Anhang

Die Stadt der Diebe

Willkommen in Freistatt!

Freistatt wurde ursprünglich vor ungefähr 175 Jahren von entlaufenen Sklaven aus Ilsig gegründet. Vor etwa 150 Jahren wurde es dann von der Kriegsflotte Ilsigs eingenommen, bis es schließlich vor nunmehr 60 Jahren von Truppen aus Ranke erobert und schließlich dem Rankanischen Reich einverleibt wurde.

Die Haupteinnahmequellen Freistatts sind Fischfang und Handel, wenngleich der Binnenhandel über die Karawanenwege durch die Große Wüste in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist. Die Felder, die die Stadt umgeben, sind alle im Besitz von rankanischen Adligen und werden von Sklaven und leibeigenen Bauern bewirtschaftet.

Die Stadt selbst gliedert sich im wesentlichen in vier Teile: den ummauerten Palastbezirk, das Juweliersviertel, das Hauptviertel und das Westviertel. Die wohlhabenden Leute wohnen im Ostteil der Stadt, entweder auf den außen gelegenen Landgütern, die sich nach Osten an die Tempelallee anschließen oder im Juweliersviertel. Da der Wind vorwiegend aus Osten weht, trägt er auch die Gerüche der Stadt mit sich, so daß von Osten nach Westen die Wohnqualität abnimmt.

Das Juweliersviertel reicht etwa bis zum Stahlkorridor und zum Weberweg. Hier wohnen Adlige, die kein Amt im Palast innehaben, Handelsherren und Gildenmeister, erfolgreiche Geschäftsleute und auch Fremde, die entsprechende Mittel mitbrachten, als sie ihre Heimat verließen.

Der mittlere Teil der Stadt, das sogenannte Hauptviertel, zieht sich über die Hauptstraße hinweg bis zur Westtorstraße. Die Stadtwache patrouilliert hier regelmäßig, doch die Bewohner können sich hier in der Regel keine privaten Wachen leisten. Hier leben hauptsächlich Handwerker und Angehörige der Mittelschicht. Eine Reihe von Ladeninhabern hat früher einmal in der Armee gedient, und man weiß sich hier seiner Haut zu wehren. Die meisten ständigen Bewohner dieses Viertels stehen im Dienst von Leuten, die entweder hier oder im reicheren Teil der Stadt ihrem Gewerbe nachgehen.

Der westliche Bereich der Stadt, das Westviertel, wird vom Basar und der Uferpromenade begrenzt. Es ist der ärmere Teil von Freistatt, und Leute aus dem Ostteil suchen ihn zu meiden. Mitten im Westviertel liegt ein Bezirk, der »Das Labyrinth« genannt wird und den selbst die Leute aus dem Westviertel meiden. Das Labyrinth mit seinen verwinkelten Gäßchen ist das Viertel der Diebe, Mörder und Halsabschneider—und der Leute, die im Leben Pech gehabt haben. Andere Teile der Stadt sind das Fischerviertel am Hafen, der Basar, wo sich Händler und Abenteurer mischen, und die Straße der Roten Laternen, zwischen dem Palast und dem Friedhof gelegen, mit ihren Freudenhäusern und Spielhöllen.

Ziemlich weit im Westen, jenseits des Flusses, liegt das ärmste Viertel der Stadt, Abwind, wo niemand wohnt, der es irgendwie vermeiden kann. Hier hausen Bettler und völlig Heruntergekommene in halbverfallenen Bruchbuden. Hier ist nichts zu gewinnen. Selbst Diebe meiden diese Gegend.

Freistatt mißt in der Nord-Süd-Achse etwa 750 Meter und ist von Ost nach West etwa 1 Kilometer lang. Um sich diese Maße etwas besser vorstellen zu können, können wir die Zeit abschätzen, die man braucht, um die Stadt zu durchqueren. Ein guter Läufer würde ungefähr drei Minuten brauchen, um von der Anlagestelle im Hafen über die Hauptstraße bis zum Palasteingang zu gelangen. Gleichermaßen würde man etwa acht Minuten benötigen, um von der Tempelallee zum Sumpf der mitternächtlichen Geheimnisse zu rennen. Ein galoppierendes Pferd würde die Strecken in der Hälfte der Zeit bewältigen.

Es ist freilich unwahrscheinlich, daß jemand eine dieser Strecken, ob zu Fuß oder zu Pferd, in dieser Zeit schaffen könnte, außer bei Nacht, wenn die Straßen leer sind. Und selbst dann würde er an Wachtposten vorbei müssen, die sich sicherlich für den Grund solcher Eile interessieren würden.

Die ärmsten Arbeiter sind gewöhnlich schon vor Tagesanbruch auf den Beinen. Wenn die Sonne aufgeht, beleben sich die Straßen mehr und mehr. Der Geruch von Essen und die verschiedenen Gerüche einzelner Gewerbe erfüllen die Luft, und ein neuer Tag in Freistatt hat begonnen.

Tagsüber sind die Plätze und größeren Straßen der Stadt dicht bevölkert. Es wäre kaum möglich, zu rennen, ohne ein paar Leute anzurempeln. Man geht daher gewöhnlich in langsamem Schrittempo. In gemächlichem Schritt würde man mindestens eine halbe Stunde brauchen, um die Stadt vom Kai bis zum Palast, oder eine Stunde, um sie von der Tempelallee bis zum Sumpf zu durchqueren.

Wer es sich jedoch leisten kann oder wer ein öffentliches Amt hat, der geht nicht zu Fuß, sondern läßt sich in einer Sänfte tragen. Dieser geht gewöhnlich ein Ausrufer voraus, der den Leuten bedeutet, beiseite zu treten. Wer nicht darauf hört, nun, der wird Bekanntschaft mit den Leibwachen machen, die dem Ausrufer folgen.

Wenn die Nacht hereinbricht, versuchen alle Angesehenen zu Hause zu sein. Wiederum haben die Armen den weitesten Weg und sind als letzte auf den Beinen.

Im Dunkeln wagen sich nur wenige auf die Straßen. Die Nachtwachen patrouillieren die Stadt; wenn man sie auch am ehesten dort finden wird, wo die Leute sie besser bezahlen, kann man ihnen auch im Hauptviertel begegnen.

Auch Diebe aller Art finden es natürlich nützlich, bei Nacht unterwegs zu sein; sie verstecken sich in den Schatten und huschen durch Gassen und über Häuserdächer, um den Unglückseligen aufzulauern, die nicht wachsam genug sind.

Wie gesagt, willkommen in Freistatt! Aber nehmen Sie sich in acht!

Das Rankanische Reich

Vor tausend Jahren war der Kontinent, dessen Großteil heute das Rankanische Reich einnimmt, eine Provinz des Imperiums von Enlibar. Doch als das Imperium zerfiel, bildeten sich kleinere Stämme und Staaten. Unter ihnen waren die Stadtstaaten von Ilsig im Westen und Ranke im Osten. Als Ranke mit militärischen Mitteln seine Grenzen auszudehnen begann, schloß Ilsig ein Bündnis mit den Bergstämmen des Königingebirges, um den einzigen bekannten Paß durch die Bergkette zu sichern, die den Kontinent von Norden nach Süden durchzieht. Die Rankaner schickten ihre Armeen nach Ilsig, und die Ilsinger sahen sich gezwungen, ihre Truppen in den Paß zu schicken, um die Bergbewohner zu unterstützen.

Während Ilsig von Truppen weitgehend entblößt war, kam es dort zu einem Sklavenaufstand. Doch die Armee kehrte früher als erwartet zurück und bereitete dem Aufstand ein schnelles Ende. Die Überlebenden flohen in die Wälder und zogen entlang der Küste nach Süden.

Die Reiterei von Ilsig verfolgte sie, und in den Bergen des Südens kam es zu einer Schlacht, aus der die Sklaven siegreich hervorgingen. Während der Schlacht entdeckten die Sklaven einen Paß durch das Gebirge, der sie in ein Tal führte, das sie Freistatt nannten; dort ließen sie sich nieder. Doch mit der allmählichen Ausbeutung des Bodens waren sie gezwungen, weiter nach Süden zu ziehen. Hier trafen sie auf einheimische Fischer und gründeten zusammen mit ihnen eine Gemeinschaft, die auf Ackerbau und Fischfang beruhte. Dieses Dorf war die Grundlage der späteren Stadt Freistatt.

Gerüchte, daß man im Süden Gold und Silber entdeckt habe, lockten zunächst nur einzelne Abenteurer nach Freistatt, doch dann folgte ihnen die Flotte von Ilsig, um die Stadt einzunehmen. Ein Großteil der Fischerflotte von Freistatt entging dem Angriff und suchte Zuflucht auf den südlich gelegenen Inseln, wo sie zum Grundstock der Kappiraten wurde.

Ein Abenteurer auf der Suche nach Gold fand schließlich einen Weg durch die Gebirgskette im Norden und gelangte von dort ins Rankanische Reich. Später fand sein Enkel, ein Reichsgeneral, das Tagebuch seines Vorfahren, führte eine größere Streitmacht südwärts und nahm Freistatt ein. Sie als Stützpunkt nutzend, eroberte er durch einen Angriff vom Meer um die Kapspitze herum Ilsig und verleibte es auf immer dem Rankanischen Reich ein.

Bis zuletzt jedoch widersetzten sich die Bergstämme des Königingebirges gegen Ranke. Damit begann die große Zeit für Freistatt, als die Karawanenrouten durch die Große Wüste erschlossen wurden und die Stadt der Diebe zum Umschlagplatz zwischen Ranke und Ilsig emporstieg. Erst drei Jahrzehnte später werden auch die letzten Bergstämme niedergerungen, und der Große Paß im Gebirge ist wieder frei. Freistatt sinkt in die Bedeutungslosigkeit zurück, als Ranke sich nach Norden und Osten wendet.

Zwanzig Jahre danach ist die Stadt der Diebe in der Tat so bedeutungslos, daß der rankanische Kaiser seinen neunzehnjährigen Neffen Kadakhitis zum Gouverneur der Stadt ernennt, um ihn aus dem Weg zu räumen.

Und damit beginnt eine neue Geschichte ...