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»Nächste Station: Dynamo«, sagte die Lautsprecherstimme.

Der gegenübersitzende Fahrgast, ein Mann von sehr seltsamem Äußeren – narbiges Mondgesicht, schmutziger Steppmantel, Turban mit Spuren von grüner Farbe – bemerkte den Blick Serdjuks, der ihn schon minutenlang ohne Grund anstarrte, kratzte sich am Ohr, legte zwei Finger an seinen Turban und sagte laut:

»Heil Hitler!«

»Gleichfalls«, erwiderte Serdjuk höflich und wandte den Blick ab.

Unbegreiflich, was das für ein Mann war und warum er mit der U-Bahn fuhr – mit dem Gesicht hätte er es längst zu einem BMW bringen müssen.

Direkt über dem Typen hing ein Werbeplakat, auf dem das Foto eines glücklichen jungen Milchtrinkers mit dem Slogan WACHSEN UND GEDEIHEN untertitelt war. Irgendwer hatte das A ausradiert und durch ein I ersetzt. Serdjuk seufzte teilnahmsvoll, schielte dann nach rechts und begann in dem Buch zu lesen, das seinem Banknachbarn auf den Knien lag. Es war eine in Zeitungspapier eingeschlagene Broschüre; auf der zerfledderten Hülle stand mit Kugelschreiber: »Der japanische Militarismus«. Dem Anschein nach ein Leitfaden mittlerer Geheimhaltungsstufe aus Sowjetzeiten. Das Papier war schon vergilbt, das Schriftbild eigentümlich: Im Text fand sich eine Vielzahl japanischer Wörter, großbuchstabig, in kyrillischer Umschrift.

»Soziale Verantwortung und natürliches Pflichtgefühl durchdringen einander«, las Serdjuk, »und erzeugen eine tiefe, dramatische Emotionalität. Solcherart Befindlichkeit drückt sich für die Japaner in den Begriffen NAKE und DEI aus, die noch längst nicht der Vergangenheit angehören. NAKE ist die bewußtgemachte ›Erkenntlichkeit‹ des Kindes gegenüber den Eltern, des Vasallen gegenüber dem Suzeränen, des Bürgers gegenüber dem Staat. DEI meint die ›Schuldigkeit‹ die jedermann dazu anhält, ein Leben gemäß seinem Stand und seiner Position in der Gesellschaft zu führen. Dies schließt eine Schuldigkeit sich selbst gegenüber ein: die Ehre und Würde der eignen Person, des eignen Namens zu wahren. Die Bereitschaft, sich für NAKE und DEI zu opfern, ist so etwas wie ein sozialer, professioneller und menschlicher Verhaltenskodex.«

Der Nebenmann hatte offenbar bemerkt, daß Serdjuk mitlas, er hob sein Buch knapp vor das Gesicht und deckte es noch dazu ab, so daß der Text nicht mehr einzusehen war. Serdjuk schloß die Augen.

Deshalb führen die ein normales Leben, dachte er, weil sie an ihre Pflicht denken. Und nicht in einem fort saufen und krakeelen wie unsereins.

Was innerhalb der nächsten Minuten in Serdjuks Kopf vor sich ging, weiß man nicht; als der Zug in die Station Puschkinskaja einfuhr, verspürte er jedenfalls das heftige Bedürfnis zu trinken – nein, nicht nur zu trinken, sondern zu saufen – und stieg aus. Zunächst war dieses Bedürfnis noch ganz unausgeformt und unbewußt vorhanden, äußerte sich nur als vage Sehnsucht nach etwas, das unerreichbar und verloren schien; Formen nahm das Ganze erst an, als Serdjuk der langen Batterie gepanzerter Kioske gegenüberstand, aus deren Sehschlitzen ausdruckslos die immergleichen kaukasischen Gesichter schauten und das feindliche Territorium observierten.

Sich auf ein konkretes Getränk festzulegen fiel schwer. Das Sortiment war groß, aber durchweg zweitklassig – wie bei politischen Wahlen. Serdjuk zögerte lange, bis er schließlich in einer der Buden eine Flasche Portwein mit Namen »Liwadija« entdeckte.

Sowie Serdjuk die Flasche sah, stand ihm ein lange vergessener Morgen seiner Jugend vor Augen. Ein Winkel des Institutshofes, von allerlei Kisten verstellt, Sonne auf dem herbstgelben Laub und die Clique grölender Kommilitonen, die eine Flasche dieses Portweins kreisen ließ (das Etikett allerdings etwas anders aussehend – noch ohne das ukrainische »i« mit dem Pünktchen darauf). Der Treffpunkt war von außen nicht einzusehen, um hinzugelangen, mußte man sich, wie Serdjuk noch genau wußte, zwischen rostigen Gitterstäben hindurchzwängen, an denen man sich die Jacke verdarb. Das Entscheidende aber war nicht der Portwein, nicht das Gitter – es waren die unüberschaubaren, von diesem umzäunten Hofwinkel aus in alle Himmelsrichtungen weisenden Wege und Möglichkeiten, die die Welt damals für einen bereithielt und die nun als Leuchtspur im Gedächtnis aufschienen und Trauer ins Herz pflanzten.

Auf die Erinnerungen folgte ein Gedanke, der am allerwenigsten auszuhalten war: daß nämlich die Welt sich gar nicht verändert haben mochte, daß nur der Blickwinkel, unter dem man sie damals spielend hatte sehen können, nicht wiederherzustellen war. Man konnte nicht mehr so einfach zwischen Gitterstäben hindurchschlüpfen. Und selbst wenn es noch gegangen wäre – das bißchen Luft dahinter war ein für allemal verbaut mit Zinksärgen voller Lebenserfahrung.

Den einen Trost gab es: Wenn es schon nicht mehr möglich war, die Welt unter jenem Blickwinkel zu sehen, dann doch wenigstens mit gleichviel Promille. Serdjuk schob sein Geld in die Schießscharte des Kiosks, fing die herausspringende grüne Granate auf, überquerte die Straße, balancierte zwischen Pfützen, in denen sich der nachmittägliche Frühlingshimmel spiegelte, setzte sich dem patinagrünen Puschkin gegenüber auf eine Bank und riß mit den Zähnen den Plastikkorken von der Flasche. Der Portwein schmeckte ganz genauso wie damals – was die These erhärtete, daß die Reformen nicht an die Fundamente des russischen Lebens gerührt hatten, nur als tosender kleiner Wirbelwind darüber hinweggegangen waren.

Serdjuk leerte die Flasche mit ein paar langen Zügen und warf sie gezielt in die Büsche hinter der granitenen Einfassung der Grünanlage. Sogleich setzte sich ein gewitztes altes Weiblein dorthin in Bewegung, das bis eben noch so getan hatte, als läse es Zeitung. Serdjuk lehnte sich zurück.

Der Rausch ist seinem Wesen nach gesichtslos und kosmopolitisch. Die Seligkeit, die sich nach einigen Minuten einstellte, enthielt nichts von dem, was das Etikett mit den Zypressen, antiken Bögen und leuchtenden Sternen am tiefblauen Himmel verhießen hatte. Man spürte nicht einmal, daß der Wein von der linksseitigen Krimküste stammte, ja, es regte sich im prickelnden Hirn eine Ahnung, daß die Welt um ihn her, gesetzt den Fall, der Wein wäre ein rechtsdrehender gewesen oder gar irgendein moldawischer, sich denselben Änderungen unterworfen hätte wie jetzt.

Und die Welt änderte sich sichtlich. Plötzlich war sie ohne Arg. Die Passanten verwandelten sich von Adepten des Weltbösen in dessen arme Opfer, die nicht einmal wußten, daß sie Opfer waren. Eine Minute später war etwas mit dem Weltbösen geschehen – es schien entweder verschwunden oder belanglos geworden zu sein. Die Seligkeit erreichte ihren herrlichen Zenit und verharrte dort einige Minuten, bis Serdjuk von der gewöhnlichen Last trunkener Gedanken wieder in die Wirklichkeit hinuntergezogen wurde.

Drei Schuljungen liefen an ihm vorbei; aus dem Tohuwabohu ihrer gebrochenen Stimmen stach wiederholt das energisch gezischte Wort »Zocken« hervor. Je weiter ihre Rücken sich entfernten, um so mehr schienen sie von einem am Straßenrand geparkten amphibischen Jeep japanischer Bauart angezogen zu werden, der eine große Seilwinde auf der Kühlerhaube trug. Genau auf gleicher Höhe prangte, zwei Zinnen einer unsichtbaren Festungsmauer gleich, das McDonald's-Logo von der gegenüberliegenden Straßenseite. All dies zusammen – die Schülerrücken, der Jeep und das gelbe M auf rotem Grund – ließ Serdjuk an ein Bild des Malers Dejneka denken: die »Künftigen Piloten«. Er glaubte sogar zu wissen, woran dies lag – an der Bestimmtheit nämlich, mit der das Schicksal der handelnden Personen in beiden Fällen vorherzusehen war. Während die »künftigen Gangster« im Fußgängertunnel untertauchten, fiel Serdjuk zum selben Thema der amerikanische Film »To Kill The Dutchman« ein, in Moskau gedreht, doch im New York der dreißiger Jahre spielend. In der Wohnung eines der Gangster hatten die »Künftigen Piloten« an der Wand gehangen und dem Film eine düstere und beängstigende Vieldeutigkeit verliehen.

Über Politik mochte Serdjuk jetzt aber nicht weiter nachdenken. Die Gedanken kehrten von selbst zu dem zurück, was er in der U-Bahn beim Nachbarn gelesen hatte.

Die Japaner sind ein großartiges Volk! dachte er. Zwei Atombomben hat man ihnen draufgeschmissen, die Inseln abgeluchst, und sie – haben's prima überlebt … Wieso gucken bei uns alle immer nur nach Amerika? Müßte uns dieses Amerika nicht eher schnuppe sein? Um Japan muß man sich kümmern – das sind doch unsere Nachbarn! Von Gott gewollt. Und die müssen mit uns genauso gut Freund sein, damit wir zusammen Amerika den Stuhl unterm Hintern anbrennen. Einen Denkzettel kriegen die Amerikaner von uns beiden, für die Atombombe und für die Bialowiezer Heide, wo sie unserem Vaterland den Todesstoß versetzt haben.«

Auf unerfindliche Weise und doch wie selbstverständlich mündeten diese Überlegungen in den Entschluß, sich noch einen zu genehmigen. Einige Zeit meditierte Serdjuk über die Frage, was für einen. Portwein war ihm über. Nach dem verspielten Ostküsten-Adagio schien nunmehr ein langes, ruhiges Andante das Passende zu sein – etwas Klares, Uferloses mußte her, etwas wie der Ozean aus dem Vorspann zur Sendung »Klub der Weltenbummler« oder das Weizenfeld auf der Aktie, die Serdjuk für seinen Privatisierungsscheck bekommen hatte. Nach einigen Minuten Bedenkzeit entschied er sich für hochprozentigen holländischen Korn und merkte erst auf dem Weg zum Kiosk, daß seine Wahl immer noch mit jenem Film zu tun hatte.

Das war freilich Nebensache. Er landete wieder auf derselben Bank, entkorkte zügig die Flasche, füllte den Plastikbecher zur Hälfte und trank ihn aus, dann riß er, während sein verbrannter Mund nach Luft schnappte, die Zeitung auseinander, in die der als Zubrot gekaufte Hamburger eingewickelt war. Ein merkwürdiges Emblem fiel ihm auf: eine rote Blume mit unsymmetrischen Blütenblättern im Oval. Darunter die Annonce:

Die Moskauer Niederlassung der japanischen Firma Taira Inc. schreibt mehrere Mitarbeiterstellen zur Bewerbung aus. Kenntnis der englischen Sprache und Computererfahrung erforderlich.

Serdjuk schüttelte heftig den Kopf. Für einen Moment war es ihm so vorgekommen, als hätte neben der Annonce noch eine weitere mit demselben Logo gestanden. Erst beim näheren Hinsehen bekam er mit, daß das zweite Emblem von einem Zwiebelring, einem aus dem trockenen Brötchen ragenden Ende gräulich-toten Fleisches mit Schnittmuster und einer blutigen Spur Ketchup gebildet wurde. Befriedigt nahm Serdjuk zur Kenntnis, daß sich die verschiedenen Wirklichkeitsebenen zu mischen begannen; er riß die Annonce sorgsam aus der Zeitung heraus, leckte einen Tropfen Ketchup ab, faltete sie zusammen und steckte sie in die Jackentasche.

Von da an das Übliche.

 

Geweckt wurde Serdjuk von Brechreiz und grauem Morgenlicht. Das Licht war am widerwärtigsten – wie immer hatte er das Gefühl, als wäre es zu Desinfektionszwecken mit Chlor versetzt worden. Serdjuk orientierte sich flüchtig und stellte fest, daß er bei sich zu Hause war; allem Anschein nach hatte er am Vortag Gäste gehabt (wer, fiel ihm nicht ein). Mit Mühe kam er vom Fußboden hoch, zog die Jacke aus, setzte die Mütze ab (beides starrte vor Dreck) und hängte sie im Flur an den Haken. Anschließend kam er auf die Idee, im Kühlschrank könnte Bier sein (es hatte mehrere solche Fälle in seinem Leben gegeben). Als ihn noch wenige Meter von der Kühlschranktür trennten, klingelte das Telefon. Serdjuk nahm ab und wollte »Hallo?« sagen, doch schon der Versuch ließ ihn so sehr leiden, daß statt dessen ein Stöhnen wie »Och he!« in den Hörer rutschte.

»Ohayô gozaimasu!« tönte es munter zurück. »Herr Serdjuk?«

»Ja«, sagte Serdjuk.

»Guten Tag. Ich bin Oda Nobunaga, wir hatten dieses nette Gespräch gestern abend. Besser gesagt, letzte Nacht. Sie waren so freundlich, mich anzurufen.«

»Ja«, sagte Serdjuk und faßte sich mit der freien Hand an den Kopf.

»Ich habe Ihren Vorschlag mit Herrn Yoshitsune Kawabata besprochen, und er ist bereit, Sie heute fünfzehn Uhr zum Bewerbungsgespräch zu empfangen.«

Die Stimme im Telefon war Serdjuk nicht bekannt. Klar war nur, daß es sich um einen Ausländer handelte – zwar sprach er völlig akzentfrei, ließ aber in seinen Sätzen Pausen, die den Eindruck erweckten, als müßte er zur Wahl der passenden Worte erst im Wörterbuch nachschlagen.

»Freut mich außerordentlich«, sagte Serdjuk. »Um welchen Vorschlag handelt es sich genau?«

»Den Sie mir gestern unterbreiteten. Genauer gesagt, heute.«

»Ah ja«, sagte Serdjuk, »ah, jaja!«

»Notieren Sie die Adresse!« empfahl Oda Nobunaga.

»Sofort«, sagte Serdjuk, »einen Moment. Ich hole den Stift.«

»Haben Sie denn Stift und Notizblock nicht neben dem Telefon liegen?« fragte Nobunaga mit deutlicher Gereiztheit in der Stimme. »Das sollten Sie als Geschäftsmann aber.«

»Ich höre.«

»Metrostation Nagornaja, linker Ausgang. Da ist ein Metallzaun. Dahinter das Haus. Eingang über den Hof. Die genaue Adresse ist Pjatichlebny pereulok, Nummer 5. Es gibt ein … ein Schild.«

»Vielen Dank.«

»Das war es von meiner Seite. Sayônara, wie man bei uns sagt«, sagte Nobunaga und legte auf.

Bier war keines im Kühlschrank.

 

Kaum daß Serdjuk – lange vor der anberaumten Zeit – aus der Metrostation Nagornaja zutage gestiegen war, sah er den Zaun: von Dellen übersät, mit abgeblättertem Anstrich, so unansehnlich und schmutzig, daß Serdjuk nicht glauben mochte, es könnte der von Herrn Nobunaga gemeinte sein. Eine Zeitlang lief er die Umgebung ab und hielt die wenigen Passanten an, um sie nach der Pjatichlebny-Straße zu fragen. Keiner wußte es oder wollte es sagen; meistens geriet Serdjuk an alte, schwarzgekleidete, sich langsam dahinschleppende Frauen, die ohnehin nicht redeten.

Ringsum sah es wüst aus. Viel von Unkraut überwucherter Beton, wie die Reste eines vor Zeiten ausgebombten Industrieviertels. Hie und da ragte rostiges Eisen aus dem Grün, dazwischen war freier Raum, der Himmel weit; am Horizont ein dunkler Streifen Wald. All dies konnte wenig überraschen, und doch war an dem Gelände etwas nicht normal. Schaute man gen Westen, wo der verschlissene grüne Blechzaun stand, hatte man ein normales Stadtpanorama vor sich. Ostwärts hingegen bot sich dem Blick ein riesiges ödes Feld, überragt von einigen Bogenlampen, die Galgen hätten sein können – Serdjuk fühlte sich wie auf dem geheimen Grenzstreifen zwischen postindustriellem Rußland und mittelalterlichem Kiewer Reich.

Dies war entschieden nicht die Gegend, wo seriöse ausländische Agenturen ihre Büros zu eröffnen pflegten; Serdjuk schlußfolgerte, daß es sich um eine winzige Firma handeln mußte, in der eine Hand voll lebensfremder Japaner ihr Auskommen suchten (irgendwie kamen ihm gleich die Bauern aus den »Sieben Samurai« in den Sinn). Damit war auch klar, warum sein betrunkener Anruf so lebhaftes Interesse hervorgerufen hatte. Sogleich überströmte ihn eine Woge von Mitleid und Herzlichkeit gegenüber diesen Leidensgenossen, die es genauso wenig fertigbrachten wie er, sich ein halbwegs bequemes Leben zu organisieren. Gewissensbisse, sich nicht wenigstens rasiert zu haben, die ihn auf dem Weg hierher gequält hatten, waren nun natürlich überflüssig.

Herrn Nobunagas Formulierung »dahinter das Haus« hätte auf -zig Gebäude zutreffen können. Serdjuk entschied sich aus unklarem Grund sofort für einen grauen Achtgeschosser mit Lebensmittelgeschäft im Parterre, und nachdem er dort zwei, drei Minuten über den Hof geschlendert war, bemerkte er an einer Hauswand tatsächlich ein quadratisches gußeisernes Täfelchen: HANDELSHAUS TAIRA. Darunter gab es einen winzigen Klingelknopf, der zwischen den Mauerbuckeln kaum auffiel. Einen guten Meter weiter befand sich eine grobe, in wuchtige Angeln gehängte, grün gestrichene Stahltür. Bestürzt blickte Serdjuk an der Wand entlang. Falls das Schild sich nicht auf den Gullideckel im Asphalt bezog, blieb nur diese Tür. Serdjuk wartete noch, bis es auf seiner Uhr zwei Minuten vor drei war, und drückte auf den Knopf.

Die Tür öffnete sich beinahe sofort. Dahinter stand der übliche Hüne im Tarnanzug mit Gummiknüppel in der Hand. Serdjuk nickte höflich und setzte zum Sprechen an, um den Grund seines Besuchs zu erläutern, doch der Mund blieb ihm offen stehen.

Hinter der Tür lag ein kleiner Vorraum, wo Tisch (mit Telefon) und Stuhl standen. Ein großes Bild an der Wand fiel ins Auge, das einen in die Tiefe führenden Korridor zeigte. Erst auf den zweiten Blick sah Serdjuk, daß es kein Bild war, sondern ein wirklicher, hinter einer Glastür liegender Korridor von allerdings merkwürdiger Art: An den Wänden hingen Laternen mit Schirmen aus Reispapier und flackernden Flämmchen darin; der Fußboden war von einer dicken, gelben Sandschicht bedeckt, auf der, dicht an dicht, kleine Matten aus geschlissenem Bambus ausgelegt waren, die zusammen etwas wie einen Läufer ergaben. Die Laternenschirme trugen in leuchtendem Rot das Zeichen, das er aus der Zeitungsannonce kannte: eine Blume mit vier rhombischen Blütenblättern (die äußeren etwas länger), oval umrahmt. Der Korridor führte nicht, wie es erst schien, in endlose Tiefen, sondern im sanften Bogen nach rechts (so etwas war ihm in noch keinem Moskauer Haus begegnet), wodurch das Ende nicht einzusehen war.

»Worum geht's?« zerschnitt die Stimme des Wachmanns die Stille.

»Ich habe einen Termin bei Herrn Kawabata«, sagte Serdjuk, der die Fassung nur allmählich wiedergewann. »Um drei.«

»Ah. Dann kommen Sie rein, Mann. Die mögen es nicht, wenn die Tür lange aufbleibt.«

Serdjuk tat einen Schritt nach vorn, und der Wachmann zog die Tür hinter ihm zu, worauf er noch den Knauf eines massiven Schlosses herumdrehte, der aussah wie ein Dampfventil.

»Bitte die Schuhe ausziehen!« sagte er. »Dort sind die Geta.«

»Die was?« fragte Serdjuk.

»Die Geta. Na, die Hausschuhe von denen. Muß man hier anhaben. Vorschrift.«

Serdjuk sah etliche Paare Holzschuhe auf dem Boden stehen, die auf den ersten Blick sehr monströs und unbequem wirkten: je ein hoher Leisten mit Doppelschlaufe aus Hanf, der offenbar an den bloßen Fuß gehörte, da die Schlaufe zwischen zweitem und drittem Zeh einzufädeln war. Serdjuk rätselte noch, ob der Wachmann es ernst meinte, als sein Blick auf eine Reihe schwarzer Lackschuhe in der Ecke fiel, aus denen die Socken hervorschauten. Er ließ sich auf einem flachen Bänkchen nieder und zog die Schuhe aus. Als er fertig war, stand er auf und merkte, daß die Geta ihn gute zehn Zentimeter größer machten.

»Darf man jetzt?« fragte er.

»Ja. Nehmen Sie eine Laterne und immer den Korridor lang. Zimmer Nummer drei.«

»Wozu die Laterne?« fragte Serdjuk verwundert.

»Gehört sich so«, sagte der Wachmann, nahm eine der Laternen von der Wand und hielt sie ihm hin. »Den Schlips tragen Sie doch auch nicht wegen der Kälte.«

Serdjuk, der sich heute morgen zum erstenmal seit Jahren einen Schlips umgebunden hatte, fand das Argument überzeugend. Ohnehin interessierte ihn, ob die Flämmchen in den Laternen echt waren.

»Zimmer Nummer drei«, wiederholte der Wachmann. »Die Nummer ist japanisch gemalt. Drei Striche übereinander. Wie das Himmels-Trigramm aus dem I Ging, wenn Ihnen das was sagt.«

»Ah!« sagte Serdjuk. »Alles klar.«

»Und ja nicht anklopfen. Geben Sie nur zu verstehen, daß Sie da sind – husten Sie oder sagen Sie irgendwas. Man wird Ihnen antworten.«

Wie ein Kranich stelzte Serdjuk, die Laterne in der ausgestreckten Hand, durch den Korridor. Das Gehen fiel schwer, die Matten unter den Füßen knirschten ungehalten, und bei der Vorstellung, daß der Wachmann ihm gewiß nachblickte und sich ins Fäustchen lachte, fühlte Serdjuk, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Hinter der eleganten Kurve lag ein halbdunkler Raum mit schwarzen Deckenbalken. Serdjuk konnte zunächst keine Türen erkennen, bis er sah, daß es sich bei den hohen Wandvertäfelungen um Schiebetüren handelte. An einer dieser Türen hing ein Zettel. Serdjuk hob die Laterne und erkannte die drei hingetuschten waagerechten Striche. Dies also war Zimmer Nummer drei.

Von drinnen tönte leise Musik. Es spielte ein Saiteninstrument, dessen Klang fremd und ungewöhnlich war, die Melodie wehmütig und langgezogen, basierend auf merkwürdigen, irgendwie altertümlich anmutenden Harmonien. Serdjuk hustete kurz. Es gab keine Reaktion. Er hustete erneut, diesmal lauter. Beim nächsten Husten, befürchtete er, würde es ihn würgen.

»Herein«, sagte eine Stimme von drinnen.

Serdjuk schob die Wand vor sich nach links und blickte in ein mit schlichten, dunklen Matten ausgelegtes Zimmer. In einer Ecke saß, die bloßen Füße untergeschlagen, ein Mann im schwarzen Anzug auf einem Lager aus bunten kleinen Kissen. Er war es, der auf dem seltsamen Instrument spielte: einer Art Laute mit langem Griffbrett und kleinem Resonanzkörper. Auf Serdjuks Eintreten reagierte er nicht. Seine Gesichtszüge konnte man schwerlich mongolid nennen, eher hatten sie etwas Südländisches. (Serdjuks Mutmaßungen folgten sogar einer ganz bestimmten Route – es hatte irgendwie mit seiner vorjährigen Reise nach Rostow am Don zu tun.) Eine kleine elektrische Kochplatte mit einem voluminösen Topf darauf und ein schwarzes, stromlinienförmiges Faxgerät standen nebeneinander auf dem Boden, von letzterem führten Leitungen zu einem Loch in der Wand. Serdjuk trat ein, stellte die Laterne auf den Boden und zog die Tür hinter sich zu.

Der Mann im Anzug zupfte eine letzte Saite und schaute auf, seine geröteten Augen schienen dem entschwebenden Ton das Geleit zu geben; dann legte er das Instrument vorsichtig ab. Seine Bewegungen waren äußerst akkurat und gemessen, so als fürchtete er einem im Raum Anwesenden, den Serdjuk nicht sehen konnte, mit einer schroffen, unbedachten Geste weh zu tun. Er zog jetzt ein Tuch aus der Brusttasche seines Anzugs, wischte sich die Tränen aus den Augen und wandte sich endlich zu Serdjuk um. Einige Zeit schauten sie einander an.

»Guten Tag. Mein Name ist Serdjuk.«

»Kawabata«, sagte der Mann.

Er sprang auf, kam Serdjuk rasch entgegen und nahm ihn bei der Hand. Die seine war kalt und trocken.

»Bitte, kommen Sie«, sagte er und zog Serdjuk buchstäblich auf das Kissenlager. »Setzen Sie sich. Ich bitte Sie, nehmen Sie doch Platz.«

Serdjuk setzte sich nieder.

»Ich …«, fing er an, doch Kawabata schnitt ihm das Wort ab – »Ich möchte nichts hören. Bei uns in Japan ist es Tradition – eine sehr alte Tradition, die bis heute lebendig ist –, daß man einem Gast, der mit einer Laterne in der Hand und Geta an den Füßen ins Haus kommt, als erstes einen heißen Sake kredenzt, denn draußen ist dunkle Nacht und schlechtes Wetter.«

Mit diesen Worten ergriff Kawabata einen langen, aus dem Topf hängenden Faden und zog daran – eine gut verkorkte, bauchige Flasche mit kurzem Hals kam zum Vorschein. Urplötzlich standen auch zwei kleine, mit frivolen Zeichnungen geschmückte Porzellanbecherchen vor ihnen: Laszive Schönheiten mit unnatürlich hohen Brauen gaben sich ernsthaft dreinblickenden Herren mit kleinen blauen Mützchen hin. Kawabata füllte die Becher randvoll.

»Sehr zum Wohl«, sagte er und gab Serdjuk einen davon in die Hand.

Kurz entschlossen kippte Serdjuk den Inhalt in den Rachen. Die Flüssigkeit schmeckte wie mit Reisbrühe verdünnter Wodka, und sie war heiß – dies vor allem war wohl der Grund, weshalb sich Serdjuk im nächsten Moment auf die Fußmatten erbrach.

Scham und Ekel bemächtigten sich seiner daraufhin so heftig, daß er nichts weiter tun konnte, als die Augen zu schließen.

»Oh«, sagte Kawabata höflich, »das muß ja ein Hundewetter sein.«

Er klatschte in die Hände.

Serdjuk blinzelte durch die Wimpern. Zwei Mädchen schwebten ins Zimmer, ähnlich ausstaffiert wie die auf den Bechern. Sogar ihre Augenbrauen bewegten sich auf gleicher Höhe, Serdjuk schaute näher hin und sah, daß sie künstlich auf die Stirn getuscht waren. Kurz, die Ähnlichkeit war so vollkommen, daß nur die vor Sekunden erlittene Schmach ein Abgleiten der Gedanken in gänzlich andere Richtung verhinderte. Flink klappten die Mädchen die besudelten Fußmatten zusammen, ersetzten sie durch neue und schwebten wieder hinaus – nicht durch die Tür, durch die Serdjuk gekommen war, sondern durch eine andere; augenscheinlich ließ sich noch eines dieser Wandpaneele zur Seite schieben.

»Bitte«, sagte Kawabata.

Der Japaner hielt ihm bereits einen neuen Becher Sake hin. Serdjuk lächelte kläglich und hob die Schultern.

»Diesmal«, sagte Kawabata, »wird alles gut.«

Serdjuk trank. Tatsächlich erging es ihm nun anders: Der Sake passierte die Kehle ohne Zwischenfälle und schickte einen wohltuenden Wärmeschauer durch den Körper.

»Sie müssen wissen, daß ich …«, hob Serdjuk wieder an.

»Erst noch einen«, sagte Kawabata.

Das Faxgerät auf dem Fußboden klingelte, gleich darauf kroch ein dicht mit Hieroglyphen bedecktes Papier aus ihm hervor. Kawabata wartete, bis es zum Stillstand kam, riß das Blatt aus dem Gerät und vertiefte sich in das Schreiben, worüber er Serdjuk völlig zu vergessen schien.

Derweil blickte Serdjuk sich im Zimmer um. Die Holzverkleidung der Wände war einheitlich. Jetzt, wo der Sake die Folgen des Nostalgieschubs vom Vortag verscheucht hatte, schien jede dieser großen Tafeln eine Tür zu sein, die ins Ungewisse führte – mit Ausnahme von einer. Dort hing ein großes Bild.

Wie alles in Herrn Kawabatas Büro kam einem auch dieses Kunstwerk sonderbar vor. In der Mitte eines riesigen Bogens Papier war eine kleine Zeichnung. Flüchtig hingeworfene, nichtsdestoweniger exakte Striche ergaben mit der Zeit einen nackten Mann (die Figur stark stilisiert, nur das Geschlechtsteil in naturalistischer Ausführung), vor einem Abgrund stehend. In jeder Hand ein Schwert, am Hals ein paar schwere Gewichte verschiedenen Kalibers, die Augen mit einem weißen Lappen verbunden; unmittelbar vor seinen Füßen gähnte die Schlucht. Daneben gab es noch einige weitere Details: eine im Nebel versinkende Sonne, Vögel am Himmel und das Dach einer Pagode im Hintergrund; von diesen romantischen Zutaten abgesehen, rief das Bild beim Betrachter den Eindruck völliger Ausweglosigkeit hervor.

»Das ist unser Nationalkünstler Akechi Mitsuhide«, sagte Kawabata, »der, der sich kürzlich an einem Fugufisch vergiftet hat. Wie würden Sie denn das Thema dieses Blattes umreißen?«

Serdjuks Augen huschten über den dargestellten Mann, vom nackten Glied hinauf zu den vor der Brust hängenden Gewichten.

»Ja nun«, hörte er sich sagen. »Bye-bye, Nackedei!«

Etwas Klügeres fiel ihm nicht ein.

»Nake! Dei!« rief Kawabata, klatschte in die Hände und lachte.

»Noch einen Sake«, sagte er dann.

»Wissen Sie«, wandte Serdjuk ein, »ich hätte nichts dagegen, aber sollten wir nicht lieber erst das Bewerbungsgespräch …. Ich werd so schnell betrunken.«

»Das Gespräch ist gelaufen«, sagte Kawabata und goß ein. »Sehen Sie, unsere Firma existiert schon seit langer Zeit – wenn Sie wüßten, wie lange, Sie würden es nicht glauben. Das wichtigste für uns ist die Tradition. Wenn ich mich etwas bildhaft ausdrücken darf: Man gelangt zu uns nur durch eine sehr schmale Tür, und Sie haben sie soeben ganz furchtlos durchschritten. Gratuliere.«

»Was für eine Tür?« fragte Serdjuk.

Kawabata wies auf das Bild.

»Diese hier«, sagte er. »Die einzige, die zu Taira Incorporated führt.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Serdjuk. »Soviel ich weiß, treiben Sie Handel und haben da …«

Kawabata hob die Hand.

»Oftmals bemerke ich mit Grausen«, sagte er, »daß halb Rußland sich von diesem widerwärtigen westlichen Pragmatismus schon hat anstecken lassen. Damit meine ich natürlich nicht Sie. Doch ansonsten gibt es allen Grund zu dieser Feststellung.«

»Was ist denn so schlecht am Pragmatismus?«

»In früheren Zeiten wurden die wichtigen Beamtenposten bei uns nach Prüfungen vergeben, zu denen die Bewerber poetische Abhandlungen über das Gute und Schöne zu verfassen hatten. Das war ein sehr weises Prinzip. Versteht einer etwas von Dingen, die unermeßlich weit über den banalen bürokratischen Verrichtungen liegen, dann wird er zweifellos auch mit letzteren zurechtkommen. Da Ihr Geist sich fähig zeigte, in Sekundenschnelle hinter das Geheimnis der in dieser Zeichnung verschlüsselten alten Allegorie zu kommen, werden Ihnen all die Preislisten und Frachtpapiere gewiß kein Kopfzerbrechen bereiten, hab ich recht? Und mehr noch: Nach dieser Ihrer Antwort ist es mir eine Ehre, auf Ihr Wohl trinken zu dürfen. Schlagen Sie es mir bitte nicht aus!«

Als Serdjuk den nächsten Becher geleert hatte, dämmerte ihm unvermutet, was am Vortag gewesen war. Von der Station Puschkinskaja war er offenbar nach Tschistye prudy gefahren. Wozu, wußte er nicht – nur das Gribojedow-Denkmal stand ihm vor Augen, allerdings in seltsamem Winkel, wie von unter einer Bank hervor gesehen.

»Ja«, sagte Kawabata nachdenklich, »dabei ist diese Zeichnung eigentlich ganz furchtbar. Von den Tieren unterscheiden uns nur die paar Regeln und Rituale, die wir untereinander vereinbart haben. Sie zu verletzen ist schlimmer als der Tod, denn sie allein trennen uns von dem Abgrund des Chaos, der sich vor unseren Füßen auftut – und den man natürlich nur sieht, wenn man die Binde von den Augen nimmt.«

Er wies auf die Zeichnung an der Wand.

»Aber es gibt bei uns in Japan noch eine andere Sitte: sich immer einmal wieder für Momente von aller Tradition zu lösen, Buddha und Mara abzuschwören, wie man bei uns sagt, um den unnachahmlichen Geschmack der Realität zu kosten. Und diese Momente bringen mitunter ganz erstaunliche Kunstwerke hervor.«

Kawabata sah noch einmal auf den Mann mit den Schwertern am Abgrund und seufzte.

»Ja, bei uns ist das Leben jetzt auch so, daß der Mensch sich von allem lossagt«, meinte Serdjuk. »Und die Traditionen. Na ja, manche rennen jetzt in alle möglichen Kirchen, aber meistenteils guckt der Mensch natürlich Fernsehen und denkt ans liebe Geld.«

Serdjuk merkte, daß er mit dem eben Gesagten das Niveau des Gesprächs in den Keller gefahren hatte; nun mußte er unbedingt etwas Gescheites von sich geben.

»Das rührt wahrscheinlich daher, daß der Russe von Natur aus keinerlei metaphysischen Drang verspürt«, fuhr er fort, während er Kawabata das leere Glas zurückgab. »Er begnügt sich mit einem Mix aus Atheismus und Alkoholismus, das ist, wenn man ehrlich sein will, unsere vorherrschende geistige Tradition.«

Kawabata goß Serdjuk und sich wieder ein.

»Sie erlauben, daß ich in diesem Punkt etwas anderer Meinung bin«, sagte er. »Und zwar aus folgendem Grund. Kürzlich erwarb ich für unsere Sammlung russischer religiöser Kunst …«

»Sie sind ein Sammler?« fragte Serdjuk.

»Aber ja«, sagte Kawabata, stand auf und ging zu einem der Wandregale. »Auch dies gehört zu den Grundsätzen unserer Firma. Wir versuchen immer so tief wie möglich in die Seele jener Völker einzudringen, mit denen wir geschäftlich zu tun haben. Wobei es nicht etwa darum geht, einen zusätzlichen Profit aus dem Umstand zu schlagen, daß man die betreffende … wie sagt man auf russisch? Mentalität?«

Serdjuk nickte.

»Dies ganz und gar nicht«, fuhr Kawabata fort, während er eine große Mappe aufschlug. »Dahinter steht vielmehr der Wunsch, jegliches Tun in den Rang der Kunst zu erheben – und mag es noch so weit von ihr entfernt scheinen. Sehen Sie, wenn Sie zum Beispiel, sagen wir, eine Partie Maschinengewehre einfach so ins Leere absetzen und mit ihr auf dubiose Weise Umsatz erzielen, spielen Sie sozusagen nur die Rolle einer Registrierkasse. Verkaufen Sie die gleiche Partie an Geschäftspartner von denen Sie wissen, daß diese Leute immer, wenn sie einen Menschen ins Jenseits befördern, vor den drei Hypostasen des Schöpfers dieser Welt Reue zu bekunden haben, so verwandelt sich der profane kommerzielle Vorgang in einen künstlerischen Akt und gewinnt eine völlig andere Qualität. Nicht für die anderen natürlich, aber für Sie. Sie befinden sich im Einklang mit dem Universum, in dem Sie agieren, und Ihre Unterschrift unter dem Vertrag erlangt existentiellen Charakter wie … Ist mein Russisch korrekt?«

Serdjuk nickte wieder.

»Also einen existentiellen Charakter wie, sagen wir, ein Sonnenaufgang, wie die Gezeiten des Meeres und das Schaukeln eines Grashalmes im Wind. Worauf wollte ich eigentlich hinaus?«

»Auf Ihre Sammlung.«

»Ach ja. Hier ist sie, wollen Sie nicht einen Blick darauf werfen?«

Er reichte Serdjuk ein großes, mit einem Bogen Transparentpapier abgedecktes Blatt.

»Ich darf Sie bitten, vorsichtig zu sein.«

Serdjuk nahm das Blatt in beide Hände. Es handelte sich um ein verstaubtes Stück gräulicher Pappe von offenbar erheblichem Alter. Darauf stand, mit Hilfe einer Schablone aufgetragen, in schrägen, schwarzen Buchstaben das Wort GOTT.

»Was ist das?«

»Das ist eine russische konzeptualistische Ikone vom Anfang des Jahrhunderts«, erklärte Kawabata. »Eine Arbeit von David Burljuk. Sagt Ihnen der Name etwas?«

»Könnte sein.«

»Er ist seltsamerweise in Rußland wenig bekannt. Aber das tut nichts zur Sache. Schauen Sie nur!«

Serdjuk blickte noch einmal auf den Karton. Die Lettern waren von weißen Linien geschnitten – offenbar an den Stellen, wo die Schablone mit Klebestreifen befestigt gewesen war. Das Ganze wirkte grob, fast wie ein Stiefelabdruck, und war mit Farb klecksen verunziert.

Serdjuk fing Kawabatas gespannten Blick auf und brummelte ein gedehntes »Jaah«.

»Wie viele Bedeutungen darin verborgen sind!« fuhr Kawabata fort. »Warten Sie, sagen Sie noch nichts – lassen Sie mich erst einmal erzählen, was ich sehe, und sollte ich etwas vergessen haben, ergänzen Sie es. In Ordnung?«

Serdjuk nickte.

»Also«, sagte Kawabata. »Da haben wir zunächst die Tatsache, daß das Wort ›GOTT‹ mit einer Schablone aufgetragen ist. Sowie es zu Beginn eines Menschenlebens ins Bewußtsein dringt – schablonenhaft, bei Myriaden von Geistern in identischer Form. Wobei es hier schon sehr darauf ankommt, wo die Schablone aufliegt. Ist das Papier uneben und rauh, wird der Abdruck unscharf, und wenn da zuvor schon irgend etwas anderes gestanden hat, weiß man gleich gar nicht, was am Ende herauskommt. Deswegen sagt man ja: Jeder hat seinen eigenen Gott. Achten Sie des weiteren auf die herrliche Grobheit der Lettern – an den Ecken reißt sich der Blick regelrecht wund. Kaum zu glauben, daß einer auf die Idee kommen könnte, dieses vierbuchstabige Wort für den Ursprung ewiger Liebe und Barmherzigkeit zu halten, deren Abglanz das Leben auf dieser Welt halbwegs ermöglicht. Andererseits: Gleicht dieser Stempel nicht am ehesten einem Brandzeichen, mit dem man das Vieh markiert? Weil es das einzige ist, worauf der Mensch bis zum Ende hoffen kann?«

»Ja«, sagte Serdjuk.

»Wenn das aber schon alles wäre, hätte die Arbeit, die Sie in Händen halten, nichts weiter Herausragendes an sich – diese Ideen kriegt man von A bis Z in jeder atheistischen Dorfklubveranstaltung vorgeführt. Nein, es gibt da noch ein winziges Detail, das diese Ikone wahrhaft genial macht, ja, ich scheue mich nicht zu sagen, es erhebt sie über die Rubljowsche ›Dreifaltigkeit‹. Sie ahnen gewiß, wovon ich rede, doch gönnen Sie mir das Vergnügen, es selbst in Worte zu kleiden.«

Kawabata machte eine feierliche Pause.

»Ich meine natürlich die vom Befestigen der Schablone herrührenden weißen Streifen. Es wäre kein Problem gewesen, sie nachträglich zu übermalen, doch dann wäre die Arbeit nicht das, was sie jetzt ist. Man schaut auf dieses Wort, gelangt vom anscheinenden Sinn zur offenkundigen Form und stößt plötzlich auf die unausgefüllten Zwischenräume – dort, in diesem Dazwischen, und nur dort, begegnet einem das, worauf die großen, häßlichen Buchstaben so eifrig hindeuten. Denn das Wort ›GOTT‹ verweist nun einmal auf etwas, worauf sich nicht mit Fingern zeigen läßt. Das ist beinahe Meister Eckart, das ist … Na, egal. Nicht wenige haben sich bemüht, das in Worte zu fassen. Allen voran Lao-tse. Das mit den Rädern und den Speichen, wissen Sie noch? Oder das mit dem Gefäß, dessen Preis sich einzig nach dem Hohlraum darin richtet? Was, wenn ich sagte, daß jedes Wort ein solches Gefäß ist, und alles hängt davon ab, wieviel Leere es in sich zu bergen vermag? Würden Sie das anders sehen?«

»Nein«, sagte Serdjuk.

Kawabata wischte sich die Tropfen redlichen Schweißes von der Stirn.

»Und jetzt betrachten Sie noch einmal das Bild an der Wand«, sagte er.

»Ja«, sagte Serdjuk.

»Sehen Sie, wie es aufgebaut ist? Ein Segment der Wirklichkeit mit ›NAKE‹ und ›DEI‹ in der Mitte, darum herum Leere. Aus ihr kommt es, in sie geht es. Wir Japaner pflegen das Universum nicht mit unnötigen Fragen nach den Gründen seiner Existenz zu löchern. Gott bekommt von uns keinen Gottesbegriff aufgebürdet. Und doch ist der leere Raum auf dem Bild derselbe wie auf Burljuks Ikone. Ist das nicht eine bemerkenswerte Übereinstimmung?«

»Gewiß«, sagte Serdjuk und hielt Kawabata den leeren Becher hin.

»Sie werden diese leeren Räume in der westlichen religiösen Malerei nicht finden«, sagte Kawabata, während er nachgoß. »Dort ist alles mit Materie gefüllt – irgendwelchen Vorhängen, Faltenwürfen, Becken mit Blut und allem möglichen. Die besondere Sicht auf die Realität, wie sie in diesen beiden Kunstwerken zum Ausdruck kommt, verbindet nur euch und uns. Darum meine ich: Was Rußland wirklich braucht, ist die alchimistische Ehe mit dem Osten.«

»Ach«, sagte Serdjuk, »ehrlich, davon habe ich erst gestern …«

»Und zwar nur mit dem Osten«, ließ Kawabata ihn nicht zu Wort kommen, »nicht etwa mit dem Westen. Verstehen Sie? In den Tiefen der russischen Seele gähnt dieselbe Leere wie in den Tiefen der japanischen. Und aus ebendieser Leere entsteht die Welt stündlich, sekündlich immer wieder neu. Auf Ihr Wohl.«

Erst trank Serdjuk, dann Kawabata, der nun die leere Flasche in der Hand drehte.

»So ist es«, sagte er, »der Wert des Gefäßes besteht in dem, was nicht darin ist. Dabei ist dieser Wert in den letzten paar Minuten ins Unermeßliche gewachsen, sehen Sie nur.

Das Gleichgewicht zwischen Wert und Nicht-Wert ist gestört, und das darf nicht sein. Ein gestörtes Gleichgewicht ist das Schlimmste, was man sich denken kann.«

»Äh, ja«, sagte Serdjuk, »genau. Mehr ist wohl nicht da?«

»Wir könnten noch was holen«, sagte Kawabata und schaute zur Uhr. »Dann würden wir aber den Fußball verpassen.«

»Interessiert Sie das?«

»Na klar. Ich bin Dynamo-Fan!« sagte Kawabata und zwinkerte auf eigentümliche Weise.

 

In der abgerissenen Kapuzenjacke und den Gummistiefeln ließ Kawabata endgültig jede Ähnlichkeit mit einem Japaner vermissen. Dagegen schien er nun der perfekte Zuzügler aus Rostow am Don zu sein – und Serdjuk ahnte sogar, woran das lag. Diese Ahnungen waren allerdings eher betrüblich.

Serdjuk wußte nämlich längst, daß die meisten Ausländer, denen man auf Moskaus Straßen begegnete, gar keine Ausländer waren, sondern Kleinhandeltreibende, Marktsteher, die sich ein bißchen Geld zusammengehehlt und es anschließend im Kalinka-Stockman-Shop umgesetzt hatten. Echte Ausländer, von denen sich in Moskau Unmengen herumtrieben, kleideten sich aus Sicherheitsgründen schon seit Jahren so, daß sie sich von gewöhnlichen Passanten nicht unterschieden. Informationen darüber, wie ein gewöhnlicher Passant auf Moskauer Straßen aussah, bezogen sie logischerweise aus den Sendungen von CNN. Die wiederum – immer auf der Jagd nach Moskauern, die, der Fata Morgana der Demokratie folgend, durch die ausgedörrten Reformwüsten irrten – verwendeten für ihre Nahaufnahmen in neunzig Prozent der Fälle als Moskauer verkleidete Angehörige der amerikanischen Botschaft, da diese bei weitem echter wirkten als die zu Ausländern herausgeputzten Moskauer. So daß dieser Kawabata, obwohl (oder besser gesagt: weil) er mit einem zugezogenen Rostower zu verwechseln war und zumal er kein sehr japanisches Gesicht hatte, hundertprozentig ein reinrassiger Japaner war, einer, der eben für einen Moment aus seinem Büro hervorgekrochen war und in das Moskauer Halbdunkel abtauchte.

Dazu kam, daß Kawabata Serdjuk einen jener Wege entlangschleuste, die kein Einheimischer benutzte. Er durchquerte so viele dunkle Hinterhöfe, zugige Hausflure und Löcher in Drahtzäunen, daß Serdjuk nach wenigen Minuten völlig die Orientierung verloren hatte und seinem zielstrebigen Weggenossen blindlings folgen mußte. Schließlich kamen sie in einer dunklen verwinkelten Gasse heraus, wo ein paar Buden standen; Serdjuk verstand, daß sie am Ziel waren.

»Was nehmen wir?« fragte er.

»Ich denke, am besten einen Liter Sake«, sagte Kawabata. »Das ist jetzt das richtige. Und was zu essen.«

»Sake?« fragte Serdjuk verwundert. »Sagen Sie bloß, hier gibt es Sake?«

»Hier ja«, sagte Kawabata. »Normalen Sake bekommt man in Moskau an insgesamt drei Stellen. Was dachten Sie, wozu wir hier ein Büro eingerichtet haben?«

Das soll ein Witz sein! dachte Serdjuk und besah sich die Auslage. Das Sortiment war das übliche – mit Ausnahme einiger in die Batterie eingereihter, undefinierbarer Literflaschen mit Etiketten voller Hieroglyphen.

»Schwarzen Sake«, gab Kawabata durch den Schlitz in den Kiosk durch. »Zwei. Ja.«

Serdjuk bekam eine Flasche ausgehändigt, die er sich in die Jackentasche steckte. Die andere behielt Kawabata.

»Ich hätte noch etwas zu erledigen«, sagte Kawabata. »Geht ganz schnell.«

Sie liefen die Front der Kioske ab und standen gleich darauf vor einer kleinen Blechbude, deren Tür aussah wie ein Sieb – ob die Löcher von Kugeln oder Nägeln oder, wie zumeist, von beidem herrührten, war schwer zu sagen. Vor den zwei Fenstern waren die unvermeidlichen dekorativen Gitter angebracht – ein zum Viertelkreis gebogener Rundstahl in der unteren Ecke und ein Bündel von ihm wegstrebender rostiger Strahlen. Über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »Für Haus und Garten«.

Das Innere der Bude unterschied sich nicht von anderen dieser Art: Büchsen mit Emaillefarbe und Ölfirnis auf den Regalen, Fliesenmuster an der Wand, eine extra Auslage voller blitzender Safeschlösser verschiedener Fabrikate. Nur in einer Ecke, auf einer umgestülpten Plastikwanne, stand etwas, was Serdjuk nie zuvor gesehen hatte.

Es handelte sich um einen schwarzglänzenden Brustpanzer mit kleinen goldenen Inkrustationen. Daneben ein gehörnter Helm, der nach unten hin in einen Fächer von Halsschutzplatten auslief, auch er schwarz lackiert. Von der Stirn des Helms blitzte ein silberner fünfzackiger Stern.

Hinter dem Harnisch hingen einige verschieden lange Schwerter sowie ein großer unsymmetrischer Bogen an der Wand.

Während Serdjuk dieses Arsenal betrachtete, war Kawabata in ein leises Gespräch mit dem Verkäufer vertieft. Von irgendwelchen Pfeilen schien die Rede zu sein. Dann bat Kawabata ihn, ein langes Schwert von der Wand zu nehmen, dessen Scheide mit weißen Rhomben geschmückt war. Er zog das Schwert halb heraus, prüfte mit dem Fingernagel den Anschliff (wobei Serdjuk auffiel, wie vorsichtig Kawabata mit der Waffe umging und es vermied, die Klinge mit den Fingerkuppen zu berühren). Serdjuk schien es, als hätte Kawabata seine Anwesenheit völlig vergessen; er beschloß, sich in Erinnerung zu bringen.

»Sagen Sie«, sprach er Kawabata von der Seite an, »was könnte denn dieser Stern auf dem Helm bedeuten? Sicher irgendein Symbol?«

»Oh, ja«, sagte Kawabata, »ein Symbol, und zwar ein uraltes. Es ist eines der Embleme des Oktoberstern-Ordens.«

»Hm«, machte Serdjuk. »Was ist denn das für ein Orden? Haben den die Steinzeitmelkerinnen bekommen?«

Kawabata sah ihn lange an, dann verzog sich sein Mund zu einem verstehenden Lächeln.

»Nein«, sagte er. »Das war kein Orden, den einer irgendwann verliehen bekam. Manche Leute wußten plötzlich, daß sie ihn nun tragen durften. Besser gesagt, daß sie ihn schon immer hätten tragen dürfen. Das war alles.«

»Und was bezweckt er?«

»Es gibt nichts, was er bezwecken könnte.«

»Idioten gibt's«, sagte Serdjuk voller Mitgefühl.

Harsch ließ Kawabata das Schwert in die Scheide rasseln Peinlichkeit breitete sich aus.

»Sie sind wirklich ein Scherzbold«, sagte Serdjuk, der instinktiv spürte, daß es etwas zu bereinigen gab. »Da könnte einer ja gleich mit dem Rotbannerorden kommen.«

»Von einem solchen Orden habe ich noch nichts gehört«, versetzte Kawabata. »Einen Orden der gelben Flagge gibt es tatsächlich, aber das ist etwas ganz anderes. Und wieso meinen Sie, daß ich ein Scherzbold bin? Ich scherze selten. Und wenn, dann pflege ich es mit einem lautlosen Lachen anzukündigen.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich etwas Falsches gesagt habe«, sagte Serdjuk. »Ich bin einfach betrunken.«

Kawabata zuckte die Achseln und gab dem Verkäufer das Schwert zurück.

»Wollen Sie es haben?« fragte der Verkäufer.

»Nicht dieses«, sagte Kawabata. »Packen Sie mir das dort ein, das kleine.«

Während Kawabata noch am Bezahlen war, trat Serdjuk hinaus auf die Straße. Er hatte das schale Gefühl, eine nicht wiedergutzumachende Dummheit begangen zu haben; ein Blick hinauf zum Himmel, an dem schon die taufrischen Frühlingssterne standen, beschwichtigte ihn jedoch ein wenig. Noch einmal fielen ihm die steifen Gittersonnenstrahlen vor den Budenfenstern ins Auge. Eigentlich, dachte er deprimiert, ist Rußland auch ein Land der aufgehenden Sonne – schon deshalb, weil sie es hier noch nie so richtig bis zum Zenit geschafft hat. Er beschloß, daß diese Beobachtung es wert war, Kawabata mitgeteilt zu werden. Als der jedoch mit dem langen, schmalen Bündel unterm Arm aus dem Laden kam, war der Gedanke bereits wieder verflogen und an seine Stelle jener Mordsdurst getreten, dem keine andere Regung gewachsen war.

Kawabata schien die Sachlage schnell erfaßt zu haben. Kaum daß sie sich ein paar Meter von der Bude entfernt hatten, legte er sein Bündel unter einen nassen, schwarzen, aus einem Loch im Asphalt wachsenden Baum und sagte:

»Wie Sie sicher wissen, trinken wir Japaner unseren Sake heiß. Erst recht wird ihn keiner direkt aus der Flasche zu sich nehmen – das widerspricht zutiefst den Ritualen. Und auf der Straße zu trinken ist nun wirklich das Letzte. Eine alte Sitte gibt es allerdings, die erlaubt, es dennoch zu tun, ohne das Gesicht zu verlieren. Man nennt sie ›Reiter auf dem Rastplatz‹ oder anders übersetzt: ›Müder Reiter‹.«

Kawabata ließ kein Auge von Serdjuk, während er die Flasche aus der Manteltasche zog.

»Der Überlieferung zufolge ist der große Dichter Ariwara Narichira vorzeiten einmal als Jagdbote in die Provinz Ise entsandt worden. Der Weg dorthin war weit, man ritt zu Pferde und brauchte viele Tage. Es war Sommer. Narichira ritt in Gesellschaft von Freunden, und seine edle Seele war von Gram und Liebe voll. Als die Reiter müde wurden, saßen sie ab, um sich mit einem schlichten Mahl und einigen Schlucken Sake zu stärken. Da sie keine Räuber anlocken wollten, mieden sie es, ein Feuer zu entzünden, und tranken ihn deshalb kalt. Sie deklamierten einander wunderbare Verse, die davon handelten, was sie unterwegs gesehen hatten, und davon, was ihnen am Herzen lag. Daraufhin setzten sie ihre Reise fort.«

Kawabata entfernte den Schraubverschluß.

»Soweit die Geschichte, auf die die alte Sitte zurückgeht. Trinkt man den Sake auf diese Weise, geziemt es sich, an die Männer jener hohen Zeit zu denken, und allmählich sollen unsere Gedanken hineinfinden in eine lichte Melancholie, wie sie sich in unseren Herzen regt, wenn wir uns der Haltlosigkeit dieser Welt bewußt werden und zugleich von ihrer Schönheit gefangen sind. Lassen Sie uns miteinander …«

»Gerne«, sagte Serdjuk und griff nach der Flasche.

»Nicht so hastig«, sagte Kawabata und entzog sie ihm wieder. »Da Sie erstmals an diesem Ritual teil nehmen, darf ich erst einmal die Abfolge der einzelnen Handlungen sowie deren Bedeutung erläutern. Tun Sie mir alles nach, und ich werde Ihnen den symbolischen Sinn dessen, was sich vollzieht, auseinandersetzen.«

Kawabata stellte die Flasche neben dem Bündel ab.

»Als erstes müssen die Pferde angebunden werden«, sagte er.

Er zog einen der unteren Äste des Baumes zu sich herab prüfte, ob er fest genug war, und ließ dann den Arm um ihn kreisen, so als wickelte er ein Seil darum. Serdjuk begriff, daß er es ihm nachtun mußte. Er hob die Arme zum nächsthöheren Ast und ahmte die Gesten ungefähr nach. Kawabata sah ihm aufmerksam dabei zu.

»Nein«, sagte er. »So ist es ihm unbequem.«

»Wem?« fragte Serdjuk.

»Ihrem Pferd. Sie haben es zu hoch angebunden. Wie soll es da grasen? Nicht nur Sie sollen sich erholen, sondern auch Ihr treuer Gefährte.«

Auf Serdjuks Gesicht spiegelte sich Verständnislosigkeit, und Kawabata seufzte.

»Verstehen Sie doch, um dieses Ritual zu vollziehen, müssen wir uns in die Heian-Zeit zurückversetzen«, erklärte er geduldig. »Wir durchreiten gerade die Provinz Ise, zur schönsten Sommerszeit. Ich bitte Sie inständig, binden Sie die Zügel woanders an.«

Serdjuk sah ein, daß es klüger war, nicht zu streiten. Erst beschrieb er mit den Armen einen Kreis um den oberen Ast, dann noch einen um den unteren.

»Das sieht schon besser aus«, sagte Kawabata. »Als nächstes haben Sie in einigen Versen festzuhalten, was Sie in Ihrer Umgebung sehen.«

Er schloß die Augen, blieb eine Weile still und stieß dann einen langen Schwall kehliger Laute hervor, an dem Serdjuk weder Reim, noch Rhythmus erkennen konnte.

»Es ging ungefähr um das, was wir bereits besprachen«, erklärte er anschließend. »Daß unsichtbare Pferde unsichtbares Gras zupfen und daß dies doch weit wahrhaftiger ist als beispielsweise der Asphalt hier, den es im Grunde ja nicht gibt. Das Ganze auf Wortspielen fußend. Jetzt sind Sie an der Reihe.«

Serdjuk fühlte sich in der Klemme.

»Was soll ich sagen. Dichten bin ich nicht gewöhnt. Ist nicht so mein Fall. Wozu denn auch Gedichte. Da oben stehn die Sterne!«

»Oho!« rief Kawabata aus. »Prächtig! Ganz großartig! Und wie recht Sie damit haben! Einunddreißig Silben, die soviel wert sind wie ein ganzes Buch!«

Er trat einen Schritt zurück und verbeugte sich zweimal.

»Bloß gut, daß ich als erster gesprochen habe!« sagte er. »Nach Ihnen hätte ich mich nicht mehr getraut! Wo haben Sie denn das Tanka dichten gelernt?«

»Einfach so«, gab Serdjuk ausweichend zur Antwort.

Kawabata hielt ihm die Flasche hin. Serdjuk tat ein paar kräftige Schlucke und reichte sie dem Japaner zurück. Der setzte an, trank in winzigen Schlückchen, die freie Hand auf dem Rücken – darin ließ sich gleichfalls eine sakrale Bedeutung vermuten, er fragte lieber nicht danach. Während Kawabata trank, steckte Serdjuk sich eine Zigarette an. Nach zwei, drei tiefen Zügen kehrte sein Selbstvertrauen zurück, die eben noch gezeigte Verlegenheit war ihm fast schon wieder peinlich.

»Übrigens, was das Pferd angeht«, sagte er, »das fand ich gar nicht zu hoch angebunden. Es ist nur so, daß ich in letzter Zeit immer sehr müde bin und drei Tage hintereinander Rast mache. Deswegen hat mein Pferd lange Zügel. Damit es nicht schon nach einem Tag alles abgeweidet hat.«

Kawabatas Gesichtsausdruck veränderte sich jäh. Nach einer nochmaligen Verbeugung trat er zur Seite und begann sich am Bauch die Jacke aufzuknöpfen.

»Was haben Sie vor?« fragte Serdjuk.

»Ich schäme mich sehr«, sagte Kawabata. »Nach einer solchen Schande kann ich nicht weiterleben.«

Er setzte sich auf den Asphalt, schnürte das Bündel auf und zog das hervorgeholte Schwert blank; ein lila Reflex von der über ihren Köpfen brennenden Neonlaterne huschte die Klinge entlang. Als Serdjuk endlich begriff, was Kawabata zu tun vorhatte, konnte er ihn gerade noch rechtzeitig bei den Armen packen.

»Lassen Sie das bitte«, sagte er mit aufrichtigem Entsetzen. »Wer wird denn diese Lappalien so ernst nehmen!«

»Sie könnten mir verzeihen?« fragte Kawabata mit Rührung in der Stimme und stand auf.

»Ich bitte Sie, vergessen wir das. Ein blödes Mißverständnis. Und außerdem ist Tierliebe doch nichts Schimpfliches, im Gegenteil. Dafür muß man sich nicht schämen!«

Kawabata dachte einen Moment lang nach, und die Falten auf seiner Stirn glätteten sich.

»Sie haben recht«, sagte er. »Es war nicht Besserwisserei, die mich so handeln ließ, sondern Mitgefühl mit der erschöpften Kreatur. Daran ist wirklich nichts Schändliches. Vielleicht habe ich dummes Zeug geredet, aber das Gesicht verloren habe ich deswegen nicht.«

Er steckte das Schwert zurück in die Scheide und griff nach der Flasche, wobei er leicht ins Schwanken geriet.

»Mag es zwischen zwei ehrbaren Männern auch hin und wieder zu kleinen Mißverständnissen kommen – all dies zerfällt zu Staub, sowie sie die scharfen Klingen ihres Verstandes darauf richten. Ist es nicht so?« fragte er, während er die Flasche an Serdjuk weitergab.

Serdjuk trank den Rest aus.

»Klar zerfällt das«, sagte er. »Und wie.«

Kawabata hob den Kopf und schaute sinnend zum Himmel.

»Wozu denn auch Gedichte. Da oben stehn die Sterne!« deklamierte er. »Ach, wie schön. Wissen Sie was, ich möchte diesen wunderbaren Moment am liebsten mit einer symbolischen Geste würdigen. Wollen wir unsere Pferde nicht einfach freilassen? Sollen Sie auf diesen herrlichen Wiesen nach Herzenslust weiden und in den Nächten zu Berge ziehen. Haben sie sich das nicht redlich verdient?«

»Sie sind ein herzensguter Mensch«, sagte Serdjuk.

Unsicheren Schrittes ging Kawabata zum Baum, zog das Schwert und hieb so schnell, daß man es fast nicht sah, gegen den unteren Ast. Er fiel herab auf den Asphalt. Kawabata fuchtelte mit den Armen und brüllte wirres Zeug – Serdjuk verstand, die Pferde sollten verschwinden. Dann kam Kawabata zurück, hob die Flasche, kippte sie um und sah enttäuscht zu, wie die letzten darin verbliebenen Tropfen zu Boden fielen.

»Es wird langsam kalt«, bemerkte Serdjuk, dem ein Blick in die Runde genügte, um zu ahnen, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis sich eine Polizeipatrouille aus der feuchten Moskauer Nachtluft herausschälte. »Wollen wir nicht lieber zurück ins Büro?«

»Klar doch«, sagte Kawabata. »Da stecken wir uns was zwischen die Kiemen.«

 

Der Rückweg fehlte in Serdjuks Gedächtnis ganz und gar. Erst in dem Raum, von wo sie zu ihrem Ausflug aufgebrochen waren, kam er wieder zur Besinnung. Kawabata und er saßen nebeneinander auf dem Boden und aßen Nudeln aus tiefen Schalen. Obwohl die nächste Flasche schon wieder halb leer war, fühlte Serdjuk sich bemerkenswert nüchtern und in angeregter geistiger Verfassung. Auch Kawabata schien guter Stimmung zu sein, denn er sang leise vor sich hin:

»Da bringen sie ihn, den ju-hungen Recken, mit einge-he-schla-genem Schäde-heldach.«

Dabei schwang er die Eßstäbchen im Takt, so daß die kleinen, dünnen Nudelschlangen in alle Richtungen davonsegelten. Einige landeten auf Serdjuk, doch es schien nicht böse gemeint zu sein.

Als Kawabata seine Schüssel geleert hatte, schob er sie beiseite und wandte sich an Serdjuk.

»Was meinen Sie«, fing er an, »wenn der Mensch von gefahrvoller Reise nach Hause zurückgekehrt ist, Durst und Hunger gestillt sind – wonach gelüstet es ihn dann?«

»Keine Ahnung«, sagte Serdjuk. »Bei uns wird dann meistens der Fernseher eingeschaltet.«

»Bäh!« machte Kawabata. »Wir in Japan produzieren die besten Fernseher der Welt, aber das hindert uns nicht zu erkennen daß der Fernseher nur ein kleines Guckloch in einen riesigen geistigen Müllschlucker ist. Nein, ich dachte jetzt nicht an die Unglücklichen, die ihr Leben lang hypnotisiert auf diesen endlosen Müllstrom starren und darauf warten, daß sie eine bekannte Konservendose entdecken, und das macht sie glücklich. Ich spreche von Menschen, die es wert sind, in einem Gespräch wie dem unseren erwähnt zu werden.«

Serdjuk hob die Schultern.

»Da fällt mir nichts ein«, sagte er.

Kawabatas Augen wurden schmal, er rückte näher an Serdjuk heran, lächelte und sah für einen Moment tatsächlich einem verschlagenen Japaner ähnlich.

»Wissen Sie denn nicht mehr, vorhin, als wir die Pferde freigelassen hatten und über den Tendsin-Fluß zu den Rashomon-Toren schlenderten und Sie davon sprachen, wie schön es ist, wenn ein anderer, warmer Körper neben einem liegt? Ist es nicht das, wonach Ihre Seele in einem solchen Moment verlangt?«

Serdjuk zuckte zusammen.

Ein Schwuler! dachte er. Wieso habe ich das nicht gleich gemerkt?

Kawabata rückte noch näher.

»Dies ist doch eines der wenigen natürlichen Gefühle, die der Mensch heutzutage noch haben kann. Na, und außerdem waren wir doch beide einer Meinung, daß Rußland die alchimistische Ehe mit dem Osten braucht, stimmt's? Hab ich recht, he?«

»Unbedingt«, sagte Serdjuk, der innerlich verkrampfte. »Klar. Ich hab erst gestern wieder dran denken müssen.«

»Das ist gut«, sagte Kawabata. »Nun ist es aber so, daß das, was ganzen Völkern und Ländern widerfährt, im Leben jedes einzelnen, der dort lebt und dazugehört, symbolisch wiederauftauchen muß. Rußland, das sind ja auch Sie. Und wenn Ihre Worte aufrichtig sind, woran ich selbstverständlich nicht zweifle, dann lassen Sie uns dieses Ritual unverzüglich vollziehen. Bestärken wir sozusagen unsere Worte und Gedanken durch die symbolische Verschmelzung unserer Prinzipien.«

Kawabata verbeugte sich und zwinkerte ihm zu.

»Außerdem steht uns ja viel Arbeit miteinander bevor, und nichts schmiedet Männer so sehr zusammen wie …«

Wieder dasselbe Zwinkern und Lachen. Serdjuk grinste automatisch zurück, während ihm auffiel, daß in Kawabatas Mund ein Zahn fehlte. Das beunruhigte ihn jetzt allerdings kaum, zwei Probleme schienen ihm gravierender: Die AIDS-Gefahr war das eine. Daß er keine sehr frische Unterwäsche anhatte, das andere. Kawabata war aufgestanden und zum Schrank gegangen, kramte darin herum und warf Serdjuk irgendein Stück Stoff zu. Es war ein blaues Mützchen von der Art, wie die Männer auf den kleinen Sakebechern sie trugen. Kawabata holte ein zweites Mützchen hervor, mit dem er den eigenen Kopf bedeckte, bedeutete Serdjuk, er solle seines ebenfalls aufsetzen, und klatschte in die Hände.

Sogleich schob sich eine der Wandverkleidungen zur Seite, und eine wilde Musik drang zu ihnen herein. Hinter der Wand kam ein kleiner Raum zum Vorschein, eher eine Kammer, in der vier oder fünf Mädchen in langen, bunten Kimonos, mit Musikinstrumenten in der Hand bereitstanden. Erst kam Serdjuk der Gedanke, daß es gar keine Kimonos waren, sondern irgendwelche langen, schlechtsitzenden Kittel mit um die Taille geschlungenen Handtüchern, durch die die Kittel gerafft wurden und wie Kimonos aussahen – aber dann entschied er, daß solche Kittel eben Kimono hießen. Lächelnd, die Köpfe unentwegt von einer Seite zur anderen schiebend, spielten die Mädchen ihre Musik – eine hatte eine Balalaika, eine andere schlug mit buntlackierten russischen Holzlöffeln aus der Palecher Werkstatt den Takt, und die beiden übrigen spielten auf kleinen Plastikharmonikas, die gräßliche, durch Mark und Bein gehende Töne von sich gaben – was vollkommen normal war, denn diese Harmonikas wurden nicht dazu hergestellt, daß jemand auf ihnen spielte, sondern ausschließlich zu dem Zweck, daß Kindergartengruppen auf sonntäglichen Schauvorführungen Glück und Geborgenheit demonstrieren konnten.

Das Lächeln der Mädchen schien etwas gequält und das Rouge auf ihren Wangen zu dick aufgetragen. Ihre Gesichtszüge waren auch nicht sehr japanisch – normale russische Gesichter, nicht einmal besonders schön. Eines der Mädchen war Serdjuks ehemaliger Mitstudentin Mascha wie aus dem Gesicht geschnitten.

»Die Frau, mein lieber Semjon«, sagte Kawabata versonnen, »ist durchaus nicht geschaffen, um uns zu verderben. In jenem göttlichen Augenblick, da uns ihr Leib umschließt, werden wir gleichsam in jenes selige Land entführt, aus dem wir einmal kamen und in das wir nach dem Tode wieder abtreten werden. Ich liebe die Frauen und schäme mich nicht, es zuzugeben. Und jedesmal, wenn ich mit einer von ihnen verschmelze, ist es mir …«

Der Satz war noch nicht zu Ende gesprochen, als Kawabata erneut in die Hände klatschte – und die Mädchen kamen, tänzelnd und mit starren Blicken, in geschlossener Formation auf Serdjuk zu.

 

»… die sechste Linie, die fünfte Linie, die vierte Linie, und schon wenden sich unsere Pferde nach links, und aus dem Nebel steigt der ersehnte Sudsaku-Palast«, sagte Kawabata, während er sich die Hosen zuknöpfte und ihn aufmerksam ansah.

Serdjuk hob den Kopf vom Kissen. Anscheinend hatte er ein paar Minuten geschlafen, Kawabata war mitten in einer Geschichte, an deren Anfang sich Serdjuk nicht erinnern konnte.

Er sah an sich herunter. Außer dem alten, verwaschenen Shirt mit den olympischen Ringen hatte er nichts am Leib; die restlichen Kleidungsstücke lagen verstreut im Raum. Die Mädchen, halbnackt und etwas aus der Fasson, lungerten träge in einer Ecke herum, wo der Wasserkocher vor sich hin brodelte. Serdjuk sprang auf und zog sich hastig an.

»Dann, schon am linken Palastflügel, halten wir uns rechts«, fuhr Kawabata fort, »und endlich kommen die großen Tore auf uns zu, die Lichtspendenden … An der Stelle nun hängt alles davon ab, welcher poetischen Stimmung Ihre Seele in diesem Moment am meisten zuneigt. Ist Ihre Gemütslage schlicht und heiter, reiten Sie geradeaus. Sind Ihre Gedanken allem Irdischen abhold, halten Sie sich nach links, und vor Ihnen liegt das Tor zum Ewigen Frieden. Sind Sie aber jung, verwegen, und Ihre Seele will genießen, wenden Sie sich nach rechts und passieren das Tor zu den Anhaltenden Freuden.«

Serdjuk fröstelte unter Kawabatas unverwandtem Blick; er fuhr in Hose, Hemd und Jackett, wollte sich auch den Schlips um den Hals binden, kam mit dem Knoten nicht zurecht, ließ es sein, stopfte sich den Schlips in die Tasche.

»Dann aber«, Kawabata hob triumphierend den Zeigefinger (und war so von seiner eigenen Rede mitgerissen, daß es, wie Serdjuk merkte, keinen Grund gab, sich zu schämen oder übermäßig zu beeilen), »stehen Sie, gleich durch welches Tor Sie in den Kaiserpalast eingeritten sind, allemal auf demselben großen Hof! Denken Sie nur, welch Offenbarung darin liegt für den, der die Sprache der Gleichnisse zu lesen weiß! Welchen Weg Ihr Herz auch einschlug, welchen Kurs Ihre Seele nahm, immer kommen Sie am Ende zum gleichen Punkt. Erinnern Sie sich, wie es heißt? Alle Dinge kehren sich zum selben, und dasselbe kehrt – na? Wohin?«

Serdjuk riß den Blick vom Fußboden los.

»Sagen Sie doch, wohin kehrt dasselbe?« fragte Kawabata noch einmal, und seine Augen verzogen sich zu Schlitzen.

»Nach Hause«, erwiderte Serdjuk matt.

»Oh«, freute sich Kawabata, »geistreich und präzise wie immer. Und für die wenigen Reiter, die zum Verständnis dieser Wahrheit vorzudringen wußten, blühen auf dem ersten Hof des Kaiserpalastes Pomeranze und … Womit würden Sie die Pomeranze in einen Topf pflanzen?«

Serdjuk stöhnte. An japanischen Pflanzen kannte er nur eine einzige.

»Wie hieß das Ding noch mal? Sakura«, sagte er. »Die Sakurablüte.«

Kawabata tat einen Schritt zurück und verbeugte sich zum wer weiß wievielten Mal an diesem Abend. Und es sah so aus, als blinkten ihm schon wieder Tränen in den Augen.

»Jawohl«, sagte er, »ganz genau. Kirsche und Pomeranze auf dem ersten Hof, dahinter, bei den Gemächern der Fleuchenden Aromen, Glyzinien, bei den Gemächern der Erstorbenen Blüten die Pflaume und bei den Gemächern des Gespiegelten Lichts die Birne. Wie peinlich, daß ich Sie dieser demütigenden Befragung unterziehen mußte! Doch glauben Sie mir, ich kann nichts dafür. So sehen es nun einmal …«

Er blickte sich nach den Mädchen um, die noch beim Wasserkocher saßen, und klatschte zweimal in die Hände. Die Mädchen sprangen auf und verschwanden mitsamt dem Kocher und ihren hurtig eingesammelten Kleidern in der Kammer, aus der sie gekommen waren, die Trennwand schloß sich hinter ihnen, und nichts, außer vielleicht ein paar sämigen Tröpfchen auf dem Faxgerät, erinnerte mehr an die schäumende Orgie der Leidenschaft, die noch vor Minuten in diesem Raum stattgefunden hatte.

»So sehen es nun einmal die Regeln unserer Firma vor«, sprach Kawabata weiter. »Daß das Wort ›Firma‹ nicht die genaueste Übersetzung ist, sagte ich schon. Eigentlich wäre es zutreffender, von einem Clan zu sprechen. Doch könnte dieser Terminus, gebrauchte man ihn einfach so, Angst und Mißtrauen wecken. Darum schauen wir immer erst einmal, wen wir vor uns haben, und gehen anschließend ins Detail. Und obwohl ich mir der Antwort in Ihrem Fall schon von dem Moment an sicher war, da Sie jenes zauberhafte Gedicht vortrugen.«

Kawabata hielt inne, schloß die Augen und bewegte die Lippen – es stand zu vermuten, daß er jenen Satz von den Sternen vor sich hin sprach, der Serdjuk schon so gut wie entfallen war.

»Bemerkenswerte Worte. Also, von da an war mir alles sonnenklar. Doch es gibt ein Reglement, ein strenges Reglement, und ich war verpflichtet, Ihnen die üblichen Fragen zu stellen. Was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, ist folgendes. Unsere Firma funktioniert, ich sagte es schon, eher wie ein Clan, und so sind unsere Mitarbeiter eigentlich eher Clansbrüder. Die Pflichten, die sie auf sich nehmen, unterscheiden sich demzufolge von denen eines gewöhnlichen Gehaltsempfängers. Kurz und gut, wir wollen Sie in die Reihen unseres Clans aufnehmen, der einer der ältesten in ganz Japan ist. Der freie Posten, den Sie übernehmen werden, nennt sich ›Management-Mitarbeiter im Bereich Nordbarbaren‹. Es könnte natürlich sein, daß Ihnen diese Bezeichnung wie eine Beleidigung vorkommt, doch so ist nun einmal die Tradition, die älter an Jahren ist als die Stadt Moskau. Eine schöne Stadt übrigens, besonders im Sommer. Es handelt sich um das Amt eines Samurai, und dafür nehmen wir nicht jeden Plebs. Wenn Sie also bereit sind, dieses Amt zu übernehmen, werde ich Sie zum Samurai schlagen.«

»Und worin besteht diese Arbeit?«

»Oh, nichts Besonderes«, sagte Kawabata. »Papierkram, Kundenbetreuung. Äußerlich ist alles wie in anderen Firmen – nur daß Ihr inneres Verhältnis zu den betrieblichen Vorgängen der kosmischen Harmonie zu genügen hat.«

»Und wieviel zahlen Sie dafür?« fragte Serdjuk.

»Sie erhalten zweihundertfünfzig Koku Reis jährlich«, sagte Kawabata und runzelte für einen Moment die Stirn, er schien zu rechnen. »Das sind in Ihrer Währung so um die vierzigtausend Dollar.«

»Auszahlung in Dollar?«

»Wie Sie wünschen«, sagte Kawabata achselzuckend.

»Ich bin einverstanden«, sagte Serdjuk.

»Das habe ich nicht anders erwartet. Dann sagen Sie mir also: Sind Sie bereit, sich als Samurai des Taira-Clans zu bekennen?«

»Aber sicher.«

»Sich mit unserem Clan auf Leben und Tod zu verbünden?«

Immerzu diese Rituale! dachte Serdjuk. Wann kommen die eigentlich dazu, ihre Fernseher zu bauen?

»Ich bin bereit.«

»Sind Sie bereit, als ein echter Mann die ephemere Blüte dieses Lebens über den Rand des Abgrunds zu werfen, wenn Ihr Dei Sie dazu auffordert?« fragte Kawabata und deutete auf das Bild an der Wand.

Serdjuk warf noch einen Blick darauf.

»Ja doch«, sagte er. »Ich bin bereit. Eine Blüte in den Abgrund, was soll dabei sein.«

»Sie schwören?«

»Ich schwöre.«

»Ausgezeichnet«, sagte Kawabata, »ganz wunderbar. Jetzt bleibt nur noch eine winzige Formalität zu erledigen, dann sind wir fertig. Wir brauchen die Bestätigung aus Japan. Das wird uns nur einige Minuten kosten.«

Er setzte sich vor das Fax, wühlte aus einem Papierstapel ein weißes Blatt hervor und hatte auf einmal einen kleinen Pinsel in der Hand.

Serdjuk setzte sich um. Vom langen Hocken auf dem Fußboden waren ihm die Füße eingeschlafen; vielleicht, dachte er, ließ sich mit Kawabata besprechen, ob er nicht wenigstens einen klitzekleinen Schemel mit auf Arbeit bringen durfte. Dann schweifte sein Blick durch den Raum, um nach den letzten Sake-Resten zu fahnden, doch die Flasche, in der noch eine Neige verblieben sein mußte, war verschwunden. Serdjuk hütete sich, Kawabata, der über seinem Blatt hing, nach ihr zu fragen – man konnte ja nie wissen, ob man damit nicht wieder irgendein Ritual verletzte. Der eben geleistete blumige Schwur fiel ihm ein. Meine Herren, was hatte er im Leben nicht schon alles geschworen! Zum Beispiel für die Sache der kommunistischen Partei zu kämpfen – fünfmal bestimmt, wenn er die Schulzeit mitrechnete. Oder daß er Mascha heiraten würde. Und gestern erst wieder, wie es ihn nach Tschistye prudy verschlagen hatte und er mit diesen Idioten soff – hatte er denen nicht versprochen, daß die nächste Flasche auf seine Rechnung ging? Nun das hier. Blüte in den Abgrund.

Kawabata hatte unterdessen den letzten Pinselschwung über sein Blatt geführt. Er blies darauf und präsentierte es Serdjuk. Eine große Chrysantheme war mit schwarzer Tusche auf das Papier gemalt.

»Was ist das?« fragte Serdjuk.

»Oh«, sagte Kawabata, »das ist eine Chrysantheme. Wissen Sie, wenn unsere Familie Zuwachs bekommt, ist das für den ganzen Taira-Clan ein so freudiger Tag, daß es sich nicht schickt, mit schnöden Schriftzeichen davon zu künden. In solchen Fällen malen wir, um die Führung in Kenntnis zu setzen, eine Blume aufs Papier. Es ist übrigens die gleiche, von der wir vorhin sprachen. Sie symbolisiert Ihr Leben, das jetzt dem Taira-Clan gehört, und bezeugt außerdem, daß Sie sich seiner hochgradigen Ephemerizität nun in vollem Maße bewußt sind.«

»Schon klar«, sagte Serdjuk.

Kawabata blies noch einmal auf das Blatt, schob es dann in den Spalt des Faxgeräts und tippte eine außerordentlich lange Nummer ein.

Es klappte beim dritten Versuch. Das Fax begann zu summen, das grüne Lämpchen in der oberen Ecke blinkte, und das Papier kroch langsam in den schwarzen Spalt hinein.

Konzentriert und ohne sich ein einziges Mal zu rühren, schaute Kawabata weiter auf den Apparat. Einige quälend lange Minuten verstrichen, dann summte das Fax erneut und entließ, irgendwo am schwarzen Bauch, ein anderes Blatt Papier. Serdjuk begriff sofort: Das mußte die Antwort sein.

Kawabata wartete ab, bis das Blatt in voller Länge hervorgekrochen war, riß es aus der Maschine, sah es sich an und wandte den Blick dann langsam zu Serdjuk herüber.

»Ich gratuliere«, sagte er. »Meinen herzlichen Glückwunsch! Die Antwort könnte nicht günstiger sein.«

Er reichte Serdjuk das Blatt. Darauf gab es wieder eine Zeichnung zu sehen: diesmal einen langen, leicht gekrümmten und irgendwie gemusterten Stock mit zwei Buckeln am einen Ende.

»Was ist das?« fragte er.

»Das ist ein Schwert«, sagte Kawabata feierlich. »Das Symbol für Ihr neues Lebensniveau. Und da ich nie am positiven Ausgang unserer Verhandlungen zweifelte, darf ich Ihnen nun sozusagen Ihren Mitgliedsausweis überreichen.«

Mit diesen Worten hielt Kawabata Serdjuk das Kurzschwert hin, das er in der Blechbude erstanden hatte.

Ob es an Kawabatas bohrendem Blick lag oder an einer chemischen Reaktion des alkoholübersättigten Organismus – Serdjuk kam plötzlich die ganze Tragweite und Erhabenheit des Augenblicks zu Bewußtsein. Er wollte schon auf die Knie sinken, als ihm gerade noch einfiel, daß dies nicht die Japaner, sondern die europäischen Ritter des Mittelalters getan hatten – und genaugenommen nicht einmal die, sondern irgendwelche Darsteller in dämlichen Filmen aus der Sowjetzeit. Also streckte er lediglich die Hände aus und empfing behutsam den kühlen, todbringenden Stahl. Auf der Scheide des Schwerts war eine Zeichnung, die er zuvor nicht bemerkt hatte: drei fliegende Kraniche, aus Golddraht gebogen und in den schwarzen Lack eingelassen, deren schnittige, schwebende Konturen von erlesener Schönheit waren.

»In dieser Hülle steckt Ihre Seele«, sagte Kawabata, der immer noch kein Auge von ihm ließ.

»Was für ein schönes Bild«, sagte Serdjuk. »Dazu fällt mir ein Lied ein, wo Kraniche vorkommen, wie ging das noch mal? ›ln ihrem Keil ist noch ein kleiner Zwischenraum – vielleicht ist er für mich gelassen …‹«

»Jaja«, stimmt Kawabata zu, »mehr als so einen kleinen Zwischenraum braucht es ja gar nicht! Beim Gott Shâkyamuni, die ganze Welt mit all ihren Problemen ließe sich locker zwischen zwei Kranichen unterbringen, was sage ich, sie paßte zwischen die Schwungfedern eines einzigen … Welch poetischer Abend! Wollen wir nicht noch ein Becherchen leeren? Auf den Platz im Kranichkeil, der Ihnen nun endlich sicher ist?«

Von diesen Worten ging etwas Düsteres aus, doch Serdjuk gab darauf nicht viel. Woher sollte Kawabata denn wissen, daß das Lied von den Seelen toter Soldaten handelte.

»Mit Vergnügen«, sagte Serdjuk, »nur vielleicht ein bißchen später. Ich …«

Da pochte es laut gegen die Tür. Kawabata drehte sich um und rief etwas japanisches, die Schiebetür flog auf, und im Spalt erschien das Gesicht eines Mannes – gleichfalls von südlichem Einschlag. Es sagte etwas, und Kawabata nickte.

»Ich muß Sie ein Weilchen allein lassen«, sagte er zu Serdjuk. »Es gibt anscheinend wichtige Neuigkeiten. Wenn Sie mögen, schauen Sie sich derweil ein paar von den Kunstbänden an«, er deutete mit dem Kopf zum Regal, »oder gehen Sie einfach in sich.«

Serdjuk nickte. Kawabata verließ eilig den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Serdjuk trat an das Regal und besah sich die lange Reihe bunter Buchrücken, dann ging er zurück in die Ecke und setzte sich auf ein Kissen, den Kopf gegen die Wand gelehnt. Diese ganzen Kupferstiche interessierten ihn jetzt überhaupt nicht mehr.

Im Haus war es still. Allerdings hörte man von irgendwoher Hammerklopfen – vermutlich wurde eine Stahltür eingesetzt. Nebenan hörte man die Mädchen in gedämpftem Ton miteinander zanken, sie waren gleich hinter der Wand, doch kaum einer ihrer Flüche ließ sich verstehen, und die unterdrückten, übereinanderliegenden Stimmen verschmolzen zu einem leisen Rauschen, das beruhigend wirkte, so als wäre da drüben ein Garten, wo der Wind in den blühenden Kirschbaumzweigen spielte.

 

Serdjuk erwachte von einem schwachen Maunzen. Wie lange er geschlafen hatte, war nicht klar, doch es mußte etliche Zeit vergangen sein – Kawabata, der in der Mitte des Zimmers saß, hatte sich inzwischen umgezogen und rasiert. Er trug jetzt ein weißes Hemd, und die vordem verfilzten Haare waren streng nach hinten gekämmt. Die Töne, die Serdjuk geweckt hatten, kamen von ihm – es war ein schwermütiger Singsang, beinahe wie ein langgezogenes Stöhnen. In den Händen hielt Kawabata ein langes Schwert, das er mit einem weißen Läppchen abrieb. Serdjuk fiel auf, daß Kawabatas Hemd nicht zugeknöpft war, man konnte die unbehaarte Brust und den Bauch sehen.

Als Kawabata mitbekam, daß Serdjuk wach war, drehte er den Kopf zu ihm und zeigte sein breites Lächeln.

»Gut geschlafen?« fragte er.

»Ich hab gar nicht richtig geschlafen«, sagte Serdjuk, »nur mehr so …«

»Geschlummert«, kam Kawabata zu Hilfe, »na klar. Wir schlummern uns alle so durchs Leben. Und aufwachen tun wir erst ganz zuletzt. Wissen Sie noch, wie wir heute auf dem Rückweg zum Büro den Bach überquerten?«

»Stimmt«, sagte Serdjuk, »da kommt so ein Rinnsal aus dem Rohr.«

»Aus dem Rohr? Kann sein. Können Sie sich an die Blasen auf dem Wasser erinnern?«

»Ja. Richtig große.«

»In Wirklichkeit«, sagte Kawabata und hob die Schwertklinge in Augenhöhe, um aufmerksam darüberhin zu spähen, »in Wirklichkeit ist die ganze Welt wie Blasen auf dem Wasser. Oder etwa nicht?«

Serdjuk fand, daß Kawabata recht hatte, und er mochte dem Japaner in diesem Moment gern etwas sagen, was ihn dieses weitgehende Einverständnis, diesen Gleichklang der Gefühle spüren lassen würde.

»Das ist noch gar nichts«, sagte er und stützte sich auf den Ellbogen. »Die Welt ist wie, na, wie, hach, wie ein Foto von diesen Blasen, das hinter die Kommode gerutscht und von Ratten angefressen worden ist.«

Kawabata lächelte wieder.

»Sie sind ein Dichter«, sagte er. »Daran gibt es für mich keinen Zweifel.«

»Wobei es sein kann«, steigerte sich Serdjuk in seinen Gedanken hinein, »daß die Ratten das Foto schon angefressen haben, als es noch gar nicht entwickelt war.«

»Vortrefflich«, sagte Kawabata, »ganz exzellent. Aber es gibt eine Poesie der Worte, und es gibt eine Poesie der Tat. Ich wünschte, Ihr allerletztes Gedicht könnte denen, mit denen Sie mich schon den ganzen Tag erfreuen, das Wasser reichen. Und zwar ohne alle Worte.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Serdjuk.

Kawabata legte das Schwert behutsam auf die Matten.

»Das Leben ist wechselhaft«, sagte er nachdenklich. »Es läßt sich am frühen Morgen nie sagen, was einen am Abend erwartet.«

»Ist irgendwas passiert?«

»Oh, ja. Sie wissen doch, Busineß ist Krieg. Der Taira-Clan hat einen Feind, einen mächtigen Feind. Minamoto.«

»Minamoto?« fragte Serdjuk, und erfror. »Was ist damit?«

»Heute kam die Nachricht, daß die Minamoto Group aufgrund eines heimtückischen Verrats an der Tokioter Effektenbörse das gesamte Kontrollaktienpaket der Taira Incorporated aufgekauft hat. Da mischt noch eine englische Bank mit und auch die Singapur-Mafia, aber das ist egal. Wir sind am Boden zerstört. Und der Feind triumphiert.«

Serdjuk schwieg eine Weile, um sich zu fragen, was das Gesagte bedeutete. Nichts Gutes – soviel war ihm klar.

»Wir aber«, sagte Kawabata, »Sie und ich, zwei Samurai des Taira-Clans, werden selbstverständlich nicht zulassen, daß all diese nichtswürdigen Existenzblasen uns mit ihren flatterhaften Schatten den Geist verfinstern, nicht wahr?«

»N-nein«, sagte Serdjuk.

Kawabata lachte schrill, und seine Augen funkelten.

»Nein«, sagte er, »Minamoto wird uns nicht erniedrigt und am Boden liegend sehen. Wie weiße Kraniche hinter einer Wolke verschwinden, so muß man aus dem Leben gehen. Und kein Bodensatz kleinlicher Gefühle soll sich in dieser herrlichen Minute in unserem Herzen finden.«

Ruckartig drehte er sich mitsamt der Matte, auf der er saß, zu Serdjuk um und verneigte sich vor ihm.

»Ich bitte Sie um eines«, sagte er. »Schlagen Sie mir den Kopf ab, wenn ich mir den Bauch aufgeschlitzt habe!«

»Was?«

»Den Kopf abschlagen, bitte! Der letzte Dienst, wie es bei uns heißt. Ein Samurai, den man darum bittet, darf ihn nicht verweigern, sonst würde er sich mit Schande bedecken.«

»Aber ich hab noch nie … Ich meine, von früher her.«

»Es ist ganz einfach. Zack und ab. Schschscht!«

Kawabata hieb die Arme durch die Luft.

»Ich fürchte, das krieg ich nicht hin«, sagte Serdjuk. »Auf dem Gebiet hab ich null Erfahrung.«

Kawabata überlegte. Sein Gesicht verfinsterte sich plötzlich, so als wäre ihm etwas ganz Schreckliches eingefallen. Dann schlug er mit der flachen Hand auf die Tatami-Matte unter sich.

»Bloß gut, daß ich bald aus dem Leben scheide«, sagte er und blickte Serdjuk reumütig an. »Was bin ich für ein grober und unhöflicher Mensch!«

Er schlug sich die Hände vor das Gesicht und begann seinen Körper hin- und herzuschwingen.

Serdjuk erhob sich leise, ging auf Zehenspitzen zur Tür, schob sie geräuschlos auf und trat auf den Gang hinaus. Der Beton unter den nackten Füßen war unangenehm kalt. Plötzlich dachte Serdjuk mit Entsetzen daran, daß seine Schuhe und Strümpfe die ganze Zeit, während er mit Kawabata auf Sakesuche gewesen und durch diese dunklen, unsicheren Gassen getigert war, dort vorn auf dem Gang neben dem Eingang gestanden haben mußten. Was er derweil an den Füßen getragen hatte, war absolut rätselhaft; er konnte sich ja nicht einmal entsinnen, wie sie losgegangen und wie sie zurückgekommen waren.

Nur weg, nichts wie weg von hier! dachte er, während er um die Ecke bog. Hauptsache verschwinden, drüber nachdenken können wir hinterher immer noch.

Der Wachmann an der Tür erhob sich von seinem Schemel, als er Serdjuk kommen sah.

»Nanu, wohin um die Zeit?« fragte er gähnend. »Viertel nach drei!«

»War Sitzung«, sagte Serdjuk. »Hat gedauert.«

»Von mir aus«, sagte der Wachmann. »Passierschein?«

»Wieso?«

»Was, wieso. Den Passierschein.«

»Ich bin doch ohne reingekommen.«

»Stimmt«, sagte der Wachmann. »Und um wieder rauszukommen, braucht man einen Passierschein.«

Die Lampe auf dem kleinen Tisch warf ein trübes Licht auf Serdjuks Schuhe, die an der Wand standen. Einen Meter weiter war die Tür, dahinter die Freiheit. Serdjuk tat einen kleinen Schritt auf seine Schuhe zu, dann noch einen. Der Wachmann blickte gleichmütig auf Serdjuks nackte Füße.

»Und überhaupt«, sagte er, mit seinem Gummiknüppel spielend, »das Sicherheitssystem ist eingeschaltet. Bis acht bleibt die Tür zu. Wenn einer sie aufmacht, kommen die Bullen. Dann gibt's Theater – Protokoll und so weiter. Deswegen darf ich gar nicht aufschließen. Nur bei Feuer. Oder Wasser.«

»Eben«, sagte Serdjuk in verschwörerischem Ton. »Die ganze Welt … wie Blasen auf dem Wasser.«

Der Wachmann grinste und nickte.

»Dagegen läßt sich nichts sagen. Wir kennen ja unsere Arbeitgeber. Aber versteh mich nicht falsch. Manchmal kommt mit der Blase eine Anweisung geschwommen. Da guckst du und liest: Tür zu um elf, auf ab acht, und basta.«

Serdjuk meinte aus der Stimme des Wachmanns eine gewisse Unschlüssigkeit herauszuhören und versuchte noch einmal in dieselbe Kerbe zu hauen.

»Ich schätze, Herr Kawabata wird sich über Ihr Verhalten wundern. Als ob man dem Wachmann einer seriösen Firma solche simplen Dinge erklären müßte. Wenn alles ringsum nur eine Fata Morgana ist …«

»Fata, Fata …«, sagte der Wachmann nachdenklich und schaute auf einen deutlich jenseits der Wände befindlichen Punkt. »Weiß ich doch. Ich steh ja hier nicht erst seit gestern. Wir haben jede Woche Schulung. Ich sag doch gar nicht, daß die Tür real ist. Soll ich sagen, was ich von ihr denke?«

»Sag schon.«

»Ich denke, es gibt keine substantielle Tür, sondern nur ein Gefüge leerzeichenhafter Wahrnehmungselemente.«

»Na also!« sagte Serdjuk erfreut und tat noch ein Schrittchen auf seine Schuhe zu.

»Aber vor acht sperr ich das Gefüge nicht auf«, sagte der Wachmann und schlug sich den Gummiknüppel in die Hand.

»Und warum nicht?«

Der Wachmann zuckte die Achseln.

»Dein Karma«, sagte er, »ist mein Dharma. Alles eine Schoße. Nichts als leeres Stroh.«

»Hm-mhm«, sagte Serdjuk. »Das sind ja knallharte Instruktionen.«

»Was dachtest du. Die kommen vom japanischen Sicherheitsdienst.«

»Und was mach ich jetzt?« fragte Serdjuk.

»Was schon. Warten, bis es acht ist. Und laß dir einen Passierschein ausstellen.«

Serdjuk warf einen letzten Blick auf die Schultermuskelpolster des Wachmanns, den Knüppel in seinen Händen, wandte sich langsam um und lief wieder in den Gang hinein. Er hatte das dumme Gefühl, daß es irgendeinen Spruch gab, der den Wachmann dazu veranlaßt hätte, die Tür zu öffnen – er kam nur nicht darauf. Ich tät den Skat nehmen, wenn ich wüßte, was drinliegt! dachte er mißmutig.

»Und hör mal«, rief der Wachmann ihm nach, »lauf hier nicht ohne Geta rum. Das ist Beton, du holst dir was an die Nieren.«

Wieder in Kawabatas Kabinett, zog Serdjuk leise die Tür hinter sich zu. Es roch streng – nach halbverdautem Fusel und Frauenschweiß. Kawabata kauerte immer noch am Boden, die Hände vor dem Gesicht, und wiegte sich von einer Seite auf die andere. Daß Serdjuk draußen gewesen war, schien er gar nicht bemerkt zu haben.

»Herr Kawabata«, rief Serdjuk ihn leise an.

Kawabata ließ die Hände sinken.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

»Mir geht es nicht gut«, sagte Kawabata. »Mir geht es hundsmiserabel. Und hätte ich hundert Bäuche, ich würde sie alle aufschlitzen, ohne zu zögern. Nie im Leben habe ich mich so geschämt.«

»Was ist denn los?« fragte Serdjuk mitfühlend und ging vor dem Japaner auf die Knie.

»Ich habe mich erdreistet, Sie um den letzten Dienst zu bitten. Daß keiner mehr da ist, der Ihnen für den gleichen Dienst zur Verfügung steht, wenn ich das Seppuku als erster begehe, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Eine ungeheure Schande.«

»Mir?« fragte Serdjuk und stand auf. »Wieso mir??«

»Na ja«, sagte Kawabata, der gleichfalls aufstand und Serdjuk glühend in die Augen sah. »Wer soll Ihnen denn den Kopf abschlagen? Grigori oder wer?«

»Welcher Grigori?«

»Der Wachmann. Sie haben doch eben mit ihm gesprochen. Der könnte Ihnen mit seinem Gummiknüppel den Schädel einschlagen, mehr nicht. Dabei muß der Kopf abgetrennt werden, und zwar kunstgerecht, nicht einfach so. Er muß zum Schluß noch an einem Faden hängen. Stellen Sie sich vor, er würde davonrollen, wie häßlich! Aber setzen Sie sich doch, ich bitte Sie.«

Unter Kawabatas hypnotischem Blick sank Serdjuk kraftlos auf die Matte nieder – er vermochte gerade noch die Augen von Kawabatas Gesicht loszureißen, zu mehr war er nicht in der Lage.

»Kann es sein, daß Sie gar nicht so richtig wissen, was die Lehre von der furchtlosen, geradlinigen Rückkehr in die Ewigkeit über das Seppuku sagt?« fragte Kawabata.

»Was, was?«

»Wie man sich den Bauch aufschlitzt – haben Sie davon eine Ahnung?«

»Nein«, sagte Serdjuk und glotzte wie betäubt an die Wand.

»Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die einfachste ist ein horizontaler Schnitt. Das wäre so lala. Fünf Minuten Peinlichkeit und ›Guten Tag, Buddha Amida‹, wie man bei uns sagt. Das ist wie mit dem Saporoshez ins Gelobte Land fahren. Ein vertikaler Schnitt macht sich schon besser, ist aber auch bloß Lower-middle-class-Stil und noch dazu provinziell. Zu guter Letzt darf es doch wohl ein bißchen exklusiver sein. Da kämen zwei Über-Kreuz-Varianten in Frage: lotrechtwaagerecht oder diagonal. Würde ich beides nicht empfehlen: Einmal rauf, einmal runter und dann noch hin und her, das wäre als Anspielung aufs Christentum mißzuverstehen, und bei der schrägen Variante könnte genausogut jemand an die Andreaskreuzfahne denken und glauben, Sie hätten sich wegen des Ausverkaufs der Schwarzmeerflotte … Dabei sind Sie doch kein Marineoffizier, oder?«

»Nein«, bestätigte Serdjuk teilnahmslos.

»Sag ich doch – bringt nicht viel. Vor ein paar Jahren war es groß in Mode, zwei Schnitte parallel zu führen, aber das ist heikel. So daß ich Ihnen also zu einem großen, schrägen Schnitt raten würde, von links unten nach rechts oben und zum Schluß wieder ein bißchen zur Mitte hin. Da kann man, rein ästhetisch gesehen, nichts falsch machen, und ich werde es Ihnen wahrscheinlich ebenso nachtun.«

Serdjuk machte den Versuch aufzustehen, doch Kawabata legte ihm die Hand auf die Schulter und brachte ihn wieder zum Sitzen.

»Bedauerlicherweise muß alles schnell-schnell gehen«, sagte er seufzend. »Ganz ohne weiße Paravents und Pfeiferauchen und so weiter. Krieger, die mit blankgezogener Waffe am Rande des Schauplatzes bereitstünden, haben wir auch keine vorrätig … Außer Grigori, na, was ist der schon für ein Krieger. Im Grunde sind die ja auch überflüssig. Man brauchte sie nur für den Fall, daß ein Samurai seinen Eid bricht und das Seppuku verweigert, der würde dann abgestochen wie ein Hund. Meines Wissens hat es einen solchen Fall noch nie gegeben. Aber es sieht natürlich schön aus: rings um das abgesteckte Quadrat diese jungen Männer, deren blanke Schwerter in der Sonne blitzen. Ach, eigentlich könnten wir doch … Wollen Sie, daß ich Grigori hole? Und vielleicht noch von oben den Semjon? Damit es dem traditionellen Ritual mehr entspricht?«

»Nicht nötig«, sagte Serdjuk.

»Recht so«, sagte Kawabata, »nur recht so. Sie wissen natürlich, daß es bei einem Ritual weniger auf Äußerlichkeiten ankommt als auf den inneren Gehalt.«

»Weiß ich, weiß ich. Alles weiß ich«, sagte Serdjuk und sah Kawabata haßerfüllt an.

»Weshalb ich felsenfest davon überzeugt bin, daß alles wunderbar klappen wird.«

Kawabata nahm das in der Blechbude erworbene Kurzschwert vom Boden auf, zog es aus der Scheide und schwang es ein paarmal durch die Luft.

»Genügt vollkommen«, sagte er. »Jetzt folgendes. Auf zwei Dinge muß man achten. Erstens: sich nach dem Schnitt nicht auf den Rücken fallen lassen, das sieht sehr unschön aus. Aber dabei werde ich Ihnen Hilfestellung geben. Und zweitens: nicht an die Wirbelsäule kommen. Die Klinge darf nicht zu tief eindringen. Am besten machen wir es so.«

Er nahm ein paar Faxbögen (Serdjuk sah, daß das Blatt mit der schwarzen Chrysantheme dabei war) und stieß sie zu einem ordentlichen kleinen Stapel zusammen, den er einmal faltete und vorsichtig um die Klinge des Schwerts legte, so daß die Spitze sieben, acht Zentimeter hervorschaute.

»Fertig. Also, den Griff in die Rechte und mit der Linken hier anfassen. Nicht zu kräftig drücken, sonst verklemmt es sich leicht. Und dann rauf und gleichzeitig nach rechts. So, jetzt wollen Sie sich bestimmt noch ein bißchen sammeln. Wir haben es zwar eilig, aber so viel Zeit muß sein.«

Serdjuk saß in einer Art Starre und glotzte immer noch gegen die Wand. Ein paar einzelne, träge Gedanken wälzten sich durch seinen Kopf: Ja, er mußte Kawabata wegstoßen, auf den Gang rennen und … Die Tür dort war zu, und dieser Grigori mit dem Knüppel stand davor. Und angeblich gab es noch einen Semjon im ersten Stock. Theoretisch hätte man die Polizei rufen können, aber da war Kawabata mit seinem Schwert. Und um die Zeit kam sowieso keine Polizei. Es gab aber noch etwas anderes, und vielleicht war das das Unangenehmste: Was immer er jetzt unternahm, es hätte früher oder später dazu geführt, daß Verwunderung auf Kawabatas Gesicht getreten wäre, abgelöst von einer Grimasse der Verachtung. Und man konnte sagen, was man wollte – etwas hatte der heutige Abend an sich gehabt, was Serdjuk jetzt nicht preisgeben mochte. Er wußte sogar, was es war. jener Moment, da sie einander nach dem Anbinden der Pferde Verse vorgetragen hatten. Selbst wenn es, aus jetziger Sicht, Pferde und Verse nicht wirklich gegeben hatte, dieser Moment war echt, und der Wind, der von Süden wehte und den nahenden Sommer verhieß, und die Sterne am Himmel – all dies war so echt, wie es sich gehörte. Und verglichen mit jener Welt draußen vor der Tür, die einem ab acht Uhr morgens offenstand. In Serdjuks Gedankenstrom war eine kurze Lücke entstanden, durch die er sogleich die leisen Geräusche wahrnahm, die von allen Seiten zu ihm drangen. Im Bauch Kawabatas, der mit geschlossenen Augen neben dem Fax saß, rumorte es. Serdjuk war sich sicher, daß Kawabata die ganze Prozedur mit Glanz und Eleganz hinter sich bringen würde. Dabei schien die Welt, die der Japaner zu verlassen sich anschickte – verstand man darunter all das, was einem an Gefühlen und Erfahrungen im Leben beschieden ist –, bei weitem attraktiver als die stinkenden Moskauer Straßen, die auf Serdjuk jeden Morgen einstürmten, wenn Filipp Kirkorow im Radio dazu sang.

Gleich darauf wußte Serdjuk, wie er so plötzlich auf Kirkorow kam – hinter der Wand, wo die Mädchen saßen, erklang eines seiner munteren Liedchen. Es gab nebenan einen kurzen Wortwechsel, unterdrücktes Schluchzen, und die Programmwahltaste klickte. Nun strahlte der unsichtbare Fernseher Nachrichten aus, und Serdjuk gewann den Eindruck, als wäre dies gar kein anderer Sender, Kirkorow hätte nur aufgehört zu singen und statt dessen zu reden begonnen. Er hörte eines der Mädchen aufgeregt wispern:

»Guck doch! Wieder besoffen! Wie er den Kohl umarmt! Ich sag dir, der ist sternhagelvoll!«

Serdjuk überlegte einen letzten Moment.

»Soll mir alles den Buckel runterrutschen«, sagte er. »Schwert her!«

Kawabata kam geeilt, kniete auf ein Bein nieder und reichte ihm, den Griff voran, das Schwert.

»Warte«, sagte Serdjuk und knöpfte sich das Hemd unter dem Jackett auf. »Durchs T-Shirt durch – geht das?«

Kawabata überlegte.

»Doch, es hat solche Fälle gegeben. Vierzehnhundertvierundfünfzig schlitzte sich Takeda Katsuyori, als die Schlacht bei Okehazama verloren war, direkt durch das Jagdwams den Bauch auf. Also kein Problem.«

Serdjuk nahm das Schwert in die Hand.

»Nein, nicht so«, sagte Kawabata. »Ich sagte doch: die Rechte an den Griff, und die Linke dorthin, wo das Papier ist. Genau.«

»Jetzt einfach so rein?«

»Moment, Sekündchen.«

Kawabata rannte quer durch das Zimmer, ergriff sein großes Schwert, kam zurück und baute sich hinter Serdjuks Rücken auf.

»Muß nicht tief sein. Bei mir ist es was anderes, ich hab ja keinen Sekundanten. Sie Glückspilz! Wahrscheinlich haben Sie Ihr Leben gut gelebt.«

Serdjuk lächelte schwach.

»Eher normal«, sagte er. »Wie alle.«

»Dafür sterben Sie wie ein Krieger«, sagte Kawabata. »Wollen wir? Ich bin bereit. Soll ich bis drei zählen?«

»Gut«, sagte Serdjuk.

»Tief einatmen«, befahl Kawabata. »Und: eins … zwei …«

Plötzlich fiel Serdjuk ein, daß er nicht nachgesehen hatte, ob die Flämmchen in den Laternen beim Eingang echt waren – jetzt war es dafür natürlich zu spät.

»Zwoeinhalb … Und drrrei!«

Serdjuk rammte sich das Schwert in den Bauch.

Der Rand des Papiers rutschte bis an das Shirt. Es tat nicht sehr weh, nur die Kälte der Klinge verspürte er deutlich.

Auf dem Boden klingelte das Faxgerät.

»Jawohl«, sagte Kawabata. »Und jetzt rauf und nach rechts. Mehr, noch mehr … So ist es gut.«

Serdjuks Beine zuckten.

»Jetzt schnell zur Mitte hin drehen. Und drücken, mit beiden Händen! Ja, sehr schön. Genau so. Vielleicht noch ein, zwei Zentimeterchen.«

»Ich kann nicht mehr«, röchelte Serdjuk, »es brennt so.«

»Was dachtest denn du!« sagte Kawabata. »Wart einen Moment.«

Er sprang zum Faxgerät und nahm den Hörer ab.

»Hallo! Ja! Richtig. Ein Null-Neuner. Zweitausend gefahren.«

Serdjuk ließ das Schwert fallen und preßte die Hände gegen den blutenden Bauch.

»Schnell«, röchelte er, »schnell!«

Kawabata runzelte die Stirn und bedeutete Serdjuk mit einer Geste zu warten.

»Was?« brüllte er in den Hörer. »Wieso zu teuer? Dreieinhalb! Ich hab fünftausend dafür hingelegt vor einem Jahr!«

Langsam, wie zu Beginn einer Kinovorführung, erlosch in Serdjuks Augen das Licht. Für kurze Zeit saß er noch da, dann kippte er allmählich zur Seite. Noch bevor seine rechte Schulter den Boden berührte, hatte er jedes Körpergefühl verloren; nichts blieb als der rasende Schmerz.

»Was denn angeschlagen? Wo denn angeschlagen!« drang es aus der rotglühenden, pulsierenden Tiefe zu ihm herauf. »Zwei Kratzer an der Stoßstange, das nennst du angeschlagen? Was, was? Selber! Idiot! Drecksstück! Hä? Ach, leck mich doch am A…«

Der Hörer knallte auf die Gabel, worauf das Faxgerät sofort wieder zu klingeln begann.

Serdjuk nahm wahr, daß der Raum, aus dem die Telefonanrufe und Kawabatas Flüche und überhaupt alles übrige zu ihm drangen, weit weg von ihm war – ein so sehr geschrumpftes Segment der Wirklichkeit, daß man sich heftig zusammenreißen mußte, um zu verfolgen, was dort geschah. Sich so zusammenreißen zu müssen war sinnlos (auch wenn Serdjuk inzwischen wußte, daß diese Art des Zusammenreißens das Leben war). Dieses ganze langwierige, mit Sehnsucht, Hoffnung und Furcht gefüllte menschliche Dasein rückte von ihm ab – ein flüchtiger Gedanke, der seine Aufmerksamkeit für kurze Zeit abgelenkt hatte. Serdjuk (der in Wirklichkeit kein Serdjuk war) schwebte im leeren Raum, einem Raum ohne Eigenschaften, jenseits von Gut und Böse, schwamm spürbar auf etwas zu, das riesengroß war und eine unerträgliche Hitze ausstrahlte. Das Schrecklichste war, daß er rücklings auf dieses große, feuerspuckende Etwas zuschwamm und es deswegen nicht sehen konnte. Es war einfach nicht auszuhalten. Fieberhaft begann Serdjuk nach jenem Punkt zu suchen, wo die alte, vertraute Welt geblieben war. Und, o Wunder! es gelang. Wie eine Glocke dröhnte Kawabatas Stimme in seinem Kopf:

»Zu Hause in Japan war man ja skeptisch, ob Sie es schaffen. Aber ich wußte es. Erlauben Sie nun, daß ich Ihnen den letzten Dienst erweise. Osch-h-h!«

Danach war lange Zeit nichts. So lange, daß Zeit nicht mehr zu existieren schien. Schließlich hörte man es husten, Dielen knarrten, und die Stimme des Professors sagte:

»Tja, Senja. So haben sie dich dann auf dem Lüftungsschacht gefunden. Eine Rose in der Hand. Mit wem hattest du denn an dem Tag gesoffen, weißt du das noch?«

Die Antwort blieb aus.

»Tatjana Pawlowna«, sagte der Professor, »zwei Kubik, bitte. Ja.«

»Aber, Herr Professor«, kam überraschend Wolodins Stimme aus der Ecke, »das waren doch die Geister.«

»Ach so? Was denn für Geister?« erkundigte sich Professor Kanaschnikow höflich.

»Die aus dem Hause Taira. Jede Wette! Und wie er mit ihnen umgegangen ist, läßt vermuten, daß er den Tod gewollt hat. Jawohl, so wird es gewesen sein.«

»Wieso ist er dann am Leben geblieben?« fragte der Professor.

»Er hatte das Olympia-T-Shirt an. Das von der Moskauer Olympiade, mit den vielen kleinen olympischen Ringen, wissen Sie noch? Er ist mit dem Schwert durch das T-Shirt gegangen.«

»Na und?«

»Das hat gewirkt wie magische Hieroglyphen. Ich hab gelesen, es gab im alten Japan so einen Fall, daß sie einen Mönch am ganzen Körper mit Abwehrzeichen vollgepinselt haben, nur die Ohren haben sie vergessen. Und als die Taira-Geister kamen, haben sie die Ohren mitgenommen, alles übrige war für sie einfach unsichtbar.«

»Und warum haben sie ihn heimgesucht? Den Mönch damals, meine ich?«

»Er konnte gut Flöte spielen.«

»Flöte, aha. Das ist allerdings logisch«, sagte der Professor. »Und daß die Geister Dynamo-Fans waren, hat Sie das gewundert?«

»Nein, wieso«, sagte Wolodin. »Manche stehen auf Spartak, manche auf den Armeesportklub, warum soll es nicht auch welche geben, die zu Dynamo halten?«