7

»Dynamo! Dynamo! Wirst du wohl herkommen, Biest!«

Ich sprang vom Bett. Irgendein junger Kerl, der einen abgerissenen schwarzen Überzieher auf dem nackten Oberkörper trug, rannte auf dem Hof brüllend hinter seinem Pferd her.

»Dynamo! Bleib stehen, dumme Trine! Wo willst du denn hin!«

Unter meinem Fenster schnaubten noch mehr Pferde, umringt von einer großen Menge rotgardistischer Soldaten, die es gestern hier noch nicht gegeben hatte. Daß es rote Truppenteile waren, ließ sich eigentlich nur an ihrem losen Aufzug erkennen – bunt zusammengewürfelt, überwiegend Zivil, woraus man schließen durfte, daß die Kleiderkammern vorzugsweise bei Plünderungen aufgefüllt worden waren. Ein Mann mit Budjonnymütze (der rote Stern schief angeheftet) stand inmitten des Haufens und gab, mit den Armen rudernd, irgendwelche Anweisungen. Von der großen roten Säbelschramme quer über die Wange einmal abgesehen, erinnerte er mich verblüffend an jenen Furmanow, Kommissar des Weberbataillons aus Iwanowo, den ich auf dem Meeting vor dem Jaroslawler Bahnhof kennengelernt hatte.

Meine Aufmerksamkeit wurde bald von dem bunten Haufen abgelenkt, denn mitten auf dem Hof sah ich eine Kalesche stehen. Vier Rappen wurden gerade angespannt. Es war ein langer, offener Landauer mit Pneureifen und Stahlfederung, die Sitzbänke aus kostbarem Holz und mit weichem Leder bezogen, Reste einer Vergoldung waren erkennbar. Dieses edle Gefährt weckte eine unaussprechliche Nostalgie in mir – Splitter einer auf ewig dahingegangenen Welt, deren Bewohner der naiven Hoffnung angehangen hatten, sich mit solchen Transportmitteln in die Zukunft retten zu können. Nun hatte es sich so ergeben, daß die Transportmittel den Marsch in die Zukunft allein angetreten hatten, und dies um den Preis ihrer Verwandlung in hunnische Streitwagen. Jedenfalls kamen einem solche Assoziationen, wenn man die drei »Lewis«-MGs auf einer Stange am Heck des Landauers sah.

Ich trat vom Fenster zurück, setzte mich auf das Bett. Mir fiel ein, daß diese MG-Wagen bei den russischen Militärs »Tatschanka« hießen. Die Herkunft dieses Wortes war rätselhaft – beim Anziehen der Stiefel wälzte ich alle möglichen etymologischen Varianten und fand nichts Passendes. Nur ein blöder Kalauer fiel mir ein: Tatschanka – touch Anka. Nach dem gestrigen Geplänkel mit der schönen Frau (allein die Erinnerung trieb mir das Blut ins Gesicht und die Falten auf die Stirn) mußte ich ihn wohl oder übel für mich behalten.

Mit derlei Gedanken im Kopf lief ich die Treppe hinab und auf den Hof hinaus. Jemand sagte mir, daß Kotowski mich in der Stabsscheune erwartete, und ich begab mich, ohne zu zögern, dorthin. Am Eingang hielten zwei Soldaten in schwarzen Uniformen Wache – als ich an ihnen vorüberging, standen sie stramm und salutierten. Ihren gespannten Gesichtern sah man an, daß sie sehr gut wußten, wer ich war – leider hatte die Verletzung auch ihre Namen aus meinem Gedächtnis radiert.

Kotowski saß in einem sandgelben, bis obenhin zugeknöpften Uniformrock auf dem Tisch. Er war allein im Raum. Als erstes bemerkte ich die Totenblässe in seinem Gesicht – es sah aus wie dick gepudert. Augenscheinlich hatte er schon am Morgen heftig dem Kokain zugesprochen. Neben ihm auf dem Tisch stand ein schlanker Glaszylinder, in dem sich Wölkchen einer geschmeidigen weißen Substanz langsam auf und nieder bewegten. Es war eine Spirituslampe, wie sie noch vor Jahren in Petersburg große Mode gewesen war: Wachsklümpchen schwebten im gefärbten Glyzerin.

Kotowski streckte mir die Hand entgegen. Ich bemerkte ein leichtes Zittern.

»Ich weiß nicht, warum«, sagte er und hob seine klaren Augen, »seit dem frühen Morgen bewegt mich die Frage, was uns erwartet, wenn wir in die Grube fahren.«

»Sie meinen, da wartet wer?« fragte ich.

»Vielleicht habe ich mich ungeschickt ausgedrückt«, sagte Kotowski. »Deutlicher gesagt: Ich denke über den Tod und die Unsterblichkeit nach.«

»Wie sind Sie denn in diese Stimmung geraten?«

»Ach«, Kotowski zeigte ein kaltes Lächeln, »das ist im Grunde ein Dauerzustand, seit jener denkwürdigen Begebenheit in Odessa. Na ja, unwichtig.«

Er schob die Finger vor der Brust ineinander und wies mit dem Kinn auf die Lampe neben sich.

»Sehen Sie sich diese Wachstropfen an. Schauen Sie, was mit ihnen passiert. Erst werden sie vom Brenner erhitzt und nehmen die wunderlichsten Formen dabei an, dann steigen sie auf. Währenddessen kühlen sie wieder ab; je höher sie gelangen, desto träger sind ihre Bewegungen. In irgendeinem Punkt bleiben sie schließlich hängen, und dann, meistens bevor sie es bis ganz hinauf geschafft haben, beginnt der Abstieg. Dorthin, von wo sie gekommen sind.«

»Jaja, darin liegt eine gewisse platonische Tragik«, äußerte ich gedankenvoll.

»Mag sein. Ich meine etwas anderes. Stellen Sie sich vor, die den Zylinder emporsteigenden Tropfen hätten ein Bewußtsein. Dann hätten sie augenblicklich auch ein Problem. Ein Identitätsproblem.«

»Das ist wohl wahr.«

»Und da sind wir nah am springenden Punkt. Wenn eines dieser Wachsbröckchen nämlich meinte, es bestünde aus der Form, die es hat, so wäre es dem Tod geweiht, denn diese Form wird sehr schnell zerstört. Käme es aber dahinter, daß es Wachs ist, was passierte ihm dann?«

»Dann kann ihm gar nichts passieren«, sagte ich.

»Eben«, sagte Kotowski. »Dann ist es unsterblich. Der Witz ist nur der, daß es dem Wachs nicht so leicht fällt zu begreifen, daß es Wachs ist. Sich die eigene Urnatur zu vergegenwärtigen ist praktisch unmöglich. Wie soll man wahrnehmen, was einem von allem Anfang an vor Augen steht? Was auch schon da war, als die Augen noch fehlten? So ist das einzige, was ein Wachs sich vor Augen führen kann, seine vorübergehende Form. Und es glaubt, diese Form machte es aus, verstehen Sie? Dabei ist die Form willkürlich – jedesmal sind Tausende und Abertausende von Zufällen an ihrem Zustandekommen beteiligt.«

»Eine blitzsaubere Allegorie. Aber was folgt aus ihr?« fragte ich, da mir das Gespräch vom letzten Abend noch gegenwärtig war und ich daran denken mußte, wie leichtfertig er bei dieser Gelegenheit Rußlands Schicksal gegen eine Portion Kokain eingetauscht hatte. Es konnte durchaus sein, daß er den Rest des Pulvers auch noch haben wollte und das Gespräch darauf zu bringen beabsichtigte.

»Es folgt daraus, daß der einzige Weg zur Unsterblichkeit für ein Tröpfchen Wachs darin besteht, die Vorstellung vom Tröpfchen aufzugeben und statt dessen zu begreifen: Ich bin das Wachs. Weil unser Tröpfchen aber nun einmal nichts weiter erkennen kann als die Form, betet es ein ganzes kurzes Leben lang zu seinem Wachsgott, er möge doch diese Form retten – obwohl es mit ihr im Grunde nichts zu schaffen hat. Wobei alles Wachs auf Erden zusammengenommen auch keine anderen Qualitäten hat, als jeder einzelne Wachstropfen schon in sich birgt. Verstehen Sie? Ein Tröpfchen aus dem gigantischen Ozean allen Seins ist dieser Ozean – in Tropfengröße. Aber wie soll man das einem Wachstropfen erklären, dem um nichts so bange ist wie um seine vergängliche Form? Wie diesen Gedanken in ihn hineinpflanzen? Denn es sind die Gedanken, die einen zur Erlösung führen oder ins Verderben reiten – Erlösung und Verderben sind ja auch nur Gedanken. In den ›Upanischaden‹ steht, glaube ich, der Geist sei das vor die Karre des Körpers gespannte Pferd …«

Hier schnipste er mit den Fingern, als sei ihm plötzlich ein Gedanke gekommen, und mich traf ein Blick aus kalten Augen: »Weil wir gerade bei Gespannen sind: Finden Sie nicht, daß ein halbes Döschen Kokain für ein Paar Orjoler Traber …«

Ein ohrenbetäubender Donnerschlag ließ mich zur Seite taumeln. Die neben Kotowski stehende Spirituslampe explodierte, Tisch und Generalstabskarte wurden von einer Glyzerinflut überschwemmt. Kotowski sprang von der Tischplatte. Plötzlich steckte, wie aus dem Nichts hervorgezaubert, ein Revolver in seiner Faust.

In der Tür stand Tschapajew: grauer Uniformrock, gegürtet mit einem Portepee, Pelzmütze mit schrägem Moireband, schwarze Reithosen mit Lederbesatz und dreifacher Biese, die vernickelte Mauserpistole im Anschlag. Von seiner Brust blitzte das silberne Pentagramm (er hatte es einmal als Oktoberstern-Orden bezeichnet, das wußte ich noch), daneben baumelte ein kleiner Feldstecher.

»Gut gesprochen, Grigori – das mit dem Wachströpfchen, meine ich«, sagte er mit heiserer Tenorstimme. »Aber was sagst du nun? Wo ist jetzt dein Ozean allen Seins?«

Bestürzt schaute Kotowski zu der Stelle, wo eben noch die Lampe gestanden hatte. Auf der Karte breitete sich ein Riesenfettfleck aus. Zum Glück war der Lampendocht bei der Detonation erloschen – sonst hätten wir nun den schönsten Zimmerbrand gehabt.

»Die Form, das Wachs – wer hat das alles hervorgebracht?« fragte Tschapajew düster. »Antworte!«

»Der Geist«, erwiderte Kotowski.

»Und wo steckt der? Zeig ihn mir.«

»Der Geist steckt in der Lampe«, sagte Kotowski. »Hat da gesteckt. Bis eben.«

»Und was macht er nun, wo die Lampe kaputt ist?«

»Wozu ist er ein Geist?« gab Kotowski konsterniert zurück.

Tschapajew schoß noch einmal. Die Kugel verwandelte das auf dem Tisch stehende Tintenfaß in einen blauen Zimmerspringbrunnen.

Für einen Moment wurde mir schwindlig.

Auf Kotowskis fahlen Wangenknochen zeichneten sich zwei tiefrote Flecken ab.

»Gut«, sagte er, »ich habe verstanden. Die Lektion ist angekommen, Wassili Iwanowitsch. Sie hat gesessen.«

»Ach, Grigori«, sagte Tschapajew in traurigem Ton, »was machst du nur für Sachen? Du darfst dir jetzt keinen Fehler mehr erlauben, das weißt du doch. Auf gar keinen Fall. Wo du hingehst, wird dir keiner mehr Lektionen erteilen. Da wird alles so sein, wie du es sagst.«

Ohne aufzublicken, drehte Kotowski sich um und rannte aus der Scheune.

»Wir rücken aus«, sagte Tschapajew und steckte die rauchende Mauser ins Halfter zurück. »Wollen wir nicht zu zweit die Kalesche nehmen, die du Grigori gestern abgeluchst hast? Dann haben wir noch ein bißchen Zeit zu reden.«

»Gern«, antwortete ich.

»Ich habe schon anspannen lassen«, sagte Tschapajew, »Grigori und Anka fahren auf der Tatschanka.«

Mein Gesicht mußte sich verdüstert haben, denn Tschapajew lachte laut auf und hieb mir mit aller Wucht die Hand auf den Rücken.

Wir gingen hinaus auf den Hof und drängten uns durch die Menge der Soldaten bis zu den Pferdeställen. Dort herrschte die lärmende Geschäftigkeit, die für den Auszug eines Bataillons in den Kampf typisch ist und das Herz eines jeden Kavalleristen höher schlagen läßt. Die Soldaten zurrten die Sättel fest, prüften die Hufe und führten dabei muntere Gespräche – hinter dieser Munterkeit aber spürte man nüchterne Konzentration, alle Saiten in ihnen waren bis zum Äußersten gespannt. Selbst die Pferde schienen von der seelischen Verfassung ihrer Reiter angesteckt, sie tänzelten von einem Bein aufs andere, wieherten, versuchten immer wieder, die Kandare auszuspucken, und äugten mit dunklen, magnetischen Augen, in deren Winkeln eine wahnwitzige Freude zu sitzen schien, zur Seite.

Ich spürte, wie die hypnotische Wirkung der nahenden Gefahr auch auf mich übergriff. Während Tschapajew zwei Soldaten etwas erklärte, trat ich zum nächststehenden Pferd, dessen Zügel an einem in die Wand eingeschlagenen Ring hingen, und fuhr mit den Fingern durch seine Mähne. Diese Sekunde hat sich mir eingeprägt: die dichte Haarpracht unter meinen Fingern, der säuerliche Geruch des neuen Ledersattels, der Sonnenfleck vor mir an der Wand und dazu das umwerfende, mit nichts zu vergleichende Empfinden eines vollendeten, sich selbst genügenden Augenblicks von Wirklichkeit. Dies mußte gemeint sein, wenn einer davon sprach, »aus voller Brust zu atmen« und »das Leben ganz zu leben«. Zwar hielt es nur einen kurzen Moment vor – genug jedoch, um zu begreifen, daß das wahre, das echte Leben seiner Natur nach gar nicht länger währen konnte.

»Petka«, rief Tschapajew hinter mir, »komm jetzt!«

Ich tätschelte dem Pferd ein letztes Mal den Hals und ging zum Wagen – nicht ohne einen schrägen Blick zur Tatschanka hinüber, in der Anna und Kotowski bereits saßen. Anna trug eine weiße Schirmmütze mit roter Borte, dazu eine schlichte Uniformbluse, am dünnen Riemen saß ein kleines, wildledernes Halfter, blaue Reithosen mit schmaler roter Biese steckten in hohen Schnürstiefeln. Diese Montur ließ sie ungehörig jung erscheinen, sie sah aus wie ein Gymnasiast. Meinen Blick bemerkend, wandte sie sich ab.

Tschapajew saß auch schon im Wagen. Auf dem Bock hockte wieder der schweigsame Baschkire mit Spitznamen Batu, der vor langer Zeit einmal Champagner im Zug ausgeschenkt und mich neulich auf seinem sinnlosen Wachposten vor dem Heuschober beinahe auf sein Bajonett gespießt hatte. Kaum saß ich neben Tschapajew, als der Baschkire die Zügel anzog, laut mit den Lippen schmatzte und wir durch das Tor rollten.

Dicht hinter uns fuhr der Wagen mit Kotowski, Anna und den Maschinengewehren, dahinter folgten die Reiter. Wir bogen nach rechts in die Straße ein. Eigentlich war es hier keine Straße mehr, sondern ein Feldweg; unser Quartier war stadtauswärts das letzte Anwesen. Der Weg führte steil bergan und stieß bald, mit einer leichten Biegung nach rechts, auf eine Wand aus dichtem Grün.

Wir fuhren wie in einen Tunnel. Die Bäume zu beiden Seiten, deren Äste sich über dem Weg ineinander verflochten, wirkten sonderbar, wie überdimensionale Büsche. Der Tunnel wollte kein Ende nehmen, zumindest schien es mir so – wir fuhren nicht sehr schnell. Durch das Laubwerk blinzelte die Sonne, ihr Licht brach sich in den letzten Tropfen des Morgentaus; das Grün war so grell und blendend, daß ich für einen Moment jede Orientierung verlor, mir kam es so vor, als sackten wir in einen endlos tiefen grünen Brunnen. Ich mußte die Augen zu Schlitzen verengen, damit der Eindruck verging.

Die seltsame Allee hörte so abrupt auf, wie sie begonnen hatte. Der unbefestigte Weg stieg wieder an; zur Linken hin war das Gelände sanft abschüssig, rechts erhob sich eine schroffe Felswand, wunderschön in ihrer blaßlila Färbung; kleine, schüttere Bäume wuchsen aus den Ritzen. Eine Viertelstunde ungefähr fuhren wir so bergan.

Tschapajew saß mit geschlossenen Augen neben mir, die Hände ruhten auf dem Griff seines gegen den Boden gestemmten Säbels. Er schien in Gedanken versunken oder schlummernd. Plötzlich schlug er die Augen auf und drehte sich zu mir.

»Hast du eigentlich noch die Alpträume, über die du früher klagtest?«

»Nach wie vor, Wassili Iwanowitsch«, antwortete ich.

»Und spielen sie immer noch in dieser Klinik?«

»Wenn es so wäre!« sagte ich. »Träume ändern ihre Schauplätze so rasend schnell, wissen Sie. Heute nacht ging es zum Beispiel um Japan. Gestern war's wieder die Klinik. Und was das Schönste war: Dieser Folterknecht, der da immer den Chef markiert, der wollte, daß ich ausführlich zu Papier bringe, was mir hier passiert. Er brauchte das für seine Arbeit, hat er gesagt. Können Sie sich das vorstellen?«

»Klar. Warum willst du nicht auf ihn hören?«

Verblüfft sah ich Tschapajew an.

»Ist das Ihr Ernst?«

Er nickte.

»Aber wozu soll das gut sein?«

»Du hast dich doch eben beschwert, daß sich in deinen Träumen immer alles viel zu schnell ändert. Jede einförmige Tätigkeit, die du auf dich nimmst, kann da einen Festpunkt schaffen. So kriegt der Traum mehr Boden unter die Füße. Eine beßre Idee, als sich im Traum Notizen zu machen, kann man gar nicht haben.«

Ich überlegte.

»Aber wozu braucht mein Alptraum einen Festpunkt, wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als aus ihm rauszukommen?«

»Darum geht es. Rauskommen kann man nur aus etwas Handfestem.«

»Na schön. Darf ich denn alles, was mir hier widerfährt, aufschreiben?«

»Selbstverständlich.«

»Und wie darf ich Sie in meinen Aufzeichnungen nennen?«

Tschapajew lachte.

»Petka, sag mal, du träumst wohl nicht umsonst von der Klapsmühle. Denkst du, mir macht es einen Unterschied, wie ich in deinen Träumen heiße?«

»Natürlich nicht«, sagte ich und fühlte mich wie ein Idiot. »Ich hatte nur die Befürchtung, daß … Nein, irgendwas stimmt noch nicht mit meinem Kopf.«

»Nenn mich, wie du magst«, sagte Tschapajew. »Von mir aus Tschapajew.«

»Ach ja?«

»Warum nicht? Und dann schreibst du«, sagte er mit tückischem Grinsen, »daß ich einen Schnurrbart habe. Nach diesen Worten strich ich darüber hin.«

Worauf er sich mit sorgfältiger Geste über den Schnurrbart strich.

»Ich finde aber«, fuhr er fort, »du solltest diesen Ratschlag vor allem in der Realität beherzigen. Schreib in Zukunft einfach deine Träume auf – möglichst gleich, solange du dich noch an alle Einzelheiten erinnerst.«

»Die vergißt man nicht«, erwiderte ich. »Bis du zu dir kommst und merkst, daß es ein böser Traum war, erlebst du Sachen … Manchmal weiß man gar nicht mehr, was Wirklichkeit ist: die Kutsche, in der wir hier fahren, oder diese geflieste Hölle, wo einen des Nachts die Dämonen in ihren weißen Kitteln quälen.«

»Was Wirklichkeit ist!« echote Tschapajew und schloß dabei wieder die Augen. »Das wird man schwerlich entscheiden können. In Wirklichkeit gibt es keine Wirklichkeit.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ach, Petka. Ich kannte mal einen chinesischen Kommunisten namens Tschuang-tse. Der träumte immer wieder, er sei ein über die Wiese gaukelnder roter Schmetterling. Und wenn er erwachte, wußte er nie, träumt jetzt der Schmetterling von revolutionärer Arbeit, oder träumt der Untergrundkämpfer, zwischen Blüten umherzufliegen. Als dieser Tschuang-tse in der Mongolei wegen Sabotage verhaftet wurde, hat er auf dem Verhör zu Protokoll gegeben, er sei ja in Wirklichkeit ein träumender Schmetterling. Da aber nun Baron Jungern persönlich das Verhör führte, ein sehr verständiger Mann, konterte er mit der Frage, warum denn der Schmetterling zu den Kommunisten halte. Das tut er doch gar nicht, erwiderte der Kommunist. Was hätte ein Schmetterling sonst für einen Grund, Schädlingsarbeit zu leisten, wurde gefragt. ›Ach, wissen Sie‹, kam die Antwort, ›alles menschliche Treiben ist so abstoßend und gemein, daß es keinen Unterschied macht, auf wessen Seite man ist‹.«

»Und, was geschah mit ihm?«

»Nichts. Er wurde an die Wand gestellt und geweckt.«

»Und dann?«

Tschapajew zuckte mit den Achseln.

»Ist er weitergeflogen, nehme ich an.«

»Alles klar, Wassili Iwanowitsch«, sagte ich gedankenverloren.

Der Weg nahm noch eine Serpentine, dann öffnete sich linker Hand ein überwältigender Blick auf die Stadt. Unser Gutshaus war nur noch als gelbes Pünktchen zu entdecken, davor lag der Streifen kräftiges Grün, durch den wir vorhin so lange gefahren waren. Die Berghänge, die die Stadt von allen Seiten umschlossen, bildeten eine Mulde, eine Art Kelch, auf dessen Boden Altai-Widnjansk lag.

Diese sanft und ebenmäßig zueinanderfindenden Hänge waren das eigentlich Beeindruckende an dem Panorama – weniger die Stadt, die recht unansehnlich wirkte, wie ein vom strömenden Regen in die Mulde gespülter Haufen Kehricht. Menschen waren keine zu sehen; über den Häusern hing noch ein Rest Morgendunst. Mir aber dämmerte in diesem Augenblick die überraschende Erkenntnis, daß die ganze Welt, zu der ich gehörte, am Grund solch einer gigantischen Senkgrube lag, wo irgendein obskurer Bürgerkrieg im Gang war, wo man sich gierig um diese winzigen, krüppeligen Häuschen schlug, die schräg geschnipselten Gärten, die Leinen mit bunter Wäsche, und alles nur, um sich noch fester in diesen buchstäblichen Grund des Daseins zu verkrallen. Ich dachte an den chinesischen Träumer, von dem Tschapajew erzählt hatte, und warf noch einen letzten Blick ins Tal. Im Angesicht der Welt, die da so reglos vor mir ausgebreitet lag, und des ungerührt auf sie herunterschauenden Himmels fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das Städtchen in der Grube dort unten glich den übrigen Städten dieser Erde aufs Haar. Sie alle, dachte ich, hocken in ebensolchen Gruben, die man nur nicht immer mit bloßem Auge erkennt. Alle schmoren sie in großen Kesseln über dem Höllenfeuer, das angeblich im Mittelpunkt der Erde lodern soll. Und alle sind sie nur Varianten des immergleichen Alptraums, der in keiner Weise zu beschönigen ist. Aus dem es nur ein Erwachen geben kann.

»Und sollte es so weit kommen, daß sie dich auf die gleiche unsanfte Art aus deinen Alpträumen holen wie diesen Chinesen, Petka«, sagte Tschapajew, ohne die Augen aufzuschlagen, »wechselst du ja nur von einem Traum in den anderen. Wie du es schon eine Ewigkeit tust. In dem Moment aber, wo du begreifst, daß alles, wirklich alles, was dir geschieht, ein Traum ist, werden die Inhalte nebensächlich. Wenn du dann erwachst, erwachst du richtig. Und ein für allemal. Vorausgesetzt, du willst es.«

»Aber warum soll alles, was mir geschieht, ein Traum sein?«

»Weil«, sagte Tschapajew bedeutungsvoll, »weil da nun mal nichts weiter ist.«

Die Steigung hörte auf, wir erreichten ein weitläufiges Plateau. Am Horizont, noch hinter einer Flucht von sanften Hügeln, zeichneten sich blaue, fliederfarbene und violette Bergkuppen ab, davor aber lag ein unermeßlich weites, von Gras und Blumen bewachsenes Gelände. Die Blüten wirkten eher unscheinbar und schon etwas ausgeblichen, doch waren es ihrer so viele, daß die ganze Steppe davon gelb schien, mit einem Stich ins Rötliche. Und das war so schön, daß ich Tschapajews Worte und alles übrige auf dieser Welt für eine Weile vergaß.

Nur jenen Chinesen seltsamerweise nicht.

Ich sah die vielen blassen Blütenpünktchen vorbeischwimmen und stellte mir diesen Schmetterling vor, wie er dort umherfliegt und sich immer wieder dabei ertappt, aus alter Gewohnheit ein regierungsfeindliches Flugblatt ans Ephedrastämmchen kleben zu wollen, und jedesmal zuckt er zusammen, wenn ihm einfällt, daß das mit den Flugblättern lange vorbei ist. Abgesehen davon, daß sie hier sowieso keiner läse.

Kurz darauf hatte der Sinnentaumel ein jähes Ende.

Tschapajew mußte unserem Fuhrmann irgendein Zeichen gegeben haben. Wir begannen zu rasen, und die ganze Umgebung verwischte zu bunten Streifen. Der Baschkire stand halb auf dem Bock, peitschte die Pferde erbarmungslos und stieß dabei kehlige Rufe in einer fremden Sprache hervor.

Der Weg, den wir entlangfuhren, schien nur symbolisch zu existieren. Vielleicht wuchsen dort etwas weniger Blumen, womöglich gab es in der Mitte auch noch ein paar vage, alte Spurrinnen – insgesamt ließ er sich kaum ahnen. Dennoch rüttelte der Wagen so gut wie nicht, das Gelände war vollkommen plan. Die schwarzgekleideten Reiter am Ende unserer kleinen Kolonne scherten aus, schlossen zum Wagen auf und bildeten zwei Grüppchen zu unseren Seiten. Auf gleicher Höhe mit uns fegten sie durch die Prärie, so daß ein weiter Bogen entstand – als wären unserer Kutsche unverhofft zwei schlanke, schwarze Flügel gewachsen.

Der Landauer mit den Geschützen, in dem Anna und Kotowski saßen, hatte gleichfalls an Tempo zugelegt und uns beinahe eingeholt. Ich sah, wie Kotowski seinen Fuhrmann von hinten mit der Gerte antippte und dann auf unseren Wagen deutete. Augenscheinlich zettelte er gerade eine Wettfahrt an. Schon bald hatten sie aufgeschlossen und tauchten in wenigen Metern Abstand neben uns auf. An ihrer Bordwand entdeckte ich ein Emblem: ein von einer Wellenlinie durchschnittener Kreis, die eine Hälfte schwarz, die andere weiß, und in beiden wiederum ein kleiner Punkt der jeweils anderen Farbe. Ich meinte darin ein fernöstliches Symbol zu erkennen. Daneben stand, grob mit weißer Farbe hingepinselt:

 

SCHWARZ ODER WEISS – ALLES EIN SCHEISS

 

Unser Baschkire schlug auf die Pferde ein, die Tatschanka fiel zurück. Mir schien es unbegreiflich, daß Anna eingewilligt hatte, in einem Wagen mit so unflätiger Schmiererei zu reisen – bis mir der Gedanke kam, daß sie selbst die Losung an die Bordwand des Landauers geschrieben haben konnte. Im nächsten Moment war ich mir dessen fast sicher. Wie wenig wußte ich doch im Grunde von dieser Frau!

Vom wilden Pfeifen und Johlen der Reiter begleitet, flog unser Trupp über die Steppe dahin. Fünf, sechs Werst legten wir auf diese Weise zurück – die Hügelkette vor dem Horizont war schon so nah herangerückt, daß einzelne, hervorstehende Felsen und auf ihnen wachsende Bäume deutlich auszumachen waren. Das Gelände war längst nicht mehr so eben wie zu Beginn der wilden Fahrt. Manchmal wurden wir mitsamt dem Wagen hoch in die Luft geschleudert, so daß ich schon bangte, die Reise könnte für einen von uns mit einem gebrochenen Genick enden. Da endlich zog Tschapajew die Mauser aus dem Halfter und schoß in die Luft.

»Genug!« brüllte er. »Im Schritt!«

Unser Wagen bremste ab. Auch die Reiter – als fürchteten sie, eine durch unsere Hinterachse gehende unsichtbare Linie zu überschreiten – zügelten scharf ihre Pferde und verschwanden einer nach dem anderen hinter unserem Rücken. Der Landauer mit Anna und Kotowski fiel gleichfalls zurück, und nach wenigen Minuten waren wir den anderen so weit voraus wie zu Beginn des Wegs.

Ich bemerkte eine senkrechte Rauchfahne über den Hügeln: dick und weiß, so wie sie entsteht, wenn man haufenweise Gras und feuchtes Laub ins Feuer wirft. Seltsam war nur, daß sie sich nach oben hin kaum verbreiterte, es sah aus wie eine große, weiße als Himmelsstütze dienende Säule. Weiter als ein Werst konnte es bis dorthin nicht sein; das Feuer selbst schien von einer Anhöhe verdeckt. Wir fuhren gemächlich noch etwas weiter und blieben dann stehen.

Der Weg stieß hier auf zwei markante kleine Höcker, zwischen denen es nur eine schmale Rinne gab, so daß sie ein natürliches Portal bildeten – und dies derart symmetrisch, daß man sie für zwei alte, vorzeiten halb in die Erde versunkene Türme halten konnte. In der Tat schienen sie eine Art Grenze zu markieren, hinter der sich das Relief der Landschaft änderte – dort begannen die Hügel, die am Horizont ins Gebirge übergingen. Augenscheinlich aber änderte sich hinter dieser Grenze mehr als nur das Relief: Ich spürte eine frische Brise Wind im Gesicht und starrte befremdet auf die nach wie vor in der idealen Senkrechten stehende Rauchsäule, deren unsichtbare Quelle sich ganz in der Nähe befinden mußte.

»Warum stehen wir?« fragte ich Tschapajew.

»Wir warten.«

»Worauf denn? Auf den Feind?«

Tschapajew schwieg. Erst jetzt merkte ich, daß ich den Säbel zu Hause gelassen hatte, nur den Browning bei mir trug; bei einer Konfrontation mit berittenen Truppen hätte ich mich also in peinlicher Lage befunden. Danach zu urteilen, wie gelassen Tschapajew im Wagen sitzen blieb, schien uns jedoch fürs erste keine Gefahr zu drohen. Ich blickte mich um. Der Landauer stand neben uns. Ich sah Kotowskis bleiches Gesicht – die Hände vor der Brust gefaltet, saß er reglos auf der Hinterbank. Er hatte etwas von einem Opernsänger kurz vor dem Auftritt. Anna, die ich nur von hinten sah, machte sich an den Geschützen zu schaffen – wie mir schien, tat sie das nicht zur Vorbereitung eines Gefechts, sondern um nicht neben dem sich übertrieben pathetisch gebärdenden Kotowski sitzen zu müssen. Die Reiter, die uns eskortierten, hatten in einiger Entfernung haltgemacht, so als fürchteten sie, dem Torwall zu nahe zu kommen; ich sah nur ihre dunklen Silhouetten.

»Auf wen warten wir denn nun?« erneuerte ich meine Frage.

»Wir sind mit dem Schwarzen Baron verabredet«, antwortete Tschapajew. »Ich sage Ihnen, Petka, an diese Begegnung werden Sie noch lange denken.«

»Was ist das für ein seltsamer Spitzname? Ich nehme an, er hat auch einen richtigen?«

»Ja. Sein richtiger Name ist Jungern von Sternberg.«

»Jungern? Jungern. Irgendwo hab ich das schon gehört. Mit der Psychiatrie hat er nicht zufällig etwas zu tun? Symboldeutung und so weiter?«

Mich traf ein erstaunter Blick.

»Nein. Soweit ich weiß, verachtet er Symbole. Gleich welcher Art.«

»Ach, jetzt fällt's mir ein. Das war doch der, der Ihren Chinesen erschossen hat.«

»Stimmt«, sagte Tschapajew. »Er ist der Beschützer der Inneren Mongolei. Man sagt von ihm, er sei die Inkarnation eines Kriegsgottes. Früher befehligte er die Asiatische Reiterdivision, neuerdings das Sonderregiment der Tibetkosaken.«

»Nie gehört«, sagte ich. »Und warum nennt man ihn den Schwarzen Baron?«

Tschapajew dachte nach.

»Gute Frage«, sagte er. »Das weiß ich gar nicht. Aber warum fragen Sie ihn nicht selbst? Da ist er schon.«

Überrascht wandte ich den Kopf.

In der schmalen Passage zwischen den beiden Hügeln war ein seltsames Etwas aufgetaucht. Bei näherem Hinsehen erkannte ich eine jener altertümlichen und einigermaßen skurrilen Sänften mit gewölbter Überdachung und vier langen Tragestangen, die man Palankin nennt. Dach und Stangen waren offenbar aus Bronze, grünlich gefärbt von den Jahren, und dem Anschein nach mit einer Vielzahl winziger Jadeplättchen besetzt, die ein geheimnisvolles Glänzen hervorriefen – wie Katzenaugen in der Dunkelheit. Ringsum war niemand zu sehen, der die Sänfte bis an diese Stelle hätte getragen haben können; man mußte annehmen, daß die unbekannten Träger, von deren Händen die Stangen wie poliert schienen, sich hinter den Hügeln versteckt hielten.

Der Palankin stand auf gebogenen Stummelfüßchen, die an ein Opfergefäß denken ließen oder ein Pagödchen auf vier winzigen Pfählen. Letzterer Vergleich war naheliegender – schon wegen der Vorhänge aus hauchdünnem, grünem Tüll. Dahinter konnte man die Umrisse eines reglos sitzenden Menschen erkennen.

Tschapajew sprang aus dem Wagen und näherte sich der Sänfte.

»Guten Tag, Baron«, sagte er.

»Guten Tag«, ertönte eine tiefe Stimme hinter der Gardine.

»Ich komme mal wieder mit einem Anliegen«, sagte Tschapajew.

»Auch diesmal nicht aus Eigennutz, nehme ich an.«

»Das ist wahr. Sie erinnern sich an Grigori Kotowski?«

»Ja. Was ist mit ihm?«

»Ich kann ihm einfach nicht begreiflich machen, was Geist ist. Heute morgen brachte er mich so weit, daß ich zur Pistole griff. Alles, was es dazu zu sagen gibt, habe ich ihm Dutzende Male gesagt. Baron, es braucht eine Demonstration, die man nicht vom Tisch wischen kann.«

»Ihre Probleme, lieber Tschapajew, sind recht eintöniger Art. Wo steckt denn Ihr Protegé?«

Tschapajew drehte sich zu dem Wagen um, in dem Kotowski saß, und winkte ihm.

Der Vorhang des Palankins schob sich zur Seite, und ich sah einen Mann um die Vierzig, blond, mit hoher Stirn und kalten, farblosen Augen. Ungeachtet des tatarischen Hängeschnauzers unter der Nase und des Dreitagebarts auf den Wangen erschien sein Gesicht außerordentlich intelligent. Gekleidet war er in einen schwarzen Umhang, halb Robe, halb Uniformmantel, der nach Art gewisser Mongolenkittel mit weitem, halbrundem Ausschnitt versehen war. Auf den Vergleich mit einem Uniformmantel kam man überhaupt nur wegen der Schulterklappen mit Generalsrunen. Er hatte haargenau den gleichen Säbel an der Seite, wie Tschapajew ihn trug, nur war die Quaste am Griff nicht lila, sondern schwarz. An der Brust des Barons prangten gleich drei jener Silbersterne nebeneinander. Flink kletterte er aus dem Palankin (wie sich nun zeigte, war er einen ganzen Kopf größer als ich) und maß mich mit einem langen Blick.

»Wer ist das?«

»Das ist Pjotr Pustota, mein Kommissar«, gab Tschapajew Auskunft. »Hat sich in der Schlacht bei Losowaja verdient gemacht.«

»Ich hörte davon«, sagte der Baron. »Kommt er in gleicher Angelegenheit?«

Tschapajew nickte. Jungern reichte mir die Hand.

»Angenehm, Sie kennenzulernen, Pjotr.«

»Ganz meinerseits, Herr General«, antwortete ich und drückte seine kräftige, trockene Hand.

»Nennen Sie mich einfach Baron«, sagte Jungern, sah Kotowski herankommen und wandte sich ihm zu:

»Grigori! Wie lange ist es her.«

»Guten Tag, Baron. Freut mich von Herzen, Sie zu sehen«, erwiderte Kotowski.

»Ihrer Blässe nach zu urteilen, ist die Freude so riesig, daß alles Blut zum Herzen strömt.«

»Das nicht, Baron. Es ist die Sorge um Rußland.«

»Ach, die alte Leier. Kann ich nicht gutheißen. Aber lassen Sie uns keine Zeit verlieren. Gehen wir ein bißchen spazieren?«

Jungern wies mit dem Kopf in Richtung Erdhügel. Kotowski schluckte.

»Ist mir eine Ehre, Baron«, gab er zur Antwort.

Jungern warf Tschapajew einen fragenden Blick zu. Der reichte ihm einen kleines Paket.

»Für zwei?«

Tschapajew bejahte.

Jungern versenkte das Bündel in der geräumigen Tasche seines Gewandes, legte Kotowski den Arm um die Schulter und zog ihn förmlich zu der Pforte; gleich darauf waren sie dahinter verschwunden.

»Was ist dort?« wollte ich von Tschapajew wissen.

Der schmunzelte.

»Ich möchte Ihnen nicht die Frische des Eindrucks verderben.«

Hinter den Hügeln krachte dumpf ein Revolverschuß. Eine Sekunde später erschien die hohe Gestalt des Barons in der Pforte, allein.

»Und jetzt Sie, Pjotr.«

Zögernd sah ich Tschapajew an. Er kniff die Augen zusammen und nickte ermunternd, wobei die Geste so heftig ausfiel, als versuchte er, sich mit dem Kinn einen Nagel in die Brust zu schlagen.

Langsam ging ich auf den Baron zu.

Ich gebe zu, mir war nicht wohl dabei. Nicht, daß ich mich unmittelbar bedroht gefühlt hätte. Oder nein, das Gefühl der Bedrohung war vorhanden, aber nicht so wie vor einem Duell oder einer Schlacht, wo man genau weiß, daß, falls die Dinge sich ungünstig entwickeln, man selbst der Leidtragende ist. Hier hatte ich das Gefühl, als drohte nicht mir Gefahr, sondern dem Bild, das ich von mir hatte. Ich schwebte nicht in Ängsten, sah mich aber schweben – einen Seiltänzer über dem Abgrund, der soeben der ersten Anzeichen eines auffrischenden Windes gewahr wurde.

»Ich möchte Ihnen unser Feldlager zeigen«, sagte der Baron, als ich vor ihm stand.

»Hören Sie, Baron, falls Sie vorhaben, mich aufzuwecken wie diesen Chinesen, dann …«

»Ja, sagen Sie mal!« Der Baron lächelte. »Ihnen hat Tschapajew wohl ein paar Schauermärchen zuviel erzählt? Da schätzen Sie mich falsch ein …«

Er faßte meinen Arm und drehte mich in Richtung Pforte.

»Lassen Sie uns ein bißchen zwischen den Feuern Spazierengehen«, schlug er vor, »sehen, was unsere Leute so machen.«

»Ich sehe keine Feuer«, sagte ich.

»Nicht? Schauen Sie genauer hin!«

Gehorsam blickte ich noch einmal auf den Zwischenraum zwischen den beiden unscharf umrissenen Hügeln. Da gab mir der Baron überraschend einen Stoß in den Rücken. Ich flog nach vorn und stürzte zu Boden. Der Stoß war außerordentlich rüde, ich kam mir vor wie eine aus den Angeln getretene Tür. Im nächsten Moment geschah etwas mit meinen Augen, es blitzte mehrmals, ich preßte die Lider zusammen, und in dem Dunkel dahinter glühten helle Flecke, wie sie nach heftigen Kopfbewegungen auftreten oder wenn man die Finger eine Weile fest gegen die Augäpfel preßt. Diese Leuchtflecke blieben, als ich die Augen wieder öffnete und mich vom Boden erhob.

Ich wußte nicht mehr, wo wir uns befanden. Die Hügel, der Sommerabend – alles war weg. Ringsum war tiefe Nacht, und überall, so weit das Auge reichte, flackerten Lagerfeuer, angeordnet in unnatürlich strenger Regelmäßigkeit, wie in den Knotenpunkten eines nicht sichtbaren Gitters, das die Welt in zahllose Quadrate aufteilte. Die Entfernung zwischen zwei Feuern betrug an die fünfzig Schritt, so daß man vom einen Feuer aus nicht sehen konnte, wer am nächsten saß; man sah allenfalls verschwommene Umrisse, ohne mit Bestimmtheit sagen zu können, wie viele Menschen es waren – und ob überhaupt Menschen. Am seltsamsten war, daß sich auch der Boden unter unseren Füßen verwandelt hatte. Wir befanden dem Anschein nach auf einer von kurzem, dürrem Gras bewachsenen Ebene, die flach war wie ein Brett, mit keinem Höcker und keiner Senke dazwischen – sonst hätte der Eindruck dieses gleichmäßigen, makellos gewobenen Netzes aus Lagerfeuern nicht entstehen können.

»Was ist denn das?« fragte ich verwirrt.

»Aha«, sagte der Baron, »nun sehen Sie's also.«

»Ich sehe etwas.«

»Das ist eine unserer Jenseits-Filialen«, sagte Jungern, »die in der ich das Sagen habe. Hierher kommen vorwiegend Leute, die zu Lebzeiten Krieger waren. Schon mal was vom Walhall gehört?«

»Ja«, sagte ich, während in mir der sonderbare, kindliche Wunsch wach wurde, mich an des Barons Robe anzuklammern.

»Das haben Sie vor sich. Bedauerlicherweise landen hier nicht nur wackere Soldaten, sondern auch allerlei Dreckskerle, die sich durchs Leben geballert haben: Banditen, Mörder – man glaubt nicht, was es für Abschaum gibt. Deshalb muß man auch von Zeit zu Zeit nach dem Rechten sehen. Manchmal komme ich mir hier vor wie ein Waldhüter.«

Der Baron seufzte.

»Obwohl, wenn ich mich recht entsinne«, fuhr er mit leiser Melancholie in der Stimme fort, »wollte ich als Kind ja Förster werden … Kommen Sie, Pjotr, fassen Sie mich ruhig am Ärmel. Man kommt hier sonst nicht so leicht vom Fleck.«

»Das verstehe ich nicht ganz. Aber wenn Sie meinen«, sagte ich voller Erleichterung.

Ich krallte meine Hand in den Stoff seines Ärmels, und wir gingen los. Sehr bald fiel mir auf, was das Merkwürdige war: Der Baron lief nicht sonderlich schnell, jedenfalls nicht schneller als vor jenem skurrilen Weltumschwung, die Lagerfeuer aber schienen geradezu an uns vorbeizurasen. Es war, als schritten wir auf einer Plattform, die ihrerseits von einer unsichtbaren, mit höllischem Tempo fahrenden Lokomotive gezogen wurde, und der Baron bestimmte jeweils mit einer Drehung seines Körpers in welche Richtung der Zug fuhr. Kaum war das nächste Feuer pünktchengroß vor uns aufgetaucht, kam es auch schon herangeschossen und stoppte vor unseren Füßen, sowie der Baron stehenblieb.

An dem Feuer saßen zwei Männer. Wie alte Römer sahen sie aus: halbnackt, nur mit kurzen, um die Hüften geschlungenen Laken bekleidet, und naß. Beide waren bewaffnet – der eine mit einem kurzen Revolver, der andere mit einer doppelläufigen Flinte. Ihre Körper waren über und über mit gräßlichen, schartigen kleinen Einschußlöchern bedeckt. Als sie des Barons an sichtig wurden, fielen sie einfach um – ein Grauen schüttelte sie, das sich einem fast körperlich mitteilte.

»Wer seid ihr?« fragte der Baron mit tiefer Stimme.

»Aus der Truppe von Serjosha Mongoli«, sagte der eine, ohne sich zu erheben.

»Was habt ihr hier zu suchen?«

»Aus Versehen umgelegt, Kommandeur.«

»Ich bin nicht euer Kommandeur«, sagte der Baron. »Und aus Versehen wird niemand umgelegt.«

»Doch, echt aus Versehen«, sagte der andere mit kläglicher Stimme. »In der Sauna. Die dachten, daß Mongoli dort den Vertrag unterschreibt.«

»Welchen Vertrag denn?« fragte Jungern befremdet.

»Wir hatten einen Kredit offen. Die ›Slav-East Oil‹ hat die Knete als Pfandbrief hinterlegt, und die Frachtpapiere sind aufgeflogen. Deswegen sind zwei Guardies von ›Ultima Thule‹ gekommen und …«

»Pfandbrief und Ultima Thule. Alles klar«, schnitt der Baron ihm das Wort ab.

Er bückte sich und blies ins Feuer, worauf dieses sich sofort um ein mehrfaches verkleinerte – aus der lohenden Fackel wurde ein zentimetergroßes Flämmchen. Bei den zwei Männern, die davorlagen, trat eine verblüffende Wirkung ein: Sie erstarrten wie zu Eis; augenblicklich bildete sich Rauhreif auf ihren nackten Rücken.

»Tolle Kämpen, nicht wahr?« sagte der Baron. »Unglaublich was sich in meinem Walhall in letzter Zeit ansammelt. Serjosha Mongoli. Und alles wegen dieser idiotischen Schwertregel: Wer mit einer Waffe in der Hand stirbt, muß aufgenommen werden.«

»Was ist jetzt mit denen?« fragte ich.

»Die kriegen, was ihnen zusteht«, sagte der Baron. »Ich weiß nicht. Wir können nachsehen.«

Er blies noch einmal in das kaum mehr sichtbare fahlblaue Flämmchen, so daß die Flamme kurz zur alten Größe heranwuchs. Konzentriert, mit zusammengekniffenen Augen schaute der Baron ein paar Sekunden hinein.

»Sieht so aus, als stünde ihnen ein Leben als Zuchtbullen im Fleischkombinat bevor. Solche Gnadenfälle geschehen jetzt öfters. Das liegt an der unendlichen Barmherzigkeit des Großen Buddha, und außerdem ist in Rußland das Fleisch immerzu knapp.«

Erst jetzt fiel mir ein, das Feuer eingehender zu betrachten; ich war fasziniert. Mit einem Lagerfeuer der üblichen Art hatte es wenig zu tun. Kein Holz, kein Reisig war darin zu entdecken – die Flammen kamen aus einer Öffnung in der Erde, deren ausgeglühte Ränder einen Stern mit fünf gleichmäßig schlanken Zacken bildeten.

»Sagen Sie, Baron, wieso brennt das Feuer über einem Pentagramm?«

»Welche Frage! Das ist das ewige Feuer der Barmherzigkeit Buddhas. Und was Sie Pentagramm nennen, ist das Emblem des Oktoberstern-Ordens. Wo sollte das ewige Feuer der Barmherzigkeit brennen, wenn nicht über diesem Emblem?«

»Was ist das für ein Orden?« fragte ich mit einem verstohlenen Blick auf Jungerns Brust. »Der Name ist mir zu verschiedensten Gelegenheiten begegnet, aber keiner, der das Wort gebrauchte, war so freundlich zu erklären, worum es sich handelt.«

»Der Oktoberstern? Ganz einfach. Es ist das gleiche wie mit Weihnachten, wissen Sie. Die Katholiken feiern es im Dezember, die Orthodoxen im Januar – und beide beziehen sich auf denselben Tag der Geburt. Hier liegt der Fall genauso. Diverse Kalenderreformen, Fehler in der Überlieferung und so weiter – es heißt zwar, das Ganze habe im Januar stattgefunden, in Wirklichkeit aber war es im Oktober.«

»Was war im Oktober?«

»Sie setzen mich in Erstaunen, Pjotr. Das ist doch eine der berühmtesten Legenden der Welt. Es gab einmal einen Mann, der nicht so leben konnte wie alle. Er wollte herausfinden, was da eigentlich tagaus, tagein mit ihm passierte und wer er – der, dem es passierte – selber für einer war. Und eines Nachts im Oktober, als er unter der Krone eines Baumes saß, schaute er hinauf zum Himmel und sah dort einen hellen Stern. In dem Moment begriff er, und er begriff das alles so sehr, daß ein Echo jener weit zurückliegenden Sekunde bis heute …«

Der Baron verstummte, schien nach Worten zu suchen, fand aber offenbar nichts Passendes.

»Besprechen Sie das lieber mit Tschapajew. Der liebt es, davon zu erzählen. Worauf es ankommt, ist, daß dieses Feuer der Barmherzigkeit zu allen lebendigen Wesen seither brennt – und man darf es nie ganz ausgehen lassen, nicht einmal aus technischen Gründen.«

Ich blickte in die Runde. Das Panorama war in der Tat grandios. Plötzlich hatte ich das Gefühl, eines der frühesten Bilder auf Erden vor mir zu sehen: die große, wilde Horde an ihrem nächtlichen Lagerplatz, Feuer entfachend, um die herum die Krieger sitzen und in die Flammen starren, deren Züngeln ihnen begehrliche Träume vorgaukelt: Gold und Vieh und Frauen, die in den unendlichen Weiten auf sie warten. Wohin aber war die Horde unterwegs, zwischen deren Feuern ich mit Jungern spazierenging? Und wonach mochte den Leuten, die an diesen Feuern saßen, der Sinn stehen? Ich wandte mich an meinen Begleiter.

»Können Sie mir sagen, Baron, warum diese Männer alle so einzeln und getrennt an den Feuern sitzen, und keiner besucht den anderen?«

»Versuchen Sie doch mal, jemanden zu besuchen!« schlug Jungern vor.

Bis zum nächsten Feuer waren es höchstens fünfzig Schritt. Fünf oder sechs Mann schienen darum versammelt. Fragend schaute ich Jungern an.

»Gehen Sie!« redete er mir zu.

Achselzuckend machte ich mich auf den Weg. Einstweilen geschah nichts Irritierendes. Erst als ich ein, zwei Minuten gelaufen war, merkte ich, daß der leuchtende Punkt, auf den ich mich zubewegte, nicht im geringsten näher rückte. Ich sah mich um. Jungern stand am Feuer, drei, vier Schritt hinter mir, und schaute belustigt zu.

»Was dieser Ort gemein zu haben scheint mit der Welt, die Sie kennen, darf Sie nicht zu der Annahme verleiten, daß er zu ihr gehört«, sagte er.

Ich sah, daß die beiden zu Eis erstarrten Gestalten am Feuer nicht mehr da waren – auf der Erde zeichneten sich zwei dunkle, längliche Flecken ab, das war alles.

»Lassen Sie uns weitergehen«, sagte Jungern. »Wir wollten doch meine Leute besuchen.«

Ich klammerte mich an seinen Ärmel, und die Feuer begannen erneut an uns vorüberzuziehen – mit einer Geschwindigkeit, die Zickzack- und Strichellinien aus ihnen machte. Im übrigen war ich mir beinahe sicher, einer Illusion aufzusitzen, denn von einem Gegenwind – bei diesem Tempo unvermeidlich – war nichts zu spüren. Seit der Baron losgegangen war, schienen nicht wir, sondern die Dinge um uns in Bewegung geraten zu sein. Ich hatte jegliche Orientierung verloren und wußte nicht, wohin es uns zog. Hin und wieder stoppten wir für Sekunden, dann konnte ich sehen, wer am nächstliegenden Feuer saß. Zumeist waren es Männer mit struppigen Bärten und Gewehren, die einander glichen wie ein Ei dem anderen – und immer, wenn wir uns ihnen näherten, kippten sie um. Einmal meinte ich keine Flinten, sondern Speere in ihren Händen zu sehen; um es mit Bestimmtheit sagen zu können, war unser Halt viel zu kurz. Und ich wußte nun, woran mich unsere Fortbewegung erinnerte – genau so aberwitzig und im unbegreiflichen Zickzack fegen Fledermäuse durch die Nacht.

»Ich hoffe, Ihnen ist klar, Pjotr«, dröhnte Jungerns Baßstimme an meinem Ohr, »daß dies nicht der Ort ist, wo man Lügen auftischt oder auch nur ein bißchen flunkert?«

»Das kann ich mir denken«, sagte ich und spürte, wie mir vom Flirren der hellgelben Streifen und Strichlinien schwindlig wurde.

»Beantworten Sie mir eine Frage«, hörte ich den Baron. »Was ist Ihr sehnlichster Wunsch im Leben?«

»Mein sehnlichster Wunsch?« fragte ich zurück und überlegte.

Die Frage war, wenn man nicht flunkern wollte, schwer zu beantworten. Ich überlegte lange, was ich sagen sollte, und wagte mich nicht zu entscheiden, bis die Antwort auf einmal wie von selbst kam.

»Ich möchte mein goldenes Los finden«, sagte ich.

Der Baron lachte laut auf.

»Na prima«, versetzte er. »Fragt sich nur, was das für Sie ist, das goldene Los?«

»Das goldene Los ist, wenn der freie Gedankenflug einem die Möglichkeit verschafft, die Schönheit des Lebens zu sehen. Drücke ich mich verständlich aus?«

»O ja«, sagte der Baron. »Wenn sich alle so plastisch und konkret auszudrücken vermöchten! Wie kommen Sie bloß auf derart ausgefeilte Formulierungen?«

»Das ist aus einem Traum«, erwiderte ich, »genauer gesagt einem Alptraum. Die seltsame Wendung habe ich mir genau gemerkt. Sie stand in einem großen Heft, einer Irrenhausakte worin ich im Traum geblättert habe – das tat ich, weil dort etwas sehr Wichtiges über mich vermerkt sein sollte.«

»Gut, daß Sie von selbst darauf zu sprechen kommen«, sagte der Baron und bog nach rechts ab, wodurch das Feuerkarussell um uns her eine Art Längssalto vollführte. »Tschapajew bat mich, Ihnen etwas zu erklären, darum sind Sie hier. Wobei die erbetene Erklärung im Grunde nicht so außergewöhnlich ist, daß er sie nicht auch selbst hätte liefern können. Er hat Ihnen das alles schon etliche Male erzählt – zuletzt auf dem Weg hierher. Trotzdem sind Sie aus irgendeinem Grund immer noch der Meinung, daß die Welt Ihrer Träume weniger real ist als die Badestube, in der Sie mit Tschapajew einen draufmachen.«

»Da mögen Sie recht haben«, sagte ich.

Der Baron blieb plötzlich stehen, wodurch die Feuer ringsum zu tanzen aufhörten. Ich bemerkte, daß die Flammen einen alarmierend rötlichen Ton angenommen hatten.

»Wie kommen Sie nur darauf?« fragte der Baron.

»Schon weil ich wohl oder übel jedesmal in die reale Welt zurückkehre«, erwiderte ich. »In die Badestube, wo ich, wie Sie sagen, mit Tschapajew einen draufmache. Nein, intellektuell kann ich gut verstehen, was Sie meinen. Mir ist ja selber oft genug aufgefallen, daß der Alptraum in dem Moment, wo ich ihn träume, so sehr real ist, daß keine Chance besteht, ihn als Traum zu begreifen. Man kann die Dinge berühren, man kann sich kneifen.«

»Wie wollen Sie dann noch den Traum vom Wachsein unterscheiden?« fragte der Baron.

»Wenn ich wach bin, habe ich ein klares, unmißverständliches Realitätsempfinden. So wie jetzt.«

»Ach, jetzt gerade haben Sie es?« fragte der Baron.

»Eigentlich schon«, sagte ich, plötzlich etwas unsicher. »Wobei ich zugeben muß, daß die Situation ungewöhnlich ist.«

»Tschapajew bat mich, Sie mitzunehmen, damit Sie wenigstens einmal an einem Ort sind, der weder mit Ihren Irrenhausalpdrücken noch mit Ihren Tschapajewträumen irgend etwas zu tun hat. Schauen Sie sich ordentlich um! Ihre beiden fixen Ideen erscheinen hier gleichermaßen illusorisch. Ich brauchte Sie nur einmal an einem dieser Feuer allein zu lassen, und Sie wüßten, wovon ich rede.«

Der Baron verstummte, wie um mir Zeit zu geben, die beängstigende Perspektive auf mich wirken zu lassen. Ich ließ den Blick über die vielen unerreichbaren Leuchtpünktchen im schwarzen Raum schweifen. Der Mann hatte recht. Wo waren Tschapajew und Anna? Wo war jene fragile Höllenwelt mit den Kachelwänden und der zerbröselnden Aristoteles-Büste? Sie waren nirgends, zumindest jetzt, und ich war nun sogar felsenfest überzeugt, daß sich kein Ort denken ließ, an dem sie hätten sein können, weil ich, der ich neben diesem merkwürdigen Menschen (Menschen?) stand, ich und kein anderer das Nadelöhr verkörperte, den einzigen Weg, auf dem all jene Irrenhäuser, Bürgerkriege et cetera in die Welt zu treten vermochten. Gleiches betraf den finsteren Limbus, wo ich gerade weilte, seine verschreckten Insassen und seinen großen, grimmigen Wächter – dies alles existierte nur, weil ich existierte.

»Mir scheint, ich kapiere«, sagte ich.

Jungern sah mich zweifelnd an.

»Was genau kapieren Sie?«

Im selben Augenblick ertönte hinter uns ein wüstes Geschrei:

»Ich! Ich! Ich! Ich!«

Wir fuhren beide herum.

Nicht weit von uns – es hätte dreißig, vierzig Meter entfernt sein können – brannte ein Feuer, das sich deutlich von den übrigen unterschied. Zum einen hatten die Flammen eine andere, fahlere Färbung und rauchten. Zum anderen prasselte es darin, Funken stoben nach allen Seiten. Und schließlich befand sich das Feuer an ungebührlicher Stelle, fiel aus der strengen Anordnung der anderen heraus.

»Dann wollen wir mal schauen«, murmelte Jungern und zerrte mich am Ärmel.

Die Leute, die an dem Feuer hockten, waren von sichtlich anderem Schlag als des Barons sonstige Schützlinge. Sie waren zu viert. Der Lebendigste von ihnen, ein dicker Kerl im giftrosa Jackett und mit kastanienbraunem Igelschnitt auf dem kleinen, kanonenkugelförmigen Kopf, saß da und hielt sich mit beiden Armen umschlungen, man konnte meinen, der eigene Körper stachelte ihn zu unkeuschen Leidenschaften an. Dazu ein unentwegtes Jaulen:

»Ich! Ich! Ich!«

Der Tonfall dieses Geheuls änderte sich jedoch mit der Zeit – als wir darauf aufmerksam geworden waren, hatte es noch etwas triumphierend Animalisches gehabt, beim Näherkommen wurde es irgendwie zweifelnder. Neben dem Schreihals kauerte ein magerer Typ mit krausem Haarschopf, der eine Art Matrosenjacke trug und wie paralysiert ins Feuer starrte – hätten sich nicht von Zeit zu Zeit seine Lippen bewegt, hätte man sich fragen müssen, ob er bei Bewußtsein war. Nur der dritte, ein kahlrasierter Dicker mit akkurat gestutztem Kinnbart, schien zu wissen, was er tat – er rüttelte und schüttelte seine Gefährten nach Kräften, um sie zur Räson zu bringen. Halb schien ihm das zu gelingen: In den spillrigen Blonden mit der Tolle kam Bewegung, er begann zu lamentieren und sich zu wiegen wie im Gebet. Gerade wollte der Kahlkopf den dritten in die Seite puffen, als sein Blick auf uns fiel. Entsetzen malte sich auf seinem Gesicht – er brüllte den anderen etwas zu und sprang auf.

Der Baron fluchte leise. Er hielt plötzlich eine Handgranate in der Hand, zog den Ring und warf sie in Richtung Feuer; keine fünf Meter von uns entfernt klatschte sie auf. Instinktiv hatte ich mich zu Boden geworfen und die Hände über den Kopf gelegt; einige Sekunden verstrichen, die Detonation blieb aus.

»Stehen Sie auf«, sagte Jungern.

Ich öffnete die Augen und sah den Baron in verzerrter Perspektive über mich gebeugt: die Hand, die er mir entgegenstreckte, direkt vor meinem Gesicht, die aufmerksam auf mich herunterblickenden Augen, in denen der Widerschein zahlloser Feuer ineinander verschmolz, wie zwei einsame Sterne am Firmament.

»Danke. Ich kann schon selber«, sagte ich, während ich mich erhob. »War wohl ein Blindgänger?«

»Wieso?« fragte der Baron. »Ganz im Gegenteil.«

Ich sah zu der Stelle hin, wo eben noch das Feuer gewesen war, und mußte verblüfft feststellen, daß es ebenso verschwunden war wie die darum sitzenden Menschen; nicht einmal ein Stückchen verbrannte Erde konnte ich entdecken.

»Was war das?« fragte ich.

»Ach«, sagte der Baron, »nur ein paar Hooligans. Zuviel Zauberpilze gefressen. Die wußten selbst nicht, wo sie gelandet waren.«

»Haben Sie sie …«

»Nicht doch. Was glauben denn Sie. Ich habe sie nur zur Besinnung gebracht.«

»Ich bin mir beinahe sicher, den Dicken mit dem Bart schon gesehen zu haben. Nein, nicht nur beinahe – ich bin mir absolut sicher.«

»Im Traum vielleicht?«

»Könnte sein«, sagte ich, und mir schien, daß er recht hatte: Jener Kahlkopf verband sich in meiner Erinnerung eindeutig mit weißen Kachelwänden und kalten Nadeln auf der Haut, was ja zur Grundausstattung meiner Träume gehörte. Für kurze Zeit war mir, als müßte ich sogar auf seinen Namen kommen, dann wurde ich von anderweitigen Überlegungen abgelenkt. Jungern stand schweigend neben mir; offenbar wägte er die Worte, die er gleich aussprechen würde.

»Sagen Sie, Pjotr«, begann er schließlich, »wie sind Sie eigentlich politisch einzuordnen? Monarchist?«

»Was dachten denn Sie! Habe ich daran irgendwelche Zweifel gelassen?«

»Nein, nein. Ich suche nur gerade nach einem Beispiel, das Ihnen einleuchten könnte. Stellen Sie sich einen schlecht gelüfteten Raum vor, in dem furchtbar viel Leute zusammenhocken. Alle sitzen sie auf klapprigen Schemeln und wackligen Stühlen, irgendwelchen Bündeln und was sich sonst gerade fand. Wer geschickt ist, hat es sich auf zwei Stühlen gleichzeitig bequem gemacht oder jemanden aufgescheucht, um sich selbst niederzulassen. Das ist die Welt, in der Sie leben. Zugleich jedoch hat jeder einzelne dieser Menschen seinen eigenen Thron: ein großes, glänzendes Möbel, weit über seine Welt hinausragend und alle übrigen Welten ebenso. Ein wahrer Zarenthron, es gibt nichts, was nicht in der Macht desjenigen stünde, der auf ihm zu sitzen kommt. Und was die Hauptsache ist: Dieser Thron ist absolut legitim, jedem Menschen von Rechts wegen zustehend. Nur ihn zu besteigen ist schier unmöglich. Verstehen Sie? Er steht nämlich nirgendwo.«

»Ja …«, sagte ich nachdenklich. »Dieses Wort ist mir erst gestern durch den Kopf gegangen, Herr Baron. Ich weiß, was es heißt.«

»Dann überlegen Sie mal weiter«, sagte der Baron. »Ihre beiden Zwangsvorstellungen – mit Tschapajew und ohne – sind hier, ich sagte es schon, gleichermaßen illusorisch. Um ins Nirgendwo zu gelangen, auf besagten Thron und zu Freiheit und Glück ohne Ende, muß man nur noch den einen verbliebenen Raum beiseite schaffen – den, in dem Sie mich und sich sehen. Das ist es, was alle meine Pappenheimer hier versuchen. Aber die Chancen für sie stehen schlecht, und sie werden wohl oder übel nach einiger Zeit einen weiteren dieser deprimierenden irdischen Existenzkreise absolvieren. Warum aber sollte es Ihnen nicht gelingen, zu Lebzeiten ins Nirgendwo zu gelangen? Ich schwöre Ihnen, das ist das Beste, was man in dieser Zeit tun kann. Ich denke, Sie mögen Metaphern, darum sage ich Ihnen: Es ist wie eine unverhoffte Entlassung aus dem Irrenhaus.«

»Glauben Sie mir«, begann ich emphatisch, die Hand an die Brust gelegt, doch der Baron ließ mich nicht zu Wort kommen.

»Es muß aber geschehen, bevor Tschapajew sein tönernes Maschinengewehr betätigt. Denn hinterher bleibt, wie Sie wissen, gar nichts übrig, nicht einmal ein Nirgendwo.«

»Tönernes Maschinengewehr? Was soll denn das sein?«

»Tschapajew hat Ihnen nichts davon erzählt?«

»Nein.«

Jungern zog die Stirn kraus.

»Dann wollen wir dieses Thema besser nicht vertiefen. Bleiben wir bei unserer Metapher, die können Sie sich merken: die Entlassung aus dem Irrenhaus. Und vielleicht träumen Sie wieder mal einen Traum, in dem Sie sich an unser Gespräch erinnern werden. Jetzt müssen wir weiter. Die Jungs werden warten.«

Der Baron packte meinen Ärmel, und die zackigen Leuchtstreifen flirrten aufs neue an uns vorbei. An diesen phantastischen Anblick hatte ich mich inzwischen so weit gewöhnt, daß mir der Kopf nicht mehr schwirrte. Der Baron ging voran, die Augen konzentriert in die Finsternis gerichtet; ich betrachtete sein fliehendes Kinn, den rötlichen Schnauzer, die bittere Falte im Mundwinkel, und ich kam zu dem Schluß, daß sein Äußeres durchaus nichts Furchteinflößendes hatte.

»Sagen Sie, Baron, wieso haben die Leute hier alle so viel Angst vor Ihnen?« traute ich mich zu fragen. »Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, aber Sie sehen mir nicht so aus, als müßte man vor Ihnen erschrecken.«

»Nicht alle sehen das, was Sie sehen«, erwiderte der Baron. »Meinen Freunden zeige ich mich für gewöhnlich als der Petersburger Intellektuelle, der ich früher einmal war. Aber daraus muß man nicht schließen, daß ich tatsächlich so aussehe.«

»Was sehen denn die anderen?«

»Ich möchte Ihnen lästige Details ersparen. Vielleicht reicht es, wenn ich sage, daß jede meiner sechs Hände einen scharfen Säbel gezückt hält.«

»Und welcher Anblick ist der echte?«

»Einen echten habe ich leider nicht.«

Die Worte des Barons machten durchaus Eindruck auf mich. Mit einiger Überlegung hätte ich freilich auch selbst auf alles das kommen können.

»Wir sind gleich da«, sagte der Baron im Ton eines Sonntagsspaziergängers.

Ich sah ihn von der Seite an und stellte eine neue Frage: »Vielleicht verraten Sie mir noch, warum man Sie den Schwarzen Baron nennt?«

Jungern lächelte.

»Ach … Das hat wahrscheinlich damit zu tun, daß der leibhaftige Buddha Bogdo-Gegen-Tutuchtu mir damals, als wir in der Mongolei standen, den schwarzen Palankin zugesprochen hat.«

»Und wieso benutzen Sie dann einen grünen?«

»Weil man mir den auf gleiche Weise zugesprochen hat.«

»Dann könnten Sie also genausogut Grüner Baron heißen?«

Jungerns Gesicht verfinsterte sich.

»Ein bißchen viel Fragen auf einmal, finden Sie nicht? Sie sollten lieber die Gegend studieren und sich alles gut einprägen. Das sehen Sie nicht noch einmal. Theoretisch bestünde natürlich die Möglichkeit, doch wünsche ich Ihnen von Herzen, daß es nicht so weit kommt.«

Ich befolgte den Ratschlag des Barons.

Weit vorn war ein Feuer aufgetaucht, das die anderen an Größe zu übertreffen schien. Es kam nicht so geschwind auf uns zugerast, rückte allmählich, unserem Schritt angemessen, näher. Ich ahnte, daß dies das Ziel unseres Ausflugs war.

»Sind das Ihre Freunde an dem großen Feuer dort?« fragte ich.

»Ja. Aber Freunde würde ich sie nicht nennen. Frühere Regimentskameraden. Ich war einmal ihr Kommandeur.«

»Und Sie waren gemeinsam im Feld?«

»Das auch«, antwortete der Baron. »Entscheidender ist, daß wir damals in Irkutsk zusammen erschossen worden sind. Nicht, daß es meine Schuld war, aber trotzdem. Ich fühle für sie eine besondere Verantwortung.«

»Das kann man verstehen. Wenn es mich an einen öden und düsteren Ort wie diesen verschlüge, wünschte ich bestimmt auch, daß mir jemand zur Seite steht.«

»Nun ja«, sagte der Baron, »vergessen Sie nicht, daß Sie noch am Leben sind. Diese ganze Düsternis und Öde um uns herum ist in Wahrheit das hellste Licht, das es gibt. Warten Sie doch mal!«

Ich blieb automatisch stehen, und bevor ich mir ausmalen konnte, was er vorhatte, stieß mich der Baron kräftig in den Rücken.

Dennoch wurde ich dieses Mal nicht ganz so kalt erwischt. Im Fallen schaffte ich es sozusagen noch, mich des winzigen Moments der Rückkehr, des Zurückspringens in die normale Welt zu vergewissern – und wenn da eigentlich nichts war, dessen man sich vergewissern konnte, so verstand ich zumindest, worin diese Rückkehr bestand. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es war, als hätte man eine Kulisse weggerissen, bevor die neue am Platz war, so daß ich eine Sekunde lang in den Zwischenraum schauen konnte. Diese Sekunde genügte, um hinter dem, was ich bislang für Realität gehalten, die Täuschung zu erkennen, das ganze simple, biedere Gerüst des Weltalls, das zu erblicken nichts als Bestürzung, Enttäuschung und eine gewisse Scham hinterließ.

Der Stoß vom Baron war so heftig, daß ich nicht mehr dazu kam, die Hände rechtzeitig nach vorn zu strecken, und mit der Stirn aufschlug.

Als ich den Kopf hob, sah ich mich von der Welt umgeben die ich kannte: Steppe, Abendhimmel, die nahegelegene Hügelkette. Vor mir der schaukelnde Rücken des Barons – er lief auf das einzige Lagerfeuer zu, das weit und breit zu sehen war. Eine senkrechte, weiße Rauchsäule stand darüber.

Ich sprang auf, klopfte mir den Schmutz von den Knien. Dem Baron nachzufolgen, konnte ich mich nicht entschließen. Er war inzwischen fast bei dem Feuer angelangt; bärtige Gestalten in Tarnanzügen und zottigen gelben Pelzmützen liefen ihm entgegen.

»Hallo, Jungs!« hörte ich Jungern im deftigen Kommandeursbaß brüllen. »Wie läuft's?«

»Man tut, was man kann, Euer Hochwohlgeboren! Lebt sich so hin! Gott sei's gedankt!« tönten die munteren Antworten. Der Baron wurde so dicht umringt, daß ich ihn nicht mehr sehen konnte. Es war offenkundig, daß seine Kämpen ihn liebten.

Ich sah nun, wie einer der gelb bemützten Kosaken sich vom Lagerfeuer löste und auf mich zukam. Sein Gesicht war so tierisch wild, daß ich im ersten Moment erschrak; der Anblick des geschliffenen blaugrünen Trinkglases in seiner Hand beruhigte mich.

»Na, mein Herr«, sagte er grinsend, als er heran war, »bißchen Angst vorm schwarzen Mann?«

»Da ist was dran«, sagte ich.

»Dann stärk dich«, sagte der Kosake und reichte mir das Glas.

Ich trank. Es war Wodka. Beinahe augenblicklich wurde mir leichter ums Herz.

»Danke. Kommt sehr gelegen.«

»Und?« fragte der Kosake, während er das leere Glas entgegennahm, »seid Ihr mit dem Herrn Baron befreundet?«

»Na ja«, antwortete ich ausweichend, »man kennt sich.«

»Er ist streng«, führte der Kosake aus. »Alles nach Plan. Erst wird gesungen, und dann kommen die Fragen. Das heißt, gefragt werden die anderen. Ich bin schon auf dem Sprung. Heute reise ich ab. Für immer.«

Als ich mir den Mann näher ansah, schien sein Gesicht gar nicht mehr so tierisch – nur grob geschnitten, verwittert und von der Gebirgssonne verbrannt. Hinter dieser Grobheit ließ sich sogar ein nachdenklicher, wenn nicht träumerischer Ausdruck erkennen.

»Wie heißt du?« fragte ich den Kosaken.

»Ignat. Und du bist Pjotr?«

»Stimmt. Woher weißt du?«

Ein Lächeln spielte um seinen Mund.

»Ich bin vom Don. Du aus der Hauptstadt, nicht wahr?«

»Echter Petersburger.«

»Ja, Pjotr, ich tät dir raten, dem Feuer erst mal fernzubleiben. Der Herr Baron läßt sich beim Singen nicht gern stören. Wir können ja von hier aus zuhören. Was du nicht verstehst, erkläre ich dir.«

Ich hatte nichts dagegen und ließ mich, wo ich gerade stand, im Schneidersitz nieder.

Tatsächlich ging beim Lagerfeuer drüben Seltsames vor sich. Die Kosaken in ihren gelben Mützen scharten sich im Halbkreis um den Baron, der, ganz Chorregent, vor ihnen stand, die Hände hob, und schon tönte der Gesang wackerer Männerstimmen:

Hoi, was war das ein böser Abend,
Lang lag ich wach, fand keinen Schlaf …

»Ach, ›Stepan Rasins Traum‹. Wie ich dieses Lied liebe«, sagte ich.

»Was denn, Herr, du liebst das Lied, ohne es je zuvor gehört zu haben?« fragte Ignat, der sich neben mich setzte.

»Wieso soll ich es nicht gehört haben? Ist doch ein altes Kosakenlied.«

»Nein, das verwechselst du. Das Lied hat der Herr Baron extra für uns geschrieben, damit wir was zum Singen und drüber Nachdenken haben. Und damit es sich leichter merkt, ist der Text derselbe wie bei dem Lied, das du meinst. Die Musik übrigens auch.«

»Was ist denn dann sein Anteil an dem Lied?« fragte ich. »Ich meine, wie läßt sich das frühere Lied von dem unterscheiden das der Herr Baron geschrieben hat, wenn Text und Melodie gleich sind?«

»Bei dem Lied vom Herrn Baron ist der Sinn ein ganz anderer. Paß auf, ich erklär's dir.

Lang lag ich wach, fand keinen Schlaf,
Zählte im Traum so manches Schaf

– hast du gehört? Verstehst du, wie's gemeint ist? Schlafen hast du nicht gekonnt, geträumt anscheinend trotzdem und im Traum die Schafe gezählt. Macht also keinen Unterschied, ob du schläfst oder nicht, geträumt wird immer.«

»Alles klar. Und weiter?«

Ignat wartete die nächste Strophe ab.

»Da, hörst du:

Als ich im Traum beim Schafezählen war,
flog eine Krähe dicht vorbei.
Schreckte mein Pferd, das mit mir durchging.
Los ging die wilde Raserei!

Das ist ja nun eine ganz tiefe Weisheit. Du bist ein gebildeter Mann, da weißt du wahrscheinlich, daß es in Indien mal so ein altes Buch gab: ›Uups-kann-nich-schaden‹ oder so.«

»Ich weiß«, antwortete ich, wobei mir sofort das letzte Gespräch mit Kotowski wieder einfiel.

»Da steht geschrieben, daß es mit dem Geist vom Menschen ist wie beim Kosaken mit dem Pferd. Er bringt uns vom Fleck.

Aber der Herr Baron sagt, daß es heutzutage bei den Menschen anders langgeht. Keiner versteht mehr sein Pferd zu führen, drum sticht es sozusagen der Hafer, und der Reiter hat es nicht mehr an der Kandare, es reitet, wohin es will. Und der Reiter hat schon vergessen, daß er mal ein anderes Ziel gehabt hat. Wohin's dem Pferd einfällt, dorthin geht die wilde Jagd. Der Herr Baron hat uns versprochen, daß er ein spezielles Buch zu dem Thema mitbringen will, es heißt ›Reiter ohne Kopf‹ – da soll's anhand von einem Beispiel darum gehen. Er vergißt es bloß immer. Man hat so schrecklich viel im Kopf. Da kann einer schon froh sein, wenn …«

»Was ist mit dem Rest?« fiel ich ihm ins Wort. »Dem Rest? Ach, dem Rest …

Rittmeister Ungarn ist ein kluger Mann.
Hat mir den Traum sogleich erklärt.
Bald wirst, Kosak du, deinen Kopf verliern.
Und ohne Reiter bleibt dein Pferd.

Das mit dem Rittmeister ist natürlich klar, da hat der Herr Baron sich selber gemeint, der ist ja auch wirklich gescheit. Und was den Kopf angeht, das steht so in Uups-kann-nich-schaden. Wenn der Verstand mit einem durchgeht, ohne zu wissen, wohin, dann geht er natürlich verloren, soviel ist mal klar. Aber da gibt es noch eine andre feine Deutung, die hat mir neulich der Herr Baron höchstpersönlich ins Ohr geflüstert. Die geht so, daß man im Grunde die ganze Menschenweisheit hernehmen und vergessen kann, einfach hinter sich lassen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hat der Herr Baron gesagt, alles nicht die Bohne wert und an der Hauptsache vorbei. Und deswegen heißt es in dem Lied nicht, daß man selber verlorengeht, sondern bloß der Kopf, und der ist sowieso hinüber.«

Ignat stemmte nachdenklich die Hand unter das Kinn und vertiefte sich schweigend in den Schluß des Gesangs.

Hoi, wie die bösen, bösen Winde wehn
Sturm bläst vom Osten in das Land
Reißt mir die Mütze von den Haaren
Ich halt den Kopf in meiner Hand.

Eine Weile wartete ich auf einen Kommentar, doch vergeblich. Da brach ich selbst das Schweigen.

»Sturm vom Osten, das verstehe ich noch«, sagte ich. »Ex Oriente lux, wie es so schön heißt. Aber was soll das mit der Mütze?«

»Keine überflüssigen Anhängsel mehr.« »Apropos, wieso sind eure Mützen eigentlich gelb?«

»Wir gehören doch zu den Gelug-pa, die haben gelbe Mützen. Die Karma-pa haben rote. Und die Bon-po schwarze, die sind am Don. Aber darum geht es gar nicht. Wenn man sowieso den Kopf verliert, ist es egal, welche Mütze vorher draufgesessen hat, nicht wahr? Oder andersrum gesehen: Die Freiheit fängt da an, wo Farben keine Rolle mehr spielen.«

»Na, das hat euch der Herr Baron nicht übel erklärt. Ich versteh bloß eins noch nicht: Was ist denn diese Hauptsache, die losgeht, wenn der Kopf ab ist?«

Ignat seufzte tief.

»Genau da liegt der Hase im Pfeffer«, sagte er. »Das will der Herr Baron jeden Abend von uns wissen. Aber keiner kommt drauf, obwohl sich alle Mühe geben. Weißt du, was wird, wenn einer von den Jungs die richtige Antwort weiß?«

»Wie sollte ich.«

»Der Herr Baron holt ihn vom Fleck weg ins Sonderregiment der Tibetkosaken. Das ist eine Truppe der Extraklasse. Stolz und Zierde der gesamten Asiatischen Reiterei sozusagen. Obwohl so ein Regiment strenggenommen gar nicht zur Kavallerie gehört, weil die dort nicht zu Pferde reiten, sondern auf Elefanten.«

Mir schien nun, daß ich einen jener begnadeten Schwindelhuber vor mir hatte, die einem mir nichts, dir nichts die abstruseste Geschichte hererzählen und mit einer solchen Fülle überzeugender Details ausstatten können, daß man für den Moment geneigt ist, ihnen Glauben zu schenken.

»Wie soll einer denn vom Elefanten runter mit dem Säbel hantieren?« wandte ich ein. »Das muß doch anstrengen.«

»Klar strengt das an, aber es ist unser Ding«, sagte Ignat mit leisem Lächeln und sah mich an. »Du glaubst mir wohl nicht, Herr? Mußt du wissen. Bis ich für den Herrn Baron die richtige Antwort gefunden hatte, wollte ich das alles auch nie glauben. Aber jetzt geht's nicht mehr ums Glauben, ich weiß einfach Bescheid.«

»Du hast also die richtige Antwort gefunden?«

Ignat nickte stolz.

»Deshalb kann ich mich nun als freier Mann im Feld bewegen und muß mich nicht ums Feuer drücken.«

»Und was hast du dem Baron gesagt?«

»Was ich gesagt habe, tät dir nichts nützen«, antwortete Ignat. »Es kommt nicht drauf an, was man über die Lippen bringt. Was einem durch den Kopf geht, schon gar nicht.«

Eine Zeitlang schwiegen wir; Ignat schien nachzudenken.

Plötzlich hob er den Kopf.

»Da kommt der Herr Baron. Wir müssen uns, glaub ich, auf Wiedersehen sagen.«

Ich blickte mich um und sah die hagere Gestalt des Barons auf uns zukommen. Ignat erhob sich; vorsichtshalber tat ich es ihm nach.

»Was ist«, fragte der Baron, als er heran war, »bist du soweit?«

»Zu Befehl«, antwortete Ignat, »ich bin bereit.«

Der Baron steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen echten Ganovenpfiff erschallen. Danach geschah etwas absolut Überraschendes und Unglaubliches.

Der schmale Streifen aus nicht sehr hohem Buschwerk, der sich hinter unseren Rücken hinzog, entließ einen riesigen weißen Elefanten. »Entließ« ist das richtige Wort, obwohl der Elefant zehnmal höher war als jeder dort befindliche Busch, und ich vermag nicht zu erklären, wie das ging. Nicht, daß er im Moment des Hervortretens klein gewesen und erst näherkommend zum Vielfachen dieser Größe angewachsen wäre. Nicht, daß man dort, wo die Büsche standen, eine unsichtbare Wand hätte vermuten können. Der Elefant trat so groß aus den Büschen, wie er war, und er trat aus den Büschen, diesem winzigen Streifen, hinter dem nicht einmal ein Schaf sich hätte verstecken können.

Mir widerfuhr noch einmal das gleiche wie einige Minuten zuvor, jenes Gefühl stellte sich ein, das einem suggeriert, man würde im nächsten Moment etwas überaus Bedeutsames gezeigt bekommen – die unter dem Deckmantel der Realität verborgenen Hebel und Bowdenzüge, die alles in Bewegung halten. Doch das Gefühl verging, und der weiße Elefant blieb da; mächtig stand er vor uns.

Er hatte sechs Stoßzähne, drei zu jeder Seite. Ich vermutete eine Halluzination. Doch mußte ich mir eingestehen, daß die Halluzination, wenn es denn eine war, sich ausnehmend gut in ihre Umgebung einpaßte.

Ignat ging zu dem Elefanten und erklomm ihn, wobei er die übereinanderstehenden Stoßzähne als Leitersprossen nutzte. Es wirkte behend – wie wenn er zeit seines Lebens nichts anderes getan hätte, als weiße Elefanten mit sechs Stoßzähnen auf ersponnenen Hochplateaus einzureiten. Einmal noch wandte er sich nach dem Feuer um, wo die schweigenden Kosaken in den Khakianzügen und mit den gelben Mützen saßen, winkte ihnen, drehte sich dann endgültig nach vorn und gab seinem Elefanten die Sporen. Das Tier lief los, doch nach wenigen Schritten gab es einen heftigen Lichtblitz, worauf der Elefant vom Erdboden verschwunden war. Der Blitz war so grell, daß ich beinahe eine ganze Minute lang nichts anderes sah als den gelb-violetten Brandfleck, den er auf der Netzhaut hinterlassen hatte.

»Ich vergaß, Sie vor dem Blitz zu warnen«, sagte Jungern. »Gift für die Augen. Bei uns in der Asiatischen Reiterdivision war es in solchen Fällen üblich, sich mit einer schwarzen Binde zu schützen.«

»Hat es solche Fälle denn häufig gegeben?«

»Früher ja. Manchmal sogar mehrmals täglich. Eine Häufigkeit, die zum Erblinden hätte führen können. Aber inzwischen ist es anders, die Leute haben sich verkrümelt. Wie ist es, können Sie wieder sehen?«

»Ja.«

Tatsächlich begannen sich die Dinge für mich langsam wieder von ihrer Umgebung abzuheben.

»Möchten Sie, daß ich Ihnen zeige, wie es früher einmal war?«

»Wie soll das gehen?«

Anstelle einer Antwort zog der Baron seinen Säbel aus der Scheide.

»Schauen Sie auf die Klinge.«

Ich tat, wie mir geheißen, und sah im nächsten Augenblick auf einem Streifen grellweißen Lichtes, wie auf einer Kinoleinwand, bewegte Bilder flimmern. Zu sehen gab es eine Wanderdüne, inmitten deren eine ungefähr zehnköpfige Gruppe von Offizieren stand: einige normal uniformiert, zwei, drei mit Pelzmützen und Kosakenkitteln in Tarnfarben; da, wo die Brusttaschen hingehörten, saßen Patronenfutterale oder etwas in der Art. Alle trugen sie schwarze Binden vor den Augen, die Köpfe hielten sie in eine Richtung. Plötzlich entdeckte ich Tschapajew in der Gruppe – trotz der Augenbinde leicht zu erkennen. Er sah sehr viel jünger aus, die Schläfen waren noch nicht grau. Mit der einen Hand preßte er sich den Feldstecher vor die verbundenen Augen, die andere klopfte mit der Reitgerte gegen den Stiefel. Der Mann im Kosakengewand neben Tschapajew mochte Baron Jungern sein, doch war ich mir dessen noch nicht sicher, als die Klinge sich drehte und die auf der Düne stehenden Männer verschwanden. Dafür gab es nun Einblick in die endlose Weite einer Wüste. Ganz in der Ferne vor dem tiefblauen Himmel zwei Schemen. Den Umrissen nach konnten es zwei Elefanten sein. Sie waren zu weit entfernt, als daß man hätte erkennen können, wer auf ihnen ritt – nichts als winzige Buckel auf den großen Rücken. Plötzlich wurde der Horizont in schmerzend helles Licht getaucht, und als es vorüber war, lief da nur noch ein Elefant. Von der Düne her klang Applaus. Gleich darauf der zweite Blitz.

»Wenn das so weitergeht, kann ich meine Augen vergessen, Baron«, sagte ich und löste den Blick von der Klinge des Säbels.

Jungern schob ihn in die Scheide zurück.

»Liegt dort vorn etwas Gelbes im Gras?« fragte ich. »Oder habe ich noch Flecke vor den Augen?«

»Nein, nein. Das ist die Mütze von Ignat.«

»Ach, die bösen, bösen Winde aus dem Osten?«

»Mit Ihnen konversiert es sich ausgesprochen angenehm, Pjotr«, sagte der Baron. »Sie verstehen schnell. Wollen Sie sie zum Andenken?«

Ich bückte mich und hob die Mütze auf. Sie paßte hervorragend. Ich überlegte kurz, was ich mit meiner alten anstellen sollte; mir fiel nichts Besseres ein, als sie einfach wegzuwerfen.

»In Wirklichkeit verstehe ich längst nicht alles«, sagte ich dann. »Mir ist zum Beispiel ein Rätsel, wo Sie in dieser Einöde den Elefanten aufgetrieben haben.«

»Mein lieber Pjotr«, entgegnete der Baron. »Die Welt um uns ist voll von unsichtbaren Elefanten, das können Sie mir glauben. Rußland hat mehr Elefanten als Krähen. Doch lassen Sie uns das Thema wechseln. Es wird langsam Zeit, daß Sie zurückkehren, und eines würde ich Ihnen zu guter Letzt gern noch mit auf den Weg geben. Vielleicht das Wichtigste überhaupt.«

»Und das wäre?«

»Wohin es den verschlägt, der den Thron im Nirgendwo endlich bestiegen hat. Wir nennen diesen Ort die Innere Mongolei.«

»Wer ist wir?«

»Sagen wir mal, Tschapajew und ich«, erwiderte der Baron mit einem Lächeln. »Wiewohl ich hoffe, daß auch Sie mit der Zeit noch dazustoßen werden.«

»Und wo liegt er, dieser Ort?«

»Das ist es ja. Eben nirgendwo. Im geographischen Sinne läßt er sich an keiner Stelle festmachen. Jedenfalls heißt die Innere Mongolei nicht deshalb so, weil sie sich im Inneren der Mongolei befände. Sie liegt im Innern desjenigen, der das Nichts erschaut. Wobei der Ausdruck ›im Innern‹ hier nicht recht paßt. Und um die Mongolei geht es schon gar nicht, das ist nur so ein Name dafür. Mit Worten beschreiben zu wollen, was es mit diesem Ort auf sich hat, wäre Blödsinn. Aber glauben Sie mir das eine: Es lohnt, ihn verbindlich im Auge zu behalten. Und es gibt im Leben nichts Beßres, als dort angekommen zu sein.«

»Und wie erschaut man das Nichts?«

»Augen zu und durch!« sagte der Baron. »Pardon. Ich wollte nicht kalauern.«

Ich zögerte einen Moment.

»Darf ich ehrlich sein?«

»Gewiß doch«, sagte der Baron.

»Der Ort, wo wir eben waren – diese schwarze Steppe mit den Feuern, meine ich – kam mir doch recht trostlos vor. Sollte die Innere Mongolei, von der Sie reden, ähnlich geartet sein, legte ich keinen Wert darauf, dort zu landen.«

Jungern zeigte sein Grienen.

»Sehen Sie, Pjotr, wenn es Ihnen einfällt, in einem Varieté wie der ›Spieldose‹ einen Skandal zu provozieren, dann rechnen Sie damit, daß alle übrigen Anwesenden die Situation mehr oder weniger genauso erleben wie Sie. Und selbst das wäre zu bezweifeln. Da, wo wir gewesen sind, geht es hingegen sehr individuell zu. Dort gibt es nichts, was, wie man gemeinhin sagt, wirklich existiert. Alles hängt davon ab, wer hinschaut. Für mich zum Beispiel ist dort alles mit einem blendenden Licht übergossen. Aber was meine Männer betrifft«, Jungern deutete auf die am Feuer wuselnden kleinen Gestalten in den gelben Mützen, »die sehen dasselbe wie Sie. Beziehungsweise umgekehrt: Sie, Pjotr, haben vor sich genau das, was die Männer sehen.«

»Wieso?«

»Sagt Ihnen das Wort Visualisierung etwas? Dadurch, daß viele Gläubige gemeinsam einen bestimmten Gott anbeten, entsteht dieser Gott tatsächlich, und zwar exakt in der Form, in der sie ihn sich vorstellen.«

»Das kenne ich.«

»So läuft es auch mit allem übrigen. Die Welt, in der wir leben, ist schlicht eine kollektive Visualisierung, die anzustellen wir von Geburt an gelernt haben. Es ist im Grunde das einzige, was von Generation zu Generation überliefert wird. Wenn nur genügend Leute diese Steppe vor sich sehen, Gras, Sommerabend und so weiter, verschafft uns das die Möglichkeit, an dem Anblick teilzuhaben. Bloß, die Vergangenheit mag uns noch so viele schöne Formen vorschreiben – am Ende sieht jeder von uns im Leben doch nur ein Spiegelbild seines Geistes. Und wenn Sie rings um sich her nichts als undurchdringliche Finsternis entdecken, heißt das, Ihr eigener Innenraum ist schwarz wie die Nacht. Sie können übrigens von Glück reden, daß Sie Agnostiker sind. Was meinen Sie, wie viele Götter und Dämonen sonst Ihre Finsternis bevölkerten!«

»Herr Baron …«, begann ich, doch Jungern unterbrach mich sogleich.

»Sie müssen nicht denken, daß in dieser Situation für Sie etwas Erniedrigendes läge. Kaum jemand möchte zugeben, daß er aus dem gleichen Holz geschnitzt ist wie alle anderen Leute auch. Und es ist ja nun mal die übliche Befindlichkeit des Menschen: in pechschwarzer Nacht an einem Feuer zu hocken, welches von barmherziger Hand unterhalten wird, und zu warten, daß Hilfe kommt.«

»Mag sein, daß Sie recht haben«, sagte ich. »Was ist dann aber die Innere Mongolei?«

»Das ist der Ort, von wo Hilfe unterwegs ist.«

»Ach so. Sagen Sie bloß, da waren Sie schon?«

»Ja«, bestätigte der Baron.

»Und sind zurückgekehrt? Wieso das denn?«

Der Baron nickte vielsagend zu seinen Kosaken am Feuer hin.

»Außerdem bin ich nicht wirklich zurückgekehrt. Ich bin gewissermaßen auch jetzt noch dort. Aber Sie, Pjotr, müßten nun langsam an die Rückkehr denken.«

Ich blickte mich um.

»Wohin, wenn ich fragen darf?«

»Ich zeige es Ihnen.«

Ich sah die schwere, brünierte Pistole in Jungerns Hand und zuckte unwillkürlich zusammen. Der Baron lachte.

»Also wirklich, Pjotr, was haben Sie nur? Ein wenig mehr Vertrauen zu den Menschen wäre ganz angebracht!«

Er fuhr mit der anderen Hand in die Kitteltasche und zog das Bündel hervor, das Tschapajew ihm gegeben hatte, wickelte es auf und zeigte mir das profane Tintenfaß mit schwarzem Deckel, das darin war.

»Schauen Sie aufmerksam hin«, sagte er. »Den Blick nicht abwenden, bitte.«

Mit diesen Worten schleuderte er das Fäßchen in die Luft. Als es an die zwei Meter weit geflogen war, schoß er.

Das Tintenfaß verwandelte sich in eine tiefblau sprudelnde Wolke mit blitzenden Splittern darin, die kurz in der Luft hing und dann auf den Tisch herabregnete.

Ich taumelte und mußte mich an der Wand abstützen, so schwindlig war mir mit einemmal. Vor mir der Tisch, darauf ausgebreitet die nunmehr hoffnungslos verdorbene Karte. Kotowski stand mit offenem Mund daneben. Vom Tisch auf den Fußboden tropfte das aus der geplatzten Lampe auslaufende Glyzerin.

»Was ist, Grigori: Haben wir den Geist jetzt durchschaut?« fragte Tschapajew und spielte mit der noch rauchenden Mauserpistole.

Kotowski, beide Hände vor das Gesicht geschlagen, rannte aus dem Zimmer. Er war sichtlich mitgenommen. Was man wohl auch von mir sagen konnte.

Tschapajew wandte sich zu mir um und schaute mich eine Zeitlang forschend an. Dann verzog er heftig das Gesicht.

»Hauch mich an!«

Ich gehorchte.

»So ist das also. Ehe man sich versieht, gießt er sich einen auf die Lampe. Und was soll die gelbe Mütze? Wieso hast du eine gelbe Mütze auf? Willst du Hundesohn, daß ich dich vors Tribunal zerre?«

»Ich hab nur ein einziges Glas.«

»Halt den Mund! Mund halten, sag ich! Das Weberregiment ist eingetroffen, die Leute müssen versorgt werden, willst du so besoffen vor die hintreten? Was soll Furmanow für einen Eindruck kriegen? Geh und penn dich aus! Kommt das noch ein einziges Mal vor, stehst du bei mir vorm Tribunal. Möchtest du wissen, wie bei mir das Tribunal aussieht, ja?«

»Nein, Wassili Iwanowitsch«, sagte ich, »das möchte ich nicht.«

»Zum Schlafen abtreten! Und daß du mir bloß keinen anbläst auf dem Weg in die Koje.«

Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Tür. Als ich sie erreicht hatte, drehte ich mich noch einmal um. Tschapajew saß am Tisch und schaute mir finster nach.

»Eine Frage hätte ich noch«, sagte ich.

»Nämlich?«

»Die Sache ist … Der einzig real existierende Zeitpunkt ist das Jetzt, das weiß ich nicht erst seit gestern. Unbegreiflich ist mir nur, wie sich darin eine so ellenlange Abfolge von Wahrnehmungen unterbringen läßt. Heißt das, man kann den Moment, wenn man strikt darin verweilt und weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft abgleitet, in einem Maße ausdehnen, daß Phänomene, wie ich sie eben erlebt habe, darin Platz finden?«

»Ausdehnen? Wohin denn ausdehnen?«

»Ich habe mich unkorrekt ausgedrückt. Ich meine, dieser Moment, als Scheide zwischen Vergangenheit und Zukunft, könnte der sozusagen das Tor zur Ewigkeit sein?«

Tschapajews Hand am Pistolenlauf zuckte, und ich war lieber still. Mich traf ein langer, argwöhnisch zu nennender Blick.

»Dieser Moment, Petka, ist die Ewigkeit und nicht ihr Tor«, sagte er dann. »So daß man schwerlich behaupten kann, er würde irgendwann eintreten. Und wenn du erst einmal zu dir gekommen bist …«

»Niemals«, erwiderte ich.

Tschapajews Augen wurden groß vor Verwunderung.

»Guck an, der Petka«, sagte er. »Hat er's endlich geschnallt?«

 

Wieder in meinem Zimmer, begann ich zu überlegen, womit ich mich ablenken konnte, um zur Ruhe zu kommen. Tschapajews Ratschlag fiel mir ein, die eigenen Träume zu Papier zu bringen, und so versuchte ich mir meinen Japantraum von neulich zu vergegenwärtigen. Soviel Verworrenes und Unbegreifliches darin war, entsann ich mich doch bis ins kleinste. Begonnen hatte er damit, daß in einer seltsamen Art Untergrundbahn die nächste Station ausgerufen wurde. Den Namen wußte ich noch und konnte mir sogar denken, wo er herrührte: Sehr wahrscheinlich hatte ihn mein Bewußtsein, den schwierigen Gesetzen der Traumwelt unterworfen, einen kurzen Moment vor dem Erwachen aus dem Namen eines Pferdes bezogen, das von irgendeinem Soldaten unter meinem Fenster gerufen worden war, und dieser Ruf war sogleich in einen doppelten Spiegel geraten, denn außer der U-Bahn-Station hieß auch die Fußballmannschaft so, von der in dem Gespräch ganz zu Ende des Traums die Rede war. Das hieß, der Traum, so lang und ausführlich er einem erschienen war, hatte nicht länger als eine Sekunde gedauert; jetzt, nach meiner Begegnung mit dem Baron Jungern und dem letzten Gespräch mit Tschapajew, wunderte mich das nicht mehr. Ich setzte mich an den Tisch, rückte mir einen Stapel Papier zurecht, tauchte die Feder ins Tintenfaß und schrieb auf die obere Hälfte des ersten Blattes mit Großbuchstaben:

 

»ZURÜCKBLEIBEN BITTE!
TÜREN SCHLIESSEN SELBSTTÄTIG.
NÄCHSTE STATION: DYNAMO!«

 

Ich arbeitete lange, mehrere Stunden, und schaffte es doch nicht, auch nur die Hälfte von dem zu notieren, was mir einfiel. Dem Punkt, wo meine Feder das Papier berührte, entflossen Details von so schillernder Dekadenz, daß ich am Ende nicht mehr unterscheiden konnte, ob ich noch den Traum niederschrieb oder schon dabei war, über ihn zu improvisieren. Zwischendurch bekam ich Lust zu rauchen, nahm die Papirossy vom Tisch und ging hinunter auf den Hof.

Dort herrschte ein emsiges Treiben. Ein Teil der angekommenen Soldaten formierte sich gerade; es roch streng, eine Mischung aus Stiefelwichse und Pferdeschweiß. Ich entdeckte ein kleines Militärorchester, das den Schluß des Zuges bildete: ein paar verbeulte Hörner sowie eine Riesenpauke, von einem langaufgeschossenen Jungen am Riemen gehalten, der aussah wie Peter der Große ohne Schnurrbart. Ich weiß nicht, wie es kam – der Anblick des Orchesters ließ mich unsäglich melancholisch werden.

Das Kommando über die ganze Formation führte jener Mann mit dem Säbelschmiß im Gesicht, den ich schon vom Fenster aus gesehen hatte. Vor meinem geistigen Auge erschien der verschneite Bahnhofsvorplatz, die rotbespannte Tribüne, Tschapajew, der die Luft mit seinem gelben Stulpenhandschuh zerschnitt, und dieser Mann hier, wie er an der Brüstung stand und die monströsen, sinnlosen Phrasen, die Tschapajew auf das Karree der vollgeschneiten Frontkämpfer niederprasseln ließ, mit beifälligem Nicken quittierte. Es war Furmanow, keine Frage. Als er das Gesicht in meine Richtung drehte, tauchte ich, bevor er mich noch erkennen konnte, im Portal des Gutshauses unter.

Ich ging zurück auf mein Zimmer, legte mich auf das Bett und starrte zur Decke. Der kahlgeschorene, bärtige Dicke am jenseitigen Lagerfeuer kam mir in den Sinn, der, wie ich plötzlich wußte, Wolodin geheißen hatte. Ein gekachelter Raum mit am Boden festgeschraubten Badewannen tauchte aus den Tiefen meines Gedächtnisses hervor, dazu dieser Wolodin, nackig und naß, wie ein Frosch neben einer der Wannen kauernd. Gerade hatte ich das Gefühl, als müßte mir noch mehr dazu einfallen, als unten auf dem Hof die Hörner zu blasen begannen. Dumpf dröhnte die Regimentspauke, und der Chor der Weber, mir noch gewärtig von der langen nächtlichen Zugfahrt, schmetterte sein Lied:

Die weiße Armee und der Schwarze Baron
zerren uns wieder zum Zarenthron.
Doch von der Taiga bis nach Calais
geht ihren Weg die Rote Armee!!!

»Diese Idioten«, flüsterte ich, drehte mich zur Wand und spürte, wie Tränen hilfloser Wut und ohnmächtiger Haß auf diese Welt mich übermannten. »Gott, was sind das für Idioten! Ach, man möchte sie nicht einmal Idioten nennen, sie sind Schatten ihrer selbst. Schatten im Nebel«