erst«, erwiderte Maria und erhob sich gleichfalls, »ich tu's einfach. Wer so was sagt, ist fällig.«

Er schritt zum Tisch und packte die Büste.

Alles Weitere war eine Sache von Sekunden. Wolodin und ich sprangen gleichzeitig von den Stühlen. Wolodin schlang von hinten die Arme um Serdjuk, der auf Maria zustürzen wollte. Marias Gesicht war wutverzerrt; er hob die Büste über den Kopf, holte mit ihr aus und lief auf Serdjuk zu. Ich drängte Maria zur Seite und sah im selben Moment, daß Wolodin Serdjuk immer noch festhielt und ihm die Arme einklemmte, wodurch er die Büste im Ernstfall nicht einmal hätte mit den Händen abwehren können. Also versuchte ich nunmehr, Wolodins Armklammer um die Brust des mit geschlossenen Augen selig vor sich hin lächelnden Serdjuk zu lösen. Da merkte ich plötzlich, daß Wolodin entsetzt über mich hinwegblickte. Ich drehte den Kopf und sah, wie ein totes Gipsgesicht mit verstaubten Augäpfeln langsam von einem Stuckhimmel voller Fliegen auf mich niedersank.