Anmerkung des Herausgebers

Dem aufmerksamen Leser fallen möglicherweise kleine Unstimmigkeiten bei den Figuren dieser Stories auf. Ihre Sprechweise, ihre Darstellung bestimmter Ereignisse, und ihre Ansichten, wer in der Stadt mehr oder weniger zu sagen hat, variieren von Zeit zu Zeit.

DAS SIND JEDOCH KEINE UNSTIMMIGKEITEN!

Der Leser sollte diese scheinbaren Widersprüchlichkeiten noch einmal genauer betrachten und dabei dreierlei bedenken:

Erstens: Jede Geschichte wird aus einer anderen Sicht erzählt, und jeder sieht und hört die Dinge eben ein bißchen anders. Selbst augenscheinliche Tatsachen werden durch Wahrnehmung und Standpunkt des einzelnen beeinflußt. So wird beispielsweise ein Spielmann ein Gespräch mit einem Magier anders wiedergeben als ein Dieb, der dasselbe Gespräch mit anhörte.

Zweitens: Die Bürger von Freistatt sind zwangsläufig mehr als nur ein bißchen paranoid. Sie neigen dazu, im Gespräch manche Dinge entweder ganz zu übersehen oder abzuwandeln. Sie tun das eher automatisch als vorsätzlich, weil es für das Überleben in dieser Gesellschaft notwendig ist.

Drittens: In Freistatt ist der Konkurrenzkampf groß. Man wird z. B. nicht angeheuert, wenn man von vornherein zugibt, »der zweitbeste Schwertkämpfer der Stadt« zu sein. Man schneidet also nicht nur auf, was die eigene Person betrifft, sondern setzt auch seinen gefährlichsten Rivalen herab oder ignoriert ihn. F olg-lich variiert die Rangordnung in Freistatt je nachdem, wer erzählt - oder mehr noch, wem man glaubt.

Wie es zur Diebeswelt kam

Robert Lynn Asprin

Es war eine dunkle, stürmische Nacht ...

Nein, dieser Donnerstagabend vor dem Boston-Con 1978 war in Wirklichkeit sehr nett. Lynn Abbey, Gordy Dickson und ich setzten uns zu einem gemütlichen Dinner im Mermaid-Restaurant des Bostoner Sheraton zusammen, um uns für das Chaos zu stärken, das bei einem größeren Science-Fiction-Con unausbleiblich ist.

Wie häufig, wenn mehrere Autoren zwanglos zusammensitzen, kam das Gespräch bald auf das Schreiben im allgemeinen, und im besonderen auf damit verbundene Probleme und so allerlei, über das der eine oder andere sich ärgerte. Um nicht hinter meinen Tischgenossen zurückzustehen, brachte ich zur Sprache, was mich persönlich immer wieder wurmte: daß man beim Verfassen von heroischer Fantasy immer erst ganz von vorn beginnen und ein eigenes Universum schaffen mußte, egal welche Phantasiewelten schon bekannt waren. Trotz der so sorgfältig gezeichneten hyborischen Welt Howards oder gar der so erfreulich komplexen Stadt Lankhmar, die Leiber erschaffen hatte, werde von jedem Autor erwartet, daß er sich den Kopf zerbreche und eine eigene Welt erfinde. Stellt euch vor, sagte ich, wie es wäre, wenn unsere Schwert-undMagie-Lieblingshelden alle denselben Hintergrund hätten und ihre Abenteuer in der gleichen Epoche erlebten! Stellt euch die Möglichkeiten für unsere Stories vor! Die Verknüpfungen! Was wäre ...

Angenommen Fafhrd und dem Mausling ist gerade ein toller Streich gelungen. Eine wütende Meute ist ihnen auf den Fersen. Aber sie entkommen ihr auf ihre berüchtigte Weise, indem sie Haken schlagen. Stellen wir uns nun vor, dieser aufgebrachte, fackelschwingende Mob stößt auf Conan, der verschwitzt und müde nach einem langen Tagesmarsch ist, weil sein Pferd es nicht mehr schaffte. Er wünscht sich im Augenblick nichts weiter als eine Kanne Wein und eine willige Schankmaid. Statt dessen sieht er sich einer wilden Menschenmenge gegenüber, die Köpfe rollen sehen möchte. Was ist, wenn die Sattelbeutel, die er auf dem Rücken schleppt, voll mit Beute von einem seiner eigenen Unternehmen sind?

Oder was wäre, wenn Kane und Elric den Befehl über zwei gegeneinander kämpfende Armeen übernähmen?

Solche Möglichkeiten sind grenzenlos, erklärte ich. Ich schenkte Wein nach und gestand, daß ich mit dem Gedanken spielte, ein Lieblingsprojekt zu verwirklichen. Es handelte sich dabei um eine Sammlung von Fantasy-Storys mit nicht einem, sondern mehreren Haupthelden. Diese Storys sollten alle in etwa am selben Ort handeln und die einzelnen Helden sich der Existenz der anderen bewußt sein und ihre Pfade sich auch gelegentlich kreuzen. Das einzige Problem war, daß es mit meinen Terminen immer dichter wurde und ich nicht wußte, ob ich je dazu käme, dieses mein Lieblingsprojekt in Angriff zu nehmen.

Weiterer Wein floß.

Gordy versicherte mir beredt sein Mitgefühl und daß alle Schriftsteller sich diesem Problem gegenübersähen, wenn sie erst einmal immer erfolgreicher würden. Zeit! Zeit, seine Verpflichtungen einzuhalten und trotzdem noch dazu zu kommen, die Sachen zu schreiben, die einem wirklich Spaß machten! Als Beispiel wies er darauf hin, daß es in seinem Dorsai-Universum noch zahllose Story-Möglichkeiten gäbe, aber daß ihm kaum die Zeit blieb, die Romane aus dem Childe-Zyklus fertigzustellen, geschweige denn Nebenhandlungen zu verfolgen. Weiterer Wein floß.

Das Ideale wäre, meinte Lynn, seine Ideen und Welten mit anderen Autoren zu teilen. Da gab Gordy jedoch zu bedenken, daß die Gefahr bestünde, die Kontrolle darüber zu verlieren. Keinem von uns würde es sonderlich gefallen, wenn jeder x-beliebige an unserer Lieblingsidee herumspielte.

Weiter Wein floß.

Anthologien! Wenn wir das Ganze als Anthologie aufzögen, könnten wir nicht nur solche Autoren einladen mitzumachen, die uns zusagten, sondern hätten auch das letzte Wort bei der Annahme der eingereichten Geschichten.

Gordy bestellte eine Flasche Sekt.

Natürlich, bemerkte er, wirst du einige namhafte Autoren dafür an Land ziehen können, weil so was Spaß macht. Sie werden sogar eher aus Freude an der Idee mitmachen, als des Honorars wegen.

Mir fiel auf, wie plötzlich aus »unserer« Idee »meine« Anthologie geworden war. Da nun so unerwartet die ganze Last des Projekts auf meiner Schulter zu ruhen kam, fragte ich ihn, ob er vorhätte, mir zu helfen oder zumindest einen Beitrag zur Anthologie zu schreiben. Seine Antwort wurde zum Beispiel für fast alle, die an der Diebeswelt mitwirkten:

Ich würde ja schrecklich gern, doch mir fehlt ganz einfach die Zeit. Aber es ist wirklich eine tolle Idee!

(Fünf Minuten später) Mir ist gerade ein Held eingefallen, der großartig in so einen Rahmen passen würde.

(Fünfzehn Minuten später, nachdem nachdenkliches Starren in die Leere zu selbstzufriedenem Grinsen geworden war) Ich habe meine Geschichte!

Zur allgemeinen Unterhaltung während dieser Zeitspanne trug Lynn wenig bei. Ich wußte nicht, daß sie sich selbst von diesem Projekt ausschloß, nachdem Gordy vorgeschlagen hatte, nur »etablierte« Autoren zur Mitarbeit anzugehen. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt das Manuskript von Daughters of the Bright Moon in ihrem Koffer, in der Hoffnung, beim Boston-Con einen Verleger dafür zu finden. Sie war also weit davon entfernt »etabliert« zu sein. Es ist ihr hoch anzurechnen, daß sie ihre Enttäuschung, ausgeschlossen zu sein, jedoch so gut verbarg, daß keiner von uns es merkte, und sie Gordy und mich - nachdem der Sekt den Weg alles Irdischen genommen hatte—begleitete, um uns nach einem interessierten Verleger umzusehen.

Es mag Ihnen verfrüht erscheinen, zu dem Zeitpunkt bereits einen Verleger für ein noch so nebulöses Vorhaben zu suchen. Mir jedenfalls kam es so vor. Gordy meinte jedoch, daß es gar nicht schlecht wäre, wenn wir einen an Land ziehen könnten, der uns in etwa sagen würde, wie es mit der finanziellen Seite bei einem solchen Projekt aussieht, damit ich mit meinem Budget nicht ganz im dunkeln tappte, wenn ich erst in nähere Verhandlung mit meinen Autoren trat. (Die Tatsache, daß mir das zu dem Zeitpunkt völlig einleuchtete, wirft ein Bild darauf, wie spät es inzwischen war und wieviel Wein wir intus hatten.)

Um unser Ziel zu erreichen, entwickelten wir eine subtile Taktik. Wir würden versuchen, einen Autor und einen Verleger oder Redakteur im gleichen Saal zu finden und vielleicht gar miteinander in ein Gespräch vertieft. Dann wollten wir dem Autor die Idee als möglichem Mitarbeiter schmackhaft machen und sehen, ob der Verleger Interesse zeigte.

Tatsächlich entdeckten wir ein solches Duo und gingen zum Angriff über. Der Verleger gähnte, aber der Autor hielt es für eine tolle Idee. Natürlich hatte er leider keine Zeit, persönlich mitzumachen ... Dann malte er einen Helden aus. So kam John Brunner in unseren illustren Kreis.

Am nächsten Morgen war die Wirkung unseres DinnerWeins verflogen und mir wurde klar, worauf ich mich da eingelassen hatte. Ich, ein Nachwuchsautor, der noch kaum etwas veröffentlicht hatte, wollte sich an der Herausgabe einer Anthologie versuchen! Einer Anthologie mit Beiträgen der Besten des Genres, die überhaupt noch nichts von ihrem Glück wußten! Diese Erkenntnis ernüchterte mich schneller als ein Eimer voll Eiswasser und eine Hotelrechnung für fünf’Tage. Aber die Kugel war bereits im Rollen und ich hatte Storys von Gordy und John zugesagt bekommen. Es konnte nicht schaden weiterzumachen und zu sehen, wie weit ich kommen würde.

FREITAG: Ich hatte Joe Haldeman mit einem Glas flüssiger Zwischenmahlzeit in den Hinterhalt gelockt. Er fand die Idee großartig, aber er hatte keine Zeit. Außerdem, gab er zu bedenken, daß er noch nie heroische Fantasy geschrieben hatte. Ich konterte, indem ich ihn an seinen von der US Armee finanzierten Aufenthalt in Vietnam erinnerte. Ganz bestimmt, meinte ich, müßte er dort ein paar Leuten begegnet sein, die sich ohne viel Mühe in einen Schwert-und-Magie-Rahmen einpassen ließen. Sein Blick klärte sich. Er hatte seinen Helden.

SAMSTAG: Ich bekam endlich heraus, was Lynn bedrückte, und versicherte ihr einen Platz auf der Liste der an der Diebeswelt Mitwirkenden. Ich war überzeugt, daß sie »etabliert« sein würde, ehe die Anthologie herauskam, und selbst wenn nicht, daß sie eine gute Story beitragen könnte. Nein, nein, ich habe keine Kristallkugel, mit der man in die Zukunft sehen kann! Lynn und ich wohnen beide in Ann Arbor und haben einen gemeinsamen Arbeitsraum, wenn wir schreiben. Dadurch hatte ich auch die Gelegenheit, nach und nach ihr Manuskript von Daughter of the Bright Moon zu lesen, während es entstand, und ich kannte ihren Stil, noch ehe ein Verleger das Manuskript zu sehen bekam. [Meine Prophezeiung erfüllte sich: Ace/-Sunridge kaufte ihr Manuskript, und das Buch erschien ungefähr gleichzeitig mit dieser Anthologie.]

SONNTAG: O Wunder über Wunder! Bei der von AceBooks veranstalteten Party bekundet Jim Baen über einem Glas Kognak sein ernstes Interesse an der Anthologie—falls es mir gelingt, das Buch mit Geschichten von Autoren gleichwertigen Kalibers zu füllen, wie die, die bereits zugesagt haben. Beim Verlassen der Party begegne ich Jim Odbert im Foyer und gebe ein bißchen an. Er holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück, indem er mich nach einer Karte des Schauplatzes fragt. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Aber er hat natürlich recht! Sie ist für den inneren Zusammenhang unbedingt erforderlich. Ich überlege schnell und beauftrage sofort ihn damit und ziehe mich zurück mit dem nagenden Verdacht, daß dieses Projekt weit komplexer sein wird, als ich es mir vorgestellt hatte.

Zurück in Ann Arbor sehe ich mich der Aufgabe gegenüber, weitere Storys für die Anthologie herbeizubeschwören. Mein Zauberstab in diesem Fall ist das Telefon. Als langjähriger Fan hatte ich vorübergehend Verbindung zu mehreren namhaften Autoren, von denen viele nicht wissen, daß ich jetzt selbst schreibe. Ich halte es für einfacher, die Erinnerung telefonisch aufzufrischen, statt durch Briefe.

Das Problem ist jetzt nur, an wen ich mich wenden kann. Es müssen gute Autoren sein und zuverlässige; Autoren, die mich gut genug kennen, daß sie nicht gleich auflegen, wenn ich anrufe; Autoren, die mich nicht so gut kennen, daß sie gleich auflegen, wenn ich anrufe.

Andy! Andy Offutt. Unsere Wege kreuzten sich mehrmals auf Cons und ich weiß, daß wir beide Bewunderer von Dschingis-Khan sind.

Andy hat keine Zeit, aber er ist hell begeistert von der Idee und hat seinen Helden. O ja, das alles in einem Satz. Ich habe ihn vielleicht etwas zusammengefaßt. Wenn Sie je mit Andy telefoniert haben, werden Sie es verstehen.

Der nächste soll Poul Anderson sein. Poul und ich kennen uns hauptsächlich über Gordy und durch eine Vereinigung, die das Mittelalter neuaufleben läßt, sie nennt sich »Gesellschaft für kreativen Anachronismus«. Sir Bela von der Ostmark und Yang, der Abscheuliche! Na ja, wenn man das kennen nennen kann! Trotzdem erklärt Poul sich einverstanden, eine Story für die Anthologie zu schreiben — wenn er dazu kommt ... Ihm ist auch schon ein Held eingefallen.

Die Liste wächst. Ich rechne nun damit, daß die beeindruckende Reihe von Autoren, die bereit ist mitzumachen, meine eigene relative Unbekanntheit wettmachen wird, und wage mich an einige heran, die sich vielleicht nicht an mich erinnern.

Roger Zelazny war Profi-Ehrengast bei einem Con in Little Rock in Arkansas, wo ich Fanehrengast gewesen war. Er erinnert sich und hört mir zu.

Ich sprach kurz mit Marion Zimmer Bradley über die Schwertkämpfe in Hunter of the Red Moon, als wir uns im F oyer bei einem Con in Los Angeles begegne-ten — vor zwei Jahren. Sie erinnert sich an mich und hört mir zu.

Philip Jose Farmer und ich sahen uns zweimal: einmal in Milwaukee und einmal in Minneapolis. Beide Male saßen wir an entgegengesetzten Enden eines Tisches, mit einem halben Dutzend Leuten, die sich zwischen uns drängten. Er erinnert sich daran und hört mir schweigend fünfzehn Minuten zu, bis ich das Ganze heruntergerasselt habe. Er sagt okay und legt auf. Später erfahre ich, daß dies seine Art ist, seine Begeisterung auszudrücken. Wäre er nicht begeistert gewesen, hätte er nein gesagt und aufgelegt.

Inzwischen ist Minicon. Jim Odbert händigt mir einen Satz Karten aus. Dann sitzen er, Gordy, Joe, Lynn und ich die halbe Nacht beisammen und besprechen die Geschichte der Stadt und des Kontinents, auf dem sie sich befinden soll. Wir einigen uns auf eine Reihe Hausregeln: 1. Jeder der mitmacht, soll mir eine kurze Beschreibung seines Helden bzw. seiner Heldin und seiner bzw. ihrer Geschichte schicken, 2. Diese Beschreibungen sollen kopiert und an alle anderen Mitwirkenden verteilt werden. 3. Jeder Autor darf diese Helden in seiner/ihrer Story benutzen, vorausgesetzt, er/ sie tötet sie nicht und wandelt sie nicht merklich ab. Ich halte das alles maschinenschriftlich fest und ab geht die Post an alle Betreffenden. Ich finde jetzt, daß das Ganze bei weitem nicht so schlimm ist, wie ich befürchtet hatte. Meine einzige Sorge ist, daß die Post nach England etwas lange dauern und sich dadurch John Brunners Beitrag verzögern könnte. Abgesehen davon ging alles prima.

Dann begann der Spaß ...

Von Andy, Poul und John kommen Briefe bzw. Notizen, in denen sie mehr oder minder sanft die Grammatik oder Wortwahl - und auch beides - in meinem Rundschreiben berichtigen. Sie sind sicher, auch ohne meine Bestätigung, daß meine Rechtschreibung als Witz gedacht war. Und das sind die Leute, deren Storys ich edieren soll! Das kann ja heiter werden!

Poul schickt mir eine Kopie seines Essays »On Thud and Blunder« (»Über Treffer und Fehlschläge«), um sicherzugehen, daß für den Realismus des Schauplatzes und vor allem der Wirtschaftsstruktur der Stadt gesorgt wird. Er möchte auch wissen, wie es mit der Rechtsordnung in Freistatt aussieht.

Andy will wissen, welche Gottheiten verehrt werden, wenn möglich aufgegliedert nach der Nationalität und dem sozialen Stand der Anbeter. Glücklicherweise legt er einen Vorschlag für eine Reihe von Göttern bei, den ich erfreut kopiere und an die anderen weiterleite. Die Überschrift für seine zehnseitigen Briefe ist: »An Colossus — das AsprinProjekt.« Mir schwant, daß er das bei seiner eigenen Erfahrung als Anthologie-Herausgeber eher ernst als spaßig meinte.

Damit es mir ja nicht langweilig wird, treiben einige der Autoren ihr Spielchen mit mir: sie wollen ihre Karten erst aufdecken, wenn die anderen schon auf dem Tisch liegen. Mit Karten meine ich die Beschreibung ihres jeweiligen Helden. Sie warten mit der Ablieferung ihrer Angaben, bis sie sehen, womit die anderen aufzuwarten haben. Zu diesen Zauderern gehört Gordy. Sie erinnern sich doch? Er ist derjenige, der mich überhaupt erst in die Sache hineinritt. Und der, der »seinen Helden hatte«, ehe es überhaupt eine Anthologie gab. Großartig!

John Brunner reicht seine Story ein — ein volles Jahr vor dem festgesetzten Termin. Soweit also die transatlantische Verzögerung! Ich habe noch nicht einmal alle Heldenbeschreibungen erhalten. Schlimmer im Augenblick, der Vorschuß läßt auf sich warten. Johns Agent mahnt sanft das Honorar an.

Roger studiert seinen Terminkalender und zieht sich von dem Projekt zurück. Na ja, man kann sie eben nicht alle haben.

Poul erkundigt sich nach dem Baustil von Freistatt.

Andy und Poul möchten wissen, wie es mit der Struktur und Nationalität der Namen aussieht.

Von Ace kommt ein Anruf. Jim Baen ersucht um Abgabe der Manuskripte drei Monate vor dem vertraglichen Termin. Ich erkläre, daß das unmöglich ist - der neue Termin gäbe mir lediglich zwei Wochen, die Stories - nach Erhalt von den Autoren - zusammenzustellen und das fertige Manuskript nach New York zu schicken. Falls es mit irgendwelchen Geschichten Schwierigkeiten gäbe oder welche zu spät eingereicht würden, käme mein ganzer Zeitplan durcheinander. Daraufhin wirft Baen mir den fetten Bissen zu, daß man die Anthologie bei Erscheinen zum Buch des Monats machen würde, falls ich den neuen Termin schaffte. Habgier und Ehrgeiz bedrängen mich hart, aber ich strecke die Waffen nicht und wiederhole, daß ich unmöglich garantieren kann, zum verfrühten Termin abzuliefern. Baen bietet mir einen Vertrag für eine zweite Diebeswelt-Anthologie und schlägt vor, daß ich ihr verspätet eintreffende Storys einverleibe. Unter diesem Doppelbombardement von Seiten sowohl meines Verlegers als auch der Habsucht in mir rolle ich die Augen himmelwärts, schlucke hart und erkläre mich einverstanden.

Sofort geht ein neues Rundschreiben an alle Beteiligten, das sie höflich an den bevorstehenden Ablieferungstermin erinnert. Ihm lege ich Gordys Beschreibung vom Roten Jamie bei, die er endlich unter leichter Nötigung (sein Arm wird auch wieder heilen) eingereicht hat.

Andy ruft an. Er fragt nach dem Namen des Prinzen. Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht, bin aber bereit, mit mir darüber reden zu lassen. Nach einer Stunde lege ich auf. Mir wird klar, daß ich meine eigene Story noch nicht geschrieben habe.

Gordy benachrichtigt mich, daß er seine Geschichte nicht für den ersten Band fertigkriegen kann. Großartig! Nun, da dafür weder mit Gordy noch Roger zu rechnen ist, wird es ein bißchen kritisch.

Andys Story trifft ein, genau wie Joes und Pouls.

In Andys Geschichte kommt eine Unterhaltung mit Joes Schöpfung Eindaumen vor. Aber Joe hat Eindaumen in seiner Story umkommen lassen. Ein kleines Sequenzproblem.

In Pouls Geschichte nimmt Cappen Varra Gordys Roten Jamie auf ein Abenteuer mit. Gordys Story mit dem Roten Jamie wird jedoch nicht im ersten Band erscheinen! Ein großes Sequenzproblem! Na ja. Und ausgerechnet Gordy war es, der mir die Herausgabe dieses Monstrums eingebrockt hat!

Ich lese die eingetrudelten Geschichten und komme zur Erkenntnis, daß der erste Entwurf meiner Story einer drastischen Umarbeitung bedarf.

Ich erhalte Nachricht von Phil Farmer. Er hat mir bereits vor Monaten mitgeteilt, daß er doch nicht dazu kommt mitzumachen, aber offenbar habe ich den Brief nicht erhalten. (Ich hatte ihn wirklich nicht bekommen!) Da ihm klar ist, daß mich ein Rückzieher seinerseits zu diesem späten Zeitpunkt in arge Verlegenheit brächte, nimmt er eine Umschichtung seiner Termine vor, damit er mir doch noch »etwas« schicken kann. Verständlicherweise wird es etwas verspätet eintreffen. Ich bin dankbar, aber gerate doch allmählich in Panik.

Lynn ist mit ihrer Story fertig und triumphiert. Ich drohe, ihr den Schädel mit meiner Schreibmaschine einzuschlagen.

Ace ruft wieder an. Sie brauchen zusätzliche Information für den Klappentext, auch wollen sie die Anschlagszahl wissen. Ich erkläre die Lage so ruhig ich kann. Mitten im Gespräch gibt mein Telefon den Geist auf.

Die Telefongesellschaft erweckt es schnell wieder zum Leben (ich werde allmählich ihr bester Kunde) und ich rufe umgehend Marion an und ersuche sie um die ungefähre Anschlagszahl ihrer noch nicht eingereichten Story. Sie erklärt mir, sie habe mir einen Brief geschrieben, der offenbar nicht angekommen ist (er ist es auch nicht!). Sie sagt mir, sie müsse von dem Projekt zurücktreten, sie stehe ihrer anderer Arbeiten wegen schon unter Zeitdruck. Sie ersucht mich, mit meinem Gestammel aufzuhören und so zu reden, daß sie mich verstehen könne. Ich fasse mich und versichere ihr, daß ich wirklich gern eine Geschichte von ihr hätte. Ich erkläre ihr, daß ich ihre Story unbedingt brauche. Ich erwähne, daß ihr Held auf dem Titelbild ist. Sie bemerkt, daß die Fluten, die aus dem Hörer strömen, ihr Wohnzimmer zu überschwemmen drohen, und verspricht, die Geschichte in ihren gedrängten Terminplan einzuschieben - ehe sie in zwei Wochen nach London fliegt.

Mit fester Hand, aber innerlich zitternd, rufe ich Ace an und lasse mich mit Jim Baen verbinden. Ich erkläre ihm die Situation: ich habe sechs Storys vorliegen (o ja, ich habe endlich auch meine fertig) und zwei weitere müßten bald eintreffen — möglicherweise ein wenig verspätet. Er erklärt mir, daß der Band mit nur sechs Geschichten zu kurz sein wird. Er will zumindest noch eine weitere Geschichte und einen Essay von mir, in dem ich beschreibe, wieviel Spaß es gemacht hat, die Anthologie herauszugeben. Um meinem hysterischen Anfall entgegenzuwirken, schlägt er vor, daß ich eine Ersatzstory in Auftrag gebe, falls die beiden anderen nicht rechtzeitig ankommen. Ich weise darauf hin, daß bis zu dem mir gesetzten Termin nur noch zwei Wochen sind. Er sieht ein, daß ich in so kurzer Zeit kaum in der Lage sein werde, eine Geschichte von einem »namhaften« Autor zu beschaffen, ich dürfe also einen »unbekannten« hinzuziehen, aber wehe, wenn seine Geschichte nicht gut ist!

Christine DeWees ist eine herzensgute, weißhaarige Oma, die eine Harley Davidson fährt und gern Schriftstellerin werden möchte. Lynn und ich begutachten ihre Leistungen schon seit einiger Zeit und versuchten immer wieder sie zu überreden, doch etwas an einen Verlag zu schicken. Bisher hat sie sich dagegen gesträubt. Sie geniere sich, ihre Arbeiten einem professionellen Redakteur vorzulegen, erklärte sie uns immer wieder. Ich beschließe, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

In meinem entwaffnendsten Es-kann-gar-nichts-schiefgehen-Ton erkläre ich Christine alles und lasse eine Kopie sämtlicher Diebeswelt-Unterlagen bei ihr. Drei Stunden später läutet mein Telefon. Christine gefällt Myrtis, die Madame des Aphrodisia-Hauses, und sie ist bereit, eine Geschichte mit ihr als Heldin zu schreiben. Ich stammle höflich, daß Myrtis eine von Marions Figuren sei und sie vielleicht etwas dagegenhabe, wenn ein anderer sie benutze. Christine lacht und versichert mir, das habe sie bereits mit Marion geklärt (keine Ahnung, wie sie zu ihrer Telefonnummer kam!) und alles sei efferveszierend. Zwei Tage später händigt sie mir die Geschichte aus—und ich bin immer noch nicht dazu gekommen, »efferveszierend« im Fremdwörterbuch nachzuschlagen.

Mit den sieben Storys, die mir jetzt vorliegen, erkläre ich Diebeswelt I als komplett und mache mich an den Essay über die Entstehung. Marions und Phils Geschichten werde ich in den zweiten Band nehmen.

[Wir haben dagegen entschieden, sie in der deutschen Ausgabe für den zweiten Band, Der blaue Stern (Bastei-Lübbe Fantasy 20091) vorzumerken. Anm. der Redaktion.]

Da trifft Marions Story ein.

Marions und Christines Geschichten passen so gut zusammen, daß ich mich entschließe, sie beide im ersten Band zu bringen. Ich nehme auch keine der anderen Geschichten heraus, sondern füge zu den acht jetzt noch die Einleitung hinzu, die Anmerkung, die Karten, den Essay, füge das Ganze in der richtigen Reihenfolge zusammen und schicke es nach New York.

Der erste Band ist fertig. Er muß bloß noch gedruckt werden.

Dieser ganze Wirbelwindvorgang der Herausgabe dieses Monsterkinds war nur vage so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Doch wenn ich es nun, da alles geschafft ist, recht bedenke, hat es mir auch wirklich Spaß gemacht. Trotz aller Sorgen und Panik, der himmelhohen Telefonrechnungen und noch höheren Barrechnungen genoß ich jede Minute. Tatsächlich freue ich mich schon auf den nächsten Band — und das ist es, was mir Sorgen macht!