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Der Twerskoi-Boulevard war beinahe genau so, wie ich ihn vor zwei Jahren zum letztenmal gesehen hatte. Wieder Februar, Schneewehen und eine seltsam ins Tageslicht sickernde Finsternis. Auf den Bänken hockten dieselben reglosen Weiblein wie damals. Oben über dem schwarzen Geflecht der Zweige derselbe graue Himmel – eine alte, verschlissene Matratze, die unter dem Gewicht des schlafenden Gottes bis auf die Erde durchhing.

Einen Unterschied gab es allerdings. In diesem Winter fegte ein Schneesturm durch die Alleen, wie man ihn eigentlich nur aus den Steppen kannte, und wäre ich ein paar Wölfen begegnet, hätte mich das nicht gewundert. Der bronzene Puschkin erschien einem noch eine Spur trauriger als sonst – was wohl daher kam, daß ihm ein rotes Tuch mit der Aufschrift Es lebe der 1. Jahrestag der Revolution vor der Brust hing. Zu ironischen Betrachtungen darüber, daß hier ein Jahrestag zu leben aufgefordert und das Wort »Revolution« noch auf vorrevolutionäre Weise geschrieben war, verspürte ich keine Lust – hatte ich doch in letzter Zeit genug Gelegenheit gehabt, dem Dämonen, der sich hinter all diesem kurzgefaßten Stuß auf rotem Grund verbarg, ins Gesicht zu schauen.

Es dämmerte schon. Das Strastnoi-Kloster war im Schneegestöber kaum zu erkennen. Auf dem Platz davor standen, umwogt von einer Menschenmenge, zwei Lastwagen mit hohem, leuchtend rot bespanntem Verdeck; eine Sprecherstimme schallte herüber, ich verstand so gut wie nichts, doch der Tonfall und das wie ein Maschinengewehr hämmernde »Rrrr« in den Wörtern »Proletariat« und »Terror« ließen keinen Zweifel, worum es ging. Zwei betrunkene Soldaten überholten mich, Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten über den Schultern. Die Soldaten hatten es eilig, auf den Platz zu kommen, doch nach einem dreisten Blick zu mir herüber verlangsamte einer von ihnen den Schritt und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen; zum Glück (seinem und meinem) zerrte ihn der andere am Ärmel, und sie trollten sich.

Ich machte kehrt und lief rasch den Boulevard hinab, dabei grübelte ich, wieso dieses Pack bei meinem Anblick immer mißtrauisch wurde. Gekleidet war ich zugegebenermaßen unvorteilhaft und geschmacklos – ich trug einen schmutzigen englischen Mantel mit breitem Rückengurt, eine Militärmütze à la Alexander II. (natürlich ohne Kokarde) und Offiziersstiefel. An meinem Aufzug allein konnte es allerdings nicht liegen. Ringsum gab es genügend Leute, die weit wunderlicher aussahen als ich. Zum Beispiel hatte ich auf dem Twerskoi einen von allen guten Geistern verlassenen Herrn mit goldener Brille gesehen, der, eine Ikone vor sich her tragend, auf den düsteren, menschenleeren Kreml zustrebte – niemand schenkte ihm Beachtung. Ich hingegen zog in einem fort schräge Blicke auf mich, und jedesmal fiel mir ein, daß ich weder Geld noch Papiere besaß. Tags zuvor hatte ich mir auf dem Bahnhofsklosett eine rote Schleife an die Brust geheftet, doch sogleich wieder entfernt, als ich mich damit im gesprungenen Spiegel sah; mit der Schleife wirkte ich nicht nur bescheuert, sondern doppelt verdächtig.

Möglich außerdem, daß in Wahrheit keiner seinen Blick länger auf mir ruhen ließ als auf irgendeinem anderen; meine angespannten Nerven und die Angst vor der Verhaftung mochten schuld sein. Nicht, daß ich den Tod fürchtete. Vielleicht war er ja bereits eingetreten, so mein Gedanke, und dieser vereiste Boulevard, den ich entlangging, war der Vorhof zum Schattenreich. Sowieso hatte ich schon früher die Idee gehabt, daß die russischen Seelen den Styx wohl überqueren müssen, wenn er zugefroren ist, und die Münze bekommt nicht der Fährmann, sondern irgendein Herr in Grau, der einen Schlittschuhverleih betreibt (freilich von gleicher Mentalität).

In welcher Ausführlichkeit ich diese Szene plötzlich vor mir sah! Graf Tolstoi im schwarzen Trikot zog, weit die Arme schwingend, übers Eis, dem fernen Horizont entgegen; seine Bewegungen waren langsam und gravitätisch, doch lief er so geschwind, daß das dreiköpfige Hundevieh, das hinter ihm her war mit lautlosem Gebell, ihn nicht zu fassen vermochte. Ein strahlender Sonnenuntergang vollendete das Bild, in schmachtendem Rotgold, nicht von dieser Welt. Ich lachte in mich hinein. Im selben Moment fiel eine Hand auf meine Schulter.

Ich tat einen Schritt zur Seite, fuhr herum, während meine Finger in der Manteltasche nach dem Knauf des Revolvers suchten, und war verblüfft: Vor mir stand Grigori von Ernen – ein Freund aus Kindertagen. Doch wie sah er aus! Von Kopf bis Fuß in schwarzem Leder, das Pistolenhalfter an der Hüfte baumelnd, eine absurde Art Hebammenköfferchen in der Hand.

»Schön, daß du noch was zu lachen hast«, sagte er.

»Tag, Grigori«, erwiderte ich. »Komisch, dich zu sehen.«

»Wieso denn?«

»Nur so. Halt komisch.«

»Woher und wohin?« fragte er in munterem Ton.

»Ich komme grad aus Petersburg«, sagte ich. »Und wohin, das tät ich selber gern wissen.«

»Dann erst mal zu mir«, sagte Grigori. »Ich wohne um die Ecke, hab die ganze Wohnung für mich allein.«

Wir liefen ein Stück den Boulevard hinab, dabei musterten wir einander, grienten uns an und redeten sinnlos daher. Seit unserem letzten Zusammentreffen hatte Grigori von Ernen sich einen Bart stehen lassen, weshalb sein Gesicht einer gekeimten Zwiebel ähnelte; die Wangen waren rauh und gerötet, man konnte meinen, er hätte sich mehrere Winter in Folge auf Schlittschuhen gesund gelaufen.

Wir waren ans selbe Gymnasium gegangen, hatten uns danach aber nur noch selten gesehen. Ein paarmal traf ich ihn in den Petersburger literarischen Salons; er schrieb Gedichte, die ein bißchen nach Nekrassow klangen und ein bißchen nach Nadson – als dieser an Marx glaubte und jener der Sodomie frönte. Gestört hatte mich von Ernens Art, im Beisein anderer Kokain zu schnüffeln, und daß er beständig auf seine Verbindungen zu sozialdemokratischen Kreisen anspielte. Mit letzterem hatte er, so wie er jetzt aussah, wohl nicht gelogen. Es war aufschlußreich, an einem Mann, den man seinerzeit mit Vorliebe vom mystischen Sinn der Hl. Dreifaltigkeit hatte reden hören, Zeichen zu gewahren, die seine Zugehörigkeit zu den Heerscharen der Finsternis erkennen ließen. Doch kam ein solcher Wandel natürlich nicht überraschend. Etliche Dekadente vom Schlage eines Majakowski hatten den offen satanischen Charakter der neuen Macht gewittert und sich ihr darum unverzüglich angedient. Wobei ich allerdings glaube, daß kein eingefleischter Satanismus sie dazu trieb (dafür waren sie viel zu infantil), sondern ihr ästhetischer Instinkt: Das rote Pentagramm paßte prächtig zu Majakowskis gelbem Jäckchen.

»Wie sieht's aus in Petersburg?« fragte Grigori.

»Als ob du das nicht selber wüßtest«, sagte ich.

»Stimmt«, versetzte Grigori gleichmütig. »Das weiß ich selber.«

Wir bogen vom Boulevard ab, überquerten eine gepflasterte Straße und standen gleich darauf vor einem respektablen siebenstöckigen Wohnhaus, direkt gegenüber dem »Palace«-Hotel, vor dessen Eingang zwei Maschinengewehre, rauchende Matrosen und ein langer Pfahl mit knatternder roter Muleta standen. Von Ernen zupfte mich am Ärmel.

»Sieh mal«, meinte er.

Ich drehte den Kopf. Auf dem Pflaster vor dem Hauseingang stand ein langes, schwarzes Automobil mit offener Fahrerbank und gestutzter Kabine. Die Vordersitze waren vom Schnee ordentlich zugeweht.

»Und?«

»Das ist meiner«, sagte Grigori. »Mein Dienstwagen.«

»Aha«, sagte ich. »Gratuliere.«

Wir traten ins Haus. Der Fahrstuhl funktionierte nicht, wir mußten die düstere Treppe benutzen, von der sie den Läufer noch nicht weggerissen hatten.

»Was treibst du so?« fragte ich.

»Oh«, sagte Grigori, »wie soll ich das so schnell erklären. Viel Arbeit, zuviel sogar. Das geht zack, zack, zack, man kommt kaum hinterher. Mal hier, mal da. Jemand muß es ja machen.«

»Auf dem Kultursektor, oder wie?«

Er neigte irgendwie unbestimmt den Kopf zur Seite. Ich fragte lieber nicht weiter.

Im vierten Stock angekommen, näherten wir uns einer hohen Tür, auf der sich deutlich das helle Viereck des abgerissenen Namensschilds abhob. Die Tür ging auf, wir traten in einen dunklen Flur, und augenblicklich schellte das Wandtelefon. Grigori nahm ab.

»Jawohl, Genosse Babajasin«, brüllte er in die schwarze Ebonitmuschel. »Ja, ich weiß, den brauchen Sie nicht extra … Genosse Babajasin, das kann ich nicht, das ist doch lächer… Stellen Sie sich vor, wie peinlich das … noch dazu mit den Matrosen. Was? Zu Befehl, aber ich protestiere entschieden. Was?«

Er schielte zu mir herüber, und um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen, ging ich ins Wohnzimmer.

Der Boden lag dort voller Zeitungen, von denen die meisten längst verboten waren – hier gab es anscheinend noch ganze Jahrgänge. Auch andere Spuren früheren Lebens waren zu besichtigen. An der Wand hing ein prachtvoller türkischer Teppich, darunter stand ein Sekretär mit verschiedenfarbigen Emaillerhomben – bei seinem Anblick war mir sofort klar, daß eine wohlhabende Familie aus Kreisen der Konstitutionellen Demokratie hier gewohnt haben mußte. An der gegenüberliegenden Wand gab es einen großen Spiegel, daneben hing ein Kruzifix im Jugendstil. Ich hielt mich kurz bei der Frage auf, welcherart religiöses Gefühl dazu wohl passen mochte. Viel Raum nahm ein riesiges Bett mit gelbem Baldachin ein. Was auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers beieinanderstand, erschien mir – vielleicht der Nachbarschaft zum Kruzifix wegen – wie ein christlich-esoterisch angehauchtes Stilleben: eine Literflasche Wodka, eine Dose türkischer Honig in Herzform, ein ins Nichts führendes Treppchen aus drei übereinanderliegenden Stücken Schwarzbrot, drei geschliffene Trinkgläser und ein kreuzförmiger Dosenöffner.

Beim Spiegel lagen mehrere Bündel auf dem Boden, die nach Schmugglerware aussahen; im Zimmer roch es säuerlich, nach Fußlappen und Schnaps, etliche leere Flaschen standen herum. Ich setzte mich an den Tisch.

Bald darauf knarrte die Tür, und Grigori trat ein. Er legte die Lederjacke ab; das Hemd darunter wirkte betont soldatisch.

»Der Teufel weiß, was die wollen«, sagte er, während er sich setzte. »Ein Anruf von der Tscheka.«

»Arbeitest du für die?«

»So wenig wie möglich.«

»Wie bist du überhaupt in diese Gesellschaft geraten?«

Grigori von Ernen grinste breit.

»Nichts leichter als das. Ein Fünfminutengespräch mit Gorki am Telefon, das war alles.«

»Und die Mauser und das Auto haben sie gleich mitgeliefert?«

»Ach, weißt du«, sagte er, »das Leben ist bekanntlich ein Theater. Wovon aber viel seltener die Rede ist: An diesem Theater wird jeden Tag ein neues Stück gespielt. Und ich stell da jetzt eine Inszenierung auf die Beine, Pjotr, ich kann dir sagen.«

Er hob die Hände über den Kopf und schüttelte sie, als müßte er die Münzen in einem unsichtbaren Beutel zum Klingen bringen.

»Es geht nicht mal um das Stück«, sagte er. »Wenn wir den Vergleich weiter bemühen wollen, dann durfte früher jeder im Saal sein faules Ei auf die Bühne schmeißen. Jetzt aber wird Tag für Tag von der Bühne runtergeschossen, da kann auch schon mal ein Bömbchen fliegen. Und du mußt wissen, was du lieber sein möchtest, mein Lieber: Schauspieler oder Zuschauer?«

Das war eine ernst zu nehmende Frage.

»Was soll ich dazu sagen«, dachte ich laut vor mich hin. »Klingt mir zu sehr nach Stanislawski: Theater fängt schon an der Garderobe an und so. Bei euch hängt man am Ende selber am Haken, schätze ich mal. Und die Zukunft«, dozierte ich und stieß den Zeigefinger in die Luft, »gehört sowieso der Kinematographie!«

Grigori kicherte und schüttelte den Kopf.

»Denk trotzdem über meine Worte nach«, sagte er.

»Versprochen«, erwiderte ich.

Er goß sich einen Wodka ein und trank.

»Puh«, sagte er. »Weil wir grad beim Theater sind. Weißt du, wer neuerdings Theater-Kommissar ist? Madame Malinowskaja. Ihr kennt euch doch, nicht wahr?«

»Nicht daß ich wüßte. Wer war noch mal Madame Malinowskaja?«

Grigori gab einen Seufzer von sich. Er stand auf und lief schweigend durch das Zimmer. Schließlich setzte er sich wieder vor mich hin und sah mir in die Augen.

»Pjotr. Wir reißen hier in einem fort unsere Witzchen, dabei sehe ich doch, daß mit dir was nicht stimmt. Was ist passiert? Wir sind alte Freunde, das ist mal klar, aber davon abgesehen könnte ich dir vielleicht behilflich sein.«

Ich gab mir einen Ruck.

»Ich will dir reinen Wein einschenken. Vor drei Tagen hatte ich in Petersburg unangenehmen Besuch.«

»Wer?«

»Leute aus deinem Theater.«

»Und wieso das?« fragte er und riß die Augen auf.

»Ganz einfach. Drei aus der Gorochowaja waren da, einer hat sich als Literaturfunktionär vorgestellt, die anderen beiden hatten es anscheinend nicht nötig, sich vorzustellen. Das Ganze hat vierzig Minuten gedauert, geredet hat hauptsächlich dieser Funktionär, und am Ende hieß es: Das Gespräch mit Ihnen ist sehr interessant, wir reden an anderer Stelle weiter. Ich hatte aber keine Lust, zu der anderen Stelle hinzugehen, von da kommen bekanntlich die wenigsten wieder.«

»Aber du bist ja offensichtlich wiedergekommen«, unterbrach mich Grigori.

»Irrtum«, sagte ich, »ich bin gar nicht erst mitgegangen. Ich bin abgehauen, Grigori. So wie früher vorm Hauswart, weißt du noch?«

»Aber was wollten sie denn von dir?« fragte er. »Du hast doch mit Politik nichts am Hut. Irgendwas verzapft?«

»Gar nichts. Einfach lachhaft. Ich hab ein Gedicht veröffentlicht, auch noch in der falschen Zeitung, wie sie meinten, da gab es einen Reim, der ihnen nicht gefallen hat: ›Panzerzug‹ und ›wie ein Spuk‹. Kannst du dir das vorstellen?«

»Worum ging es denn in dem Gedicht?«

»Ach, völlig abstrakt. Es ging um den Strom der Zeit, der die Mauern des Jetzt unterspült, und immer neue Muster zeichnen sich darauf ab, wovon wir einen Teil Vergangenheit nennen. Das Gedächtnis will uns glauben machen, daß das Gestern wirklich war, doch woher soll man wissen, ob das Gedächtnis insgesamt nicht erst entstand im ersten Morgensonnenstrahl?«

»Versteh ich nicht ganz«, sagte Grigori.

»Ich auch nicht«, antwortete ich, »aber das ist egal. Ich will damit nur sagen: Das hatte nicht die Bohne mit Politik zu tun.

Zumindest schien es mir bis dahin so. Ihnen schien es anders, das haben sie mir klargemacht. Und das Furchtbare ist, nach dem Gespräch mit diesem Fachberater ging mir ihre Logik plötzlich ein – so tief rein, und ich kriegte einen solchen Schreck, daß ich, als sie mich abführten, weggelaufen bin. Gar nicht mal vor denen, eher vor dem Gedanken, daß …«

Grigori von Ernen runzelte die Stirn.

»Die ganze Geschichte ist Humbug«, sagte er. »Das sind Idioten, soviel ist mal klar. Aber du bist auch gut. Kommst du wegen diesem Quatsch nach Moskau gefahren?«

»Was blieb mir anderes übrig? Ich hab auf der Flucht zurückgeschossen. Dir kann ich vielleicht noch erklären, daß ich auf ein Gespenst geschossen hab, ein Hirngespinst meiner Angst, aber erklär das mal den Tschekisten aus der Gorochowaja. Und selbst wenn ich es erklären könnte, käme mit Sicherheit die nächste Frage: Wieso schießen Sie eigentlich auf Gespenster? Behagen Ihnen die Gespenster nicht, die in Europa umgehen?«

Grigori blickte mich an und verfiel ins Grübeln. Ich schaute auf seine Hände – ganz langsam zog er sie zurück, flach gegen das Tischtuch gepreßt, so als wollte er den ausgebrochenen Schweiß abwischen, dann waren sie plötzlich unter dem Tisch. Verzweiflung stand Grigori im Gesicht geschrieben; ich spürte, daß unsere Begegnung und mein Bericht ihn in eine äußerst peinliche Lage brachten.

»Das ist natürlich schon schlechter«, murmelte er. »Immerhin gut, daß du dich mir anvertraust. Ich denke, die Sache kriegen wir ins Lot. Das kriegen wir hin, das kriegen wir hin. Ich werd gleich nachher Gorki anrufen. Hände hoch!«

Die letzten Worte begriff ich erst, als ich den Pistolenlauf auf dem Tischtuch liegen sah. Und sonderbar: Als nächstes holte Grigori den Kneifer aus der Brusttasche und klemmte ihn sich auf die Nase.

»Hände hoch!« sagte er noch einmal.

»Grigori, was soll das?« fragte ich und hob die Hände.

»Nein«, sagte er.

»Was nein?«

»Waffe und Papiere auf den Tisch, basta.«

»Wie soll ich das machen, wenn ich die Hände oben habe?«

Er spannte den Hahn seiner Pistole.

»Ach herrje«, sagte er, »wenn du wüßtest, wie oft ich diesen Satz schon gehört habe.«

»Na und?« sagte ich. »Der Revolver ist im Mantel. Was bist du für ein unglaublicher Schuft. Aber das wußte ich schon als kleiner Junge. Wozu machst du das alles? Geben sie dir einen Orden dafür?«

Grigori grinste wieder.

»In den Flur«, sagte er.

Als wir im Flur standen, wühlte er, mit der Pistole weiter auf mich zielend, in meinen Manteltaschen, zog den Revolver hervor und steckte ihn ein. Seine Bewegungen hatten etwas verschämt Hastiges, so wie ein Gymnasiast sich benimmt, der zum erstenmal in ein Freudenhaus kommt, und ich fragte mich, ob es vielleicht wirklich zum erstenmal war, daß er eine Schuftigkeit so frech und unverhohlen beging.

»Sperr die Tür auf«, befahl er, »und dann raus auf die Treppe.«

»Laß mich wenigstens den Mantel anziehen«, sagte ich und überlegte fieberhaft, ob ich irgend etwas auf Lager hatte, was diesen von seiner eigenen Niedertracht berauschten Menschen noch umstimmen und den sich abzeichnenden Gang der Dinge aufhalten konnte.

»Wir haben es nicht weit«, sagte Grigori, »nur über die Straße. Aber von mir aus, zieh ihn an.«

Ich nahm den Mantel mit beiden Händen vom Haken, drehte mich ein wenig, um den Arm in den Ärmel zu schieben, und im nächsten Moment, ganz unerwartet für mich selbst, warf ich den Mantel auf Grigori von Ernen – schleuderte ihn nicht einfach in seine Richtung, sondern stülpte ihn regelrecht über den Mann.

Bis heute ist mir nicht klar, warum von Ernen mich nicht abgeknallt hat. Tatsache ist, daß er den Schuß erst auslöste, als er unter dem Gewicht meines Körpers zu Boden ging; die Kugel, die wenige Zentimeter neben meiner Hüfte vorbeiging, schlug in die Wohnungstür ein. Der gestürzte Grigori steckte mit dem Kopf im Mantel, und ich bekam durch den dicken Stoff hindurch seine Kehle zu fassen. Der Mantel störte kaum; mit dem Knie konnte ich das Gelenk der Hand, die die Pistole umklammert hielt, gegen den Boden pressen; bevor seine Finger sich lösten, pflanzte er noch ein paar Kugeln in die Wand. Von dem Knallen wurde ich fast taub. Und dennoch meine ich noch heute das leise Knacken zu hören, mit dem zwischen zwei Schüssen der Kneifer zerbrach – ich muß ihm im Handgemenge meinen Kopf in das verhüllte Gesicht gestoßen haben.

Als er sich nicht mehr rührte, konnte ich mich lange nicht entschließen, seine Kehle loszulassen. Meine Hände gehorchten mir kaum; um wieder Luft zu bekommen, mußte ich eine Atemübung beginnen. Ihre Wirkung war seltsam – ein leichter Anfall von Hysterie bemächtigte sich meiner. Ich sah die ganze Szenerie plötzlich von der Seite: Da sitzt jemand auf der Leiche seines erwürgten Freundes und atmet konzentriert nach der in der letzten Nummer der »Isis« beschriebenen Methode des Yogi Ramasharaki. Ich stellte mich auf die Füße, und in diesem Moment wurde mir bewußt, daß ich soeben einen Mord begangen hatte.

Natürlich trug ich – wie jeder, der den Machthabern nicht restlos traute – immer einen Revolver mit mir herum, und erst vor zwei Tagen hatte ich ihn seelenruhig in Gang gesetzt. Das hier aber war etwas anderes, hier wurde düsterster Dostojewski gespielt: die leere Wohnung, die von einem englischen Mantel bedeckte Leiche und die Tür hinaus in die feindlich gesonnene Welt, und womöglich steuerten schon irgendwelche Müßiggänger auf diese Tür zu. Ich riß mich zusammen und verscheuchte die Gedanken – Dostojewski steckte selbstverständlich weder in der Leiche noch in der Tür mit dem Einschußloch, sondern in mir selbst, meinem von den Reuemetastasen fremder Leute lädierten Bewußtsein.

Ich öffnete die Wohnungstür einen Spalt und lauschte einige Sekunden nach draußen. Nichts war zu hören. Ein paar Pistolenschüsse regten anscheinend keinen mehr auf.

Mein Revolver steckte noch in Grigoris Hosentasche, und ich hatte absolut keine Lust, ihn von da hervorzukramen. Also hob ich seine Mauser auf und besah sie mir. Es war ein hervorragendes Gerät, nagelneu. Ich überwand mich und wühlte in seiner Jacke. Es fanden sich eine Schachtel »Ira«-Papirossy, ein Reservemagazin für die Mauser und ein Tscheka-Ausweis, ausgestellt auf den Namen Grigori Ernenzoff. Ja, dachte ich, natürlich. Man hatte es schon damals ahnen können.

Ich ging in die Hocke und öffnete den Verschluß seines Hebammenköfferchens. Darin lagen eine Mappe mit Blanko-Haftbefehlen, zwei weitere Magazine, ein Blechdöschen voll mit Kokain, außerdem eine Art OP-Zange, die so widerwärtig aussah, daß ich sie sofort in eine Ecke schleuderte, sowie ein Packen Geldscheine – obenauf die regenbogenfarbigen Hundertrubelnoten der Reichsduma, zuunterst die Dollarscheine. Alles in allem sehr nützliche Dinge. Um mich nach dem Schock etwas aufzurichten, stopfte ich mir eine gehörige Menge Kokain in die Nasenlöcher. Das fuhr ins Hirn wie ein Messer, und ich wurde sofort ruhig. Zwar mochte ich Kokain nicht besonders (es machte mich immer so sentimental), jetzt aber hatte ich allen Grund, möglichst rasch zu mir zu kommen.

Ich griff Grigori von Ernen unter die Arme, zerrte ihn auf den Flur, öffnete mit dem Fuß die Tür zu einem der anderen Zimmer und wollte ihn dort hineinschleifen, doch im Türrahmen hielt ich inne. Trotz Plünderung und Verwüstung konnte man die Zeichen des alten, sonnigen Vorkriegslebens hier noch deutlicher erkennen. Es war das einstige Kinderzimmer: Längs der Wand standen zwei bambusvergitterte Bettchen, mit Kohle war ein Pferd an die Tapete gezeichnet, dazu ein bärtiges Gesicht (ich mußte komischerweise sofort an die Dekabristen denken). Auf dem Fußboden lag ein roter Gummiball. Kaum daß ich ihn erblickt hatte, schloß ich die Tür und zog den Leichnam weiter. Das benachbarte Zimmer frappierte durch seine pietätische Schlichtheit – in der Mitte stand ein schwarzer Flügel mit offenem Deckel, daneben ein Drehhocker, das war alles.

In diesem Augenblick nahm ein neuartiges Gefühl von mir Besitz. Ich ließ Grigori von Ernen halb sitzend in der Ecke lehnen (die ganze Zeit, während ich ihn umherbugsierte, hatte ich peinlich darauf geachtet, daß sein Gesicht nicht unter dem grauen Mantel hervorsah) und setzte mich an den Flügel. Merkwürdig, dachte ich, Genosse Ernenzoff ist anwesend und doch nicht mehr da. Wer mochte wissen, welche Verwandlungen seine Seele gerade erfuhr? Ein Gedicht von ihm fiel mir ein, das vor drei Jahren im »Neuen Satyricon« abgedruckt worden war: Dem Anschein nach gab es nur den Leitartikel zur Auflösung der letzten Duma wieder, doch als Akrostichon stand zu lesen: Mene tekel ufarsin. Und da lag er nun. Gewogen und zu leicht befunden. Wie seltsam.

Ich drehte mich zum Flügel und begann leise Mozart zu spielen, meine geliebte Fuge in f-Moll, bei der ich immer bedauerte, daß ich nicht über die vier Hände verfügte, von denen der berühmte Exzentriker geträumt haben mußte. Die Melancholie, die mich beschlich, hatte mit dem Exzeß um Grigori von Ernen nichts zu tun; vor meinem inneren Auge erschienen die beiden Bambusbettchen von nebenan, und einen Moment lang versetzte ich mich in die fremde Kindheit, blickte mit den reinen Augen eines kleinen Menschen in den Abendhimmel, eine unaussprechlich rührende Welt, die ins Nichts entschwebt war. Ich spielte allerdings nicht lange – das Instrument war verstimmt, außerdem mußte ich mich sputen. Die Frage war nur: wohin?

Es war höchste Zeit, mir darüber klarzuwerden, wie ich den Abend zu verbringen gedachte. Ich ging zurück in den Flur und betrachtete zweifelnd Grigoris Lederjacke. Mir blieb nichts anderes übrig. Einige meiner literarischen Versuche mochten gewagt sein – so dekadent, einen bereits zum Leichentuch gewordenen Mantel anzuziehen, den noch dazu ein paar kreisrunde Löchlein am Rücken zierten, war ich nun wieder nicht. Ich nahm die Jacke vom Haken, griff mir das Köfferchen und trat in das Zimmer, wo der Spiegel war.

Die Lederjacke erwies sich als passend – der Tote und ich waren etwa von gleicher Statur. Als ich den Gurt mit dem baumelnden Pistolenhalfter umgeschnallt hatte und mich im Spiegel betrachtete, sah ich einen stinknormalen Bolschewiken vor mir stehen. Hätte ich nun noch die an der Wand liegenden Bündel untersucht, wäre ich vermutlich im Handumdrehen ein reicher Mann gewesen. Der Ekel war stärker. Sorgfältig lud ich die Pistole nach und überprüfte, ob sie leicht genug aus dem Halfter glitt. Es war in Ordnung. Gerade wollte ich das Zimmer verlassen, da erklangen Stimmen im Flur. Mir fiel ein, daß die Wohnungstür die ganze Zeit offengestanden hatte.

Ich stürzte zum Balkon. Er ging auf den Twerskoi-Boulevard hinaus. Unter mir schätzungsweise zwanzig Meter kalte, dunkle Leere, in der die Schneeflocken tanzten. Im Lichtfleck der Laterne sah ich Grigoris Auto stehen; auf dem Fahrersitz hockte, unklar, woher so plötzlich, ein Mann mit Bolschewikenkappe. Offenbar hatte Grigori vorhin per Telefon seine Kollegen von der Tscheka herbestellt. Auf den nächstunteren Balkon zu klettern war unmöglich, ich stürzte zurück ins Zimmer. Es wurde schon an die Tür getrommelt. Na schön. Einmal mußte die ganze Geschichte ein Ende haben. Ich richtete die Mauser auf die Tür und brüllte: »Herein!«

Die Tür ging auf, zwei Matrosen in Seemannsjacken und Hosen mit unzüchtig weitem Schlag, die Gürtel behängt mit Handgranaten stürmten ins Zimmer: der eine, schnurrbärtig, schon in den Jahren, der andere jung, doch mit welkem, blutleerem Gesicht. Die Pistole in meiner Hand schien sie nicht im geringsten zu stören.

»Bist du Ernenzoff?« fragte der Ältere mit dem Schnurrbart.

»Ja.«

»Da nimm!« sagte der Matrose und hielt mir ein doppelt gefaltetes Stück Papier hin.

Ich steckte die Mauser zurück und entfaltete es.

»Genosse Ernenzoff! Fahren Sie unverzüglich zur Spieldose, und setzen Sie dort unsere Linie durch. Zur Verstärkung schicke ich Sherbunow und Barbolin mit. Erfahrene Genossen. Babajasin«

Der Stempel unter dem Text war nicht zu entziffern. Während ich noch überlegte, was zu sagen war, hatten die beiden schon am Tisch Platz genommen.

»Ist das dort unten euer Chauffeur?« fragte ich.

»Genau«, sagt der Schnurrbärtige. »Wir nehmen aber dein Auto. Wie war noch mal dein Name?«

»Pjotr«, sagte ich und hätte mir im selben Moment beinahe die Zunge abgebissen.

»Ich bin Sherbunow«, sagt der Alte.

»Barbolin«, stellte sich der Jüngere vor. Seine Stimme war sanft, beinahe wie die einer Frau.

Ich setzte mich ihnen gegenüber. Sherbunow goß drei Gläser Wodka ein, reichte mir eines davon und blickte mich an. Mir schien, er wartete auf etwas.

»Also«, sagte ich und hielt mich an dem Glas fest, »auf den Sieg der Weltrevolution, wie man so sagt!«

Mein Toast schien sie nicht sonderlich zu begeistern.

»Mit dem Sieg, das geht schon klar«, sagte Barbolin. »Wie steht's mit dem Schnee?«

»Welchem Schnee?« fragte ich und sah aus dem Fenster.

»Spiel nicht den Doofen«, wies mich Sherbunow streng zurecht. »Babajasin hat uns gesagt, du hättest heute ein Döschen abbekommen.«

»Ach so, ihr redet von Kokain!« erriet ich und holte das Döschen aus dem Koffer. »Schnee ist ein gar vieldeutiges Wort, Genossen. Woher soll ich wissen, daß euch nicht nach den Schneemasken von Alexander Block gelüstet.«

»Wer ist das?« fragte Barbolin, während er das Blechdöschen in seine breite, grobe Hand nahm.

»Ein Petersburger Genosse.«

»Hm«, brummte Sherbunow argwöhnisch, während sich in Barbolins Gesicht sekundenlang jene Empfindung spiegelte, die die russischen Maler des neunzehnten Jahrhunderts, wenn sie Typen aus dem Volk darstellten, mit Vorliebe auf ihren Bildern verewigten: Da gibt es irgendwo die große, rätselhafte Welt und so viel Unbegreifliches und Lockendes in ihr – nicht, daß du etwa im Ernst dort hinwolltest, nein, aber dann und wann so ein bißchen vom Unerfüllbaren träumen, das magst du gern.

Alle Anspannung war wie weggeblasen. Sherbunow öffnete das Döschen, nahm ein Messer vom Tisch, schaufelte damit eine beängstigende Menge des Pülverchens und rührte es flink in den Wodka. Barbolin tat es ihm nach – zuerst mit seinem Glas, dann mit meinem.

»Jetzt kann man auf die Weltrevolution anstoßen, ohne sich zu schämen!« sagte er.

Mir stand wohl der Zweifel im Gesicht geschrieben, denn Sherbunow sagte grinsend:

»Alter Brauch vom Kreuzer ›Aurora‹, mein Junge, aus erster Quelle sozusagen. Nennt sich baltischer Tee.«

Sie hoben das Glas, kippten den Inhalt in einem Zug hinter, und mir blieb nichts weiter übrig, als ihrem Beispiel zu folgen. Der Hals wurde mir fast augenblicklich taub. Ich steckte eine Papirossa an, tat einen tiefen Zug, konnte den Rauch aber nicht schmecken. Etwa eine Minute lang saßen wir schweigend.

»Wir müssen«, meinte Sherbunow plötzlich und stand vom Tisch auf. »Iwan friert sonst fest.«

In seltsamer Erstarrung steckte ich das Bonbondöschen zurück in den Koffer, erhob mich und ging den beiden nach. Eine Weile suchte ich im Korridor nach meiner Mütze, fand sie nicht und setzte mir deshalb Grigori von Ernens Schirmmütze auf. Wir verließen die Wohnung und stiegen wortlos die im Halbdunkel liegende Treppe hinab.

Auf einmal wurde mir bewußt, wie ruhig ich war, wie leicht ich mich fühlte – je weiter ich ging, um so ruhiger und leichter. Mich scherte nicht, was da auf mich zukam, es reichte mir, daß nicht unmittelbar Gefahr drohte, und während ich durch das düstere Treppenhaus lief, freute ich mich an der Pracht der Schneeflocken, die draußen vor den Scheiben tanzten. Wenn man es recht bedachte, war ich selbst nichts anderes als eine Schneeflocke, und der Wind des Schicksals trug mich vorwärts, den zwei anderen Schneeflöckchen hinterdrein, die in ihren schwarzen Jacken die Treppe hinunterstapften. Im übrigen hinderte mich die plötzlich hereingebrochene Euphorie nicht daran, nüchtern meine Umgebung zu betrachten, wobei ich eine interessante Beobachtung machte. Schon in Petersburg hatte ich mich immer gefragt, wie sich die schweren, gefüllten Patronengurte auf den Leibern der Matrosen hielten. Auf dem Treppenabsatz zur zweiten Etage, wo eine einsame Glühlampe brannte, entdeckte ich auf Sherbunows Rücken mehrere Häkchen, mit denen die MG-Streifen nach dem Büstenhalterprinzip aneinanderhingen. Ich malte mir aus, wie Sherbunow und Barbolin, zwei Fräuleinchen im Schwimmbad gleich, einander bei ihrem schwierigen Ankleidemanöver halfen, wenn das nächste Morden anstand. Ein weiterer Beweis für die weibliche Natur aller Revolutionen, wie mir schien. Plötzlich konnte ich ein paar von Alexander Blocks jüngsten Launen nachvollziehen. Dabei entrang sich meiner Kehle wohl ein emphatisches Stöhnen, denn Barbolin wandte sich um.

»Und du Esel wolltest erst nicht«, sagte er, sein Goldzahn blitzte.

Wir traten hinaus auf die Straße. Barbolin sagte etwas zu dem auf der Vorderbank des Wagens sitzenden Soldaten, öffnete den Schlag, und wir zwängten uns hinein. Das Auto fuhr augenblicklich an. Durch das in den Ecken abgerundete vordere Kabinenfenster sah man den verschneiten Rücken und die spitze Filzmütze des Fahrers; man hätte meinen können, daß ein Ibsenscher Troll unseren Trupp chauffierte. Die Konstruktion des Wagens war äußerst unkomfortabel und wohl auch demütigend für den, der fuhr und Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt war – vielleicht war dies absichtlich so gemacht, damit die Fahrgäste sich nicht nur am Blick durch das Fenster in die schöne Natur, sondern auch am Klassenunterschied weiden konnten.

Ich sah zum Seitenfenster hinaus. Die Straße war leer und der auf das Pflaster niedergehende Schnee ungewöhnlich schön. Nur hin und wieder beschienen Laternen die weiße Pracht; eine von ihnen warf Licht auf ein schwungvoll gemaltes Graffito an einer Hauswand: LENINE EST MERDE.

Als der Wagen bremste, war ich schon wieder ein wenig nüchterner. Wir krochen hinaus auf eine Straße, die ich nicht kannte; vor uns ein unscheinbarer Eingang, in dessen Nähe zwei, drei Autos und ein paar Droschken parkten; etwas weiter entfernt sah ich einen furchterregenden Panzerwagen mit Schneehäubchen auf dem Geschützturm stehen; ehe ich ihn näher in Augenschein nehmen konnte, waren meine beiden Matrosen schon im Hausflur verschwunden. Wir durchquerten einen unaussprechlich deprimierenden Hof und standen alsbald vor einer Tür, über der ein kleines gußeisernes Schutzdach mit Schnörkeln und feisten Amoretten prangte. Daran hing ein kleines Schild:

 

SPIELDOSE
Literarisches Cabaret

 

Mehrere mit rosaroten Vorhängen verhüllte Fenster gleich neben der Tür waren erleuchtet; der schwermütige Wohlklang eines fremdartigen Instruments drang zu uns heraus.

Sherbunow riß die Tür auf. Dahinter lag ein kurzer Gang, der voller schwerer Pelze und Mäntel hing; an seinem Ende gab es eine dicke Samtportiere. Ein Mann mit Verbrechergesicht im roten Stehkragenhemd erhob sich von seinem Schemel und eilte auf uns zu.

»Genossen Matrosen«, begann er, »wir haben …«

Mit einer artistischen Bewegung ließ Barbolin sein Gewehr von der Schulter schwingen und stieß dem Mann den Kolben in den Unterleib. Der Arme flog gegen die Wand und rutschte von da auf den Fußboden; Abscheu und Überdruß malten sich auf seinem bösen Gesicht. Sherbunow zog den Vorhang beiseite, und wir traten in den schummrigen Saal.

Sofort, noch im ersten Umsehen, spürte ich einen überraschenden Zustrom von Energie. Die Lokalität machte den Eindruck eines durchschnittlichen Mittelklasserestaurants, das einen gewissen Schick für sich in Anspruch nahm. An den kleinen, runden Tischen saß zwischen dichten Rauchschwaden ein recht buntes Publikum. Irgendwer schien Opium zu rauchen.

Auf uns achtete niemand, und wir nahmen an einem leeren Tischchen unweit des Eingangs Platz.

Vorn im Saal war eine hellerleuchtete Bühne, dort saß auf einem mit schwarzem Samt bezogenen Schemel, die Beine übereinandergeschlagen, ein kahlköpfiger, befrackter Herr. An einem Fuß fehlten Strumpf und Schuh. Der Geigenbogen in der rechten Hand des Künstlers fuhr über die stumpfe Seite einer langen Blattsäge. Einen der Griffe preßte er mit dem Fuß gegen den Boden, während er den anderen in der linken Faust gepackt hielt und die Säge damit bog und zum Schwingen brachte. Wollte er das Vibrato seines blitzenden Sägeblatts dämpfen, drückte er kurz mit dem bloßen Fuß dagegen; der schwarze Lackschuh, aus dem ein blendend weißer Socken hervorschaute, stand in der Nähe. Der Klang, den der Herr seinem Instrument entlockte, war nicht von dieser Welt, betörend und wehmütig; der Mann schien irgendeine simple Melodie zu spielen, doch auf sie kam es nicht an – alles hing am Timbre, an den Modulationen des einzelnen, langsam ersterbenden Tones, der einem direkt zu Herzen ging.

Die Portiere am Eingang bewegte sich, und der Mann im roten Hemd schob sich herein. Er schnipste mit den Fingern ins Dunkle und deutete auf unseren Tisch, dann drehte er sich zu uns herum, tat eine knappe, förmliche Verbeugung und verschwand wieder hinter dem Vorhang. Sofort tauchte von irgendwoher ein Kellner auf, mit Tablett in der einen und Kupferteekessel in der anderen Hand (solche Kessel standen auch auf den anderen Tischen). Auf dem Tablett waren ein Teller Piroggen, drei Teegläser und eine winzige Trillerpfeife. Der Kellner baute die Gläser vor uns auf, goß aus dem Kessel ein und verharrte erwartungsvoll. Ich reichte ihm eine Banknote, die ich aufs Geratewohl aus dem Köfferchen gezogen hatte – ich glaube, es war ein Zehndollarschein. Wozu die Pfeife auf dem Tablett lag, war mir zunächst unklar, doch da ertönte von einem der Nachbartische ein leiser, melodischer Pfiff, und der Kellner eilte ihm entgegen.

Sherbunow nippte aus seinem Glas und brummte unzufrieden vor sich hin. Ich tat einen Schluck aus meinem. Es war Chansha, schlechter chinesischer Hirsebranntwein. Ich nahm eine Pirogge und fing an zu kauen, obwohl ich keinerlei Geschmack spürte – das Kokain, das meinen Gaumen narkotisiert hatte, wirkte noch.

»Was ist in den Piroggen drin?« fragte Barbolin mit seiner sanften Stimme. »Soll vorkommen, daß Leute von hier verschwinden. Zuviel Gefräßigkeit könnte einem leid tun.«

»Ich hab schon probiert«, sagte Sherbunow ungerührt. »Schmeckt wie Rindfleisch.«

Den Gedanken weiterzuspinnen fehlte mir die Kraft; ich holte das Döschen hervor, und Barbolin übernahm es, drei gerechte Portionen in die Gläser zu verteilen.

Unterdessen war der Mann im Frack mit seinem Spiel zu Ende gekommen, flink und elegant zog er Strumpf und Schuh an, stand auf, verbeugte sich, ergriff seinen Schemel und verließ unter spärlichem Applaus das Podium. An einem Tisch gleich neben der Bühne erhob sich ein würdiger graubärtiger Herr, um dessen Hals, wie um eine Bißwunde zu verbergen, ein grauer Schal geschlungen war. Verblüfft erkannte ich in ihm den gealterten, abgemagerten Dichter Waleri Brjussow. Er stieg auf die Bühne und wandte sich an den Saal:

»Genossen! Zwar leben wir heute in einer visuellen Epoche, wo die auf Papier abgesetzte Textzeile verdrängt wird von einer halben Bildfolge, um nicht zu sagen, hä …« – hier rollte er mit den Augen, machte eine Pause, und es war klar, daß man jetzt auf einen seiner idiotischen Kalauer gefaßt sein mußte – »um nicht zu sagen, von den Folgen der Halbbildung, hä …, doch gibt die Tradition nicht klein bei und sucht sich neue Formen. Dostojewskis unsterbliche Helden inspirieren die jungen Heißsporne nach wie vor, gleich, ob mit oder ohne Hackebeil. Was Sie heute abend sehen werden, darf ich als markantes Beispiel für die Kunst des egoumbilizistischen Postrealismus bezeichnen. Zur Aufführung kommt eine kleine Tragödie, in einem, hä … in einem Schuß, hä, geschrieben von Kammerdichter Johann Pawluchin, der höchstselbst sein Werk dem tragödischen Fach zugeordnet sehen möchte. Erleben Sie also nun die kleine Tragödie ›Raskolnikow und Marmeladow‹. Bitteschön.«

»Bitteschön«, echote Sherbunow, und wir tranken.

Brjussow ging ab und kehrte zu seinem Tisch zurück. Zwei Männer in Militäruniform trugen eine riesige vergoldete Lyra mit Ständer aus den Kulissen heraus auf die Bühne, dazu einen Schemel. Anschließend brachten sie einen Tisch, stellten eine bauchige Likörflasche nebst zwei Gläsern darauf ab und hängten am Bühnenhintergrund zwei Pappschilder mit den Namen »Raskolnikow« und »Marmeladow« auf (die Endungen wieder in alter Schreibweise, eine noch dazu falsch, und ich entschied sofort, daß dies absichtlich so dastand und eine symbolische Bedeutung hatte), dazwischen kam noch ein Schild mit der rätselhaften, auf ein blaues Fünfeck gemalten Inschrift ЙХВЙ. Nach getaner Arbeit verschwanden die beiden Männer. Eine Frau im langen Chiton trat aus den Kulissen, setzte sich an die Lyra und begann bedächtig die Saiten zu zupfen. So vergingen einige Minuten.

Dann traten vier Männer in langen, schwarzen Mänteln auf. Ein jeder kniete in Schützenstellung nieder und hob den schwarzen Mantelsaum, um sein Gesicht vor den Zuschauern zu verbergen. Jemand klatschte. Zu beiden Seiten der Bühne erschien je eine Gestalt auf hohen Kothurnen, mit langem weißen Chlamys und griechischer Maske. Die beiden schritten langsam aufeinander zu und verharrten, ehe sie sich ganz erreicht hatten. Dem einen hing an rosenumrankter Schlaufe ein Beil an der Seite, und ich verstand, das sollte Raskolnikow sein. Wobei man es auch ohne Beil hätte verstehen können, denn auf seiner Höhe hing das Schild mit dem Namen. Der Schauspieler, der vor dem Schild »Marmeladow« Aufstellung genommen hatte, hob langsam die Hand und begann in hohem, singendem Tonfall:

»Also, ich bin Marmeladow. Mal eben
ganz im Vertrauen: Fi-ni-to. Juchhei!
Ich hab so manches gesehen im Leben,
aber ein Lichtblick war niemals dabei.

Falls Euch nicht stört, daß ich mich offenbare,
und Euch der Mief armer Leute nicht schreckt:
Wollt Ihr ein Schlückchen vom Branntwein?« –
»Bewahre!«

Die Antwort des mit dem Beil bewaffneten Mimen erfolgte mit ebenso singender Stimme, allerdings im Baß; dabei hob er die Hand und streckte sie Marmeladow abwehrend entgegen, welcher sich hastig etwas ins Glas goß und durch das Loch in der Maske kippte, worauf er fortfuhr:

– »Dann eben nicht. Sehr zum Wohl! Mit Respekt:
Ihr seid ja auch nicht ganz koscher, vermut ich.
Zugeknöpft scheint Euer lächelnder Mund,
Blaß ist die Stirn, und die Hände sind blutig.
Sei's drum! Ich sah jedenfalls keinen Grund,
in meinem Innern die gähnende Leere,
in meinem Kopf das gefräßige Loch
hinter Blasiertheit und …« – »Habe die Ehre!«
– »… Schliff zu verstecken. He, wartet doch noch!«

Sherbunow stieß mich mit dem Ellbogen in die Seite. »Wollen wir?« fragte er leise.

»Es ist noch zu früh«, erwiderte ich flüsternd. »Sehen wir weiter.«

Sherbunow nickte ehrerbietig. Das Geschehen auf der Bühne ging seinen Gang, Marmeladow sprach:

»Hört, ich geb zu, ohne Maske ist's schlimmer!
Jedes Erwachen: ein Blutsturz beinah.
Wie mit dem Beil übern Kopf ist das immer!
Könnt Ihr mir folgen, mein Lieber?« – »Oh, ja.«
– »Drum ist das Tor meiner Seele vergittert.
Drinnen ist's finster und klamm wie im Sarg.
Und diese Leichen im Keller … Ihr zittert?«
– »Bitte! Was wolln Sie? Ich finde es arg!«
– »Ich? Was ich will? Soll ich's wirklich schon sagen?
Nicht vielleicht vorher ein Gläschen Likör?«
– »Gnädiger Herr, mich empört Ihr Betragen!
Welch Penetranz! Wie der letzte Frisör!
Also, adieu.« – »Laßt mich bitte gewähren!
Einen Moment noch, mein Freund! Alldieweil …«
– »Würden Sie mir jetzt gefälligst erklären,
was Ihr Begehr ist?« – »Verkauft mir das Beil!«

Unterdessen hatte ich mich im Saal umgeschaut. An den runden Tischen saßen sie zu dreien oder vieren; das Publikum war sehr gemischt, doch waren, wie es in der Geschichte der Menschheit alleweil zu sein pflegt, schweinsgesichtige Spekulanten und teuer ausstaffierte Huren in der Überzahl. An einem Tisch mit Brjussow saß Alexej Tolstoi, der, seit ich ihn zum letztenmal gesehen hatte, deutlich dicker geworden war; anstelle der Krawatte trug er eine große Schleife. Man konnte meinen, das an ihm aufgeschwemmte Fett wäre zuvor aus dem nun spindeldürren Brjussow abgesogen worden. Sie ergaben ein gespenstisches Paar.

Als ich den Blick weiterwandern ließ, bemerkte ich einen sonderbaren Menschen in mehrfach gegürteter, schwarzer Uniformbluse und mit aufgezwirbeltem Schnurrbart. Er saß allein an seinem Tisch und hatte anstelle des Kupferkessels eine Flasche Sekt vor sich stehen. Mir schien er irgendein hohes bolschewistisches Tier zu sein; ich weiß nicht, was an seinem energischen Gesicht, seiner gelassenen Miene so ungewöhnlich war, daß ich die Augen für einige Sekunden nicht von ihm losreißen konnte. Erst als sich unsere Blicke trafen, drehte ich mich rasch zur Bühne, wo der sinnlose Wortwechsel immer weiterging:

»Was? Wozu das?« – »Ach, ich tat's gern besitzen.
Symbolisiert es doch auch unser Sein.
Ihr könnt Euch notfalls ein neues stibitzen.
Stehlen und Hehlen vertragen sich fein!«
– »Oh, welche Anspielung! Himmel, ich ahne!
Ob er von hinter der Tür … Oder gar …«
– »Ach, Rodion, Ihr seid mir ein Titane!
Schafskopf mit Beil. Dabei ist mir das klar.
Jugend geht immer die kürzeren Pfade,
Sucht im Vergänglichen sich ihr Pläsier,
Lachen und Lieben und Zimtlimonade,
Spiel mit der Schlinge. Was wollt Ihr dafür?«
– »Darf ich Sie fragen, was Sie mit dem Beil …« – »Ich
sagte doch: Fetisch, Magie, Gral und Ring,
Mondphasen, Zen, Egregoren – wie heilig
ist mir das alles. Gebt her schon das Ding.«
– »Ist mir zu hoch. Doch von mir aus. Hier bitte.«
– »Endlich! Welch Glanz! Wie ein Blitz ins Gestein!
Zehn?« – »Lieber zwanzig.« – »Unmöglich. Die Mitte?«
– »Recht so. Zwölf, fünfzehn. Wir sind überein.
Trotzdem ein Jammer. Riecht ziemlich nach Schwindel.
Wenn ich nur wüßte … Was soll's. Mir egal.
Daß einer achthat auf jedes Gesindel,
ist ganz unmög— Wie mir wird auf einmal!
Schwer sind die Füße, so trocken die Lippen.
Zugluft im Seelenwrack. Horcht! Etwas naht …
Alles gerät um mich her wie ins Kippen …
Und dieser Mann da … Ich weiß keinen Rat!
Hat eine Maske auf! Ha! Wer steckt drunter?
Aus jedem Auge ein glühender Pfeil!
Runter die Maske! Na, mach schon!«

Marmeladow hielt still. Eine lange, unheilverkündende Pause entstand.

 

»Herrrunter!«

 

Mit einem Ruck riß Marmeladow sich die Maske herunter, wobei ihm gleichzeitig das an der Maske befestigte Gewand vom Körper glitt – zum Vorschein kam eine Frau, nur mit Spitzenhöschen und Büstenhalter bekleidet, die eine Silberperücke mit Rattenschwänzen trug.

 

»Himmel! Die Alte. Und ich ohne Beil.«

 

Raskolnikow sprach diese Worte kaum hörbar und stürzte von der Höhe seiner Kothurnen zu Boden.

Was nun geschah, ließ mich wohl erbleichen. Zwei Geiger sprangen auf die Bühne und spielten wie besessen eine Zigeunerweise – schon wieder Block! dachte ich –, während die Marmeladowsche ihren Umhang auf den gefällten Raskolnikow warf, ihn im nächsten Augenblick rittlings besprang und zu würgen begann, wobei sie aufgeregt mit dem spitzenbehäkelten Hintern wackelte.

Im ersten Moment meinte ich, das Geschehen entspränge einer monströsen Verschwörung, und alle Anwesenden sähen zu mir herüber. Wie gehetzt schaute ich in die Runde, begegnete wieder dem Blick des schnurrbärtigen Mannes in der schwarzen Bluse und war mir plötzlich aus irgendeinem Grund sicher, daß er über Grigori von Ernens Tod Bescheid wußte, ach, daß er von Dingen wußte, die mich noch ungleich schwerwiegender betrafen.

Ich war nahe daran aufzuspringen und wegzulaufen, nur mit ungeheurer Willensanstrengung hielt ich mich auf dem Stuhl. Das Publikum spendete trägen Beifall; manche lachten und zeigten mit dem Finger auf die Bühne, die meisten aber blieben ganz ihren Gesprächen und dem Wodka zugeneigt.

Als Raskolnikow erwürgt war, kam die Frau mit der Perücke an den Bühnenrand gesprungen und fing zum aberwitzigen Spiel der beiden Geigen zu tanzen an, warf die nackten Beine zur Decke und schwang das Beil. Die vier Männer in Schwarz, die die ganze Szene in Reglosigkeit durchgehalten hatten, packten den vom Umhang bedeckten Raskolnikow und trugen ihn hinter die Kulissen. Mich beschlich die Ahnung, daß dies ein Zitat aus dem »Hamlet« sein sollte, wo ganz am Ende von vier Hauptleuten die Rede ist, die den toten Prinz wegzutragen haben; seltsamerweise war es dieser Gedanke, der mich augenblicklich zur Besinnung brachte. Das Ganze, begriff ich, war nicht gegen mich gerichtet (so schnell hätte keiner das zu inszenieren vermocht), sondern eine gewöhnliche mystische Provokation. Ich beschloß sogleich, sie anzunehmen, und wandte mich meinen beiden Matrosen zu, die in sich gekehrt neben mir saßen.

»Stopp, Leute. Das ist Verrat.«

Barbolin blickte mich verständnislos an.

»Scheiß Engländerin!« warf ich hin, so wie es mir gerade einfiel.

Anscheinend ergaben diese Worte für Barbolin einen Sinn, denn er zog sich sofort die Flinte von der Schulter. Ich hielt ihn zurück.

»Nicht so, Genosse. Warte einen Moment.«

Auf der Bühne war inzwischen wieder der Herr mit der Säge erschienen, hatte auf seinem Schemel Platz genommen und zog sich feierlich den Schuh aus. Ich öffnete mein Köfferchen, entnahm ihm einen Bleistift und eines der Haftbefehlsformulare; die klagenden Töne der Säge bezirzten mich, stachelten mich an, und binnen weniger Minuten war der passende Text fertig.

»Was schreibst du da zusammen?« fragte Sherbunow. »Willst du wen verhaften?«

»Nicht doch«, sagte ich. »Wenn, müßten wir alle miteinander einsacken. Wir machen das anders. Weißt du noch, Sherbunow, wie der Befehl lautet? Wir haben hier nicht nur einzuschreiten, wir haben die Linie durchzusetzen, stimmt's?«

»Stimmt«, sagte Sherbunow.

»Na also«, sagte ich, »darum gehst du mit Barbolin jetzt hinter die Kulissen. Und ich geh auf die Bühne, die Linie durchsetzen. Wenn ich damit fertig bin, geb ich das Signal, und ihr kommt raus. Wir führen denen jetzt mal die Musik der Revolution vor.«

Sherbunow klopfte mit dem Finger an sein Glas.

»Nein, Sherbunow«, sagte ich hart, »du kannst sonst nicht arbeiten.«

In Sherbunows Blick flammte etwas auf, das wie Kränkung aussah.

»Wie kommst du darauf?« flüsterte er. »Traust du mir nicht? Ich … ich tät' mein Leben geben für die Revolution!«

»Ich weiß, Genosse«, sagte ich, »aber Kokain gibt's hinterher. Vorwärts.«

Die Matrosen standen auf und gingen zur Bühne – mit festen, ausladenden Schritten, so als hätten sie nicht dieses Parkett, sondern das schwankende Deck eines in Sturm geratenen Panzerkreuzers unter den Füßen; in diesem Moment empfand ich für sie beinahe so etwas wie Sympathie. Über das seitliche Bühnentreppchen verschwanden sie hinter den Kulissen. Ich kippte mir den Rest Chansha mit Kokain in den Rachen, stand gleichfalls auf und ging zu dem Tisch, an dem Tolstoi und Brjussow saßen. Das erregte Aufsehen. Herrschaften und Genossen! dachte ich, während ich gemessenen Schrittes den merkwürdig unruhig gewordenen Saal durchquerte, auch ich hatte heute die Ehre, über eine gewisse Leiche zu gehen, doch es wird euch nicht gelingen, mir mit ihren eingebildeten Händen die Luft abzudrücken. Ach, soll doch der Teufel diesen ewigen Dostojewski holen, diese unendliche Heimsuchung des russischen Menschen! Und den russischen Menschen gleich mit, der nichts anderes um sich wähnt als immer nur Dostojewski!

»Guten Abend, Herr Brjussow! Gönnen Sie sich ein bißchen Erholung?«

Brjussow zuckte zusammen und starrte einige Sekunden, ohne mich gleich zu erkennen. Dann erschien auf seinem eingefallenen Gesicht ein ungläubiges Lächeln.

»Pjotr«, fragte er, »sind Sie das? Freut mich von Herzen, Sie zu sehen. Setzen Sie sich doch ein Momentchen zu uns.«

Ich nahm Platz. Etwas verlegen begrüßte ich Tolstoi – wir kannten uns kaum, obwohl wir uns in der Redaktion des »Apollo« öfters begegnet waren. Tolstoi war völlig betrunken.

»Wie geht's?« fragte Brjussow. »Haben Sie etwas Neues geschrieben?«

»Keine Zeit für so was, Herr Brjussow.«

»Ja«, sagte Brjussow gedehnt, während seine Augen über meine Lederjacke mit der Mauser huschten, »das ist wohl wahr. Mich hat es ja auch … Aber ich wußte gar nicht, daß Sie zu uns gehören, Pjotr. Ihre Gedichte habe ich immer sehr geschätzt, besonders Ihr erstes Bändchen, die ›Verse des Hauptmann Lebjadkin‹, na, und natürlich die ›Gesänge vom Königreich Ich‹. Aber man konnte ja nicht ahnen, daß … Sie hatten es ja immer so mit Pferden und Kaisern und diesem ganzen China.«

»Conspiration, Herr Brjussow«, sagte ich. »Das Wort klingt vielleicht ein bißchen übertrieben, nur …«

»Verstehe«, sagte Brjussow, »verstehe vollkommen. Aber so etwas habe ich immer geahnt, das können Sie mir glauben. Sie haben sich jedenfalls verändert, Pjotr. So ungestüm … Diese blitzenden Augen … Haben Sie übrigens schon die ›Zwölf‹ von Block gelesen?«

»Hab's mir angeschaut.«

»Und, was meinen Sie?«

»Die Symbolik des Finales leuchtet mir nicht ganz ein«, sagte ich, »wieso muß ausgerechnet Christus der rotgardistischen Patrouille vorangehen? Will Block die Revolution etwa ans Kreuz nageln?«

»Jaja«, sagte Brjussow hastig, »darüber haben Aljoscha und ich auch gerade gesprochen.«

Als Tolstoi seinen Namen hörte, öffnete er die Augen und ergriff sein Glas, das leer war. Er tastete auf dem Tisch nach der kleinen Pfeife und setzte sie an die Lippen, doch es kam kein Pfiff, statt dessen fiel ihm der Kopf wieder auf die Brust.

»Dem Vernehmen nach«, sagte ich, »hat er den Schluß schon geändert. Jetzt läuft ein Matrose vornweg.«

Brjussow dachte einen Augenblick nach, dann sprühten seine Augen.

»Ja«, sagte er, »das ist echter. Das ist präziser. Und Christus geht hinten! Er ist unsichtbar und geht am Ende, schleift sein schiefes Kreuz durch die Schneewehen!«

»Ja«, sagte ich. »Und er geht noch dazu in die falsche Richtung.«

»Meinen Sie?«

»Da bin ich mir sicher«, sagte ich und dachte daran, daß Sherbunow und Barbolin hinter dem Vorhang bestimmt schon eingeschlafen waren. »Herr Brjussow, ich hab eine Bitte an Sie. Könnten Sie bekanntgeben, daß als nächstes der Dichter Ernenzoff revolutionäre Gedichte liest?«

»Ernenzoff?« fragte Brussow nach.

»Mein Parteideckname«, erläuterte ich.

»Ach so«, nickte Brjussow, »das ist originell! Da bin ich selbst ganz Ohr.«

»Das würde ich Ihnen nicht raten. Besser wäre, Sie verließen sofort das Lokal. Hier gibt es gleich eine kleine Schießerei.«

Brjussow wurde blaß und nickte. Weiter fiel kein Wort. Als die Säge verklungen war und der Frackträger seinen Schuh wieder angezogen hatte, stand Brjussow auf und erklomm die Bühne.

»Es war heute«, sprach er, »schon von der allerneuesten Kunst die Rede. Einen weiteren Beitrag zu diesem Thema entbietet uns nun der Dichter Ernenzoff« – Brjussow konnte sich nicht zurückhalten und rollte wieder mit den Augen – »hä, nicht zu verwechseln, bitteschön, mit Erika von Heidenzoff, hä, also, der Dichter Ernenzoff mit seinen revolutionären Versen hat das Wort. Bitteschön!«

Geschwind kam er herunter, zeigte ein zerknirschtes Lächeln und hob die Hände, dann packte er Tolstoi, der sich nur schwach zur Wehr setzte, beim Kragen und zerrte ihn zum Ausgang. In diesem Moment glich er einem pensionierten Lehrer, der einen widerspenstigen, dummen Wolfshund an der Leine hinter sich herzog.

Ich betrat die Bühne. Vorn am Rand stand noch der Samtschemel, der mir sehr zupaß kam. Ich stellte den bestiefelten Fuß darauf und blickte hinunter in den verstummten Saal. Die Gesichter, die ich erkennen konnte, verschmolzen zu einem einzigen, das liebedienernd und nichtsdestoweniger frech zu mir heraufsah, eine erstarrte Grimasse unterwürfiger Selbstzufriedenheit – es war, ganz ohne allen Zweifel, das Gesicht der alten Wucherin, von anderem Fleisch und Blut zwar, doch lebendig wie ehedem. Unweit der Bühne saß Johann Pawluchin, ein langmähniger Kretin mit Monokel; neben ihm, piroggenkauend, ein pickliges, dickes Frauenzimmer mit großen roten Schleifen in den scheckigen Haaren – anscheinend war das Madame Malinowskaja, die Theater-Kommissarin. Wie ich sie alle haßte in diesem langen Augenblick!

Ich zog die Mauser aus dem Gürtelhalfter, hob sie über den Kopf, dann räusperte ich mich, setzte ein ausdrucksloses Gesicht auf und las, wie ich es von früher gewohnt war, ohne jede Betonung, nur mit kurzen Pausen zwischen den Quartetten, das gerade geschriebene Gedicht von dem Tschekaformular ab.

Revolutionäres Kampfsonett

Genossen Kämpfer! Unsere Trauer ist grenz-
enlos. Gemeuchelt wurde Genosse Ernen-
zoff. So steht unsere operative Tscheka
mit einem guten Bolschewiken weniger da.

Die Sache war so. Er kam vom Vollstrek-
ken, und als er sich eine Zigarette ansteck-
te, zog ein konterrevolutionärer Hampelmann
seine Pistole und legte an.

Genossen! Es dröhnte ein Schuß aus der Mau-
ser. Er traf in die Stirne. Ernenzoff sah rot.
Zerquetschen wollte er diese Laus noch.
Doch er fiel um und war mausetot.

Genossen Kämpfer! Schließt die Reihen, Schluß mit
dem Geplärre!
Krieg dem weißen Gesindel! Wir singen den revolutionären
Terror!

Mit diesen Worten schoß ich auf den Kronleuchter, der Schuß ging daneben.

Doch umgehend krachte es zu meiner Rechten noch einmal, der Kronleuchter barst, und ich sah Sherbunow, neben mir kniend, sein Gewehr nachladen. Er gab noch ein paar Schüsse in den Zuschauerraum ab, wo die Leute bereits schrien, zu Boden fielen und sich hinter den Säulen versteckten, als Barbolin aus den Kulissen trat. Schwankend lief er nach vorn zum Bühnenrand, jaulte auf und schmiß eine Handgranate in den Saal. Ein grellweißer Blitz flammte auf, es donnerte gewaltig, ein Tisch kippte um; in der Stille, die darauf eintrat, hörte man ein verwundertes Stöhnen. Eine peinliche Pause entstand; um sie halbwegs zu überbrücken, schoß ich noch ein paarmal an die Decke und sah plötzlich wieder diesen seltsamen Mann in der schwarzen Bluse am Tisch sitzen, ungerührt nippte er aus seinem Glas und schien zu lächeln. Ich kam mir dämlich vor.

Sherbunow ballerte erneut in den Saal.

»Aufhören!« brüllte ich.

Sherbunow murmelte etwas in seinen Bart, das klang wie »du hast mir gar nichts zu sagen«, hängte sich das Gewehr jedoch über die Schulter.

»Wir gehen«, sagte ich, drehte mich um und ging hinter die Kulissen.

Ein paar Leute, die dort standen, stoben bei unserem Erscheinen auseinander. Ich lief mit Sherbunow durch einen dunklen Flur, der etliche Biegungen machte, bis wir endlich auf den Hinterausgang stießen; einen Augenblick später standen wir auf der Straße, wo man gleichfalls vor uns das Weite suchte. Wir gingen zum Auto. Nach der Stickigkeit des verräucherten Saales wirkte die klare, frostige Luft auf mich wie Äther – mir drehte sich der Kopf, ich war plötzlich todmüde. Der Chauffeur saß, reglos wie zuvor, unter einer dicken Schicht Schnee auf dem Vordersitz. Ich öffnete die Tür zum Verschlag und wandte mich um.

»Wo ist eigentlich Barbolin?« fragte ich.

»Kommt gleich«, sagte Sherbunow grinsend, »hat noch was zu erledigen.«

Ich kroch ins Auto, ließ mich auf den Sitz fallen und schlief augenblicklich ein.

Geweckt wurde ich durch das Kreischen einer Frau, und ich sah Barbolin aus der Seitenstraße kommen, die auf Bilderbuchart strampelnde Jungfer in Spitzenhöschen und verrutschter Rattenschwanzperücke auf den Armen.

»Rück ein Stück, Genosse«, sagte Sherbunow zu mir, als er in den Verschlag gekrochen kam, »wir kriegen Verstärkung.«

Ich rückte nach außen. Sherbunow beugte sich zu mir und sagte mit überraschender Wärme in der Stimme:

»Ich hab dich nicht gleich verstanden, Petka, hab dir nicht ins Herz geschaut. Du bist in Ordnung, hast eine feine Rede gehalten.«

Ich brummte etwas und schlummerte wieder ein.

Im Halbschlaf hörte ich die Frau kichern und die Bremsen quietschen, hörte Sherbunow finster fluchen und Barbolin zischen wie eine Schlange – anscheinend stritten sie sich um das arme Ding. Dann kam das Auto zum Stehen. Ich hob den Kopf und sah das verschwommene, unwirkliche Gesicht Sherbunows vor mir.

»Schlaf nur, Petka«, sprach das Gesicht mit hallender Stimme, »wir steigen hier aus. Wir haben noch was mit dem Paten zu bereden. Iwan fährt dich nach Hause.«

Ich äugte aus dem Fenster. Wir standen auf dem Twerskoi-Boulevard, vor dem Stadtpolizeipräsidium. Sachte und in großen Flocken fiel der Schnee. Barbolin und die bibbernde halbnackte Frau standen schon draußen auf der Straße. Sherbunow drückte mir die Hand und stieg aus. Das Auto fuhr wieder los.

Mit einemmal fühlte ich heftig, wie einsam und schutzlos ich war auf dieser gefrorenen Welt, deren Bewohner es darauf abgesehen hatten, mich in die Gorochowaja zu bringen oder mir die Seele mit Hexensprüchen zu verdunkeln. Gleich morgen früh, dachte ich, werd ich mir eine Kugel in die Stirn jagen. Das letzte, was ich vor mir sah, ehe ich endgültig in die schwarze Grube der Besinnungslosigkeit hinabfuhr, war das schneebedeckte Gitter der Straßenbegrenzung – während das Auto wendete, erschien es ganz dicht vor dem Fenster.