5

Die Büste des Aristoteles war das einzige, was ich noch im Gedächtnis hatte, als ich wieder zu mir kam. Nebenbei gesagt, halte ich den Ausdruck »zu sich kommen« für nicht ganz passend. Schon als Kind spürte ich die ihm anhaftende verschämte Zweideutigkeit: Wer kam da wohin? Und vor allem: woher? Eine Mogelei wie im Spielcasino eines Wolgadampfers. Älter werdend, begriff ich, daß »zu sich kommen« in Wirklichkeit bedeutet, zu den anderen zu kommen – denn diese anderen erklären einem von Geburt an, wie man sich am Riemen zu reißen hat, damit man sich in die Form bringt, die ihnen genehm ist.

Aber das meine ich hier gar nicht, wenn ich sage, daß mir besagter Ausdruck zur Beschreibung meines Zustands nicht ganz passend scheint. Ich erwachte nämlich zunächst nicht richtig, fand mich vielmehr in einem seichten, schwanken Halbschlaf wieder, jener immateriellen Welt an der Schwelle zwischen Traum und Wachsein, die jeder kennt: Alles um einen her scheint aus jäh in Sicht kommenden und wieder entschwindenden Visionen und Gedanken zu bestehen, während die Mitte, man selber, noch fehlt. Für gewöhnlich hat man diesen Zustand schnell hinter sich gebracht, diesmal aber blieb ich einige endlose Sekunden darin stecken; meine Gedanken hielten sich derweil bei Aristoteles auf. Sie waren zusammenhanglos und beinahe ohne allen Sinn. Zwar weckte dieser geistige Urvater des Bolschewismus in mir wenig Sympathien, doch nahm ich ihm das tags zuvor Geschehene nicht weiter übel; offenkundig war seine substantia nicht substantiell genug gewesen, um mir ernsthaften Schaden zuzufügen. Und bemerkenswerterweise fand sich im Halbschlaf der überzeugendste Beweis dafür: Die Büste hatte sich, als sie beim Aufschlag zerschellt war, als hohl erwiesen.

Fürwahr, dachte ich, hätte mir jemand eine Platonbüste auf den Kopf gehauen, wären die Folgen ungleich schwerwiegender gewesen. An dieser Stelle wurde mir erinnerlich, daß ich einen Kopf hatte. Die letzten Fetzen Schlaf schwebten davon, und alles Weitere lief nach dem üblichen Schema »Mensch erwacht«: Mir wurde klar, daß in dem Kopf dummerweise alle meine Gedanken steckten und daß dieser Kopf unerträglich schmerzte.

Vorsichtig öffnete ich die Augen.

Als erstes sah ich Anna, die neben meinem Bett saß. Sie hatte noch nicht bemerkt, daß ich erwacht war, was an ihrer fesselnden Lektüre liegen mochte – sie hielt ein aufgeschlagenes Bändchen Hamsun in Händen. Ein Weilchen nahm ich mir Zeit, sie durch die Wimpern hindurch zu betrachten. Da war nicht viel, was ich meinem ersten Eindruck von ihr hätte hinzufügen können, und Hinzufügungen waren wohl auch nicht vonnöten. Höchstens, daß mir ihre Schönheit, in ihrer gelassenen Vollkommenheit, jetzt noch peinigender erschien. Bekümmert dachte ich daran, daß Frauen von dieser Art, wenn sie sich schon einmal herablassen, einen Mann zu lieben, hierfür entweder einen Handlungsreisenden mit Fliege unter der Nase oder einen cholerischen Major der Artillerie erwählen – dahinter steht der gleiche Automatismus, der in Schulzeiten die schönsten Helenchen dazu anhielt, sich unansehnliche Freundinnen zu suchen. Ausschlaggebend war selbstverständlich nicht der Wunsch, die eigene Schönheit durch den Kontrast herauszustreichen (eine Deutelei auf Buninschem Niveau). Es war vielmehr die reine Barmherzigkeit.

Einige Veränderungen ließen sich an ihr übrigens doch bemerken. Es mußte am Licht liegen, daß ihre Haare mir noch kürzer und ein wenig blonder vorkamen. Anstelle des dunklen Kleids vom Vortag trug sie ein merkwürdiges, andeutungsweise militärisch wirkendes Kostüm aus schwarzem Rock und weiter sandfarbener Jacke, auf deren Ärmel bunte Reflexe des von der Wasserkaraffe gebrochenen Sonnenlichts spielten; die Karaffe stand auf einem Tisch und der Tisch in einem Zimmer, das ich nie zuvor gesehen hatte. Das Verblüffendste aber war, daß hinter dem Fenster dieses Zimmers Sommer herrschte – durch das Glas konnte man silbergrüne, staubig anmutende Pappelkronen in der Mittagshitze flimmern sehen.

Das Zimmer erinnerte an ein billiges Provinzhotel:

Außer dem kleinen Tisch gab es noch zwei Stuhlsessel, ein Waschbecken an der Wand und eine Lampe mit Schirm. Woran es am allerwenigsten erinnerte, war das Coupé jenes durch die Winternacht flitzenden Zuges, in dem ich am Abend eingeschlafen war.

Ich stützte mich auf den Ellbogen. Die Bewegung mußte Anna sehr überrascht haben – sie ließ das Buch auf den Boden fallen und starrte mich verwirrt an.

»Wo bin ich?« fragte ich und setzte mich im Bett auf.

»Um Himmels willen, bleiben Sie liegen!« sagte sie und beugte sich zu mir herüber. »Alles ist gut. Sie sind in Sicherheit.«

Der sanfte Druck ihrer Hände beförderte mich wieder in die Rückenlage.

»Aber vielleicht darf ich erfahren, wo ich hier liege? Und wieso draußen Sommer ist?«

»Ja«, sagte sie und kehrte zu ihrem Stuhl zurück, »es ist Sommer. Sie können sich an gar nichts erinnern?«

»Im Gegenteil, ich erinnere mich bestens. Ich verstehe bloß nicht, wieso ich eben noch Zug gefahren bin und auf einmal in diesem Zimmer wach werde.«

»Sie haben sehr oft im Fieber geredet«, sagte sie, »sind aber kein einziges Mal zu Bewußtsein gekommen. Die meiste Zeit lagen Sie im Koma.«

»Im Koma? Aber wir haben doch Champagner getrunken, Schaljapin hat gesungen. Oder die Weber. Und dann dieser Herr, Genosse, also Tschapajew. Tschapajew hat einfach so die Wagen abgekoppelt.«

Bestimmt eine Minute lang sah Anna mir ungläubig in die Augen.

»Das ist ja seltsam«, sagte sie schließlich.

»Was ist seltsam?«

»Daß Sie sich gerade daran erinnern. Und dann?«

»Dann?«

»Ja, was danach kam. Zum Beispiel die Schlacht bei Losowaja – an die erinnern Sie sich nicht?«

»Nein«, sagte ich.

»Und noch davor?«

»Was war denn noch davor?«

»Na ja. Bei Losowaja haben Sie doch schon eine Schwadron befehligt.«

»Eine Schwadron.«

»Sie haben sich da sehr verdient gemacht, Pjotr. Wären Sie mit Ihrer Schwadron nicht von der linken Flanke gekommen, es hätte alle erwischt.«

»Der Wievielte ist heute?«

»Der dritte Juni«, sagte sie. »Ich wußte ja, daß bei Kopfverletzungen so etwas vorkommt, nur … Wenn Ihnen das Gedächtnis total abhanden gekommen wäre, könnte man das verstehen, aber diese merkwürdige Selektion. Erstaunlich. Im übrigen bin ich kein Mediziner. Vielleicht ist das auch ganz normal so.«

Ich nahm die Hände zum Kopf und erschrak – mir war, als legten sich die Handflächen auf eine borstige Kugel. Ich war kahlgeschoren wie ein Typhuskranker. Und da war noch etwas Seltsames – ein unbehaarter, buckliger Streifen auf der Kopfhaut. Ich fuhr mit den Fingern darüber hin und erkannte, daß es eine lange, quer über den ganzen Schädel laufende Narbe war. Es fühlte sich an, als hätte man mir mit Gummiarabikum ein Stück Lederriemen auf den Kopf geklebt.

»Ein Schrapnell«, sagte Anna. »Die Narbe macht Eindruck, aber es war halb so schlimm. Nur ein Streifschuß. Der Schädelknochen ist nicht einmal angeritzt. Aber die Quetschung scheint ordentlich gewesen zu sein.«

»Wann ist das passiert?«

»Am zweiten April.«

»Soll das heißen, ich war seitdem nicht bei Bewußtsein?«

»Ein paarmal schon, aber buchstäblich nur für Augenblicke.«

Ich schloß die Augen, und eine Weile kramte ich im Gedächtnis nach irgend etwas, was mit dem von Anna Gesagten zu tun haben konnte. Doch die Schwärze, in die ich blickte, war bodenlos. Hinter den Lidern flammten ein paar helle Streifen und Flecken, sonst war da nichts.

»Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte ich und betastete noch einmal meinen Kopf. »Absolut nichts. Nur ein Traum ist mir gewärtig, der immer wieder hochkommt – irgendwo in Petersburg, in einem großen, düsteren Raum, haut mir jemand eine Aristotelesbüste über den Schädel, und jedesmal geht sie dabei zu Bruch, und dann fängt alles wieder von vorne an. Düster, düster. Jetzt ist mir natürlich klar, wie das kommt.«

»Sie scheinen ja erbauliche Träume zu haben«, sagte Anna. »Gestern haben Sie den halben Tag lang von irgendeiner Maria phantasiert, die Ärmste hat einen Schuß abbekommen. Leider eine ziemlich konfuse Geschichte – ich konnte nicht begreifen, in welchem Verhältnis dieses junge Ding zu Ihnen steht. Vielleicht eine Kriegsbekanntschaft?«

»Eine Maria hab ich nie gekannt. Ach, doch, natürlich, aber das war ein Alptraum.«

»Beruhigen Sie sich«, sagte Anna, »ich bin bestimmt nicht eifersüchtig auf sie.«

»Wie schade«, erwiderte ich, setzte mich auf und ließ die Beine über den Bettrand hängen. »Ich hoffe, Sie betrachten es nicht als anstößig, wenn ich hier halbnackt herumliege und mich mit Ihnen unterhalte.«

»Sie dürfen gar nicht aufstehen.«

»Aber ich fühle mich prächtig. Ich möchte gern duschen und mich anziehen.«

»Davon kann keine Rede sein.«

»Anna, sagen Sie«, bohrte ich weiter, »wenn es stimmt, daß ich eine Schwadron befehlige, dann müßte ich doch eigentlich einen Burschen haben?«

»Selbstverständlich.«

»Na, während wir beide hier konversieren, hat der sich doch bestimmt wieder vollaufen lassen wie ein Schwein. Könnten Sie ihn nicht bitte zu mir schicken? Ach, und sagen Sie: Wo ist Tschapajew?«

Ich hatte ins Schwarze getroffen. Mein Bursche (ein wortkarger, stämmiger, strohblonder Kerl mit langgestrecktem Oberkörper und kurzen, krummen Kavalleristenbeinen – die anatomische Unausgewogenheit legte den Vergleich mit einer Kneifzange nahe) war tatsächlich betrunken. Er brachte mir Kleider: einen graugrünen Uniformrock mit Stehkragen, doch ohne Epauletten (dafür mit einem Aufnäher am Ärmel, der die Verwundung anzeigte), blaue Beinkleider mit doppelter roter Biese sowie ein Paar tadellose halbhohe Stiefel aus weichem Leder. Auf dem Bett verstreut lagen ferner eine zottige schwarze Pelzmütze, ein Säbel mit Gravur (»Pjotr Pustota für besondere Tapferkeit«), ein Pistolenhalfter mit Browning sowie von Ernens Hebammenkoffer, bei dessen Anblick mir beinahe schlecht wurde.

Der Inhalt des Köfferchens schien vollständig, nur das Kokain in dem Döschen hatte abgenommen. Außerdem entdeckte ich einen kleinen Feldstecher und ein Notizbuch, das zu einem Drittel vollgeschrieben war – die Handschrift zweifellos meine.

Der größere Teil der Aufzeichnungen war mir ganz unbegreiflich, es ging um Pferde und Heu sowie um Leute, deren Namen mir nichts sagten. Daneben aber stachen mir ein paar Sätze ins Auge, die denen, die ich für gewöhnlich aufzuschreiben pflegte, recht ähnlich waren:

 

Christentum u.a. Relig. kann man als Zusammenschluß verstreuter Objekte mit best. Energiestrahlg. ansehen. Wie gleißend der Heiland am Kreuz erstrahlt! Wie dumm, das Chr. ein primit. System zu nennen! Im Grunde hat nicht Rasputin, sondern der Rasputinmord Rußland in die Revolution gestürzt.

 

Oder, zwei Seiten weiter:

 

Man muß im Leben alle »Errungenschaften« ins Verhältnis zu dem Zeitraum setzen, in welchem sie erzielt werden: Ist dieser Zeitraum unverhältnismäßig lang, hat sich der Sinn vieler solcher Errungenschaften mehr oder minder verflüchtigt; jeder Erfolg (zumindest jeder praktische) ist gleich Null, wenn man ihn an der gesamten Lebenslänge mißt, denn nach dem Tod ist alles bedeutungslos. Nicht die Inschrift an der Decke vergessen.

 

Was die Inschrift an der Decke betraf, so schien ich sie nun doch unwiderruflich vergessen zu haben. Es hatte Zeiten gegeben, da ich pro Monat ein ganzes Büchlein für derlei Notizen verbrauchte, und jede einzelne erschien in höchstem Maße sinnvoll und gewichtig, so daß ich glaubte, ich würde in Zukunft unbedingt darauf zurückgreifen. Doch dann brach diese Zukunft an, die Notizbücher waren irgendwo, auf der Straße brodelte ein ganz anderes Leben, und am Ende fand ich mich mit einem Revolver in der Manteltasche auf dem klammen Twerskoi-Boulevard wieder. Gut, daß ich wenigstens einen alten Freund getroffen habe! dachte ich.

Ich zog mich an (der Bursche hatte keine Fußlappen mitgebracht, also mußte ich das Laken in Streifen reißen) und setzte nach einigem Zögern auch die muffig riechende Pelzmütze auf – mein geschorener Kopf schien mir doch sehr verletzlich zu sein. Den Säbel ließ ich auf dem Bett, die Pistole zog ich aus dem Halfter und versenkte sie in der Tasche. Ich mag es nicht, die Leute durch den Anblick einer Waffe zu verschrecken, und aus der Manteltasche hatte man sie ohnehin schneller gezogen. Ich betrachtete mich im Spiegel über dem Waschbecken und war zufrieden – die Mütze verlieh meinem unrasierten Gesicht einen verwegenen Stolz.

Anna stand am Ende der breiten, einen Halbkreis beschreibenden Treppe, über die ich aus meinem Zimmer nach unten gelangte.

»Was ist das für ein Gebäude?« fragte ich. »Sieht aus wie ein verlassenes Gutshaus.«

»Das ist es«, antwortete Anna. »Wir haben hier unseren Stab. Und außerdem wohnen wir hier. Seit Sie die Schwadron übernommen haben, Pjotr, hat sich vieles verändert.«

»Wo ist denn nun Tschapajew?«

»Er ist gerade nicht in der Stadt. Muß aber bald zurück sein.«

»In welcher Stadt sind wir, wenn ich fragen darf?«

»Sie heißt Altai-Widnjansk. Mitten in den Bergen. Man möchte kaum glauben, daß in solchen Gegenden Städte entstehen. Die Hautevolee besteht aus einer Handvoll Offizieren, ein paar zwielichtigen Persönlichkeiten aus Petersburg und der ansässigen Intelligenzija. Die Einwohner haben von Krieg und Revolution bestenfalls etwas läuten hören. Und vor der Stadt treiben die Bolschewiken ihr Unwesen. Ein totes Nest.«

»Was haben wir dann hier verloren?«

»Warten Sie, bis Tschapajew kommt«, sagte Anna. »Er wird Ihnen alles erklären.«

»Dann werde ich bis dahin, wenn Sie erlauben, einen kleinen Stadtbummel machen.«

»Das dürfen Sie auf keinen Fall«, sagte Anna bestimmt. »Bedenken Sie doch, Sie sind eben erst zu sich gekommen. Sie könnten einen Schwächeanfall kriegen oder wer weiß was. Wenn Sie nun mitten auf der Straße in Ohnmacht fallen?«

»Ihre Fürsorge rührt mich ungemein«, sagte ich, »und wenn sie aufrichtig ist, müssen Sie mir wohl oder übel Gesellschaft leisten.«

»Sie lassen mir keine Wahl«, erwiderte sie seufzend. »Was schwebt Ihnen vor?«

»Vielleicht gibt es hier ja eine von diesen Restaurationen, wie man sie in der Provinz meistens hat, mit mickriger Palme im Kübel und warmem Jerez in der Karaffe? Das wäre genau das richtige. Und Kaffee müßte es geben.«

»Da weiß ich etwas«, sagte Anna. »Nur ohne Palme. Und ohne Jerez, vermute ich.«

 

Die Stadt Altai-Widnjansk bestand hauptsächlich aus kleinen, ein- oder zweistöckigen Holzhäusern; die Abstände zwischen ihnen waren ziemlich groß. Umgeben von hohen, zumeist braun gestrichenen Bretterzäunen, hinter denen alte, verwilderte Gärten lagen, waren die Häuser im dichten Laubwerk fast nicht zu sehen. Zum Zentrum hin, dem wir uns über eine abschüssige Pflasterstraße näherten, gab es Ziegelbauten, auch diese in der Regel nicht mehr als zwei Stockwerke hoch. Ein paar hübsche gußeiserne Geländer und ein Feuerwehrturm fielen mir besonders auf, er hatte etwas undefinierbar Deutsches an sich. Alles in allem ein typisches Provinzstädtchen, still und licht, nicht ohne jungfräulichen Charme, bis über den Scheitel im blühenden Flieder versunken. Es lag wie am Boden eines Kelches, den die ringsum aufstrebenden Gebirgshänge bildeten, der zentrale Platz mit dem mißratenen Denkmal von Alexander II. markierte den tiefsten Punkt. Die Fenster des Restaurants »Herz Asiens«, in das Anna mich führte, gingen auf diesen Platz hinaus. Das Ganze schien mir darauf zu warten, in einem Gedicht verewigt zu werden.

Im Restaurant war es kühl und still; Palmen im Kübel waren nicht vorhanden, aber ein ausgestopfter Bär mit Hellebarde in den Tatzen stand in einer Ecke des Saales. Es gab wenig Publikum. An einem der kleinen Tische zechten zwei recht verwahrlost aussehende Offiziere. Als ich mit Anna vorüberging, starrten sie mich an und wandten den Blick im nächsten Moment gleichgültig wieder ab. Ich war mir zugegebenermaßen unsicher, ob mein neuer Status mich vielleicht verpflichtete, unverzüglich mit dem Browning das Feuer auf sie zu eröffnen – nach Annas gelassener Reaktion zu urteilen, bestand die Notwendigkeit nicht. Sowieso waren die Schulterstücken von ihren Uniformen abgetrennt. Wir setzten uns an den Nachbartisch, und ich bestellte Champagner.

»Sie wollten doch Kaffee trinken«, sagte Anna.

»Stimmt«, sagte ich. »Eigentlich trinke ich tagsüber nie.«

»Woran liegt es?«

»Ausschließlich an Ihnen.«

»Mh-hm«, machte Anna. »Sehr freundlich von Ihnen, Pjotr. Nur möchte ich Sie gleich bitten, mich zu verschonen. Versuchen Sie um Gottes willen nicht schon wieder, mir den Hof zu machen. Die Aussicht auf eine Affäre mit einem verwundeten Kavalleristen, noch dazu in einer Stadt, wo Wasser und Kerosin knapp sind, finde ich überhaupt nicht verlockend.«

Etwas anderes hatte ich nicht erwartet.

»Gut«, sagte ich, als der Kellner die Flasche auf den Tisch gestellt hatte, »wenn Sie partout den verwundeten Kavalleristen in mir sehen wollen – von mir aus. Aber wen darf ich bitteschön in Ihnen sehen?«

»Die MG-Schützin«, sagte Anna. »Wenn Sie es korrekter haben möchten: die Lewisistin. Ich bevorzuge das Lewis-MG mit Trommelmagazin.«

»Als Kavallerist habe ich, wie Sie sich denken können, eine Abneigung gegen Ihren Beruf. Es gibt keine ärgere Vorstellung als die, in geschlossener Formation gegen ein Maschinengewehr Attacke zu reiten. Doch weil Sie es sind, erhebe ich mein Glas auf die Zunft der MG-Schützen.«

Wir stießen an.

»Sagen Sie, Anna«, fragte ich als nächstes, »was ist das für eine Sorte Offiziere da am Nachbartisch? Wer hat überhaupt in dieser Stadt das Sagen?«

»Überhaupt«, sagte Anna, »ist die Stadt von den Roten besetzt, aber die Weißen sind auch noch da. Man könnte es genausogut umgekehrt sagen. Deshalb ist eine neutrale Kleiderordnung, so wie unsere jetzt, in jedem Fall geraten.«

»Und wo steht unser Regiment?« fragte ich.

»Sie meinen unsere Division. Die ist aufgerieben worden. Wir haben nur noch ganz wenig Leute – eine drittel Schwadron, wenn es hochkommt. Aber weil größere feindliche Truppen nicht in der Nähe stehen, sind wir in relativer Sicherheit. Wie hinter den sieben Bergen. Man geht die Straße entlang, trifft den Feind von gestern und denkt: Ist das, weswegen wir einander noch vor Tagen umbringen wollten, denn überhaupt real?«

»Ich kann Sie gut verstehen«, sagte ich. »Im Krieg wird einem das Herz hart, doch kaum sieht man den Flieder blühen, schon meint man, das Pfeifen der Granaten, das wilde Gebrüll der Reiter, der Pulverrauch mit dem süßlichen Beigeschmack von Blut – dies alles sei nicht real, nur eine Vorspiegelung, ein Traum.«

»So ist es. Fragt sich nur, wie real der blühende Flieder ist. Könnte genausogut ein Traum sein.«

Mir lag ein Aber auf der Zunge, doch ich mochte das Thema nicht strapazieren.

»Wie ist eigentlich die Lage an der Front? Ich meine, so im allgemeinen.«

»Offen gestanden, ich weiß es nicht. Ich bin nicht unterrichtet, wie es neuerdings so schön heißt. Es gibt hier keine Zeitungen, und die Gerüchteküche brodelt. Und außerdem … wissen Sie, ich habe das Ganze satt. Immerzu werden irgendwelche Städte mit unaussprechlichen Namen verloren und wieder eingenommen, Buguruslan und Bugulma und, wie hieß das gleich, Belebej. Wo das alles liegt und wer es einnimmt und wieder verliert, ist unklar und vor allem auch nicht von Interesse. Der Krieg geht weiter, das ist klar, aber von ihm zu reden ist eine Art mauve genre. Müdigkeit liegt in der Luft, würde ich sagen. Der Enthusiasmus ist flötengegangen.«

Ich hüllte mich in Schweigen und dachte über ihre Worte nach. Draußen wieherte irgendwo ein Pferd, gleich darauf war der langgezogene Ruf des Fuhrmanns zu hören. Einer der bei den Offiziere am Nebentisch hatte mit der Nadel endlich die Vene getroffen. Mehrere Versuche in den letzten fünf Minuten waren fehlgeschlagen – weit zurückgelehnt, um die unter dem Tisch verborgenen Arme zu sehen, balancierte er seinen Stuhl auf den zwei hinteren Beinen, so daß ich dachte, er müßte gleich umkippen. Nun verstaute er die Spritze wieder in einer vernickelten Schachtel und steckte diese in sein Pistolenhalfter. Dem öligen Glanz nach, den seine Augen beinahe sofort annahmen, war in der Spritze Morphium gewesen. Ein, zwei Minuten schaukelte er weiter auf seinem Stuhl, dann plumpste er nach vorn, mit den Ellbogen auf den Tisch, packte seinen Kumpanen beim Arm und sagte mit überwältigender Aufrichtigkeit in der Stimme:

»Ich hatte da eben einen Gedanken, Nikolai. Weißt du, warum die Bolschewiken siegen werden?«

»Warum?«

»Weil in ihrer Lehre so viel glühende, lebendige …« – er schloß die Augen und suchte, mühsam mit den Fingern durch die Luft fahrend, nach dem richtigen Wort – »… innige und ekstatische Menschenliebe ist. Der Bolschewismus, wenn man ihn ganz an sich heranläßt, kann die höchsten im Herzen schlummernden Hoffnungen wiedererwecken, oder etwa nicht?«

Der zweite Offizier spuckte auf den Boden.

»Ach, George«, sagte er finster, »wenn sie dir die Tante in Samara aufgeknüpft hätten, tätst du nicht mehr von höchsten Hoffnungen reden, weißt du.«

Der andere schloß die Augen und sagte eine Weile nichts. Dann plötzlich:

»Es heißt, Baron Jungern wäre vor kurzem in der Stadt gesehen worden. Zu Pferde, im roten Umhang mit goldenem Kreuz auf der Brust, und keine Angst vor niemandem.«

Anna, die sich gerade eine Zigarette anzündete, fuhr bei diesen Worten so zusammen, daß ihr beinahe das Streichholz aus der Hand fiel. Mir schien, sie brauchte Ablenkung.

»Sagen Sie, Anna, was ist in der Zwischenzeit eigentlich passiert? Ich meine, seit dem Tag, als wir in Moskau ausrückten?«

»Krieg«, sagte Anna. »Sie haben sich in den Gefechten wacker geschlagen, Tschapajew hat Sie ins Herz geschlossen. Ganze Nächte haben Sie miteinander geredet. Ja, und dann kam die Verwundung dazwischen.«

»Worüber haben wir denn die ganze Zeit geredet?«

Anna blies einen dünnen Rauchstrahl gegen die Decke.

»Warum wollen Sie nicht warten, bis er kommt? Ich habe eine ungefähre Ahnung vom Inhalt Ihrer Gespräche, möchte mich aber ungern in Details verlieren. Es geht nur Sie beide etwas an.«

»Wenigstens in groben Zügen, Anna.«

»Tschapajew ist einer der ausgemachtesten Mystiker, die ich kenne. In Ihrer Person fand er einen dankbaren Zuhörer, nehme ich an, vielleicht auch einen Schüler. Darüber hinaus vermute ich, das Ihnen zugestoßene Unglück könnte irgendwie mit Ihren Gesprächen zu tun haben.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Kein Wunder«, sagte Anna. »Er hat ein paarmal mit mir zu reden versucht, und ich habe auch nichts begriffen. Was ich sicher weiß, ist, daß er einen arglosen Gesprächspartner binnen weniger Stunden in den Wahnsinn zu treiben versteht. Mein Onkel ist ein sehr ungewöhnlicher Mensch.«

»Er ist Ihr Onkel, soso«, sagte ich. »Und ich dachte schon, es bestünden zwischen Ihnen ganz andere Bande.«

»Wie können Sie … Hach, denken Sie von mir aus, was Sie wollen.«

»Bitte verzeihen Sie mir«, sagte ich. »Dem, was Sie über den verwundeten Kavalleristen sagten, glaubte ich entnehmen zu dürfen, Sie wären an gesunden Kavalleristen interessiert.«

»Noch so eine flegelhafte Bemerkung, und ich verliere jedes Interesse an Ihnen, Pjotr.«

»Da ist also immerhin eines. Das tröstet mich.«

»Sie sollten sich nicht an einzelne Worte klammern.«

»Wenn sie mir zusagen, warum nicht?«

»Rein zum Selbstschutz. Während Sie bewußtlos im Bett lagen, haben Sie kräftig zugenommen, es könnte also sein, daß meine Worte Ihr Gewicht nicht aushalten.«

Sie wußte sich zu verteidigen, soviel war klar. Doch ich fand, daß sie gerade ein wenig übertrieb.

»Liebe Anna«, sagte ich, »ich verstehe nicht, wieso Ihnen so viel daran liegt, mich zu kränken. Sie verstellen sich, davon bin ich felsenfest überzeugt. In Wahrheit bin ich Ihnen nicht gleichgültig – das wußte ich sofort, als ich zu mir kam und Sie an meinem Bett sitzen sah. Und Sie können sich nicht vorstellen, wie ergriffen ich davon war.«

»Ich fürchte, Sie werden enttäuscht sein, wenn ich Ihnen sage, warum ich dort saß.«

»Ach so? Was könnte es für Gründe haben, am Bett eines Verwundeten Wache zu halten, außer echter, na, sagen wir, Fürsorge?«

»Das ist mir jetzt wirklich peinlich. Aber Sie haben es ja nicht anders gewollt. Das Leben hier ist öde, wissen Sie, und Ihre Fieberphantasien waren äußerst kurzweilig. Ich gebe zu, ich bin manchmal lauschen gekommen – einfach aus Langeweile. Was Sie jetzt gerade zusammenreden, finde ich nicht annähernd so interessant.«

Darauf war ich nicht gefaßt gewesen. Um mich einzukriegen, mußte ich langsam bis zehn zählen. Und gleich noch einmal. Es half nicht – ich spürte einen unbändigen, geradezu blinden Haß in mir aufsteigen.

»Darf ich um eine Zigarette bitten?«

Anna streckte mir das geöffnete Etui entgegen.

»Danke«, sagte ich. »Es ist nett, mit Ihnen zu plaudern.«

»Finden Sie?«

»Ja«, sagte ich und merkte, daß die Zigarette in meinen Fingern zitterte, was mich noch mehr in Rage brachte. »Ihre Worte regen zum Denken an.«

»In welcher Weise?«

»Zum Beispiel haben Sie vorhin die Realität des Flieders angezweifelt, in dem die Stadt hier versinkt. Das hat mich gewundert. Aber eigentlich ist es doch sehr russisch.«

»Was ist für Sie so besonders russisch daran?«

»Das russische Volk hat schon sehr früh begriffen, daß das Leben ein Traum ist. Wissen Sie, was ein Sukkubus ist?«

»Ja«, sagte Anna lächelnd, »ich glaube, so heißt ein Dämon, der weibliche Züge annimmt, um einen schlafenden Mann zu becircen. Was hat das damit zu tun?«

Ich zählte noch einmal bis zehn. Meine Gefühle blieben die gleichen.

»Sehr viel. Stellen Sie sich einen Russen vor, wie er das Wort ›Suki‹ ausspricht, das Ärgste, was sich im Russischen über Frauen sagen läßt. ›Suki‹ ist nur die Verkleinerungsform zu ›Sukkuben‹, müssen Sie wissen. Das kommt vom Katholizismus her, Sie kennen das sicher: Pseudodemetrius II., Marina Mnishek und so weiter, Polen, wo man hinsieht, kurz, das Chaos, die berühmte Zeit der smuta. Seit damals hat sich das eingebürgert. Übrigens hat auch der Panmongolismus dort seinen Ursprung, ich habe erst letztens darüber nachgedacht. Aber das führt vom Thema weg. Was wollte ich sagen: Suki« (ich nahm das Wort genüßlich noch einmal in den Mund) »wenn es heißt, alle Weiber sind Suki, also meinetwegen Schlampen oder so, dann heißt das im Grunde, das Leben ist ein Traum, und Ihren Flieder, den träumen wir mit. Und dazu die ganzen Suki-Schlampen.« (ich ließ das »s« richtig schön zischen) »… dazu. Also die Weiber, meine ich.«

Anna zog an ihrer Zigarette. Die Haut über ihren Wangenknochen rötete sich ein wenig, und ich fand, dies stand ihrem blassen Gesicht außerordentlich gut.

»Ich überlege gerade«, sagte sie, »ob ich Ihnen den Champagner in die Fresse kippen soll.«

»Ich weiß nicht recht«, erwiderte ich. »So intim sind wir nun auch wieder nicht miteinander.«

Im nächsten Augenblick schlug mir ein Fächer aus kristallklaren Tropfen ins Gesicht – ihr Glas war fast voll gewesen, und sie hatte es so heftig ausgekippt, daß ich für kurze Zeit blind war.

»Entschuldigen Sie«, sagte Anna bestürzt, »aber Sie haben es selbst …«

»Schon gut«, sagte ich.

Champagner hat eine Eigenschaft, die einem nützlich werden kann: Ergreift man die Flasche, stopft den Daumen in den Hals und schüttelt einige Male kräftig, so spritzt beinahe aller Inhalt als schäumender Strahl unterm Finger hervor. Ich meine, diese Verfahrensweise muß schon zu Lermontows Zeiten im Schwange gewesen sein; es gibt von ihm eine Gedichtzeile, die sehr darauf schließen läßt, daß er persönlich mit ihr Bekanntschaft machte:

»… so wie die moosbedeckte Flasche all die Jahre
den Strahl schäumenden Weins in sich gefangenhält …«

Natürlich ist es schwer, Vermutungen über das Innenleben eines Mannes anzustellen, der beschlossen hat, dem Bösen ins Auge zu blicken, und dann doch nur ein Poem über einen fliegenden Husarenoberst zuwege bringt. Darum will ich nicht beschwören, Lermontow hätte Frauen mit Champagner bespritzt, aber für wahrscheinlich halte ich es durchaus – eingedenk seiner ständigen Besorgnis in geschlechtlichen Fragen einerseits, jener unanständigen, doch ganz und gar nicht zu bezähmenden Assoziationen andererseits, die einen bei dieser Verrichtung, so sie auf eine schöne junge Frau abzielt, einfach überkommen. Ich muß zugeben, daß ich ihnen vollends erlag.

Der größte Teil des Champagners landete auf Annas Rock und Jacke. Ich hatte auf das Gesicht gezielt, den Strahl jedoch in einem seltsamen Anflug von Befangenheit im letzten Moment tiefer gelenkt.

Anna sah zu, wie sich ihre Jacke vor der Brust dunkel färbte.

»Sie sind ein Idiot«, sagte sie ruhig. »Ihr Platz ist im Irrenhaus.«

»Das finden nicht nur Sie«, sagte ich und stellte die leere Flasche auf den Tisch zurück.

Beklemmende Stille trat ein. Sich in weiteren Wortwechseln zur Klärung unseres Verhältnisses zu ergehen schien wenig sinnvoll; einander schweigend gegenüberzusitzen war noch dümmer. Ich denke, Anna empfand ähnliches. Vermutlich wußte in diesem Restaurant nur die fette, schwarze Fliege, die unablässig gegen die staubige Fensterscheibe Sturm flog, was weiter zu tun war. Die Situation rettete einer der beiden Offiziere, die am Nachbartisch saßen (ihre Existenz war mir zu diesem Zeitpunkt vollkommen entfallen, obgleich auch sie wohl – in anderer Hinsicht – zu jenen gehörten, die nicht weiterwußten); es war der, der sich die Spritze gesetzt hatte.

»Gnädiger Herr«, hörte ich ihn mit pathetischer Stimme sagen, »gnädiger Herr, gestatten Sie eine Frage?«

»Aber bitte.«

Er hielt ein aufgeklapptes schwarzes Portemonnaie in den Händen und schaute beim Sprechen hinein, als steckte ein Spickzettel darin.

»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Stabshauptmann Gärtner. Es ergab sich, daß ich einen Teil Ihres Gespräches mit angehört habe. Selbstredend ganz ohne Absicht. Sie haben einfach laut gesprochen.«

»Ja, und?«

»Sind Sie wirklich der Meinung, daß die Frauen allesamt nur geträumt sind?«

»Wissen Sie«, sagte ich und versuchte mich so höflich wie möglich auszudrücken, »das ist ein sehr kompliziertes Thema. Sagen wir es kurz: Wenn Sie der Meinung sind, daß die ganze Welt ein Traum ist, so besteht kein Anlaß, die Frauen vermittels einer besonderen Kategorisierung davon auszunehmen.«

»Also doch. Nur geträumt«, sagte der Stabshauptmann niedergeschlagen. »Das dachte ich mir. Hier hab ich ein Foto. Sehen Sie.«

Er reichte mir eine Fotografie. Abgebildet war ein Mädchen mit ordinären Gesichtszügen, das neben einem Geranientopf saß. Ich bemerkte, daß Anna aus den Augenwinkeln gleichfalls auf das Foto schielte.

»Das ist Njura, meine Braut«, sagte der Stabshauptmann. »Genauer gesagt, das war sie. Keine Ahnung, wo sie jetzt steckt. Wenn ich an vergangene Tage zurückdenke, sehe ich alles noch ganz lebendig vor mir. Die Eisbahn auf den Patriarchenteichen, die Sommerferien auf dem Gut. In Wirklichkeit ist es aus, aus und vorbei, und hätte es das alles nie gegeben – was würde es ändern an dieser Welt? Verstehen Sie das Schreckliche daran? Es machte keinen Unterschied.«

»Verstehe«, sagte ich, »verstehe vollkommen, glauben Sie mir.«

»Sie ist also auch ein Traum?«

»Sieht ganz danach aus«, erwiderte ich.

»Aha«, sagte er zufrieden und schaute sich nach seinem Kumpanen um, der lächelnd dasaß und rauchte. »Darf ich Sie also in dem Sinne verstehen, gnädiger Herr, daß meine Braut Njura eine Schlampe ist?«

»Was?«

»Ja, was«, sagte Stabshauptmann Gärtner und sah sich schon wieder nach seinem Kumpanen um. »Sie haben vorhin selbst gesagt, daß ›Suki‹ die Verkleinerungsform von ›Sukkuben‹ ist. Nehmen wir an, Njura reizt mich als Frau, ist aber nur eine Täuschung – muß man daraus nicht notwendig den Schluß ziehen, daß sie eine Schlampe ist? Man muß es wohl. Und Sie wissen doch, gnädiger Herr, was solche Wörter, wenn sie in der Öffentlichkeit fallen, für Folgen haben?«

Ich sah mir mein Gegenüber aufmerksam an. Er schien um die Dreißig; blonder Oberlippenbart, hohe Stirn mit Geheimratsecken, blaue Augen – und in alledem ein provinzieller Dämonismus von solcher Konzentration, daß es schmerzte.

»Hören Sie«, sagte ich, wobei ich die Hand möglichst unauffällig in die Tasche gleiten ließ und nach dem Knauf der Pistole tastete, »ich finde das wirklich übertrieben. Ich habe nicht die Ehre, mit Ihrer Braut bekannt zu sein. Folglich kann ich mir keinerlei Meinung über sie erlauben.«

»Niemand darf es wagen, Schlüsse zu ziehen«, sagte der Stabshauptmann, »aus denen hervorgeht, daß meine Braut Njura eine Schlampe ist. Tut mir sehr leid, doch aus dieser Situation sehe ich nur einen Ausweg.«

Mich mit Blicken durchbohrend, legte er die Hand an sein Halfter und knöpfte es langsam auf. Ich dachte schon daran zu schießen, als mir einfiel, daß dort nur die Schachtel mit dem Spritzbesteck war. Das machte die Sache lustig.

»Wollen Sie mir eine Spritze geben?« fragte ich. »Besten Dank, aber ich kann Morphium nicht ausstehen. Ich finde, es macht dumm.«

Der Stabshauptmann zog die Hand vom Halfter zurück und sah sich neuerlich nach seinem Kumpanen um, einem dicklichen jungen Mann mit hochrotem Gesicht, der unser Gespräch gespannt verfolgt hatte.

»Mach Platz, George«, sagte er, kam schwerfällig hinter dem Tisch hervor und zog seinen Säbel, »diesem Herrn werde ich die Spritze verpassen.«

Mag der Himmel wissen, was weiter passiert wäre – vermutlich hätte ich kurze Zeit später geschossen, und dies mit um so weniger Mitgefühl, als die Gesichtsfarbe des jungen Mannes auf eine Neigung zur Apoplexie hindeutete, ihm also ohnehin kein langes Leben beschieden war. Doch hier geschah das Unerwartete.

Vom Eingang her ertönte ein lauter Ruf:

»Alles bleibt auf seinem Platz! Eine Bewegung, und ich schieße!«

Ich drehte mich um. Am Eingang stand ein großer, breitschultriger Mann in grauem Anzug mit himbeerfarbenem Russenhemd. Sein Gesicht wirkte energisch und stark – nur das kleine, fliehende Kinn paßte nicht dazu, das sich gut auf einem antiken Relief gemacht hätte. Er war kahlgeschoren und hielt in jeder Hand einen Revolver. Die beiden Offiziere erstarrten; der Kahlkopf kam schnell auf unseren Tisch zu und blieb davor stehen, die Revolver auf die Köpfe der beiden gerichtet. Die Augen des Stabshauptmanns zuckten.

»Stehenbleiben, sag ich«, drohte der Herr in Zivil. »Schön ruhig.«

Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse, und er drückte zweimal kurz hintereinander ab. Die Revolver klickten nur.

»Schon mal vom russischen Roulett gehört, meine Herren?« fragte er. »Ich frage Sie!«

»Ja«, sagte der Offizier mit dem puterroten Gesicht.

»Sie können sich momentan als Teilnehmer an diesem Spiel betrachten, und ich habe die Ehre, Ihr Croupier zu sein. Ganz im Vertrauen darf ich Ihnen mitteilen, daß jeder dieser Revolver im dritten Lager eine scharfe Patrone stecken hat. Falls Sie mich verstanden haben, tun Sie das bitte unverzüglich kund!«

»Wie denn?« fragte der Stabshauptmann.

»Heben Sie die Hände hoch!« befahl der Kahlkopf.

Die Offiziere hoben die Hände; der Klang des auf den Boden fallenden Säbels fuhr mir durch Mark und Bein.

»Raus hier«, sagte der Unbekannte, »und ich darf Sie sehr bitten, sich unterwegs nicht umzusehen. Das kann ich schlecht vertragen.«

Die Offiziere ließen sich das nicht zweimal sagen. Mit Beherrschung, wenn auch etwas überstürzt, den halb ausgetrunkenen Wein und die im Aschenbecher vor sich hin rauchende Papirossa im Stich lassend, traten sie den Rückzug an. Als sie draußen waren, legte der Herr seine Revolver auf unseren Tisch und verbeugte sich vor Anna, die von seinem Auftauchen entzückt schien.

»Anna«, sagte er und führte ihre Hand zu seinen Lippen, »welche Freude, Sie hier zu sehen.«

»Guten Tag, Grigori. Sind Sie schon lange in der Stadt?«

»Eben angekommen.«

»Sind das Ihre Traber da draußen?«

»Ja!«

»Und Sie werden mich bestimmt zu einer Ausfahrt einladen?«

Der Mann lächelte.

»Grigori«, sagte Anna, »ich liebe Sie.«

Nun drehte er sich um und hielt mir die Hand hin.

»Grigori Kotowski.«

»Pjotr Pustota«, antwortete ich und drückte sie.

»Ach, Tschapajews Kommissar? Den es bei Losowaja erwischt hat? Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Es freut mich außerordentlich, Sie bei guter Gesundheit zu sehen.«

»Ganz gesund ist er noch nicht«, sagte Anna und warf mir einen kurzen Blick zu.

Kotowski setzte sich zu uns.

»Was hattet ihr denn mit diesen Herren für ein Geplänkel?«

»Wir stritten über die Metaphysik des Traumes«, sagte ich.

Kotowski lachte auf.

»Und solche Themen müssen Sie ausgerechnet in einer Provinzwirtschaft auftischen! Erinnere ich mich recht, daß die Geschichte in Losowaja auch mit einer Unterhaltung im Bahnhofsbüfett ihren Anfang nahm?«

Ich zuckte mit den Achseln.

»Er kann sich nicht daran erinnern«, sagte Anna. »Partieller Gedächtnisverlust. Kommt vor bei schweren Quetschungen.«

»Ich hoffe, Sie werden bald ganz von Ihrer Verwundung genesen«, sagte Kotowski und nahm einen der Revolver vom Tisch. Er schob die Trommel zur Seite, spannte einige Male den Hahn und ließ ihn wieder fahren, fluchte dabei leise und schüttelte ungläubig den Kopf. Auch ich nahm mit Staunen zur Kenntnis, daß die Trommel vollständig mit Patronen gefüllt war.

»Der Teufel soll diese Dinger aus Tula holen«, sagte er und blickte mich dabei an. »Nie kann man sich auf die verlassen. Einmal bin ich ihretwegen schon in einen Schlamassel geraten, ich kann Ihnen sagen.«

Er warf die Waffe zurück auf den Tisch und schüttelte heftig den Kopf, als wollte er die düsteren Gedanken verscheuchen.

»Wie geht's Tschapajew?«

Anna winkte ab.

»Er trinkt«, sagte sie. »Weiß der Teufel, was daraus noch werden soll, man kann es mit der Angst bekommen. Gestern ist er im bloßen Hemd auf die Straße gerannt, mit der Mauser in der Hand. Hat dreimal in die Luft geschossen, kurz überlegt, noch dreimal in die Erde geschossen und ist schlafen gegangen.«

»Allerhand, allerhand«, murmelte Kotowski. »Fürchten Sie nicht, daß er in dem Zustand einmal das tönerne Maschinengewehr in Gang setzen könnte?«

Anna sah schräg zu mir herüber. In dem Augenblick hatte ich das Gefühl, an diesem Tisch absolut überflüssig zu sein. Meine Gesprächspartner schienen diese Ansicht zu teilen – die eingetretene Pause wurde unerträglich lang.

»Na, sagen Sie, Pjotr, was hielten die Herren denn von der Metaphysik des Traumes?« brach Kotowski schließlich das Schweigen.

»Ach«, antwortete ich, »Gefasel. Die sind nicht sehr gescheit. Sie werden entschuldigen, ich brauche frische Luft. Mir tut der Kopf weh.«

»Ja, Grigori«, sagte Anna, »laß uns Pjotr nach Hause bringen und dort entscheiden, was wir den Abend noch anstellen.«

»Vielen Dank«, sagte ich, »ich finde allein nach Hause. Es ist ja nicht weit, ich hab mir den Weg gemerkt.«

»Wir sehen uns später«, sagte Kotowski.

Anna sah mich nicht einmal an. Ich war noch nicht vom Tisch aufgestanden, als die beiden schon ins angeregteste Gepräch vertieft waren. An der Tür drehte ich mich um: Anna lachte schallend und tätschelte Kotowski die Hand, als bäte sie ihn darum, eine zum Totlachen komische Geschichte bloß nicht noch weiter zu erzählen.

Beim Verlassen des Restaurants sah ich eine leichte, gefederte Kalesche auf der Straße stehen, der zwei graue Traber vorgespannt waren – offenbar Kotowskis Gefährt. Ich bog um die Ecke und lief die Straße bergan, die ich vorhin mit Anna herabgekommen war.

Es war etwa drei Uhr nachmittags und unerträglich heiß. Ich dachte darüber nach, wieviel sich seit meinem Erwachen verändert hatte – von meiner gelassenen, friedfertigen Stimmung war nichts geblieben. Das Unangenehmste aber war, daß Kotowskis Pferde mir nicht aus dem Kopf gehen wollten. Lächerlich genug, daß solch eine Nebensächlichkeit derart deprimierend auf mich wirkte. Ich wollte mein seelisches Gleichgewicht zurückgewinnen und vermochte es nicht. Tatsächlich war ich abgrundtief verletzt.

Was natürlich nicht an Kotowski und seinen Pferden lag. Es lag an Anna, an ihrer unbeschreiblichen, unfaßbaren Schönheit, die mich im ersten Moment verleitet hatte, mir eine tief und sensibel empfindende Seele dazuzudenken. Der bloße Gedanke, daß irgendwelche Rassepferde ihren Besitzer in Annas Augen hätten attraktiv machen können, schien unmöglich. Und doch sah es ganz danach aus. Wie komme ich überhaupt darauf, fragte ich mich jetzt, daß es eine Frau nach anderem gelüstete? Wonach, bitteschön? Geistigen Werten womöglich?

Ich brach in lautes Lachen aus, so daß zwei vor mir auf der Bordsteinkante spazierende Hühner aufflatterten.

Das ist ja interessant, dachte ich weiter. Wenn ich mich nicht selbst belügen wollte, mußte ich einsehen: Es war so. Ich meinte tatsächlich, daß etwas an mir war, was diese Frau anziehender finden und unvergleichlich höher schätzen mußte als jeden Pferdebesitzer. Dabei barg schon der Vergleich eine böse Geschmacklosigkeit – indem ich ihn zuließ, setzte ich die Qualitäten, um derentwillen ich von ihr hochgeschätzt zu werden wünschte, selbst auf das Niveau eines Pferdegespanns herab. Wenn dies für mich vergleichbare Dinge waren – wie konnte ich von ihr erwarten, daß sie Unterschiede machte? Und weiter: Was war es überhaupt, was mich in ihren Augen erheben sollte? Meine Innenwelt? Das, was ich dachte und fühlte? Plötzlich war ich mir selbst so sehr zuwider, daß ich aufstöhnte. Schluß mit dem Selbstbetrug! dachte ich. Plagte mich nicht schon genügend Jahre hauptsächlich das Problem, wie ich all diesen Gedanken und Gefühlen entkommen und meine sogenannte Innenwelt auf irgendeiner Müllhalde zurücklassen konnte? Und selbst wenn man diesem Seelenzauber irgendeinen Wert zugestanden hätte – sagen wir, einen rein ästhetischen –, es änderte nichts. Denn alles Edle, was im Menschen sein kann, bleibt anderen verborgen – im Grunde ja auch dem, der es in sich trägt. Wer könnte denn in sich hineinsehen und sagen: Da! da ist es, da war es, da wird es sein? Wer hätte darüber verfügen können, behaupten, es gehöre ihm? Wie konnte ich mithin den Vergleich wagen zwischen Kotowskis Trabern und etwas, das zu mir in keiner Beziehung steht, außer daß ich es in den besten Momenten meines Lebens vor mir gesehen habe? Und durfte ich es Anna vorwerfen, daß sie in mir nicht das sehen wollte, was ich dort selbst schon lange nicht mehr sah? Zu töricht. In jenen seltenen Momenten, da ich vielleicht auf den Kern stieß, wußte ich jedesmal, daß es nie und nimmer möglich sein würde, dem eine bleibende Form zu geben. Gut, es mag vorkommen, daß einer draußen die Sonne untergehen sieht und einen Satz dazu sagt, der es in sich hat. Was ich in Betrachtung von Sonnenauf- und -untergängen daherredete, reizte mich schon lange bis zur Weißglut. Nein, meine Seele ist wirklich nicht sonderlich schön, dachte ich. Es war umgekehrt: In Anna suchte ich nach dem, was in mir selber nie gewesen war. Wenn ich sie sah, blieb nichts weiter von mir übrig als eine saugende Leere, die allein ihre Anwesenheit zu füllen vermochte, ihre Stimme, ihr Antlitz.

Was also konnte ich ihr bieten, anstelle einer Ausfahrt mit Kotowski und seinem Gespann? Mich selbst? Meine Hoffnung, in ihrer Nähe Antwort auf eine der verschwommenen, dunklen Fragen zu finden, die meine Seele quälten? Absurd. Besser wäre ich in Kotowskis Kutsche mitgefahren.

Ich blieb stehen und setzte mich auf einen verschlissenen Kilometerstein am Straßenrand. Es war unglaublich heiß. Ich fühlte mich mutlos und zerschlagen, konnte mich nicht entsinnen, je eine so große Abneigung gegen mich selbst empfunden zu haben. Der säuerliche Champagnergeruch, der meiner Mütze entströmte, schien mir in diesem Moment ein Aushängeschild meines Geistes zu sein. Um mich her war eherner, unerschütterlicher Sommer; Hunde blafften hie und da faul vor sich hin, und vom Himmel prasselte das Sperrfeuer der glühenden Sonne hernieder. Kaum war mir diese Metapher eingefallen, schon mußte ich daran denken, daß Anna sich eine MG-Schützin nannte; Tränen traten mir in die Augen, und ich schlug die Hände vor das Gesicht.

Nach einigen Minuten stand ich auf und lief weiter bergan. Das Schlimmste war vorüber. Mehr noch: Von all den Gedanken, die mein Gemüt eben noch zu martern und mich in einen Abgrund zu stürzen schienen, ging plötzlich eine zarte Wonne aus. Die Melancholie, die mich ergriffen hatte, war unbeschreiblich süß. Und ich wußte, schon in einer Stunde würde ich mir dieses Gefühl sehnlichst zurückwünschen, doch es wäre unwiderruflich dahin.

Kurze Zeit später war ich wieder an dem Gutshaus angelangt. Ich sah, daß auf dem Hof einige Pferde angebunden standen, die zuvor nicht dort gewesen waren. Außerdem stieg aus dem Schornstein eines der Seitenflügel Rauch. Als ich das Portal erreicht hatte, blieb ich stehen. Die Straße ging weiter hinauf und verlor sich in einer von sattem Grün überwölbten Biegung; weiter oben gab es kein einziges Haus zu sehen, und es war vollkommen unklar, wohin die Straße führte. Ich hatte keine Lust, drinnen irgendwem in die Arme zu laufen; so begann ich, vom Hof aus gemächlichen Schrittes das Anwesen zu umrunden.

»Na los doch«, grölte eine Baßstimme aus dem ersten Stock, »halt dagegen, du Idiot!«

Dort oben saßen sie anscheinend beim Kartenspiel. Ich bog jetzt um die hintere Hausecke – und befand mich auf einem zweiten Hof. Es war ein unerwartet malerischer Anblick: In einigen Metern Abstand von der Mauer fiel das Gelände ab und bildete eine natürliche, von Bäumen überschattete Senke. Dort sprudelte ein kleiner Bach, man sah die Dächer von zwei oder drei Wirtschaftsgebäuden dahinterliegen, und noch um einiges weiter, auf einer kleinen Brache, stand ein großer Heuschober – haargenau von der Art, wie man sie von den bukolischen Idyllenbildchen in der »Niwa« kannte. Ich bekam ungeheure Lust, mich im Heu zu wälzen, und lief auf den Schober zu. Plötzlich aber, ich war nur noch etwa zehn Schritte von meinem Ziel entfernt, sprang ein Mann mit Gewehr hinter einem Baum hervor und stellte sich mir wortlos in den Weg.

Es war ebenjener Baschkire, der uns im Speiseabteil des Stabswaggons bedient und dann die Wagen mit den Webern vom Zug abgekoppelt hatte – nur daß jetzt ein schütterer schwarzer Backenbart sein Gesicht zierte.

»Na, hören Sie mal«, sprach ich ihn an, »wir kennen uns doch, oder? Ich will mich ein bißchen ins Heu schmeißen, weiter nichts. Und ich verspreche Ihnen, nicht zu rauchen.«

Der Baschkire reagierte nicht auf meine Worte; seine Augen starrten mich ausdruckslos an. Ich machte den Versuch, im Bogen um ihn herumzugehen, worauf er einen Schritt zurückwich, die Flinte hob und mir das Bajonett an den Hals setzte.

Ich machte kehrt und trollte mich. Das Benehmen dieses Baschkiren hatte mich zutiefst erschreckt. Als er das Bajonett auf mich richtete, hielt er seine Flinte wie einen Speer, so als wüßte er gar nicht, daß man daraus auch schießen konnte, und diese Bewegung mutete so zügellos und ungebärdig an, daß mir der in meiner Manteltasche ruhende Browning wie ein simples Kinderspielzeug vorkam. Wieder bei dem Bach angekommen, wandte ich mich um. Der Baschkire war verschwunden. Ich hockte mich nieder und wusch ausgiebig meine Mütze.

Auf einmal bekam ich mit, daß sich zum Plätschern des Bachs, wie zum Klang eines wunderlichen Instruments, eine leise, recht wohlklingende Stimme gesellte. Im nahegelegenen Schuppen (ein ehemaliges Dampfbad, wie sich an dem aus dem Dach ragenden Rohr erkennen ließ) sang jemand vor sich hin:

Weiß ist mein Hemd.
Still liegt das Feld, das ich quere.
Kraniche stehn
Reglos wie kupferne Kreuze …

Etwas an diesen Worten rührte mich an, und ich beschloß nachzusehen, wer da sang. Ich preßte das Wasser aus der Mütze, steckte sie hinter den Gürtel, dann ging ich zu dem Schuppen und zog, ohne zu klopfen, die Tür auf.

Drinnen stand zwischen zwei Sitzbänken ein breiter Tisch aus frisch gehobelten Brettern. Auf dem Tisch eine riesige Flasche mit einer trüben Flüssigkeit, dazu ein Glas. Ein paar Zwiebeln lagen daneben. Auf der Bank nächst der Tür saß, mit dem Rücken zu mir, ein Mann im blütenweißen Hemd, das ihm über die Hose hing.

»Verzeihung«, sagte ich, »haben Sie in Ihrer Flasche da zu fällig Wodka?«

»Nein«, sagte der Mann und wandte sich um, »das ist Selbstgebrannter.«

Es war Tschapajew.

Vor Überraschung zuckte ich zusammen.

»Wassili Iwanowitsch!«

»Grüß dich, Petka«, sagte der Mann mit breitem Grinsen. »Ich sehe, du bist wieder auf den Beinen.«

Ich konnte mich nicht erinnern, seit wann wir uns duzten. Es gab überhaupt wenig, woran ich mich erinnern konnte. Der Blick, mit dem Tschapajew mich ansah, wirkte ein bißchen verschlagen; eine verschwitzte Locke fiel ihm in die Stirn, das Hemd war bis zur Bauchmitte aufgeknöpft. Kurz, er bot einen feucht-fröhlichen Anblick und glich dem Bild von ihm, das ich im Gedächtnis trug, so wenig, daß ich einige Sekunden schwankte und mich fragte, ob ich mich nicht geirrt hatte.

»Setz dich, Petka, setz dich«, sagte Tschapajew und nickte zur zweiten Bank hin.

»Ich dachte, Sie wären verreist, Wassili Iwanowitsch?« sagte ich, während ich mich setzte.

»Vor ner Stunde bin ich eingetrudelt und gleich in die Sauna marschiert. Eins a bei der Hitze! Aber was erzähl ich dir von mir, sag doch mal du: Wie fühlst du dich?«

»Normal«, sagte ich.

»Aufgerappelt, die Mütze auf den Kopf und ab ins Städtchen! Markier mal lieber nicht den Helden, du. Es geht das Gerücht, dein Merks hätte was abgekriegt?«

»Das stimmt«, sagte ich und versuchte geflissentlich, den albern hervorgekehrten Gossenton zu überhören. »Wer hat Ihnen denn das so brühwarm erzählt?«

»Semjon natürlich, wer sonst. Dein Bursche. Kannst du dich wirklich an nichts erinnern?«

»Ich weiß nur noch, wie wir in den Zug nach Moskau gestiegen sind«, sagte ich. »Alles übrige ist wie weggewischt. Ich kann mich nicht einmal entsinnen, seit wann Sie mich duzen.«

Eine Weile fixierte Tschapajew mich mit zusammengekniffenen Augen, es war, als blickte er durch mich hindurch.

»Ja«, sagte er schließlich, »ich seh schon. Verzwickte Sache. Wobei ich mir denke, du spielst ein bißchen Verstecken, Petka.«

»Wieso Verstecken?«

»Laß nur, ist schon in Ordnung«, sprach Tschapajew weiter in Rätseln, »die Wunde ist ja noch frisch. Zum erstenmal geduzt haben wir uns übrigens auf der Bahnstation Losowaja, kurz vor der Schlacht.«

»Was war das für eine Schlacht?« fragte ich und runzelte die Stirn. »Davon höre ich jetzt zum x-tenmal, ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. Von dem Versuch kriege ich nur Kopfschmerzen.«

»Wenn es so ist, denk nicht weiter drüber nach. Du wolltest doch trinken? Komm!«

Tschapajew kantete die Flasche auf ein Glas, füllte es bis zum Rand und schob es mir hin.

»Ergebensten Dank!« sagte ich ironisch und trank. Trotz der abschreckend trüben Färbung war der Schnaps vorzüglich – er schien auf irgendwelchen Kräutern angesetzt zu sein.

»Zwiebel?«

»Einstweilen nicht. Ist aber nicht auszuschließen, daß ich heute noch Zustände bekomme, in denen es mich gelüstet, Zwiebeln zum Schnaps zu essen.«

»Was ist dir über die Leber gelaufen?« fragte Tschapajew.

»Nichts Besondres. Trübe Gedanken.«

»Nanu? Was denn für Gedanken?«

»Es interessiert Sie doch nicht etwa wirklich, Wassili Iwanowitsch, was ich denke?«

»Wieso denn nicht. Natürlich interessiert mich das.«

»Ich denke darüber nach, daß die Liebe einer schönen Frau in Wirklichkeit immer Herablassung bedeutet. Weil es einfach unmöglich ist, einer solchen Liebe würdig zu sein.«

»Hä?« machte Tschapajew und legte die Stirn in Falten.

»Hören Sie doch auf, den Narren zu spielen. Ich meine es ernst.«

»Ach so?« fragte Tschapajew. »Na gut, dann paß auf. Herablassung geschieht immer von dem einen herab zu dem anderen hinunter. So wie das Seil aus dem ersten Stock da drüben zum Beispiel. Deine Herablassung geschieht von wo nach wo?«

Ich dachte nach. Es war klar, worauf er hinauswollte. Hätte ich von der Herablassung der Schönheit gegenüber dem Häßlichen, Leidenden zu reden behauptet, wäre sogleich die Frage gefolgt, ob denn diese Schönheit von sich weiß – und wenn ja, ob sie dann überhaupt noch schön sein kann. Auf diese Frage, die mich in langen Petersburger Nächten schier in den Wahnsinn getrieben hatte, wußte ich keine Antwort. Wenn ich hingegen eine Schönheit meinte, die sich ihrer nicht gewiß war – wie konnte in ihrem Fall von Herablassung die Rede sein? Tschapajew war entschieden nicht dumm.

»Sagen wir so, Wassili Iwanowitsch: keine Herablassung von und zu etwas, sondern der Akt der Herablassung an sich. Die ontologische Herablassung sozusagen.«

»Ont dö logösche Höroblossong göschöht wo?« fragte Tschapajew, während er sich zur Seite beugte und ein weiteres Glas unter dem Tisch hervorholte.

»Ich mag nicht in diesem Ton reden.«

»Dann trinken wir lieber«, sagte Tschapajew.

Wir tranken. Für einen Moment blickte ich zweifelnd auf die Zwiebel.

»Nein, sag doch mal«, sagte Tschapajew und wischte sich den Schnauzbart, »wo geschieht sie?«

»Wenn Sie zu einem ernsthaften Gespräch fähig sind, sage ich es Ihnen.«

»Nur zu.«

»Genaugenommen kann von Herablassung tatsächlich nicht die Rede sein. Es ist nur so, daß man diese Art von Liebe als Herablassung empfindet.«

»Wo empfindet man sie?«

»Im Bewußtsein, Wassili Iwanowitsch, im vollen Bewußtsein«, sagte ich sarkastisch.

»Also, mal simpel ausgedrückt, im Kopf, ja?«

»So ungefähr.«

»Und Liebe, wo passiert die?«

»Auch dort, Wassili Iwanowitsch. Mal simpel ausgedrückt.«

»Aha«, sagte Tschapajew mit Befriedigung in der Stimme. »Also: Du hattest gefragt, ob … wie war das noch mal … ob Liebe immer Herablassung bedeutet, war es so?«

»Ja.«

»Und Liebe passiert bei dir im Kopf?«

»Hm.«

»Und diese Herablassung auch?«

»Kann man so sehen. Was soll das heißen?«

»Schlimm muß es um dich stehen, Petka, daß ich, dein Kommandeur, mich von dir fragen lassen muß, ob das, was bei dir im Kopf passiert, immer das ist, was bei dir im Kopf passiert, oder nicht immer!«

»Sophistik«, sagte ich und trank mein Glas leer. »Sophistik reinsten Wassers. Und überhaupt, ich verstehe gar nicht, warum ich mich damit herumquäle. Das habe ich doch in Petersburg alles schon einmal erlebt: eine schöne Frau im bordeauxroten Samtkleid stellt ihr leeres Kristallglas auf den Tisch zurück, ich fingere nach dem Taschentuch, und …«

Tschapajews Husten übertönte meine Stimme. Ich sprach leise zu Ende, ohne zu wissen, für wen:

»Was will ich denn von ihr? Als ob ich nicht wüßte, daß die Vergangenheit unwiederbringlich ist! Alle äußeren Umstände kann man noch so geschickt imitieren – den, der man einmal war, holt man nicht zurück.«

»Was du für Zinnober zusammenredest, Petka«, sagte Tschapajew und setzte ein selbstherrliches Grinsen auf. »Samtkleid und Kristallglas, alle Achtung.«

»Wohl wieder mal Tolstoi gelesen, Wassili Iwanowitsch?« fragte ich und rang um Beherrschung. »Die neue Schlichtheit ist angesagt?«

»Nach irgendwelchen Tolstois steht uns momentan nicht der Sinn«, entgegnete Tschapajew. »Und falls unsere Anka das Objekt deiner Begierde ist, dann laß dir gesagt sein, daß jedes Weib seinen besonderen Zugang braucht. Ist es die Anka, nach der du gierst, ja? Hab ich richtig geraten?«

Seine Augen wurden zu zwei schmalen, tückischen Schlitzen. Dann hieb er plötzlich die Faust auf den Tisch.

»Antworte gefälligst, wenn dein Divisionskommandeur dich was fragt!«

Er war in einer übermütigen Stimmung, gegen die ich nicht ankam.

»Ist doch egal«, sagte ich. »Trinken wir noch einen, Wassili Iwanowitsch.«

Tschapajew lachte in sich hinein und goß beide Gläser voll.

Die nächsten Stunden sind mir nur dunkel in Erinnerung geblieben. Ich betrank mich heftig. Das Gespräch drehte sich, wenn ich mich recht entsinne, um den Krieg – genauer gesagt, Tschapajew erzählte vom Ersten Weltkrieg. Was er erzählte, klang einigermaßen glaubwürdig: Er sprach von der deutschen Kavallerie, von irgendwelchen Brückenköpfen, Giftgasattacken und Windmühlen mit MG-Nestern. An einer Stelle geriet er so in Wallung, daß er mit funkelnden Augen brüllte:

»Hach, Petka! Weißt du überhaupt, wie ich Krieg führe? Das kannst du gar nicht wissen! Es gibt drei Tschapajewsche Stoßrichtungen, klar?«

Ich nickte mechanisch, ohne richtig hinzuhören.

»Erstens: wo!«

Er hieb die Faust auf den Tisch, so daß die Flasche beinahe umkippte.

»Zweitens: wann!«

Wieder ging die Faust auf die Tischplatte nieder.

»Und drittens: wer!«

Bei anderer Gelegenheit hätte ich seine Inszenierung zu würdigen gewußt, doch die Hitze und der Selbstgebrannte hatten mich derart zermürbt, daß ich, ungeachtet des Gebrülls und der Fausthiebe, auf der Bank sitzend einschlief; als ich wieder erwachte, war es draußen schon dunkel, man hörte in der Ferne Schafe blöken.

Ich hob den Kopf von der Tischplatte, sah mich im Raum um und hatte das Gefühl, in einer Petersburger Kutscherkneipe zu sein. Auf dem Tisch stand jetzt eine Petroleumlampe. Tschapajew saß unverändert gegenüber, das Glas in der Hand, und sang, an die Wand starrend, vor sich hin. Seine Augen waren beinahe genauso trübe wie der Schnaps in der Flasche, die schon zur Hälfte leer war. Warum nicht auf seinen Ton eingehen? dachte ich und hieb mit aufgesetztem Mutwillen die Faust auf den Tisch.

»Hand aufs Herz, Wassili Iwanowitsch: Sind Sie ein Weißer oder ein Roter?«

»Ich?« fragte Tschapajew und versuchte mich anzusehen. »Willst du das wirklich wissen?«

Er nahm zwei Zwiebeln vom Tisch und begann sie wortlos zu schälen. Die eine schälte er ganz, von der anderen entfernte er nur die oberste Schale, so daß eine rötlich-violette Haut zum Vorschein kam.

»Schau her, Petka«, sagte er und legte die Zwiebeln vor sich auf den Tisch. »Da sind zwei Zwiebeln. Die eine ist weiß, die andere rot.«

»Das seh ich.«

»Guck dir die weiße an.«

»Gemacht.«

»Und jetzt die rote.«

»Na und?«

»Jetzt alle beide. Hast du?«

»Ja doch.«

»Dann sag, was bist'n selber für einer – Roter oder Weißer?«

»Ich? Als wie was?«

»Wirst du rot, wenn du auf die rote Zwiebel guckst?«

»Nein.«

»Oder wirst du vom Gucken auf die weiße blaß?«

»Kann ich nicht behaupten.«

»Gut. Nächste Frage. Landkarten kennst du. Nehmen wir mal an, der Tisch hier ist eine schematische Karte des Bewußtseins. Hier sind die Roten. Und hier die Weißen. Ändert sich durch die Anwesenheit von Rot und Weiß unsere Grundfarbe? Oder was ist es, was sich in uns färbt?«

»Jetzt rücken Sie endlich raus mit der Sprache, Wassili Iwanowitsch. Also nicht rot und nicht weiß. Was sind wir dann für welche?«

»Eh du komplizierte Fragen stellst, Petka, versuch mal mit den einfachen klarzukommen. ›Wir‹ ist noch viel komplizierter als ›ich‹, oder etwa nicht?«

»Doch«, bestätigte ich.

»Was meinst du, wenn du ›ich‹ sagst?«

»Mich selber, denk ich mal.«

»Und, kannst du mir sagen, wer du bist?«

»Pjotr Pustota.«

»Das ist dein Name. Wer ist der, der ihn trägt?«

»Na, zum Beispiel ließe sich sagen, das Ich ist die psychische Persönlichkeit. Die Summe von Gewohnheiten, Erfahrungen, Kenntnissen halt, und Geschmäckern.«

»Von wessen Gewohnheiten redest du, Petka?« fragte Tschapajew in eindringlichem Ton.

»Von meinen«, sagte ich achselzuckend.

»Aber du hast doch eben gesagt, daß du aus einer Summe von Gewohnheiten bestehst. Wenn das nun deine sind, dann sind es unterm Strich die Gewohnheiten einer Summe von Gewohnheiten, ja?«

»Klingt lustig«, sagte ich. »Ist aber wohl so.«

»Und Gewohnheiten haben was für Gewohnheiten?«

Meine Gereiztheit nahm zu.

»Unser Gespräch wird ein bißchen primitiv. Ausgegangen waren wir doch von der Frage, wer ich von Natur aus bin. Wenn Sie nichts dagegen haben, sehe ich mich als, sagen wir, als Monade. Im Leibnizschen Sinne.«

»Und der sich als Limonade sieht, ist dann wer?«

»Die Monade sieht sich so«, antwortete ich, eisern um Gelassenheit bemüht.

»Gut«, sagte Tschapajew und kniff listig die Augen zusammen, »auf das Wer kommen wir zurück. Laß uns jetzt erst mal übers Wo reden, mein Lieber. Wo ist die Limonade drin, sag mal?«

»In meinem Bewußtsein.«

»Und das Bewußtsein ist wo?«

»Hier drin«, sagte ich und tippte mir an den Kopf.

»Dein Kopf ist wo?«

»Auf den Schultern.«

»Die Schultern sind wo?«

»Im Zimmer.«

»Das Zimmer?«

»Im Haus.«

»Und das Haus?«

»In Rußland.«

»Rußland ist wo?«

»Im Eimer, Wassili Iwanowitsch.«

»Laß das!« fuhr er mich an. »Gewitzelt wird, wenn der Kommandeur es befiehlt. Antworte.«

»Wo schon. Auf der Erde.«

Wir stießen an und tranken.

»Wo ist die Erde?«

»Im All.«

»Und wo ist das All?«

Ich überlegte einen Moment.

»In sich.«

»Wo liegt dieses ›in sich‹?«

»In meinem Bewußtsein.«

»Daraus folgt, Petka, dein Bewußtsein steckt in deinem Bewußtsein.«

»Das folgt daraus, ja.«

»So«, sagte Tschapajew und strich sich den Schnurrbart glatt, »jetzt hör mir mal genau zu. An welchem Ort befindet es sich?«

»Ich verstehe nicht ganz, Wassili Iwanowitsch. Der Ortsbegriff ist auch eine Kategorie des Bewußtseins, so daß …«

»Wo ist der Ort? An welchem Ort befindet sich der Ortsbegriff?«

»Sagen wir, an gar keinem Ort. Besser wäre zu sagen, die Reali…«

Ich sprach nicht zu Ende. So läuft der Hase! dachte ich. Gebrauchte ich das Wort »Realität«, würde er mir wieder mit meinen Gedanken kommen und mich fragen, wo sie sind. Und sagte ich dann, sie seien im Kopf … Ein ewiges Pingpong. Man hätte sich natürlich in irgendwelchen Zitaten ergehen können. Doch wie ich jetzt mit Verwunderung feststellte, wurde diese logische Bresche von jedem der Systeme, auf die ich hätte verweisen können, umgangen oder mit einer Handvoll zweifelhafter Latinismen zugestopft. Ja, Tschapajew war ganz und gar nicht dumm. Freilich gibt es einen hundertprozentig sicheren Weg, wie man seinen Widersacher in jedem beliebigen Streit festnageln kann – man muß bloß verkünden, daß einem alles, was er anführt, bestens bekannt sei, und zwar unter der Schublade Soundso, und das menschliche Denken sei längst darüber hinweg- und fortgeschritten. Doch wäre es mir peinlich gewesen, wie ein aufgeblasener Erstsemestler zu wirken, der ein Strohfeuer ums andere entfacht und zwischendurch mal eben kurz im Philosophielehrbuch blättert. Und hatte ich nicht vor kurzem erst den Philosophen Berdjajew, als er im trunkenen Zustand über die griechischen Wurzeln des russischen Kommunismus referierte, mit der Bemerkung brüskiert, Philosophie solle besser Sophophilie heißen?

»Hm«, sagte Tschapajew, und dann fragte er:

»Wo kann das menschliche Denken denn hinschreiten?«

»Äh, wie?« fragte ich verstört.

»Ich meine, fortgeschritten, schön und gut. Wohin denn?«

Ich mußte meinen Gedanken versehentlich ausgesprochen haben.

»Lassen Sie uns über etwas Handfestes reden, Wassili Iwanowitsch. Ich bin ja kein Philosoph. Dann schon lieber weitertrinken.«

»Wärst du ein Philosoph«, sagte Tschapajew, »hättest du es bei mir nicht weitergebracht als bis zum Pferdestallausmisten. Aber du befehligst eine Schwadron. In Losowaja hattest du das alles schon mal richtig gut kapiert. Was ist bloß los mit dir? Macht das die Angst? Oder die Freude?«

»Ich kann mich an nichts erinnern«, sagte ich und hatte plötzlich das sonderbare Gefühl, als zögen sich in mir sämtliche Nervenfasern zusammen. »Alles weg.«

»Ach, Petka«, seufzte Tschapajew und goß den nächsten Schnaps ein. »Ich weiß gar nicht, was ich von dir halten soll. Versuch erst mal, mit dir selbst ins reine zu kommen.«

Und wir tranken. Mit einer mechanischen Bewegung griff ich mir eine Zwiebel vom Tisch und biß kräftig hinein.

»Wollen wir vorm Schlafen noch ein bißchen Luft schnappen?« schlug Tschapajew vor, während er sich eine Papirossa anzündete.

»Warum nicht«, sagte ich und legte die angebissene Zwiebel zurück auf den Tisch.

Während ich schlief, mußte es kurz geregnet haben, der kleine Hang zum Haus hinauf war feucht und schmierig. Wie sich herausstellte, war ich sturzbetrunken – fast oben angelangt, glitt ich aus und fiel ins nasse Gras. Mein Kopf kippte nach hinten, und ich sah den Himmel voller Sterne über mir. Das war so wunderschön, daß ich einige Augenblicke rücklings liegenblieb und schweigend hinaufschaute. Tschapajew hielt mir die Hand hin und half mir auf. Als wir endlich auf einer ebenen Stelle zu stehen kamen, blickte ich noch einmal nach oben. Plötzlich wurde mir klar, daß es eine Ewigkeit her war, seit ich den Sternenhimmel zum letztenmal gesehen hatte. Und dabei war er die ganze Zeit dort oben gewesen – man hätte nur den Kopf in den Nacken zu legen brauchen. Ich mußte lachen.

»Was hast du?« fragte Tschapajew.

»Nur so«, sagte ich und zeigte mit dem Finger hinauf. »Es ist schön.«

Tschapajew äugte nach oben und schwankte.

»Schön? Was heißt schön?« fragte er versonnen.

»Schönheit ist die vollkommene Objektivität des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit«, sagte ich. »Was dachten denn Sie.«

Tschapajew starrte noch eine Weile in den Himmel, senkte dann den Blick auf die große Pfütze direkt vor unseren Füßen und spuckte seine Kippe hinein. Im Universum, wie die makellose Oberfläche der Pfütze es spiegelte, ereignete sich eine Katastrophe: Sämtliche Sternbilder bebten und verschmolzen für einen Moment zu einem einzigen blaßleuchtenden Fleck.

»Zwei Dinge haben mich schon immer gewundert«, sagte Tschapajew, »der Sternenhimmel unter unseren Füßen und Immanuel Kant in uns drin.«

»Und was ich absolut nicht begreife, ist, wie man einem, der Kant und Schopenhauer verwechselt, eine ganze Division anvertrauen kann.«

Tschapajew blickte mich schwerfällig an und wollte gewiß etwas erwidern, da klapperten Kutschenräder über das Pflaster der Straße, und Pferde wieherten. Jemand fuhr vor.

»Wahrscheinlich Kotowski und Anna«, sagte ich. »Für gesteifte Russenhemden scheint Ihre Scharfschützin etwas übrig zu haben, Wassili Iwanowitsch.«

»Was denn, Kotowski ist in der Stadt? Warum sagst du das nicht gleich?«

Er drehte sich um und ließ mich stehen. Ich schlenderte ihm nach, doch an der Hausecke verharrte ich. Kotowskis Kutsche stand vor der Einfahrt, Kotowski selbst war gerade dabei, Anna herauszuhelfen. Als er den nahenden Tschapajew bemerkte, salutierte er und machte einen Schritt auf ihn zu; die beiden umarmten sich. Es folgte der übermütige, von Schulterklopfen begleitete Wortwechsel zwischen zwei Männern, die einander zeigen möchten, daß jeder von ihnen immer noch forsch und unverzagt durch die Wüsten des Lebens zieht. Genauso forsch und unverzagt gingen sie zum Haus, während Anna sich noch bei der Kutsche aufhielt. Einer plötzlichen Eingebung folgend, lief ich auf sie zu – wobei ich auf halbem Wege über eine leere Munitionskiste stolperte und nahe daran war, ein weiteres Mal hinzuschlagen; dies war der Moment, wo mich mein schneller Entschluß schon fast wieder reute.

»Anna, bitte! Warten Sie doch!«

Sie, nun bereits auf dem Weg zum Haus, blieb stehen und drehte den Kopf nach mir. Mein Gott, wie hübsch sie in diesem Augenblick war!

»Anna, glauben Sie mir«, begann ich zu stammeln und preßte dabei dämlich die Hände gegen die Brust, »glauben Sie mir, ich darf gar nicht daran denken, wie ich mich heute im Restaurant aufgeführt habe. Aber geben Sie zu. Sie haben es sich selbst zuzuschreiben. Diese ewige, um sich selbst kreisende Suffragetterie. Das kann nicht Ihr wahres Ich sein, das ist doch nur ein Nachbeten gewisser ästhetischer Formeln, und was daraus …«

Ihre Hände stießen mich jäh zurück.

»Gehen Sie, Pjotr, bleiben Sie mir fern, um Gottes willen«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Sie stinken nach Zwiebel. Und wenn ich alles verzeihen könnte – das nicht.«

Ich drehte auf dem Absatz um und stürzte ins Haus. Meine Wangen glühten, und den ganzen Weg bis in mein Zimmer (unklar, wie ich es in der Dunkelheit überhaupt fand) verfluchte ich Tschapajew, seinen Schnaps und seine Zwiebeln auf das Lästerlichste. Ich warf mich auf das Bett und verfiel in einen Zustand, der dem Koma – dem ich am Morgen erst entronnen war – wohl recht nahe kam.

Nach einer Weile klopfte es an die Tür.

»Petka«, rief Tschapajews Stimme von draußen, »wo bist du denn?«

»Nirgendwo!« gab ich brummend zur Antwort.

»Oho!« jubelte Tschapajew unvermittelt auf. »Er hat's begriffen! Dafür gibt es gleich morgen eine lobende Erwähnung vor versammelter Mannschaft. Du weißt also Bescheid! Wozu hast du dich den ganzen Abend dumm gestellt?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Denk doch mal nach! Was siehst du gerade?«

»Das Kopfkissen«, sagte ich. »In Umrissen. Und ich will jetzt nicht wieder erklärt bekommen, daß es in meinem Bewußtsein steckt.«

»Alles, was wir sehen, steckt in unserem Bewußtsein, Petka. Darum ist es verfehlt zu sagen, unser Bewußtsein befände sich irgendwo. Wir sind nirgendwo, weil es einen Ort, von dem sich sagen ließe, daß wir uns an ihm befänden, einfach nicht gibt. Weißt du's wieder?«

»Tschapajew, ich wäre jetzt lieber allein«, sagte ich.

»Wie du meinst. Hauptsache, du bist morgen putzmunter. Wir haben am Mittag einen Auftritt.«

Die Dielen knarrten, was wohl bedeutete, daß Tschapajew sich über den Flur entfernte.

Eine Zeitlang hing ich seinen Worten nach: zunächst diesem »Nirgendwo«, dann seiner ominösen Ankündigung eines Auftritts am nächsten Tag. Es wäre ein leichtes gewesen, aus dem Zimmer zu rennen und ihm zu verkünden, ich könne leider nicht auftreten, denn ich sei »nirgendwo«. Aber dazu hatte ich keine Lust – eine bleierne Schläfrigkeit hatte sich meiner bemächtigt, alles übrige schien lästig und ohne Belang. Ich schlummerte ein und träumte ausführlich von Annas schmalen Fingern, wie sie über den gerippten Lauf ihres Maschinengewehrs glitten.

Ein neuerliches Klopfen an die Tür holte mich aus dem Traum.

»Tschapajew, ich hatte darum gebeten, mich in Ruhe zu lassen! Warum rauben Sie einem vor dem Gefecht den Schlaf?«

»Hier ist nicht Tschapajew«, sagte eine Stimme. »Kotowski.«

Ich stützte mich auf die Ellbogen.

»Was wünschen Sie?«

»Ich muß unbedingt mit Ihnen reden.«

Ich zog die Pistole aus der Tasche, legte sie auf das Bett und zog die Decke darüber. Der Teufel mochte wissen, was er von mir wollte. Ich ahnte, daß es etwas mit Anna zu tun haben mußte.

»Bitte, treten Sie ein.«

Die Tür ging auf, Kotowski kam herein. Er sah vollkommen anders aus als am Tage: Jetzt trug er einen Schlafrock mit Fransen, unter dem die gestreiften Beine eines Pyjamas hervorschauten. In der einen Hand hielt er einen Leuchter mit drei brennenden Kerzen, in der anderen eine Flasche Champagner und zwei Gläser. Der Anblick des Champagners bestärkte meine Vermutung, daß Anna sich bei ihm beschwert haben mochte.

»Nehmen Sie Platz.«

Ich wies auf einen Sessel.

Er stellte Leuchter und Champagner auf dem Tisch ab und setzte sich.

»Darf man bei Ihnen rauchen?«

»Bitte sehr.«

Nachdem die Zigarette entzündet war, machte Kotowski eine seltsame Handbewegung: Er fuhr sich mit gespreizten Fingern über den Schädel, als wollte er damit einige nicht vorhandene, in die Stirn gefallene Haarsträhnen zurückstreichen. Ich erinnerte mich, diese Geste schon einmal gesehen zu haben, und sogleich fiel mir ein, wo: in Tschapajews Panzerzug. Anna hatte damals ihre geschorenen Haare auf ganz ähnliche Art zu ordnen versucht. In mir blitzte der Gedanke auf, die beiden könnten zu einer obskuren, von Tschapajew angeführten Sekte gehören, und die Kahlköpfigkeit hinge mit gewissen Ritualen zusammen. Doch im nächsten Augenblick wurde mir klar, daß wir alle dieser Sekte angehörten – wir alle, die wir die über Rußland hereingebrochene Freiheit nebst der sie unausweichlich begleitenden Läuseinvasion ein neues Mal über uns ergehen lassen mußten. Ich lachte auf.

»Was ist?« fragte Kotowski und zog eine Braue nach oben.

»Ach, ich mache mir nur so meine Gedanken über das Leben heutzutage. Wir lassen uns kahlscheren, um nicht zu verlausen. Wer hätte das vor fünf Jahren für möglich gehalten? Es ist nicht zu fassen.«

»Merkwürdig«, sagte Kotowski, »ich habe auch gerade darüber nachgedacht. Was mit Rußland geschehen ist. Deshalb komme ich zu Ihnen. Es war so eine Eingebung. Ich muß mit jemandem darüber reden.«

»Über Rußland?«

»Exakt.«

»Was gibt es da zu reden«, sagte ich. »Ist doch alles sonnenklar.«

»Nein, ich meine: wer an alledem schuld hat.«

»Das kann ich nicht sagen. Was meinen denn Sie?«

»Die Intelligenzija. Wer sonst.«

Er reichte mir das gefüllte Sektglas.

»Der Intellektuelle«, sagte er, und sein Gesicht verfinsterte sich, »insbesondere der russische, der ja nie anders als auf fremde Kosten zu leben versteht, hat einen widerlichen, kindischen Zug. Er scheut sich nie, gegen das zu Felde zu ziehen, was ihm im Innersten recht und billig erscheint. So wie ein kleines Kind, dem es nichts ausmacht, seinen Eltern übel mitzuspielen, weil es weiß: Das Ärgste, was ihm passieren kann, ist, ein bißchen in der Ecke stehen zu müssen. Vor fremden Leuten hat es mehr Angst. Genauso verhält sich diese bescheuerte Klasse.«

»Ich kann Ihrem Gedanken nicht ganz folgen.«

»Der Intellektuelle kann die Grundfesten des Imperiums, das ihn hervorgebracht hat, noch so verhöhnen – daß darin eine Moral waltet, weiß er genau.«

»Ach ja? Wie das?«

»Wenn dieses moralische Gesetz nicht mehr gälte, wagte er es doch nie im Leben, diesen Brunnen zu besudeln. Ich habe erst neulich wieder Dostojewski gelesen. Wissen Sie, was ich dabei gedacht habe?«

Mir zuckte auf einmal die Wange.

»Was denn?«

»Das Gute ist seiner Natur nach unendlich gnädig. Überlegen Sie mal: Diese Scharfrichter von heute wären seinerzeit alle nach Sibirien geschickt worden, wo sie die frische Landluft atmen und den lieben langen Tag Hasen und Rebhühner hätten jagen dürfen. Nein, der Intellektuelle scheut sich nicht, Heiligtümer zu zertrampeln. Nur eines scheut er wie die Pest – das Böse und seine Wurzeln beim Namen zu nennen. Denn wenn er das täte, könnte es sein, daß man ihm umgehend einen Telegrafenmast in den Arsch rammt.«

»Deftiges Bild.«

»Was nicht etwa heißt, daß es ihm keinen Spaß macht, mit dem Bösen ein heimliches Spiel zu treiben«, fuhr Kotowski hitzig fort, »es ist ein Spiel ohne Risiko, und der Nutzen liegt auf der Hand. Von daher kommt dieses Freiwilligenheer von Spitzbuben, die absichtlich Oben und Unten und Links und Rechts umkehren, verstehen Sie? Alle diese gerissenen geistigen Zuhälter, diese windelweichen konstitutionellen Demokraten, verlotterten Anarchisten, mit Kokain vollgepumpten Sozialrevolutionäre, diese …«

»Ich versteh schon.«

Kotowski nippte am Sekt.

»Übrigens, Pjotr«, sagte er lässig, »weil wir gerade dabei sind: Es heißt, Sie hätten Kokain?«

»Ah ja«, sagte ich, »stimmt. Wo unser Gespräch es sozusagen von selbst hervorgespült hat.«

Ich fuhr mit der Hand in mein Köfferchen, zog die Dose hervor und stellte sie auf den Tisch.

»Bedienen Sie sich.«

Kotowski ließ sich nicht lange bitten. Die zwei weißen Häufchen, die er auf die Tischplatte streute, glichen veritablen Gebirgskämmen. Als die nötigen Verrichtungen absolviert waren, lehnte er sich in den Sessel zurück. Der Höflichkeit halber wartete ich ein Weilchen, ehe ich meine Frage stellte:

»Denken Sie oft an Rußland?«

»Als ich noch in Odessa wohnte, mindestens dreimal täglich«, sagte Kotowski mit dumpfer Stimme. »Manchmal so sehr, daß mir das Blut aus der Nase spritzte. Ich habe es mir dann abgewöhnt. Ich mag keine Abhängigkeiten.«

»Und wieso jetzt wieder? Hat Dostojewski Sie rumgekriegt?«

»Nein, nein«, sagte er. »Innere Kämpfe.«

Mir kam ein abwegiger Gedanke.

»Sagen Sie, Grigori, wieviel sind Ihnen Ihre Traber wert?«

»Wieso diese Frage?«

»Ich schlage einen Tauschhandel vor. Das halbe Döschen da gegen Ihr Gespann.«

Mich traf ein stechender Blick. Dann nahm Kotowski das Behältnis vom Tisch, schaute hinein und sagte:

»Sie sind ein Verführer, fürwahr. Wozu brauchen Sie meine Pferde?«

»Zum Ausfahren. Was dachten Sie.«

»Na schön«, sagte Kotowski, »ich bin einverstanden. Zufällig hab ich eine Apothekerwaage im Gepäck.«

»Nehmen Sie ruhig reichlich«, sagte ich. »Es ist mir in den Schoß gefallen.«

Er entnahm seiner Rocktasche ein silbernes Zigarettenetui, kippte die Papirossy aus, holte ein Taschenmesser hervor und schaufelte mit der Klinge einen Teil des Pulvers um.

»Wird da nichts herausfallen?«

»Keine Bange, das Etui stammt noch aus Odessaer Zeiten. Spezialanfertigung. Die Traber gehören Ihnen.«

»Ich danke Ihnen.«

»Stoßen wir an auf das Geschäft?«

»Gern«, sagte ich und hob mein Glas.

Kotowski trank aus, erhob sich, versenkte das Etui in der Rocktasche und ergriff den Leuchter.

»Also dann, ich danke Ihnen für das Gespräch. Und, bei Gott, nehmen Sie mir die nächtliche Belagerung nicht übel!«

»Gute Nacht. Gestatten Sie noch eine Frage? Da Sie schon selbst davon sprachen: Was sind das für innere Kämpfe, gegen die Kokain etwas ausrichten kann?«

»Im Vergleich zu Rußlands Drama eine Lappalie«, sagte Kotowski und verließ mit einem soldatisch knappen Nicken den Raum.

Ich konnte lange nicht einschlafen. Erst dachte ich an Kotowski, der, so mußte ich mir gestehen, einen angenehmen Eindruck auf mich gemacht hatte. Man spürte, er hatte Stil. Dann schweiften meine Gedanken zurück zu dem Gespräch mit Tschapajew. Vor allem dieses »Nirgendwo« beschäftigte mich. Auf den ersten Blick war alles ganz einfach. Er hatte mir die Frage vorgelegt, ob ich der Welt meine Existenz verdankte oder sie die ihre mir. Alles lief natürlich auf eine banale Dialektik hinaus, und doch hatte die Sache eine nicht geheure Nuance, die er mit seinen für den Moment idiotisch erscheinenden Fragereien nach dem Ort des Geschehens kunstgerecht ins Licht gerückt hatte. Wenn die ganze Welt in mir ihren Platz hat, wo existiere dann ich? Und existiere ich in der Welt – wo in ihr, an welchem ihrer Orte befindet sich mein Bewußtsein? Man hätte freilich behaupten können, daß die Welt genausogut in mir existierte wie ich in ihr, und es wären dies die zwei Pole eines Magneten. Der Witz war nur der, daß sich kein Nagel fand, an dem dieser Magnet, diese dialektische Dyade aufzuhängen war.

Sie durfte nirgendwo sein!

Denn für ihre Existenz brauchte es einen, in dessen Bewußtsein sie keimen konnte. Der aber durfte auch nirgendwo sein, jedes Irgendwo entstand im Bewußtsein, für das es wiederum keinen anderen Ort gab als den von ihm selbst geschaffenen … Wo aber war es, bevor es sich diesen Ort schuf? In sich? Ja freilich, aber wo?

Plötzlich fürchtete ich mich vor dem Alleinsein. Ich hängte den Uniformrock über die Schultern, ging hinaus auf den Korridor, erkannte im fahlblauen Licht des zum Fenster hereinscheinenden Mondes das Geländer der Treppe, die nach unten führte, und verließ das Haus.

Die ausgespannte Kutsche stand unweit des Portals. Ich lief ein paarmal um sie herum und freute mich an der elegant geschwungenen Silhouette, die im Mondlicht noch zauberhafter wirkte. Plötzlich schnaubte ganz in der Nähe ein Pferd. Ich wandte mich um und sah es. Tschapajew stand daneben und bearbeitete ihm mit einem Striegel die Mähne. Ich trat näher und blieb vor ihm stehen. Er sah mich an. Was er wohl sagen würde, so mein erster Gedanke, wenn ich ihn fragte, wo sein Nirgendwo zu finden sei? Er hätte dieses Wort zwangsläufig aus sich selbst heraus definieren müssen und damit im gleichen Dilemma gesteckt wie vorhin ich.

»Kannst wohl nicht schlafen?« fragte Tschapajew.

»Stimmt«, sagte ich. »Bin etwas daneben.«

»Was ist? Hast wohl nie vorher ins schwarze Loch geguckt?«

Mit dem schwarzen Loch war vermutlich jenes Nirgendwo gemeint, das mir heute tatsächlich erstmals im Leben so recht vor Augen getreten war.

»Ja«, erwiderte ich. »Es war das erste Mal.«

»Wo hattest du denn früher deine Augen?« wollte Tschapajew wissen, es klang mitfühlend.

»Wechseln wir lieber das Thema«, sagte ich. »Wo sind meine Traber?«

»Im Stall«, sagte Tschapajew. »Seit wann sind es deine?«

»Seit einer Viertelstunde ungefähr.«

Tschapajew ließ ein Brummen hören.

»Sei mit Kotowski bloß vorsichtig«, sagte er dann. »Er ist nicht so einfach zu nehmen, wie es scheint.«

»Ich weiß schon«, antwortete ich. »Wassili Iwanowitsch, Ihre Worte von vorhin gehen mir nicht aus dem Sinn. Sie können einen ganz schön in die Enge treiben.«

»Stimmt«, sagte Tschapajew und zog den Striegel heftig durch das verzwirbelte Pferdehaar, »das kann ich gut. Und dann halt ich drauf, rattatata …«

»Aber ich glaube, ich kann das auch«, sagte ich.

»Probier's.«

»Gut«, sagte ich. »Ich würde Ihnen auch gern ein paar Fragen stellen – zur Lage.«

»Mach nur, mach.«

»Dann also von vorn. Sie striegeln da gerade dieses Pferd. Wo befindet es sich?«

Mit großen Augen sah Tschapajew mich an.

»Was soll das, Petka, bist du jetzt ganz übergeschnappt?«

»Wieso?!«

»Da steht es doch.«

Einige Sekunden blieb ich stumm. Auf solch einen Konter war ich nicht gefaßt gewesen. Tschapajew schüttelte argwöhnisch den Kopf.

»Ich finde, Petka, du solltest schlafen gehen.«

Mit einem dümmlichen Lächeln zog ich mich zurück und ging ins Haus. Irgendwie fand ich bis zu meinem Bett, ließ mich hineinfallen und sackte Stück für Stück in den nächsten Alptraum, dessen Unausweichlichkeit mir schon im Treppenhaus bewußt geworden war.

Und er ließ nicht lange auf sich warten. Ich träumte von einem blauäugigen, blonden Mann, der mit Stricken an einen seltsamen Sessel gefesselt war, eine Art Zahnarztstuhl. Sein Name war mir im Traum bekannt, er hieß Serdjuk – und ich wußte, was ihm da geschah, stand demnächst auch mir bevor. Von Serdjuks Armen führten verschiedenfarbige Drähte zu einer auf dem Fußboden stehenden, bedrohlich wirkenden Maschine, die aussah wie ein Generator; irgendwie ließ der Traum die Ahnung zu, daß diese Maschine eine Ausgeburt meiner Phantasie war. Die Maschine besaß eine Kurbel, an der zwei Männer in weißen Kitteln drehten. Erst drehten sie vorsichtig, der Mann auf dem Stuhl zuckte nur ein wenig und biß sich auf die Lippen. Bald aber wirbelten sie geschwinder, und der Körper des Gefesselten wurde wellenweise von heftigen Krämpfen geschüttelt. Schließlich konnte er seine Zunge nicht mehr im Zaum halten. »Aufhören!« bettelte er.

Doch seine Peiniger drehten die Kurbel nur noch schneller. »Abschalten!« brüllte er aus Leibeskräften. »Den Dynamo abschalten, bitte! Den Dynamo! Dy-naaa-mooo!«