Enas Yorl
Todesurteile
John Brunner
Daß es
mit Freistatt abwärts ging, ließ sich unter anderem auch daran
erkennen, daß Meister Melilots Skriptorium sich im vornehmsten
Stadtteil befand, nämlich am Statthalterweg. Der Edelmann, dessen
Großvater das Herrenhaus hier hatte erbauen lassen, hatte sein
Vermögen beim Glücksspiel verloren und fristete nun sein Dasein in
vornehmen Delirium in einem behelfsmäßigen vierten Stock aus
Fachwerk über dem ursprünglichen Dach, während Melilot in den
unteren Räumlichkeiten sein an Zahl ständig zunehmendes Personal
behauste und sich neben dem Brief- nun auch dem Buchgeschäft
widmete. An heißen Tagen stand der Gestank aus der Binderei - wo
Leim gekocht und Leder geprägt wurde — dem in der
Schlachthausgegend in nichts nach.
Es muß gesagt sein, daß es nicht mit allem abwärts ging. Beispielsweise nicht mit Melilot. Noch vor zehn Jahren hatte er nichts weiter sein eigen genannt als die Kleider am Leib und seine Schreibutensilien. Damals hatte er unter freiem Himmel gearbeitet oder sich unter das Vordach eines großmütigen Kaufmanns gekauert. Seine Kundschaft beschränkte sich seinerzeit auf Bitt- und Klagesteller von außerhalb, die eine schriftliche Abfassung brauchten, ehe sie vor Gericht gehen konnten, und auf mißtrauische, des Lesens und Schreibens Unkundige, die Käufe von reisenden Händlern tätigten und eine schriftliche Qualitätsbestätigung haben wollten.
An einem unvergeßlichen Tag wies ein törichter Mann ihn an, Einzelheiten für einen laufenden Klagefall niederzuschreiben, die den Richter zweifellos überzeugt hätten, wäre der Prozeßgegner unvorbereitet gewesen. Das erkannte Melilot sofort und machte eine Abschrift. Er wurde reich belohnt.
Nun, zusätzlich zu seinem Beruf als Schreiber - was ihm hauptsächlich als Deckmantel diente —, spezialisierte er sich aufFälschungen, Erpressungen und Falschübersetzungen. Jedenfalls war er genau die Art von Arbeitgeber, die sich Jarveena vom vergessenen Hain erhofft hatte, als sie hier ankam, vor allem, da seine körperliche Verfassung—die sich aus seinem bartlosen Gesicht und seiner Leibesfülle erahnen ließ—ihn gegenüber dem Geschlecht und Aussehen seiner Leute gleichgültig machte.
Die Dienste, die das Skriptorium zu bieten hatte, und der Name seines Besitzers und Geschäftsführers prunkten in einem halben Dutzen Sprachen und drei verschiedenen Schriftarten an der Fassade des Hauses. Hier war ein Teil der Wand herausgehauen und mit einem ehemaligen F enster und einer Tür zu einem großen Eingang gemacht worden (mit einem gewissen Risiko, was die Festigkeit der oberen Stockwerke betraf), damit die Kunden unter dem Vordach vor der Witterung geschützt warten konnten, bis ihnen ein Übersetzer, der ihre Sprache verstand, zur Verfügung gestellt werden konnte.
Jarveena war gut im Lesen und Schreiben ihrer Muttersprache: Yenized. Deshalb hatte Melilot sich auch bereit erklärt, sie anzustellen. Nun konnte kein Konkurrenzunternehmen in Freistatt mit Dienstleistung in so vielen Sprachen aufwarten. Aber zwei Monate mochten vergehen—wie es bereits jetzt der F all war -, bis auch nur ein Kunde um eine Übersetzung vom oder ins Yenized ersuchte. Dadurch war sie im Grunde genommen nicht viel mehr als ein Aushängeschild. So hatte sie ausreichend Zeit, sich fleißig mit Rankene zu befassen, der höfischen Version der Alltagssprache. Das war sehr nützlich, denn die Kaufleute verwendeten diese Sprache gern zur Beschriftung ihrer Ware, um damit anzuzeigen, daß sie qualitativ den Wünschen des Edelvolks entsprach, selbst wenn sie des Nachts von der Aasfresserinsel herbeigeschafft worden war.
Auch in der niedrigeren Umgangssprache, in der die ärmeren Kunden Bestätigungen oder Kaufverträge ausgestellt haben wollten, kam sie gut voran. Doch all das füllte ihre Zeit nicht aus, so daß sie sich gezwungen sah, auch gemeine Arbeiten zu verrichten.
Es war Mittag und eine solche Arbeit war fällig.
Schriftliche Werbung war natürlich sinnlos bei jenen, die die Hilfe eines Schreibers am dringendsten benötigten, deshalb unterhielt Melilot einen Trupp kleiner Jungen mit besonders süßer und durchdringender Stimme. Sie mußten die Straßen ringsum auf und ab gehen und durch Rufen, Beschwatzen und manchmal sogar Betteln Kunden werben. Das war eine sehr ermüdende Beschäftigung, von der die Kinder gewöhnlich heiser wurden. Aus diesem Grund mußte jemand ihnen dreimal täglich eine Stärkung bringen, bestehend aus Brot, Käse und einem Getränk aus Honig, Wasser, ein bißchen Wein oder starkem Bier und verschiedenen Gewürzen.
Seit ihrer Anstellung hatte Jarveena keine andere Aufgabe so häufig ausführen müssen wie die Versorgung der Kinder mit dieser Stärkung. So war sie auch gerade dazu unterwegs, als sie einen Offizier bemerkte, den sie dem Namen nach und auch vom Sehen kannte, welcher sich sehr ungewöhnlich benahm. Er war Hauptmann AyeGophlan von der Wachstation an der Ecke der Hauptstraße.
Er achtete nicht auf sie, als er an ihr vorüberkam, doch das war weniger erstaunlich. Sie sah wie ein Junge aus — mehr noch als der pauspackige blonde Bengel, dem sie die Zwischenmahlzeit brachte. Als Melilot sie aufgenommen hatte, war sie ziemlich zerlumpt gewesen, und er hatte darauf bestanden, sie neu auszustatten. Natürlich würde der Preis für die Kleidung von der minimalen Provision abgezogen werden, die sie für ihre Arbeit erhalten sollte. Das war ihr egal. Sie wollte sich ihre neuen Sachen nur selbst aussuchen, und das hatte sie dann auch getan: ein kurzärmeliges Lederwams mit Kreuzverschnürung über der Brust, ein wadenlanges Beinkleid, Stiefel, die darüber reichten, einen breiten Gürtel, an den sie ihre Schreiberausrüstung hängen konnte: die Rohrfedern, den Tintenblock, das Wasserfäßchen, ein Messer zum Spitzen und eine Rolle grobes Schilfpapier; und einen Umhang, der sich des Nachts auch als Decke verwenden ließ. Ihn hielt sie mit einer Silberanstecknadel zusammen — ihr einziges Kleinod. Melilot hatte gelacht und zu verstehen geglaubt. Ihm gehörte ein hübsches Mädchen, ein Jahrjünger als die fünfzehn, die Jarveena eingestand, das die Ohren seiner Lehrlinge puffte, wenn sie ihr in einem dunklen Gang auflauerten, um ihr einen Kuß zu rauben. Und das war ungewöhnlich genug, eine Erklärung zu erfordern.
Doch das hatte nichts damit zu tun. Genausowenig wie die Tatsache, daß sie mit ihrer sonnengebräunten Haut, dem schmalen Körperbau, dem kurzgestutzten schwarzen Haar und den vielen sichtbaren Narben — egal welche Kleidung sie trug—nicht wie ein Mädchen aussah. Es gab genügend Lüstlinge, auch solche von edlem Geblüt, die das Geschlecht jener, denen sie Gewalt antaten, keineswegs interessierte.
Außerdem hatte Jarveena derlei Erfahrungen durchzustehen gelernt; denn wäre es nicht so gewesen, hätte sie Freistatt nie erreicht. So war das nichts, wovor sie sich gefürchtet hätte.
Aber sie weckten ihren tiefsten, bittersten Grimm. Und eines Tages würde einer, der ihren Grimm mehr als andere auf sich herabbeschwor, für zumindest eines seiner zahllosen Verbrechen bezahlen. Das hatte sie geschworen — doch damals war sie erst neun gewesen, und im Lauf der Zeit rückte die Chance, sich zu rächen, immer weiter. Nun glaubte sie schon gar nicht mehr daran. Manchmal träumte sie davon, jemandem das anzutun, was man ihr angetan hatte. Dann erwachte sie laut stöhnend vor Scham und konnte den anderen Schreibergesellen, die den Schlafraum mit ihr teilten - er war das ehemalige Schlafgemach des Edelmanns gewesen, der nun in einer Behausung schnarchte, würgte, ächzte und stöhnte, die eher für Schweine geeignet wäre als für einen Menschen, und sich auf der falschen Seite der prächtig bemalten Decke befand —, das Warum nicht erklären.
Das bedauerte sie ehrlich, denn sie mochte diese jungen Leute. Einige von ihnen kamen sogar aus vornehmen Familien, und sie lernten hier nur, weil es keine anderen Schulen als die der Tempel gab, und dort stopften die Priester den Kindern die Köpfe mit Mythen und Legenden voll, als würden sie in einer Phantasiewelt leben und müßten nicht einmal für sich selbst sorgen. Ohne zumindest ihre eigene Sprache lesen und schreiben zu lernen, würden sie zu leicht den zahllosen gerissenen Betrügern der Stadt zu Opfer fallen.
Aber wie könnte sie sich jenen anvertrauen, die ein geschütztes, verhätscheltes Leben geführt hatten und in ihrem fortgeschrittenen Alter von fünfzehn oder sechzehn noch nie von Abfällen aus der Gosse oder aus schmutzigen Eimern hatten leben müssen?
Hauptmann Aye-Gophlan trug Bürgergewandung, er bildete es sich zumindest ein. Er war keineswegs so reich, sich außer seinen Uniformen besondere Kleidung leisten zu können, wurde von den Gardeoffizieren doch erwartet, daß sie mehrere verschiedene Uniformen besaßen — einen für den Ball zu Ehren des kaiserlichen Geburtstags, eine für den Tag des Regimentsgottes, eine für den Tag- und eine für den Nachtdienst, eine weitere für Bestattungsfeierlichkeiten -, die sie sich alle selbst anschaffen mußten. Die einfachen Soldaten waren da besser dran. War ihre Aufmachung nicht ganz den Bestimmungen entsprechend, schrieb man es dem Geiz ihrer Offiziere zu.
Aber wie lange war es nun schon her, daß genügend Karawanen in die Stadt kamen, von denen die Herren Offiziere Bestechungsgelder hatten erwarten können, die es ihnen wiederum ermöglicht hätten, sich entsprechend einzukleiden?
Es waren wahrhaftig schlechte Zeiten, wenn die beste Verkleidung, die ein Offizier sich bei Privatgeschäften leisten konnte, ein pflaumenblauer Umhang war, der ausgerechnet dort ein Loch hatte, wo die Rüstung zwischen den Beinen hindurchschimmern konnte.
Als sie ihn sah, dachte Jarveena plötzlich an Gerechtigkeit. Oder vielmehr, um genauer zu sein, an Rache. Vielleicht bestand längst keine Hoffnung mehr, den Meuchler zur Rechenschaft zu ziehen, der ihre Eltern umgebracht, ihr Landgut ausgeplündert, die Kräftigen versklavt, seine halbwahnsinnigen Truppen auf Kinder losgelassen hatte, damit sie ihre Lüste befriedigten, während das Dorf, das seine Bewohner Hain genannt hatten, in Schutt und Asche unterging.
Aber es gab noch anderes. Hastig entriß sie dem — glücklicherweisen letzten —Werbejungen den Becher, den sie ihm ohnehin viel zu lange gelassen hatte. Seinen Versuch zu murren erstickte sie im Keim, indem sie ihre Stirn so stark runzelte, daß eine Narbe sichtbar wurde, die gewöhnlich unter einer Locke verborgen war. Das tat sie üblicherweise nur, wenn alles andere versagte. Es verfehlte auch die gewünschte Wirkung nicht. Der Junge schluckte heftig und drehte sich um, um wieder seiner Arbeit nachzugehen. Nur kurz gönnte er sich noch, an die Wand des nächsten Hauses zu urinieren.
Genau wie Jarveena erwartet hatte, bog Aye-Gophlan um die Ecke, nachdem er sich mehrmals umgedreht hatte, als fühle er sich ohne seine übliche Eskorte von sechs großen Soldaten unsicher, und begab sich zum Hintereingang des Skriptoriums, und zwar dem in der krummen Gasse, wo die meisten Seidenhändler ihre Läden hatten. Nicht alle von Melilots Kunden wollten gesehen werden und kamen deshalb nicht von der breiten, menschenüberfüllten Straße zum Haupteingang.
Jarveena drückte eilig Krug, Teller und Becher einem Lehrling in die Hand, der noch zu jung war, dagegen aufzubegehren, und befahl ihm, die Sachen in die Küche zu bringen - sie schloß an die Binderei an, mit der sie eine Feuerstelle teilte. Dann schlich sie sich hinter Aye-Gophlan und hüstelte, um auf sich aufmerksam zu machen.
»Kann ich Euch behilflich sein, Hauptmann?«
»Ah ...« Aye-Gophlan erschrak sichtlich und er legte hastig die Hand um etwas Stockförmiges unter seinem Umhang, zweifellos eine dicke Schriftrolle. »Ah ... Guten Tag. Ich habe ein Problem, das ich mit deinem Meister besprechen möchte.«
»Er dürfte dabei sein, sein Mittagsmahl einzunehmen«, sagte Jarveena in ihr geeignet erscheinendem unterwürfigem Ton. »Gestattet mir, Euch zu ihm zu führen.«
Melilot mochte es gar nicht, beim Essen oder seinem anschließenden Schläfchen gestört zu werden. Aber etwas an des Hauptmanns Benehmen sagte ihr, daß es sich hier um einen Ausnahmefall handelte.
Sie öffnete die Tür zu Melilots Allerheiligstem und meldete den Besucher schnell genug an, um dem Zorn ihres Arbeitgebers zuvorzukommen, denn sie sah, daß er gerade dabei gewesen war, einen riesigen Hummer auf einem silbernen Tablett zu verspeisen. Sie wünschte sich, es gäbe eine Möglichkeit, das nun stattfindende Gespräch zu belauschen.
Doch das zu ermöglichen, war Melilot viel zu vorsichtig.
Im besten F all hatte Jarveena damit gerechnet, ein paar Münzen von Melilot zu bekommen, falls das Geschäft sich als einträglich erwies. Sie war deshalb sehr überrascht, als sie eine halbe Stunde später zu ihm gerufen wurde, Aye-Gophlan war noch da. Der Hummer war kalt, aber nicht weniger geworden, dafür standen nun mehrere leere Weinkannen herum.
Bei ihrem Eintreten bedachte der Offizier sie mit einem mißtrauischen Blick. »Ist das das Küken, das Eurer Meinung nach das Geheimnis ergründen kann?« fragte er scharf.
Jarveena schluckte. Was hatte Melilot sich da wieder einfallen lassen? Aber sie wartete stumm auf nähere Anweisungen, die die hohe und leicht schrille Stimme des feisten Mannes ihr auch schnell erteilte.
»Der Hauptmann hat ein Schriftstück zu entziffern. Vernünftigerweise hat er es zu uns gebracht, die wir imstande sind, mehr fremde Zungen zu übersetzen als jegliches andere Skriptorium. Es wäre möglich, daß es in Yenized verfaßt ist, womit du vertraut bist, was ich bedauerlicherweise von mir nicht behaupten kann.«
Jarveena konnte nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken. Wenn das Schriftstück in irgendeiner bekannten Sprache oder Schrift verfaßt war, würde Melilot sie ganz sicher erkennen, ob er sie nun übersetzen konnte oder nicht. Das deutete auf eine Verschlüsselung hin. Wie interessant! Wie kam ein Gardeoffizier zu einer Kodebotschaft, die er nicht entschlüsseln konnte? Sie blickte zwar erwartungsvoll, aber nicht übereifrig drein, und schließlich händigte AyeGophlan ihr die Schriftrolle widerwillig aus.
Ohne sich anmerken zu lassen, daß sie ihn ansah, warf sie einen Blick auf Melilot, der ihr nicht weniger heimlich zunickte. Das bedeutete, daß sie seinen Worten zustimmen sollte.
Aber ...
Was in aller Welt war das? Nur ihre starke Selbstbeherrschung verhinderte, daß sie das Schriftstück fallen ließ. Ein einziger Blick darauf genügte schon, einen schwindelig zu machen. Ihr war, als hätte sie geschielt, und einen Herzschlag lang hatte sie geglaubt, die Botschaft ganz deutlich lesen zu können, aber schon im nächsten ...
Sie faßte sich und sagte fest: »Ich glaube, es ist Yenized, genau wie Ihr vermutet, Meister.«
»Glauben?« schnaubte Aye-Gophlan. »Aber Meister Melilot versicherte mir, daß du es sofort lesen kannst.«
»Das Yenized, wie es jetzt gesprochen wird, durchaus, Hauptmann«, bestätigte Jarveena. »Doch dies hier scheint die ältere und höfische Form zu sein, die für mich so schwierig ist, wie es das Hochrankene für einen Hirten wäre, der es gewohnt ist, mit seiner Herde zu schlafen.« Es war immer höflich, sich selbst geringer zu machen, wenn man mit jemandem wie dem Hauptmann sprach. »Glücklicherweise hat mein Meister jedoch eine Bibliothek, wie man sie sich besser gar nicht wünschen könnte. Mit Hilfe seiner Nachschlagwerke wird es mir bestimmt gelingen, zumindest herauszufinden, worum es in diesem Schriftstück geht.«
»Wie lange wirst du dazu brauchen?« fragte AyeGophlan heftig.
»Oh, bestimmt nicht länger als zwei oder drei Tage«, warf Melilot in einem Ton ein, der keinen Widerspruch duldete. »Da dies ein so ungewöhnlicher Auftrag ist, braucht Ihr nur zu bezahlen, wenn Ihr eine zufriedenstellende Übersetzung bekommen habt.«
Jarveena ließ die Schriftrolle fast ein zweitesmal fallen. Noch nie hatte Melilot einen Auftrag angenommen, ohne nicht zumindest die halbe Gebühr im voraus entrichten zu lassen. An diesem Schriftstück mußte schon etwas ganz Besonderes sein ...
Und das war es auch. Das dämmerte ihr in dem Augenblick, als sie die Zähne zusammenbeißen mußte, damit sie nicht zu klappern anfingen.
»Warte hier«, befahl der fette Meister ihr und mühte sich auf die Füße. »Ich komme gleich zurück, nachdem ich den Hauptmann hinausgebracht habe.« Kaum hatte die Tür sich hinter den beiden geschlossen, warf sie die Schriftrolle auf den Tisch ganz in die Nähe des Hummers, von dem sie so gern gekostet hätte, müßte sie nicht befürchten, daß es bemerkt würde. Die Schrift wand und verzog sich zu neuen Mustern, das bemerkte sie, obgleich sie sich bemühte, nicht hinzusehen. Dann war Melilot zurück, setzte sich wieder auf seinen Stuhl und nahm einen Schluck aus dem halbvollen Weinkelch.
»Du bist schlau, du kleines Wiesel«, lobte er mit widerwilliger Bewunderung. »Bist du auch klug genug, mir sagen zu können, weshalb weder er noch ich — und auch du nicht—dieses Schriftstück zu lesen vermag?«
Jarveena schluckte schwer. »Es — es ist verhext«, antwortete sie nach kurzer Pause.
»Ja, genauso ist es! Und das ist besser als jede Verschlüsselung. Für alle außer dem rechtmäßigen Empfänger wird die Schrift sich stetig verändern.«
»Wie ist es möglich, daß der Hauptmann das nicht selbst erkannt hat?«
Melilot kicherte. »Man muß nicht lesen und schreiben können, um Hauptmann zu werden. Er kann vielleicht gerade erkennen, ob der Truppenschreiber den Wachtraport, den er zumindest mit einem Kreuz unterzeichnen muß, mit dem richtigen Ende nach oben hinlegt, aber bei etwas Komplizierterem fängt sein Kopf ohnehin an sich zu drehen.«
Melilot riß dem Hummer eine Schere ab und knackte sie mit den Zähnen. Öl troff über sein Kinn und auf sein grünes Gewand. Er fischte das Fleisch heraus und fuhr fort: »Interessant ist, wie er an das Schriftstück gekommen ist. Möchtest du raten?«
Jarveena schüttelte den Kopf.
»Ein Offizier der Truppe, die den Prinzen auf dem Generalsweg hierhergeleitete, inspizierte heute im Morgengrauen das Wachhaus. Offenbar machte er sich so unbeliebt, daß Aye-Gophlan gar nicht daran dachte, ihm die Schriftrolle zurückzugeben, nachdem sie dem Kaiserlichen unbemerkt entfallen war. Warum er aber so bereitwillig glaubt, daß ein Reichsoffizier ein Schriftstück bei sich trägt, das im alten Hochyenized verfaßt ist, ist mir ein Rätsel. Vielleicht gehört es zu der Magie, mit dem es behaftet ist.«
Er schob sich Brocken saftigen Fleisches zwischen die Lippen und kaute eine Weile. So sehr lief Jarveena das Wasser im Mund zusammen, daß sie sich zusammennehmen mußte, damit es ihr nicht aus den Mundwinkeln sickerte.
Um sich abzulenken, fragte sie das nächstbeste, das ihr einfiel. »Warum hat er Euch das alles ...? Ah, wie dumm von mir! Er hat es gar nicht!«
»Stimmt.« Meliot blickte selbstzufrieden drein. »Dafür hast du dir etwas Hummer verdient. Da!« Er warf ihr ein Stück zu, das für seine Maßstäbe sehr großzügig war, und auch noch eine dicke Scheibe Brot. Beides fing sie in der Luft auf, stammelte ihren Dank und mampfte hungrig.
» Sieh zu, daß du ein bißchen mehr zu Kräften kommst«, riet Melilot. »Du mußt heute nacht etwas für mich erledigen. Etwas sehr Wichtiges.«
Sie blickte ihn fragend an.
»Der Reichsoffizier, der die Schriftrolle verloren hat, ist Oberst Nizharu. Er und seine Männer sind in Zelten im Hof des Statthalterpalastes untergebracht. Offenbar befürchtet er, er könnte sich irgend etwas holen, wenn er Quartier in der Kaserne bei den hiesigen Soldaten bezöge.
Sobald es dunkel ist, wirst du dich dort einschleichen und ihn fragen, ob er mehr für die Rückgabe der Schriftrolle und den Namen des Diebes bezahlt oder für eine überzeugende, aber falsche Übersetzung, die den unrechtmäßigen Besitzer zu einer unüberlegten Tat verführt. Es könnte ja sein«, schloß er salbungslos, »daß er sie absichtlich hat fallenlassen. Hm?«
Es war keineswegs das erste Mal seit ihrer Ankunft hier, daß Jarveena sich nach der Speerstunde herumtrieb. Ja, es war nicht einmal das erste Mal, daß sie im Dunkeln über den breiten Statthalterweg huschen mußte, um die Palastmauer zu erreichen und darüberzuklettern, und zwar flink wie ein Äffchen, trotz der riesigen Narbe, wo ihre rechte Brust nie wachsen würde. Viel Übung ermöglichte es ihr, mit unvorstellbarer Geschwindigkeit den Umhang von den Schultern zu ziehen, ihn zusammenzurollen, daß er kaum dicker als ein Geldgürtel war, ihn um die Hüfte zu binden, und die Mauer mit Hilfe der praktischen Spalten, in denen Hände und Füße Halt fanden, schnellstens zu erklimmen. Diese Spalten wurden mit aller Sorgfalt nicht gefüllt, wenn der Obermaurer die allj ährliche Ausbesserung vornahm, dafür bekam er allerdings auch heimlich einen prallen Beutel zugesteckt.
Zum erstenmal war es jedoch, daß auf der anderen Seite Elitesoldaten von Ranke auf sie warteten. Einer davon erleichterte sich durch dummen Zufall gerade hinter einem blühenden Strauch, als sie herabkletterte, und er brauchte nichts weiter zu tun, als ihr den Schaft seiner Lanze zwischen die Beine zu stoßen. Sie keuchte erschrocken und stürzte der Länge nach auf den Boden.
Doch Melilot hatte alles vorhergesehen, und sie war gut vorbereitet mit einer Geschichte und Beweisen für ihre Wahrheit.
»Bitte, tut mir nichts. Ich habe nichts Böses vor«, wimmerte sie und bemühte sich, ihre Stimme so kindlich klingen zu lassen wie nur möglich. In einer Wandhalterung in der Nähe schwelte eine Fackel. Der Soldat riß Jarveena auf die Füße und zog sie mit grausamen Griff zu ihr. Ein Unteroffizier kam aus der Richtung der Zelte herbei, die seit ihrem letzten Eindringen hier zwischen der Gerichtshalle und den Getreidespeichern an der Nordwestseite des riesigen Hofes wie Pilze in die Höhe geschossen waren.
»Was machst du hier?« fragte er mit drohendem Baß.
»Herr, wirklich nichts Böses. Ich muß tun, was meine Herrin mir befiehlt, oder ich werde an die Tempeltür genagelt!«
Bestürzt starrten beide sie an. Der Soldat lockerte seinen Griff ein wenig, und der Unteroffizier beugte sich dichter über sie, um sie in dem schwachen Fackellicht näher betrachten zu können.
»Soll das heißen, daß du einer Priesterin Argashs dienst?« fragte er schließlich. Das war eine logische Folgerung. Die ergebensten Anhänger dieses Gottes ließen sich, wenn sie des Lebens müde wurden, an seinem zwanzig Fuß hohen Tempel aufhängen und fasteten, bis der Tod sich ihrer erbarmte.
Aber Jarveena schüttelte heftig den Kopf.
»N-nein, Herr, einer Priesterin Dyareelas!« Das war der Name einer Göttin, die wegen der blutrünstigen Riten ihrer Anbeter seit dreißig Jahren verbannt worden war.
Der Unteroffizier runzelte die Stirn.
»Ich sah keinen Dyareelatempel, als wir dem Prinzen das Geleit durch die Tempelstraße gaben.«
»N-nein, Herr! Ihr Tempel wurde zerstört, aber ihre Anbeter verehren sie weiter.«
»So so!« brummte der Unteroffizier. »Hmmm! Das dürfte etwas sein, was der Oberst wissen sollte!«
»Meint Ihr Oberst Nizharu?« fragte Jarveena eifrig.
»Was? Woher kennst du seinen Namen?«
»Er ist es, zu dem meine Herrin mich schickt. Sie sah ihn ganz früh am heutigen Morgen, als er sich durch die Stadt begab. Sie war so von seinem Äußeren eingenommen, daß sie sich entschloß, ihm eine Botschaft zu schicken. Doch das sollte völlig geheimbleiben!« Jarveena brachte es fertig, ein Zittern in ihre Stimme zu legen. »Nun habe ich es verraten, und sie wird mich den Priestern Argashs ausliefern, und sie werden mich ... Oh, das ist mein Ende! Ich wollt’, ich wäre schon tot!«
»Das Sterben kann warten«, sagte der Unteroffizier, der eine schnelle Entscheidung getroffen hatte. »Aber der Oberst will zweifellos etwas über die Dyareelaner hören. Und ich dachte, nur Verrückte in der Wüste glaubten noch an diese grausame Göttin. He, was hast du denn da an deiner Seite?« Er griff danach und hob es in den Schein der Fackel, die nun etwas besser brannte. »Ein Schreibkasten, nicht wahr?«
»Ja, Herr, ich bin die Schreiberin meiner Herrin.«
»Wenn du schreiben kannst, warum sollst du die Botschaft dann mündlich überbringen? Oh, ich nehme an, du bist ihre Vertraute, habe ich recht?«
Jarveena nickte heftig.
»Ein niedergeschriebenes Geheimnis ist schon kein Geheimnis mehr. Ja, es steckt Wahrheit in diesem Sprichwort. Na, dann komm mal mit!«
Im Licht von zwei Lampen, die ihrem Gestank nach mit minderwertigem Tran gefüllt waren, stellte Nizharu alles in seinem Zelt auf den Kopf, ohne sich dabei von seinem Burschen helfen zu lassen. Er hatte bereits zwei große, messingbeschlagene Holztruhen ausgeleert und begann mit einer dritten, deren Inhalt er achtlos auf das Bettzeug seines Feldlagers aus Holz und Segeltuch warf. Auch das Zeug aus mehreren Säcken und Beuteln lag herum.
Er brüllte wütend auf, daß er nicht gestört werden wollte, als der Unteroffizier die Zeltklappe hob. Jarveena erkannte jedoch sofort die Sachlage und sagte mit fester Stimme:
»Verzeiht, aber sucht Ihr vielleicht eine Schriftrolle?«
Nizharu erstarrte. Er drehte das Gesicht so, daß das Licht darauf fiel. Er war wahrhaftig ein gutaussehender Mann, wie ihr selten einer begegnet war. Sein Haar erinnerte an gewaschene Wolle, seine Augen schienen sich das Blau des Sommerhimmels ausgeliehen zu haben. Unter einer Nase so scharf wie ein Vogelschnabel offenbarten dünne Lippen wohlgepflegte Zähne, deren weiße Ebenmäßigkeit lediglich durch ein herausgebrochenes Stückchen des rechten oberen Backenzahns beeinträchtigt wurde. Er war schlank und offenbar sehr stark, denn er kippte gerade eine zweifellos schwere Truhe, ohne sich, wie es aussah, sonderlich dabei anstrengen zu müssen.
»Schriftrolle?« fragte er leise und ließ die Truhe los. »Was für eine Schriftrolle?« Es fiel Jarveena sehr schwer zu antworten. Ihr war, als würde ihr Herz jeden Augenblick stillstehen. Die Welt um sie schaukelte und sie brauchte ihre ganze Kraft, das Gleichgewicht zu halten. Wie aus weiter Ferne hörte sie den Unteroffizier sagen: »Sie hat nichts von einer Schriftrolle zu uns gesagt!« Erstaunlicherweise konnte sie nun wieder sprechen.
»Das stimmt, Oberst. Ich mußte diese Männer belügen, damit sie mich nicht töteten und ich zu Euch gelangen konnte. Es tut mir wirklich leid.« Stumm dankte sie, daß Melilot ein so allumfassendes Spitzelnetz hatte, das ihn immer auf dem laufenden hielt und so eine Lüge ermöglicht hatte, die diesen Fremden hatte glaubhaft scheinen müssen. »Täusche ich mich, daß Ihr heute morgen eine Schriftrolle verlegt habt?«
Nizharu zögerte nur einen Augenblick. Dann befahl er: »Hinaus! Laßt den Jungen hier!«
Jungen! Ein Wunder! Wenn Jarveena an Götter geglaubt hätte, hätte sie sich jetzt entschlossen, ihnen aus Dankbarkeit ein Opfer zu bringen. Denn der Oberst hatte sie nicht als das erkannt, was sie war.
Sie wartete, bis der Unteroffizier und Soldat sich verblufft zurückgezogen hatten. Ihr Mund war trocken, die Handflächen feucht und in ihren Ohren ein leichtes Brausen. Nizharu schloß den Deckel der Truhe, die er wieder aufgestellt hatte, und setzte sich darauf.
»Heraus mit der Sprache!« befahl er. »Und wehe, wenn deine Erklärung nicht gut ist!«
Sie war es. Sie war sogar großartig. Melilot hatte sie sich ausgedacht und mit größter Sorgfalt ausgearbeitet und sie Jarveena dutzendmal am Nachmittag eingetrichtert. Sie war mit genügend Wahrheit getönt, um überzeugend zu klingen. Aye-Gophlan war dafür berüchtigt, Bestechungsgelder anzunehmen. (Alle der Wachkompanie ließen sich bestechen, wenn sie das Glück hatten, daß jemand eine Gefälligkeit von ihnen brauchte und bereit war, dafür zu bezahlen. Aber das nur nebenbei.) Melilot, ein wahrlich guter und getreuer Untertan des Kaisers, der—wie alle seine Bekannten bestätigen konnten - hocherfreut über die Ernennung des Prinzen zum hiesigen Statthalter war, hatte sich gedacht, daß wohl ein bestimmter Zweck dahintersteckte. Denn es war doch nicht vorstellbar, daß ein hoher Reichsoffizier so sorglos mit einem ganz offensichtlich streng geheimen Schriftstück umging. Oder?
»Nie!« murmelte Nizharu, aber Schweiß glänzte auf seinen Lippen.
Das nächste war dann schon etwas schwieriger. Alles hing davon ab, ob der Oberst allein schon die Existenz der Schriftrolle geheimhalten wollte oder nicht. Nun, da er wußte, daß Aye-Gophlan sie hatte, war ihm freigestellt, seine Männer zusammenzutrommeln, zur Wachstation zu marschieren und sie vom Fußboden bis zum Dach zu durchsuchen, denn — zumindest hatte Jarveena das behauptet —Aye-Gophlan war viel zu vorsichtig, ein so wertvolles Schriftstück über Nacht der Obhut eines Schreibers anzuvertrauen. Er würde es an seinem nächsten dienstfreien Tag - übermorgen oder überübermorgen, je nachdem, mit welchem seiner Offizierskameraden er Dienst tauschen konnte — zu Melilot zurückbringen.
Melilot hatte gefolgert, wenn das Schriftstück so wichtig war, daß Nizharu es selbst dann bei sich behielt, wenn er nur eine Inspektion vornahm, mußte es wohl sehr privater Natur sein. Offenbar hatte er damit recht. Nizharu lauschte aufmerksam und mit häufigem Nicken dem Plan, den Melilot ihm vorschlug. Für eine angemessene Gebühr war Melilot zu einer falschen Übersetzung bereit, die Aye-Gophlan verführen sollte, etwas zu tun, wofür Nizharu ihn unter Arrest nehmen konnte, ohne daß je bekannt werden mußte, daß er sich zeitweilig im Besitz eines Schriftstücks befunden hatte, welches von Rechts wegen nie aus Nizharus Verwahrung hätte kommen sollen. Es brauchten nur noch die Bedingungen festgesetzt werden, dann war die Sache schon so gut wie gelaufen.
Als sie - die Nizharu immer noch für einen Er hielt, worüber Jarveena sehr froh war — zu reden aufhörte, überlegte der Oberst noch eine Weile. Schließlich begann er zu lächeln, allerdings erreichte dieses Lächeln nicht seine Augen, und stellte mit festen, unmißverständlichen Worten seine Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit Melilot nach dessen vorgeschlagenem Plan. Er beendete die Unterredung, indem er Jarveena zwei Goldmünzen einer Art, die sie nicht kannte, in die Hand drückte und versprach, ihr das Fell abzuziehen, wenn sie nicht beide Melilot aushändigte, und dann auch noch ein Silberstück für sie selbst, wie es in Ilsig als Währung benutzt wurde.
Dann beauftragte er einen Soldaten, den sie bisher nicht gesehen hatte, sie zum Tor und über den Statthalterweg zu begleiten. Aber sie rannte dem Burschen davon, kaum daß sie den Palasthof verlassen hatten, und eilte zum Hintereingang des Skriptoriums in der Seidenhändlergasse.
Da Melilot reich war, konnte er sich Schlösser an seinen Türen leisten. Er hatte ihr einen schweren Bronzeschlüssel mitgegeben, den sie in ihrem Schreibkasten versteckt gehabt hatte. Sie brauchte eine Weile, ehe er in dem Schloß steckte, doch ehe sie ihn noch drehen konnte, schwang die Tür auf, und sie trat ins Haus, wie unter dem Zwang eines fremden Willens.
Sie hatte die richtige Straße oder vielmehr Gasse genommen, war durch die richtige Tür mit dem Vordach gekommen. Draußen war alles in Ordnung.
Doch drinnen war alles absolut, völlig und unerklärlich anders.
Jarveena wollte laut aufschreien, mußte jedoch feststellen, daß ihr der Atem dazu nicht reichte. Eine ungeheure Schwere erfaßte ihre Muskeln, als versänken sie in dickem Leim. Selbst nur ein weiterer Schritt, das wußte sie, würde sie an den Rand der Erschöpfung bringen. So konzentrierte sie sich lediglich darauf, sich umzusehen - und wünschte fast sogleich, sie hätte es nicht getan.
Alles hier war in stumpfes, graues Licht getaucht. Es zeigte ihr hohe Steinwände zu beiden Seiten, einen Steinplattenboden unter den Füßen, doch nichts über ihr, außer treibendem Nebel, der hin und wieder eine gespenstisch bleiche Farbe annahm wie Rosa, Hellblau oder den eklig phosphoreszierenden Glanz eines sterbenden Fisches. Vor ihr befand sich nichts als ein Tisch, ungeheuerlich, ja lächerlich lang, daß Platz für eine ganze Kompanie an ihm gewesen wäre.
Ein Schauder wollte ihr über den Rücken rinnen, doch gelang durch die seltsame Lähmung, die sie erfaßt hatte, nicht einmal dies. Ein Schauder deshalb, weil das, was sie um sich sah, in jeder Beziehung zu den Beschreibungen paßte, die sie flüsternd vom Palast des Enas Yorl gehört hatte. Im ganzen Land gab es nur drei große Zauberer, die so mächtig waren, daß es sie nicht störte, wenn ihre wahren Namen überall genannt wurden. Einer war in Ranke, im Dienst des Hofes; der zweite und geschickteste in Ilsig; und der dritte fand sich aufgrund irgendeines Skandals mit dem bißchen ab, was in Freistatt für ihn zu holen war, und letzterer war Enas Yorl.
Doch wie konnte er hier sein? Sein Palast befand sich an — oder, um genauer zu sein, unterhalb — der Prytanisstraße, wo im Südosten der Tempel straße der Stadtrand begann.
Außer ...
Der Gedanke schob sich in ihr Gedächtnis. Sie kämpfte dagegen an, doch vergebens. Jemand hatte ihr einmal erklärt:
Außer, wenn er anderswo ist!
Plötzlich war es, als schrumpfte der Tisch, und sein unendlich fernes Ende käme immer näher, und mit ihm ein thronähnlicher Lehnstuhl mit hohem Rücken, auf dem eine seltsame Gestalt saß. Sie trug einen ungemein weiten Umhang aus vielen Stofflagen und stumpfem Braun, und einen hohen Hut, dessen breite Krempe irgendwie das Gesicht beschattete, und das trotz des allgegenwärtigen grauen Lichtes hier.
Aber in diesem Schatten glühten zwei rote Punkte wie Funken und zwar etwa dort, wo bei einem Menschen die Augen sein mußten.
Die Gestalt hielt in der Rechten ein halb aufgerolltes Schriftstück, und mit der Linken trommelte sie auf den Tisch. Die Proportionen der Finger waren anormal, und einem oder zweien schienen entweder Glieder zu fehlen, oder sie hatten zu viele. Ein Nagel glitzerte auffällig, doch nicht lange.
Die Gestalt hob den Kopf, wenn man es so nennen konnte, und sagte:
»Ein Mädchen. Interessant! Aber eines, das—gelitten hat! War es eine Bestrafung?«
Jarveena hatte das Gefühl, diese funkelnden roten Punkte konnten mit ihrem Blick nicht nur ihre Kleidung, sondern auch ihr Fleisch durchdringen. Sie konnte nicht sprechen, aber sie brauchte auch nichts zu sagen.
»Nein!« beantwortete der Zauberer—es konnte kein anderer sein - seine eigene Frage. Er ließ das Schriftstück auf den Tisch fallen und es rollte sich von selbst zusammen, während er sich erhob und auf sie zukam. Eine Gebärde, die aussah, als fahre er ihre Umrisse in der Luft nach, befreite sie von der Schwere, die sie gelähmt hatte. Aber sie versuchte nicht zu fliehen, dazu war sie viel zu klug.
Wohin auch?
»Kennst du mich?«
»Ich ...« Sie benetzte die trockenen Lippen. »Ich glaube, Ihr seid Enas Yorl.« »Ah, doch endlich Berühmtheit!« sagte der Zauberer trocken. »Weißt du, weshalb du hier bist?«
»Ihr ... Nun, ich vermute, Ihr habt mir eine F alle gestellt, obgleich ich mir nicht denken kann, wieso, außer es hat etwas mit der Schriftrolle zu tun.«
»Hmmm! Ein schlaues Kind!« Hätte er Brauen gehabt, müßte man nun annehmen, er hebe sie. Gleich darauf bat er: »Verzeih mir, ich hätte nicht >Kind< sagen sollen. Du bist alt an Erfahrung und Klugheit, wenn auch nicht an Jahren. Doch nach dem ersten Jahrhundert bedient man sich allzu leicht gönnerhafter Ausdrücke ...« Er setzte sich wieder auf seinen Lehnstuhl und bedeutete Jarveena mit einer Geste näherzukommen.
Sie zögerte, denn als er sich erhoben hatte, um sie genauer zu betrachten, war er von gedrungener Gestalt gewesen. Jedenfalls hatte es so ausgesehen, als wäre er unter dem wallenden Umhang dick und fleischig und habe einen Bauch wie ein Bierfaß. Doch kaum saß er wieder, war offensichtlich, daß er dünn und feingliedrig war, und eine Schulter etwas höher trug als die andere.
»Ah, du hast es bemerkt«, sagte er. Auch seine Stimme hatte sich verändert. War sie zuvor ein tiefer Bariton gewesen, so war sie nun im schmeichelhaftesten Fall ein hoher Tenor. »Opfer der Umstände, wir beide, ich ebenso wie du. Nicht ich habe dir diese Falle gestellt. Das hat das Schriftstück.«
»Eine Falle für mich? Aber warum?«
»Ich habe mich etwas unklar ausgedrückt. Die Falle wurde nicht für dich direkt gestellt, sondern für jemanden, für den sie den Tod eines anderen bedeuten würde. Ich nehme an, du bist geeignet, ob du es nun weißt oder nicht. Überleg mal! Laß der Phantasie freien Lauf! Hast du vielleicht jemanden erkannt, der erst vor kurzem in die Stadt kam?«
Jarveena spürte, wie ihr Gesicht blutleer wurde. Sie ballte die Fäuste.
»Herr, Ihr seid ein wahrhaft großer Zauberer. Ich erkannte heute nacht jemanden. Jemanden, den wiederzusehen ich nicht einmal träumte. Jemanden, den ich mit Freuden töten würde, nur daß der Tod viel zu gut für ihn ist!«
»Erklär es mir.« Enas Yorl stützte einen Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Faust—nur, daß weder Ellbogen, Kinn noch Faust so waren, wie sie üblicherweise sein müßten.
Jarveena zögerte kurz, dann ließ sie den Umhang von den Schultern fallen, riß die Schleife des Wamsverschlusses auf und zog die Verschnürung auf, daß das Wams sich weit öffnen ließ und die Narben, braun an braun, offenbarte, die nie verschwinden würden, genausowenig wie der große platte Hautlappen, wo ihre Brust hätte sein sollen.
»Warum etwas vor einem Zauberer verbergen wollen!« sagte sie bitter. »Der Unhold befehligte die Männer, die mir das angetan haben und anderen, vielen anderen, noch weit Schlimmeres. Ich hielt sie für Banditen! Und kam nach Freistatt, in der Hoffnung, hier, wenn nirgend sonstwo, ihre Spur aufnehmen zu können — denn wie fänden Banditen Einlaß in Ranke oder den eroberten Städten? Doch nie hätte ich geträumt, ich würde sie in der Rüstung der kaiserlichen Leibgarde wiederfinden!«
»Sie ...?« fragte Enas Yorl.
»Ah ... Nein. Ich muß zugeben, ich könnte nur bei einem schwören, daß er es war!«
»Wie alt warst du damals?«
»Neun. Und sechs erwachsene Männer schändeten mich, ehe sie mit Drahtpeitschen auf mich einschlugen und mich liegenließen, weil sie mich für tot hielten.«
»Ich verstehe.« Er griff wieder nach der Schriftrolle und tupfte abwesend damit auf die Tischplatte. »Kannst du nun ergründen, was auf dieser Rolle geschrieben steht? Bedenke, daß sie mich zwang hier zu sein!«
»Zwang? Aber ich dachte ...«
»Daß ich freiwillig, mit voller Absicht, hier bin? O ganz im Gegenteil.« Sein Lachen klang schrill und ätzend. »Ich sagte doch, daß wir beide Opfer sind. Vor langer Zeit, als ich noch sehr jung war, benahm ich mich entsetzlich töricht. Ich versuchte, jemandem, der viel mächtiger war als ich, die Braut wegzunehmen. Als er es erfuhr, konnte ich mich zwar gegen ihn wehren, aber ... Du weißt doch, was ein Zauber ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er ist—Aktivität. Soviel Aktivität wie ein Stein Passivität ist, ich meine damit, daß er sich zwar bewußt ist, ein Stein zu sein, aber nichts anderes. Ein Wurm ist sich etwas mehr bewußt, ein Hund oder Pferd viel mehr, ein Mensch sehr, sehr viel mehr—aber nicht unendlich viel mehr. Waldbrände, Stürme, Sterne und so weiter tun etwas, völlig ohne eigenes Bewußtsein, das sich auf anderes auswirkt. Bei einem Zauber ist es etwas Ähnliches. Er entsteht durch einen Willensakt und hat keinen eigenen Zweck, kein eigenes Ziel, nur Zweck und Ziel, die sein Schöpfer ihm verleihen. Und mein Nebenbuhler bedachte mich mit einem Zauber, der ... Aber das spielt hier keine Rolle. Es klingt ja schon fast so, als bemitleide ich mich selbst, dabei weiß ich, daß ich an meinem Geschick selbst schuld bin. Und wir wollen doch nicht ungerecht sein! Dieses Schriftstück ist vielleicht ein Instrument der Gerechtigkeit. Es stehen zwei Urteile darauf...
... Todesurteile!«
Während er sprach, hatten sich unter seinem weiten Umhang neue Veränderungen ergeben, außerdem war seine Stimme nun kräftig und klangvoll. Und seine jetzt schlanken Hände hatten die richtige Zahl von Fingergelenken. Aber immer noch glühten die roten Punkte.
»Wenn ein Urteil für Oberst Nizharu bestimmt ist«, sagte Jarveena fest, »hoffe ich, daß es bald vollstreckt wird.«
»Das ließe sich machen!« sagte Enas Yorl mit seltsamer Betonung. »Für einen Preis.«
»War nicht er damit gemeint? Ich dachte ...«
»Du dachtest, es künde sein Geschick an und er sei deshalb so besorgt über seinen Verlust? Auf gewisse Weise stimmt das auch. Auf gewisse Weise ... Und ich kann dafür sorgen, daß sein Schicksal sich erfüllt. Für einen Preis.« »Welchen — Preis?« Obwohl sie es zu verhindern suchte, zitterte ihre Stimme. Wieder erhob er sich von seinem Stuhl und schüttelte seinen Umhang, daß er weit um ihn wallte und mit weichem Rascheln über den Boden strich.
»Mußt du das fragen? Einen, der so offensichtlich vom Verlangen nach Frauen erfüllt ist? Du weißt doch nun, daß ich deshalb mit diesem Zauber bestraft wurde, ich verschwieg es dir nicht.«
Eis schien sich um Jarveenas Herz zu bilden. Ihr Mund dörrte aus.
»Warum denn so scheu?« schnurrte Enas Yorl und nahm ihre Hand in seine. Ich versichere dir, du hattest bestimmt schon üblere Bettgefährten.«
Es stimmte. Die einzige Möglichkeit, die sie gefunden hatte, die ermüdenden Meilen zwischen dem nun vergessenen Hain und Freistatt zurückzulegen, hatte darin bestanden, sich hinzugeben: Kaufleuten, Söldnern, Pferdeknechten, Wachleuten ...
Mit einem letzten Aufbegehren sagte sie: »Dann verratet mir zuvor, wem die Todesurteile gelten.«
»Ich will dir die Antwort nicht vorenthalten. So wisse denn, daß eines für einen Ungenannten ist, den man fälschlich des Mordes an einem anderen beschuldigen wird. Und das zweite ist für den neuen Statthalter, den Prinzen.«
Danach erlosch das Licht und sie leistete keinen Widerstand, als er sie an sich zog.
Jarveena erwachte spät. Es war gewiß schon eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang. Sie lag in ihrem eigenen Bett, doch von ihr abgesehen war der Schlafsaal leer. Sie empfand eine wundervoll wohlige Müdigkeit. Enas Yorl hatte nicht übertrieben. Wenn er schon in jungen Jahren so geschickt gewesen war, wunderte sie sich nicht, daß die Braut seines Nebenbuhlers ihn vorgezogen hatte. Widerstrebend öffnete sie die Augen und sah etwas auf dem Kopfkissen liegen. Verwirrt blinzelte sie und schaute erneut, dann streckte sie eine Hand aus und berührte grüne, schillernde pulvrige —
Schuppen!
Mit einem Aufschrei sprang sie aus dem Bett, gerade als Melilot mit wutgerötetem Gesicht herbeigestürmt kam.
»Da bist du also, du kleine Schlampe! Wo warst du die ganze Nacht? Ich habe auf dich gewartet, bis mir die Augen zufielen! Ich war inzwischen schon sicher, daß die Wachen dich verhaftet und in den Kerker geworfen hatten! Also sprich schon! Was hat Nizharu gesagt?«
Nackt und verwirrt, wie sie war, fühlte Jarveena sich entsetzlich verlegen. Da fiel ihr Blick auf etwas ungemein Beruhigendes. Am hölzernen Haken über ihrem Bett hingen ihr Umriang, Wams und Beinkleid, genau wie ihr kostbarer Schreibkasten, genau, als hätte sie selbst sie aufgehängt, ehe sie zu Bett ging.
Sie griff nach dem Schreibkasten und öffnete das Fach, wo sie dergleichen gewöhnlich verbarg, und brachte triumphierend die zwei Goldstücke zum Vorschein, die sie vom Oberst erhalten hatte - nicht jedoch das Silberstück, das sie für sich selbst bekommen hatte.
»Das bezahlte er für eine falsche Übersetzung des Schriftstücks«, erklärte sie. »Aber Ihr solltet keine machen.«
»Was?« Melilot entriß ihr die Goldmünzen und wollte schon mit den Zähnen ihre Echtheit prüfen, als er sich doch zurückhielt.
»Wie würde es Euch gefallen, zum Hofschreiber des Statthalters ernannt zu werden?«
»Bist du verrückt?« Dem fetten Mann quollen die Augen schier aus den Höhlen. »Durchaus nicht.« Ohne sich von Melilots Anwesenheit stören zu lassen, langte Jarveena unter das Bett, holte den Nachttopf hervor und führte ihn seinem vorgesehenen Zweck zu. Inzwischen erklärte sie den Plan, den sie sich ausgedacht hatte.
»Aber das bedeutet, daß du das Schriftstück gelesen hast!« sagte Melilot überlegend, während er sich ihren Vorschlag durch den Kopf gehen ließ. »Es ist doch verhext! Wie hast du es da fertiggebracht?«
»Ich gar nicht, wohl aber Enas Yorl.«
Melilots Lippen bewegten sich, ohne einen Laut hervorzubringen und sein Gesicht wurde fahl. »Aber sein Palast wird von Basilisken bewacht!« brachte er endlich hervor. »Ihr Blick hätte dich versteinert!«
»Ganz so ist es nicht«, entgegnete Jarveena. Sie schlüpfte in ihr Beinkleid und war dankbar, daß es ihr so schnell gelang. Diese schreckliche Lähmung würde sie noch jahrelang im Traum verfolgen! »Warum langes Herumgerede«, meinte sie. »Bringt die Schriftrolle doch hierher, oder vielmehr, warum gehen wir nicht und sehen sie uns nochmal an?«
Kaum zwei Minuten später waren sie bereits in Melilots Arbeitsgemach.
»Nun läßt es sich tatsächlich lesen!« staunte Melilot, als er das Schriftstück zum zweitenmal überflogen hatte. »Es ist ein sehr geschraubtes Hochrankene - ich kenne wederhier noch in den obersten Städten jemanden, der es für einen Brief benutzen würde. Aber tatsächlich steht darauf, was du gesagt hast.« Er erzitterte vor Ehrfurcht so stark, daß seine Fettwülste schwabbelten.
»Seid Ihr denn auch sicher, daß es dasselbe Schriftstück ist?« fragte Jarveena. »Daß es nicht vielleicht ausgetauscht wurde?«
»Niemand kann es ausgetauscht haben. Es lag die ganze Nacht in einer verschlossenen Truhe. Nur Zauberei kann dafür verantwortlich sein, was mit ihm passiert ist!«
»Dann wollen wir uns an die Arbeit machen!« sagte das Mädchen zufrieden.
Jeden Mittag fand im Hof des Statthalterpalasts vor dem Eingang zur Gerichtshalle die zeremonielle Wachablösung statt. Dieses Schauspiel war öffentlich, jeder, der wollte, durfte zusehen, aber in der Praxis sah es anders aus. Nur, wer es sich leisten konnte, die Posten am Tor zu bestechen, wurde überhaupt eingelassen. Deshalb gehörten die Zuschauer zur besseren Gesellschaft und zum Gefolge von Edelleuten. Aber es waren auch immer einige darunter, die vor Gericht geladen waren, oder aus einem anderen Grund dort zu hin hatten. Melilot kam jedenfalls häufig hierher, da immer wieder Übersetzungen von irgendwelchen Schriftstücken benötigt wurden. Deshalb fielen seine und Jarveenas Anwesenheit hier auch nicht als ungewöhnlich auf. Außerdem war bekannt geworden, daß heute der letzte Tag war, da die Elitewachen der kaiserlichen Garde die zeremonielle Wachablösung durchführten, denn fünfzehn von ihnen hatten den Befehl, nach Ranke zurückzukehren. Aus diesem Grund war die Zuschauermenge weit größer als sonst, und sie wartete auch auf das Erscheinen des Statthalters, der die Zeremonie immer persönlich überwachte, wenn er sich in der Residenz befand.
Es war ein warmer, trockener, staubiger Tag. Die Sonne warf starke, dunkle Schatten. Zelte und Steinmauern schienen dadurch ein einziges Ganzes zu sein. Bei den Menschen war es nicht viel anders. Unter den geschlossenen Visieren war leicht ein Soldat mit einem anderen zu verwechseln, sofern die Statur gleich war.
Eigentlich war nicht ein Wachtrupp von der Wachstation an der Hauptstraße an der Reihe, die Höllenhunde abzulösen. Aber eine großzügige Summe, ein scharfer Befehl von Aye-Gophlan, und das Problem war gelöst.
Jarveena tat ihr bestes so dreinzuschauen, als wäre sie eine einfache Zuschauerin, die der zackige Marsch der Soldaten aus der Hauptstadt beeindruckte, und nicht jemand, dessen glühende Rache bald Erfüllung finden sollte.
Es fiel ihr jedoch wirklich schwer, ihre wahren Gefühle nicht zu zeigen.
Der ablösende Wachtrupp marschierte vom Statthalterweg herein, tauschte militärische Begrüßung und Losung mit dem Reichstrupp aus und formierte sich in der Mitte des Hofes. Mit zwei Stabsoffizieren an seiner Seite übergab Oberst Nizharu zeremoniell die Wache an seinen Nachfolger und stellte sich neben ihm zur Inspektion durch den Statthalter auf. Sobald das vorbei war, würden die zurückbeorderten Reichssoldaten aufbrechen und zur Hauptstadt zurücckehren. Kaum zehn Minuten später, unter begeisterten Zurufen der Menge bei Beendigung des Parademarschs der Höllenhunde, verließ der Prinz den Paradeplatz Arm in Arm mit Nizharu. Letzterer war in die Hauptstadt zurückberufen worden, doch fünf seiner Kameraden sollten bleiben, um eine Leibwache aus einheimischen Soldaten für den Statthalter auszubilden und zwar nach den hohen Maßstäben der Leibgarde.
So jedenfalls ging das Gerücht. Aber Gerüchte stimmten nicht immer. Behutsam und äußerst geschickt bahnte Melilot sich einen Weg durch die Menge zur vordersten Reihe, und als die beiden näherkamen und alle sich tief verbeugten, sagte er laut und deutlich: »Ah, Oberst! Welch ein Glück! Nun kann ich Euch die Schriftrolle zurückgeben, die Ihr gestern früh verloren habt!«
Nizharu hatte, um sich Kühlung zu verschaffen, das Visier geöffnet, so war gut zu sehen, wie sein Gesicht sich verfärbte. »Ich — ich weiß nichts von einer Schriftrolle!« entgegnete er heftig, nachdem er sich gefaßt hatte.
»Nein? Nun in diesem Fall, ich meine, wenn sie nicht Euch gehört, bin ich sicher, Seine Hoheit wird sie mir abnehmen, um zu veranlassen, daß der rechtmäßige Besitzer gefunden wird!«
So fett er auch war, konnte Melilot doch sehr flink sein, wenn es die Lage gebot. Er zog das Schriftstück unter seinem Gewand hervor und steckte es Jarveenas eifrig zugreifender Hand zu. Einen Herzschlag später machte sie einen Hofknicks und blickte in das hübsche jugendliche, doch nichtssagende Gesicht des Prinzen.
»Lest, Eure Hoheit!« sagte sie heftig und drückte ihm die Schriftrolle fast mit Gewalt in die Hand.
Kaum hatte der Statthalter gelesen und begriffen, erstarrte er - ganz im Gegensatz zu Nizharu, der herumwirbelte, seine Männer anbrüllte und Reißaus nahm. Das Messer, das Jarveena in ihrem Schreibkasten bei sich trug, diente ihr nicht nur zum Spitzen ihrer Rohrfedern. Mit der Geschicklichkeit langer Übung schwang sie es zurück, zielte und warf.
Aufheulend nahm Nizharu sein Maß der Länge nach auf dem Boden. Der Messerschaft ragte aus der rechten Kniekehle, wo nur das Leder, nicht das Metall der Rüstung ihn schützte.
Die Menge schrie erschrocken und war der Panik nahe, aber die ablösende Wache war gewarnt. Hauptmann AyeGophlan befahl seinen Männern, Nizharu zu umzingeln und gefangenzunehmen, während der ergrimmte Prinz mit fast überschnappender Stimme den Zuschauern erklärte, was vorging.
»Diese Botschaft ist von einem Verräter am kaiserlichen Hof. Er beauftragt Nizharu, mich von einem seiner Leute ermorden zu lassen, sobald jemand gefunden ist, dem man diese Untat in die Schuhe schieben kann! Und es steht noch darauf, daß diese Botschaft mit einem Zauber behaftet ist, um zu verhindern, daß andere als der vorgesehene Empfänger sie lesen können - aber ich kann sie mühelos lesen! Es ist die Hofschrift, die man mich als Kind lehrte!«
»Wir — ah — sorgten dafür, daß der Zauber aufgehoben wurde«, erklärte Melilot und fügte hastig hinzu: »Eure Hoheit!«
»Wie seid Ihr zu ihm gekommen?«
»Nizharu hat es verloren, als er unsere Wachstation inspizierte.« Aye-Gophlan war herangetreten und hatte Haltung angenommen. »Da ich das Schriftstück für wichtig hielt, konsultierte ich Meister Melilot, der mit seit langem als kaiserstreu und verschwiegen bekannt ist.«
»Und was mich betrifft ...« Melilot zuckte abwertend die Schulter. »Sagen wir es so: ich habe gewisse Verbindungen und so fiel es mir nicht schwer, dem Zauber entgegenzuwirken.« Wie wahr, dachte Jarveena und staunte, wie geschickt er lügen konnte.
»Ihr sollt Euren gebührenden Lohn erhalten«, versicherte ihm der Prinz. »Und nach dem Gerichtsverfahren er ebenfalls! Versuchter Anschlag auf einen kaiserlichen Blutes! Ein Verbrechen, wie man es sich verruchter nicht vorstellen kann! Welch ein Wunder, daß er die Schriftrolle fallen ließ! Wahrlich, die Götter sind mir wohlgesinnt!« Wieder hob er die Stimme: »Heute abend sollen alle Dankesopfer darbringen. Dank göttlichen Schutzes bin ich einem heimtückischen Anschlag entgangen!«
Göttlich! dachte Jarveena spöttisch. Wenn die Götter nicht besser sind als Melilot, bin ich es zufrieden, ungläubig zu sein. Aber ich kann es kaum erwarten, Nizharus Ende zu sehen!
»In Anbetracht deiner gegenwärtigen Gefühle, Jarveena, bewundere ich deine Haltung.«
»Was bleibt mir anderes übrig«, antwortete sie bitter. Die Menge ringsum verlief sich, verließ die Hinrichtungsstätte, wo der Verräter Nizharu für seine vielen Verbrechen bezahlt hatte, indem er geschlagen, gehenkt und schließlich verbrannt worden war.
Plötzlich zuckte Jarveena zusammen. Die Person, die sie angesprochen hatte, war niemand, den sie kannte. Sie war hochgewachsen, etwas gebeugt, ältlich, mit grauen Strähnen, und trug einen Marktkorb ...
Und wo die Augen sein müßten, funkelte etwas rot.
»Enas Yorl?« flüsterte sie.
»Derselbe.« Er lachte trocken. »Sofern ich das je von mir behaupten kann ... Bist du zufrieden?«
»Ich — ich glaube nicht.« Jarveena wandte sich ab und ging weiter. »Obwohl ich es doch sein sollte! Ich ersuchte darum, die Urteilsbegründung schreiben zu dürfen und hatte vor, meine Eltern, meine Freunde und die Dorfbewohner zu erwähnen, die er hinmetzeln oder versklaven ließ, aber mein Hochrankene ist nicht gut genug, so mußte ich mich damit zufriedengeben, den Entwurf Melilots ins Reine zu schreiben!«
Wild warf sie das Haar zurück. »Und ich hatte gehofft, vor Gericht aussagen zu können, zu beschwören, was er getan hat, und zu sehen, wie die Mienen der Zuschauer sich veränderten, wenn sie erfuhren, welch gemeiner Unhold sich unter der Rüstung eines kaiserlichen Gardisten verbarg ... Sie sagten, weitere Aussagen nach denen Aye-Gophlans, Melilots und des Prinzen seien nicht nötig.«
»Zu reden, nachdem schon Prinzen gesprochen haben, könnte gefährlich sein«, meinte der Zauberer. »Wie dem auch sei, es scheint dir klar geworden zu sein, daß vollendete Rache nie so ist, wie man es sich erhofft hat. Nimm meinen eigenen Fall. Er, der mir antat, was du weißt, war so entschlossen, mich mit seiner grimmigsten Rache zu bedenken, daß er sich Zauber bediente, die über seine Kräfte gingen. Das heißt, eigentlich benutzte er nur einen Zauber zu viel, als für ihn gut war. Jeder kostete ihn einen gewissen Teil seines Willens, denn, wie ich dir schon einmal erklärte, haben Zauber weder eigenen Zweck noch eigenes Ziel. Beides mußte er ihnen erst geben. In seiner Blindheit der Wut ging er dabei zu weit und beraubte sich selbst seiner Vernunft. Von da an saß er bis zum Ende seiner Tage nur brabbelnd und wimmernd wie ein kleines Kind herum.«
»Warum erzählt Ihr mir das?« rief Jarveena. »Ich möchte das Beste aus meinem Augenblick der Befriedigung machen, selbst wenn er nicht so großartig und erinnerungswürdig war, wie ich es erträumt hatte.«
Der Zauberer faßte ihren Arm, und von seinen Fingern ging ein wundersamer Strom aus, der sie zuriefst erregte. »Weil du einen ehrlichen Preis für meine Hilfe bezahlt hast. Ich werde dich nicht vergessen. Auch wenn du durch deine Narben äußerlich gebrandmarkt bist, bist du doch innerlich schön.«
»Ich?« Jarveena staunte ehrlich. »Genausogut könntet Ihr eine Kröte schön nennen oder eine Lehmmauer.«
»Wie du meinst.« Enas Yorl zuckte die Schulter. Diese Bewegung machte deutlich, daß er nicht mehr so aussah wie noch einen Augenblick zuvor. »Es gibt einen wichtigen zweiten Grund.«
»Welchen?«
»Du hast das Schriftstück selbst gelesen, und vorher hatte ich dir gesagt, was darauf steht. Trotzdem benimmst du dich, als erinnertest du dich nicht mehr genau.«
Einen Moment blinzelte sie, als hätte ihr Gedächtnis sie tatsächlich im Stich gelassen, doch dann atmete sie erschrocken ein.
»Zwei Todesurteile!« wisperte sie.
»So ist es. Und ich brauche dir wohl nicht erst zu sagen, an wen ein Verräter am kaiserlichen Hof sich wenden würde, wenn er einen so mächtigen Zauber benötigt, daß selbst ich gegen meinen Willen mit hineingezogen werden konnte. Ich konnte zwar das Schriftstück lesbar machen, aber nicht die Folgen der Arbeit eines Kollegen verhindern.«
»Wer ist der zweite, der sterben soll? Ich?«
»Es wäre klug, die Gefahr zu verringern, indem du, beispielsweise, eine Stellung auf einem Kauffahrer annimmst. Viele Handelskapitäne wären froh, einen guten Schreiber zu bekommen. Und nach deiner Lehre bei Melilot hast du auch die Voraussetzungen für eine solche Stellung. Außerdem neigt dein gegenwärtiger Meister zu Mißgunst. Du bist nur halb so alt wie er und doch betrachtet er dich bereits als Konkurrenz.«
»Er verbirgt es gut«, murmelte Jarveena, »aber hin und wieder benahm er sich doch so, daß ich nicht an Euren Worten zweifle.«
»Er würde dich vielleicht mit freundlicheren Augen sehen, würdest du eine Art Auslandsvertreter für ihn werden. Ich bin sicher, du könntest ihn - für eine angemessene Entschädigung - mit nützlicher Information, was den Handel betrifft, versorgen. Er wäre bestimmt nicht abgeneigt, sein Geschäft zu erweitern — durch Handel mit Gewürzen, beispielsweise.«
Eine Weile hatte es ausgesehen, als hätten Enas Yorls Worte Jarveena aufgemuntert, doch nun sank sie in ihre düstere Stimmung zurück.
»Weshalb sollte mir daran liegen, reich zu werden, oder gar ihn reich zu machen? Solange ich mich erinnern kann, hatte ich ein Ziel vor Augen. Ich habe es erreicht, und nun ist es mit Nizharu in Rauch aufgegangen.«
»Um einen Zauber bestellen zu können, muß man sehr reich sein.«
»Was sollte ich mit Magie?« fragte sie verächtlich.
Einen Augenblick später war ihr, als flösse Feuer über ihren ganzen Körper, zeichne jede Narbe, die sie entstellte, jede Peitschenstrieme, jedes Brandmal, jeden Schnitt, jeden Kratzer. Sie hatte es inzwischen vergessen gehabt, doch während jener außergewöhnlichen Nacht, in der sie bei ihm gelegen hatte, hatte er sich die Mühe gemacht, durch die Karte, die ihre Haut war, der Spur ihres ganzen, geschändeten Lebens nachzugehen.
Nun erinnerte sie sich auch, daß sie geglaubt hatte, er habe es aus einem persönlichen, magischen Grund getan. Hatte sie sich vielleicht getäuscht? Konnte es viel simpler gewesen sein? War es möglicherweise ganz einfach deshalb, weil er Mitleid mit jemandem hatte, den das Leben auf andere Weise mit Narben gezeichnet hatte?
»Vielleicht wünschst du dir«, sagte er nun ruhig, »deinen Körper so von der Vergangenheit zu reinigen, wie du nun dabei bist, zumindest glaube ich das, es mit deinem Geist zu tun.«
»Selbst ... ?« Sie brachte es nicht fertig, den Satz mit Worten zu beenden, aber so, wie sie die Hand zur rechten Brustseite hob, war es noch beredter.
»Mit der Zeit. Du bist noch sehr jung. Nichts ist unmöglich. Aber etwas ist nur zu leicht möglich. Wir haben davon gesprochen. Nun mußt du handeln!«
Sie hatten das Tor fast erreicht. Die Menge schob und rempelte sie, und die Leute legten ihre Hände um ihre Geldgürtel und -beutel, denn leichter als jetzt konnten Taschendiebe es nicht haben.
»Ich nehme an, Ihr hättet gar nicht davon gesprochen, wenn Ihr nicht bereits einen neuen Arbeitgeber für mich wüßtet«, sagte Jarveena schließlich.
»Du bist sehr klug.«
»Und wenn Ihr Euch nicht einen langfristigen Vorteil davon erhofftet«:, fuhr das Mädchen fort.
Enas Yorl seufzte. »Für alles gibt es einen langfristigen Zweck. Wenn nicht, wären Zauber unmöglich.«
»So steckte auch ein Zweck dahinter, daß Nizharu die Schriftrolle fallen ließ?« »Fallenließ ...?«
»Oh! Warum habe ich nicht selbst daran gedacht!«
»Mit der Zeit hättest du es bestimmt. Aber du bist noch nicht lange genug in Freistatt, um zu wissen, daß AyeGophlan in seiner frühesten Jugend einer der geschicktesten Taschendiebe der Stadt war. Wie sonst, glaubst du, hätte er sich bei der Wache einkaufen können? Du denkst doch nicht, daß er aus einer begüterten Familie stammt?«
Sie waren nun am Tor und wurden hindurchgequetscht. Jarveena drückte mit einer Hand ihren Schreibkasten fest an sich und legte die andere auf die Silberbrosche, die den eng zusammengerollten Umhang um ihre Taille festhielt, und dachte eingehend nach.
Und faßte einen Entschluß.
Obgleich es ihren bisherigen Hauptlebenszweck nun nicht mehr gab, sah sie keinen Grund, weshalb sie nicht einen anderen finden sollte und vielleicht dazu auch ein bißchen Ehrgeiz. Und wenn dem so war, gab es wiederum guten Grund, zu versuchen ihr Leben zu verlängern, indem sie Freistatt verließ.
Obgleich ...
Erschrocken schaute sie sich nach dem Zauberer um und befürchtete schon, in den Menschenmassen von ihm getrennt worden zu sein; um so erleichterter war sie, als sie ihn am Arm fassen konnte.
»Spielt Entfernung denn eine Rolle?« fragte sie. »Ich meine, wenn mir das Verhängnis beschieden ist, kann ich ihm dann entfliehen?«
»Oh, es muß ja nicht dir beschieden sein. Es ist nur, daß eben zwei Todesurteile auf dem Schriftstück standen und bloß eines vollstreckt wurde. Jeden Tag jedes Jahres sterben Dutzende in jeder Stadt dieser Größe. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß der Zauber hier seine Erfüllung findet. Der Blitz schlägt dort ein, wo das Gewitter tobt, nicht hundert Meilen davon entfernt. Es ist auch durchaus vorstellbar, daß die zweite Vollstreckung für jemanden gedacht ist, der soviel Schuld auf sich geladen hat wie Nizharu durch seine Greueltaten im vergessenen Hain. Er hatte doch Soldaten bei sich, oder nicht?«
»Ja, es waren alles Soldaten, obgleich ich sie sehr lange für Banditen gehalten hatte. O was ist nur aus diesem Land geworden! Ihr habt völlig recht. Ich werde fortgehen, so weit ich nur kann, gleichgültig, ob es mir dadurch gelingen wird, dem Tod zu entgehen, oder nicht!«
Sie faßte seine Hand und drückte sie fest, dann fragte sie leise: »Wie heißt das Schiff, das ich suchen muß?«
An dem Tag, da das Schiff in See stach, war es für Enas Yorl zu gefährlich, sich auf die Straße zu wagen. Zu bestimmten Zeiten nahmen seine Veränderungen Formen an, die niemand, auch nicht mit dem besten Willen, für menschlich halten konnte. Es blieb ihm deshalb nichts übrig, als sich seiner Kristallkugel zu bedienen. Jedenfalls war er entschlossen, sich zu vergewissern, daß mit seinem Plan nichts schiefging. Alles verlief wie vorgesehen. Er sah das Schiff mit Jarveena am Heck und beobachtete sie, bis der Nebel über dem Meer sie verbarg. Dann lehnte er sich in seinem Lehnsessel zurück, nur sah er im Augenblick wirklich nicht so aus, wie man sich einen Sessel vorstellte.
»Da du nun nicht mehr hier bist, um ihn anzuziehen«, murmelte er in die Luft, »lenkt das Glück vielleicht den zweiten Tod zu einem, der seiner Wahnsinnsexistenz und der endlosen Verwandlungen über alle Maßen müde ist, nämlich auf diesen elenden, erbarmungswürdigen Enas Yorl.«
Und doch glomm ein Funke Hoffnung in ihm wie die rote Glut, die ihm statt Augen gegeben war; denn er wußte, daß zumindest ein Mensch auf der Welt freundlicher von ihm dachte als er selbst. Mit schnaubendem Lachen warf er schließlich das Tuch wieder über die Kristallkugel und wartete resigniert, daß seine gegenwärtige grauenvolle Form sich verändere. Ein bißchen tröstete ihn der Gedanke, daß sie ihn dann nie wieder quälen würde, denn bisher hatte er noch keine zwei Mal das gleiche Aussehen gehabt.