Einleitung

1. Der Kaiser

»Aber gewiß werden Eure Kaiserliche Majestät doch die betreffenden Tatsachen nicht in Frage stellen!«

Das lange Gewand wallte um seine Füße, während der neue Herrscher des rankanischen Reiches ungehalten hin und her schritt und heftig den Kopf schüttelte.

»Wir stellen die Tatsachen nicht in Frage, Kilite«, entgegnete er, »aber Wir werden keinesfalls den Tod Unseres Bruders befehlen.«

»Stiefbruder!« verbesserte ihn sein oberster Berater spitz.

»Das Blut Unseres Vaters fließt in Unser beider Adern, und Wir werden nicht zulassen, daß es vergossen wird!«

»Aber Eure Majestät«, sagte Kilite nun fast flehend, »Prinz Kadakithis ist jung und idealistisch ...«

»... und Wir nicht«, beendete der Kaiser den Satz für ihn. »Kilite, Er reitet auf dem Augenscheinlichen herum. Dieser Idealismus ist Unser Schutz! Prinz Kadakithis würde genausowenig eine Rebellion gegen den Kaiser—gegen seinen Bruder! — anführen, wie Wir seinen Tod befehlen würden.«

»Es ist nicht der Prinz, den wir fürchten, Eure Kaiserliche Majestät, sondern jene, die ihn zu benutzen suchen.« Der Berater gab nicht nach. »Wenn es einem seiner falschen Freunde gelänge, ihn zu überzeugen, daß die Herrschaft Eurer Kaiserlichen Majestät ungerecht oder unmenschlich sei, würde dieser Idealismus ihn dazu treiben, gegen Eure Majestät vorzugehen, obgleich er Eure Majestät als Bruder liebt.«

Des Kaisers unruhige Schritte wurden langsamer, bis er schließlich mit leicht hängenden Schultern stehenblieb.

»Kilite, Er hat recht. Alle meine Berater haben recht.« Resignation sprach aus des Kaisers Stimme. »Etwas muß geschehen, um Unseren Bruder von dieser Brutstätte der Intrigen hier in Unserer Hauptstadt zu entfernen. Wir möchten jedoch den Gedanken an Gewalt erst als allerletzten Ausweg in Erwägung ziehen.«

»Wenn Eure Kaiserliche Majestät einen anderen Vorschlag hätte, würde ich mich geehrt fühlen, ihn ins Auge fassen zu dürfen.« In seiner Weisheit verbarg Kilite sein Triumphgefühl.

»Wir haben augenblicklich keinen Vorschlag«, gestand der Kaiser. »Noch werden Wir in der Lage sein, uns damit zu befassen, bis nicht etwas anderes erledigt ist, das schwer auf Uns drückt. Gewiß dürfte das Reich doch noch ein paar Tage sicher vor Unserem Bruder sein?«

»Was ist diese andere Angelegenheit, die Eurer Kaiserlichen Majestät Sorgen macht?« erkundigte sich der Berater, ohne auf seines Herrschers sichtliche Bemühung um Gleichmut zu achten. »Wenn ich Eurer Majestät vielleicht behilflich sein könnte ...«

»Es ist nichts weiter. Eine unwichtige Entscheidung, trotzdem unerfreulich. Wir müssen einen neuen Militärstatthalter für Freistatt ernennen.«

»Freistatt?« Kilite runzelte die Stirn.

»Eine kleine Stadt an der Südspitze des Reichs. Wir selbst hatten leichte Schwierigkeiten, sie zu finden - sie ist auf den neueren Karten gar nicht mehr eingetragen. Welchen Grund es auch immer für die Existenz dieser Stadt gab, er scheint überholt zu sein. Die Stadt siecht dahin und sieht ihrem Ende entgegen, sie ist nichts weiter mehr denn eine Zuflucht für kleine Gauner und heruntergekommene Abenteurer. Aber trotzdem, sie gehört jedenfalls zum Reich.«

»Und sie braucht einen neuen Statthalter«, murmelte Kilite nachdenklich.

»Der bisherige tritt seinen verdienten Ruhestand an.«

Der Kaiser zuckte die Schulter. »Und Wir haben ein neues Problem. Als Reichsgarnisonsstadt steht ihr ein Statthalter von Rang und Namen zu — jemand, der das Reich gut genug kennt, es würdig zu vertreten, und der als Mittler zwischen Freistatt und der Hauptstadt geeignet ist. Er muß fähig sein, für Recht und Ordnung zu sorgen, etwas, worin der alte Statthalter wohl etwas lässig war, fürchten Wir.«

Ohne daß es dem Kaiser bewußt war, fing er erneut an, unruhig hin und her zu schreiten.

»Unser Problem ist, daß ein solcher Mann anderswo im Reich besser eingesetzt wäre. Uns deucht es eine Vergeudung, einen guten Mann für einen solchen, unbedeutenden Posten zu ernennen, ja fast in Verbannung zu schicken.«

»Eure Majestät sollte es nicht >in Verbannung< nennen, sondern >weit fort von der Brutstätte der Intrigen<.«

Der Kaiser blickte seinen oberstem Ratgeber lange an. Dann begannen beide Männer herzhaft zu lachen.

2. Die Stadt

Hakiem, der Geschichtenerzähler, leckte sich den Staub von den Lippen und blinzelte in die Morgensonne. Es würde heute wieder heiß werden - eine Weintag, falls er sich Wein leisten konnte. An die kleinen Annehmlichkeiten, wie Wein, die er sich gönnte, war zusehends schwerer heranzukommen, denn Karawanen, die hierherkamen, wurden immer seltener.

Gleichmütig zerquetschte er einen Sandfloh, der sich unter seinen Lumpen eingenistet hatte, und machte es sich müde an seinem neuen Platz am Rand des Basars bequem. Von seinem früheren Stammplatz am großen Kai hatten die Fischer ihn vertrieben, weil er sie angeblich bestohlen hatte. Ausgerechnet er! Bei der Unzahl von Dieben in der Stadt mußten sie gerade ihn beschuldigen! »Hakiem!«

Er schaute sich um und sah eine Bande von sechs Straßenjungen mit leuchtenden Augen und aufgeweckten Gesichtern auf ihn zukommen.

»Guten Morgen, Kinder.« Sein Lächeln entblößte gelbe Zähne. »Was wollt ihr denn von dem alten Hakiem?«

»Erzähl uns eine Geschichte!« riefen sie im Chor und drängten sich um ihn. »Hebt euch hinweg, ihr Sandflöhe!« stöhnte er und unterstrich seine Worte mit einer abweisenden Gebärde. »Die Sonne wird heute wieder herabbrennen, und ich habe nicht vor, noch mehr zur Austrocknung meiner Kehle beizutragen, indem ich euch umsonst Geschichten erzähle.«

»Bitte, Hakiem!« flehte einer.

»Wir bringen dir auch Wasser«, versprach ein anderer.

»Ich habe Geld!«

Letzteres zog Hakiems Aufmerksamkeit magnetisch auf sich. Sein Blick verschlang schier die Kupfermünze auf der ausgestreckten, nicht ganz sauberen Hand. Diese Münze und vier ihrer Geschwister würden für eine Flasche Wein reichen.

Es spielte keine Rolle, woher der Junge sie hatte — gestohlen vermutlich! Das einzige, was Hakiem beschäftigte, war, wie sich dieser Reichtum von dem Bengel auf ihn übertragen ließ. Er dachte sogar an Gewalt, entschied sich jedoch dagegen. Es waren schon zu viele Leute im Basar, die nicht tatenlos zusehen würden, wenn er Kinder beraubte. Außerdem waren die verflixten Bürschchen weitaus flinker als er. Da blieb ihm wohl nichts übrig, als sich die Münze ehrlich zu verdienen. Schrecklich, wie tief er gesunken war!

»Also gut, Ran-tu.« Er streckte lächelnd die Hand aus. »Gib mir das Geld, dann kannst du dir die Geschichte aussuchen, die du hören möchtest.«

»Nachdem ich die Geschichte gehört habe«, entgegnete der Bengel von oben herab. »Du wirst die Münze bekommen, wenn - wenn ich finde, daß die Geschichte sie wert ist. Das ist so üblich.«

»So ist es«, bestätigte Hakiem mit erzwungenem Lächeln. »Komm, setz dich neben mich, damit dir kein Wort entgeht.«

Der Junge tat wie geheißen, glücklicherweise ohne zu bedenken, daß er dadurch Hakiems langer, flinker Hand nicht entgehen konnte.

»Nun sag, was du gern hören möchtest, Ran-tu.«

»Erzähl uns die Geschichte unserer Stadt!« piepste der Junge aufgeregt und vergaß seine gespielte Herablassung, die er sich als Kunde leisten konnte. Hakiem verzog das Gesicht, aber die anderen Bengel hüpften und klatschten begeistert. Ganz im Gegensatz zu Hakiem wurden sie es nie müde, diese Geschichte zu hören.

»Na gut.« Hakiem seufzte. »Dann macht mal Platz!«

Grob schob er den Wall dünner Beine vor sich zur Seite und glättete die so geschaffene freie Stelle mit der Hand. Mit der Schnelligkeit langjähriger Übung zeichnete er die Umrisse des südlichen Teils des Kontinents und die von Norden nach Süden verlaufende Bergkette.

»Die Geschichte beginnt hier, wo sich einst das Königreich Ilsig befand, östlich des Königingebirges ...«

»... das die Rankaner Weltendgebirge nennen«, unterbrach ihn ein Junge.

»... und die Gebirgler nennen es Gunderpah«, wußte ein anderer.

Hakiem lehnte sich auf seinen Schenkeln zurück und kratzte sich abwesend. »Vielleicht möchte einer der jungen Herren die Geschichte weitererzählen, dann kann Hakiem in Ruhe zuhören.«

»Nein, kommt gar nicht in Frage!« protestierte Ran-tu.

»Seid still, ihr alle! Es ist meine Geschichte! Laßt Hakiem sie erzählen.« Hakiem wartete, bi s Ruhe eingekehrt war, dann nickte er Ran-tu fast hochmütig zu und fuhr fort.

»Aus Angst vor einer Invasion durch das damals neue rankanische Reich jenseits des Gebirges taten die Ilsiger sich mit den Bergstämmen zusammen, um den einzigen bekannten Paß zu bewachen.«

Er hielt im Erzählen inne, um mit einem Strich auf seiner Karte den Paß anzudeuten.

»Tatsächlich stellte sich heraus, daß ihre Ängste nicht unbegründet waren. Die Rankaner schickten ihre Armeen nach Ilsig, und die Ilsiger sahen sich gezwungen, ihre eigenen Truppen in den Paß zu senden, um die Bergbewohner bei der Verteidigung des Königreichs zu unterstützen.«

Hoffnungsvoll schaute Hakiem auf und streckte eine Hand aus, als ein Kaufmann stehenblieb, um zu lauschen, doch der Mann schüttelte den Kopf und ging weiter.

Finsterer Miene fuhr Hakiem fort: »Während der Abwesenheit der Truppen kam es in Ilsig zum Aufstand. Sklaven, Leibdiener, Galeerenruderer, Gladiatoren und sonstige versuchten gemeinsam, sich der Sklavenkette zu entledigen. Aber o je ... «

Hakiem legte eine wirkungsvolle Pause ein und warf in dramatischer Geste die Hände hoch.

»... die Armeen von Ilsig kehrten früher als erwartet zurück und machten dem Aufstand ein schnelles Ende. Die Überlebenden flohen südwärts - hier - an der Küste entlang.«

Mit dem Finger zeigte er die Route.

»Das Königreich wartete eine Weile, da es hoffte, die Sklaven würden aus freiem Willen zurücckehren. Die geflohenen Aufständischen dachten jedoch gar nicht daran. Also sandte man einen Reitertrupp aus, sie zu verfolgen und mit Gewalt zurückzubringen. Die Kavallerie holte die Sklaven hier ein und drängte sie ins Gebirge, wo es zu einer gewaltigen Schlacht kam. Die Sklaven gingen siegreich daraus hervor, und kaum einer der Kavalleristen überlebte.«

Hakiem deutete auf einen Punkt im südlichen Teil der Bergkette.

»Erzählst du denn nicht von der Schlacht?« unterbrach ihn Ran-tu.

»Das ist eine Geschichte für sich—für die extra bezahlt werden muß«, entgeg-nete Hakiem lächelnd.

Der Junge biß sich auf die Lippe und schwieg.

»Während der Schlacht entdeckten die Sklaven einen Paß, durch den sie danach in dieses grüne Tal kamen, wo es an Wild nicht mangelte und Wildgetreide wucherte. Sie nannten es Freistatt.«

»Das Tal ist gar nicht grün!« warf ein Junge ein.

»Das kommt daher, daß die Sklaven dumm waren und das Land ausbeuteten«, rief ein anderer.

»Mein Vater war Bauer, aber er hat das Land nicht ausgebeutet!« erklärte ein dritter heftig.

»Warum habt ihr dann in die Stadt ziehen müssen, als der Sand eure Felder unfruchtbar machte?« trumpfte der zweite auf.

»Ich will meine Geschichte hören!« brüllte Ran-tu wütend.

Die Bürschchen verstummten.

»Der junge Herr hier hat recht«, bestätigte Hakiem und deutete auf den zweiten Jungen. »Aber das war natürlich nicht von heute auf morgen der Fall. Es verging eine lange Zeit. Als die Sklaven dem Land im Norden alle Fruchtbarkeit entzogen hatten, bestellten sie Felder immer weiter südwärts, bis sie schließlich die Stelle erreichten, wo jetzt die Stadt steht. Hier trafen sie auf einheimische Fischer und mit ihnen gemeinsam erhielten sie sich durch Fischfang und Ackerbau, und lebten in Ruhe und Frieden.«

»Ja, aber nicht lange!« konnte Ran-tu sich nicht enthalten.

»Stimmt, die Götter wollten es nicht«, bestätigte Hakiem. »Gerüchte, daß man hier Gold und Silber entdeckt habe, erreichten das Königreich Ilsig, und so brachen Eindringlinge den Frieden und die Stille hier. Zunächst waren es nur Abenteurer, doch ihnen folgte schließlich eine ganze Flotte, mit dem Auftrag, die Stadt einzunehmen und unter die Oberhoheit von Ilsig zu bringen. Die einzige Fliege in der Suppe war für das Königreich jedoch, daß fast die ganze Fischerflotte zu dem Zeitpunkt auf See war, und da sie sich schnell des Schicksals der Stadt bewußt wurde, suchte sie Zuflucht auf der Aasfresserinsel, wo sie zum Grundstock der Kappiraten wurde, die bis zum heutigen Tag den Schiffern das Leben schwermachen.«

Eine Fischersfrau kam vorüber. Ihr Blick fiel auf die in den Straßenstaub gekritzelte Karte. Lächelnd warf sie Hakiem zwei Kupfermünzen zu. Er fing sie geschickt und stieß dabei mit dem Ellbogen einen der Bengel zur Seite, der sie an sich bringen wollte, und schob sie schnell in seine Schärpe.

»Segen auf Euer Haus, Herrin!« rief er seiner Wohltäterin nach.

»Was ist mit dem Reich?« drängte Ran-tu, der befürchtete, Hakiem würde zu erzählen aufhören.

»Was? O ja. Ein Abenteurer drang in seiner Suche nach dem mythischen Gold weiter nordwärts vor. Er fand einen Paß durch die Civa und gelangte durch ihn schließlich ins rankanische Reich. Später fand sein Enkel, jetzt ein Reichsgeneral, das Tagebuch seines Vorfahren. Er führte eine größere Streitmacht südwärts auf den Spuren seines Großvaters und nahm die Stadt ein. Sie als Stützpunkt benutzend, eroberte er durch einen Angriff vom Meer rund um das Kap aus das Königreich Ilsig und verleibte es für immer dem rankanischen Reich ein.«

»Und so sieht es jetzt aus!« Einer der Straßenjungen spuckte in hohem Bogen aus.

»Nicht ganz«, verbesserte ihn Hakiem. Seine Ehre als Geschichtenerzähler überwand seine Ungeduld, endlich mit dieser Geschichte fertig zu werden. »Obgleich das Königreich sich ergab, widersetzten sich die Bergstämme und verhinderten die Versuche des Reichs, den Großen Paß zu benutzen. Dadurch kam es zu den Karawanenrouten.«

Seine Augen blickten flüchtig verträumt drein.

»Das waren die Tage von Freistatts Blüte. Wöchentlich kamen drei oder vier Karawanen, reich mit Handelsware und Schätzen, so ganz anders als die armseligen Karawanen, wie man sie heutzutage sieht, die lediglich das Lebensnotwendigste bringen. Nein, das waren damals riesige Karawanen, die einen halben Tag brauchten, bis auch der letzte Wagen in der Stadt war.«

»Was ist passiert?« fragte einer der mit großen Augen lauschenden Jungen. Hakiems Gesicht verfinsterte sich. Er spuckte in den Staub. »Vor zwanzig Jahren gelang es dem Reich, die Bergstämme niederzuzwingen. Danach stand der Große Paß für alle offen und es war nicht mehr nötig, große Karawanen durch die banditenbedrohte Wüste zu schicken. Freistatt ist nur noch ein Schatten ihrer ehemaligen Größe, ein Asyl für Gesindel, das sich nirgendwo anders blik-ken lassen darf. Glaubt mir, eines Tages kommt es noch soweit, daß es mehr Diebe gibt als ehrliche Bürger und dann ...«

»Zur Seite, Alter!«

Ein schwerer Fuß in einer Sandale trat auf die Karte, verwischte die Eintragungen und ließ die Jungen erschrocken aufspringen.

Hakiem duckte sich vor dem Schatten des Höllenhunds — einer der fünf Elitewachen, die der neue Statthalter mitgebracht hatte.

»Zalbar! Nimm dich zusammen!«

Der finstere Riese erstarrte beim Klang dieser Stimme und drehte sich um, um dem herbeieilenden goldhaarigen Jüngling entgegenzublicken.

»Wir sollen diese Menschen regieren, aber nicht mit Gewalt unterdrücken.« Es war ein erstaunliches Bild, wie dieser junge Mann, der noch keine zwanzig Lenze zählte, einen narbigen Veteran vieler Feldzüge zurechtwies. Und dieser Ältere senkte verlegen den Blick.

»Verzeiht, Eure Hoheit, aber Seine Kaiserliche Majestät befahlen, daß wir Recht und Ordnung in dieses Höllenloch bringen, und die Sprache, die ich benutze, ist die einzige, die dieses Gesindel versteht!«

»Der Kaiser — mein Bruder — übertrug mir den Befehl über diese Stadt und überläßt alle Regierungsgewalt mir. Und ich befehle, daß die Menschen hier freundlich behandelt werden, solange sie nicht die Gesetze brechen.«

»Jawohl, Eure Hoheit.«

Der Jüngling wandte sich an Hakiem.

»Ich hoffe, wir störten dich nicht allzusehr beim Erzählen. Hier—vielleicht macht das die Belästigungen wieder gut.« Er drückte Hakiem ein Goldstück in die Hand.

»Gold!« Hakiem rümpfte die Nase. »Glaubt Ihr, mit einer armseligen Münze läßt sich der Schrecken beheben, den Euer Mann da den armen Kindern eingejagt hat?«

»Was?« brüllte der Höllenhund. »Diese schmutzigen Straßenbengel? Steck das Geld des Prinzen ein und sei bloß dankbar, daß ich ...«

»Zalbar!«

»Aber Eure Hoheit! Dieser Kerl will nur an Eurem Mitleid ...«

»Und wenn«, unterbrach ihn der Prinz, »so ist das meine Sache!« Er ließ noch ein paar Münzen in Hakiems ausgestreckte Hand fallen.

»Zalbar, komm weiter! Du weißt, daß ich mir den Basar ansehen will!« Hakiem verbeugte sich tief und scherte sich nicht um des Höllenhunds finsteren Blick. Als er sich wieder aufrichtete, hatten sich die Kinder erneut dicht um ihn geschart.

»War das der Prinz?«

»Mein Vater sagt, es hätte keinen Besseren für diese Stadt geben können!« »Und meiner sagt, daß er viel zu jung ist, um sich durchzusetzen.«

»Ach ja?«

»Der Kaiser hat ihn bloß hierhergeschickt, damit er ihn vom Hals hat!«

»Und wer hat das behauptet?«

»Das sagt mein Bruder. Sein ganzes Leben hat er die Wachen hier bestochen und nie Schwierigkeiten gehabt, bis der Prinz kam — er und seine Huren und Höllenhunde.«

» Sie werden hier alles ändern. Frag Hakiem ... Hakiem?«

Die Straßenjungen wollten sich an ihren selbsterwählten Mentor wenden, doch der hatte sich mit seinem neuen Reichtum längst zurückgezogen und war bereits auf dem Weg in ein angenehm kühles Weinhaus.

3. Der Plan

»Wie ihr bereits wißt, seid ihr fünf auserwählt worden, bei mir hier in Freistatt zu bleiben, wenn der Rest der Leibgarde in die Hauptstadt zurücckehrt.«

Prinz Kadakithis machte eine Pause, um jeden einzeln anzusehen, ehe er fortfuhr. Zalbar, Bourne, Quag, Razkuli und Arman — alle waren erfahrene Krieger, die zweifellos ihr Handwerk besser verstanden als der Prinz seines. Kadakithis’ königliche Erziehung kam ihm zu Hilfe. Es gelang ihm erfolgreich seine Nervosität zu verbergen, als er ihre Blicke scheinbar gleichmütig erwiderte.

»Sobald morgen die Zeremonien vorbei sind, werde ich mich mit den Zivilsachen befassen müssen, die offenbar lange liegengeblieben sind, und ich werde wohl sehr mit ihnen beschäftigt sein. Darum halte ich es für das beste, wenn ich euch schon jetzt einen Einblick gebe und euren Aufgabenbereich zuteile, damit ihr ohne Verzögerung euren Pflichten nachgehen könnt.«

Er bedeutete den Männern näherzutreten, und sie stellten sich vor die Karte von Freistatt, die an der Wand hing.

»Zalbar und ich haben uns schon ein wenig in der Stadt umgesehen. Ich kann euch nur in groben Zügen mit ihr bekanntmachen und erwarte von euch, daß ihr euch mit ihr vertraut macht und jegliche neuen Beobachtungen einander mitteilt. Zalbar!«

Der größte der Soldaten trat dicht an die Karte und strich mit der Rechten darüber.

»Die Diebe von Freistatt treiben mit dem Wind, wie der Unrat, der sie sind«, begann er.

»Zalbar!« rügte der Prinz. »Gib deinen Bericht und behalte deine persönliche Einstellung für dich!«

»Jawohl, Eure Hoheit.« Der Mann verneigte sich leicht. »Aber es gibt tatsächlich ein Muster hier, das dem Ostwind folgt.«

»Die Vermögenswerte ändern sich aufgrund der—ah — Gerüche«, erklärte Kadakithis. »Das kannst du sagen, ohne die Menschen als Unrat zu bezeichnen. Sie sind immerhin Bürger des Reichs.«

Zalbar nickte und wandte sich wieder der Karte zu.

»Die Gegenden mit den geringsten Verbrechen sind hier am Ostrand der Stadt.« Er deutete. »Hier befinden sich die prächtigsten Herrenhäuser, Gasthöfe und Tempel, die ihre eigenen Wachen und eigene Verteidigungseinrichtungen haben. Westlich davon leben hauptsächlich Handwerker und andere Angehörige der Mittelschicht. Kleinere Diebstähle und Einbrüche sind hier gewöhnlich das einzige an Verbrechen.«

Der riesenhafte Soldat machte eine Pause und blickte den Prinzen an, ehe er fortfuhr.

»Hat man jedoch erst die Hauptstraße überschritten, wird es zusehends schlimmer. Die Kaufleute versuchen einander darin zu übertreffen, wer die größte Anzahl an Diebesbeute oder Schmuggelgut anzubieten hat. Einen großen Teil ihrer Ware erhalten sie tatsächlich von Schmugglern, die ihre Schiffe offen an den Kais löschen. Was nicht von den Kaufleuten erstanden wird, wird direkt im Basar angeboten.«

Zalbars Miene verfinsterte sich sichtlich, als er auf das nächste Viertel deutete. »Hier ist ein Gewirr von Straßen, das allgemein Labyrinth genannt wird. Es ist die verkommenste Gegend der Stadt. Mit Mord und Raubüberfällen muß man Tag und Nacht rechnen, und die meisten ehrlichen Bürger wagen nicht, ohne Leibwächter einen Fuß in diese Gegend zu setzen. Man machte uns bereits darauf aufmerksam, daß kein Wachmann der hiesigen Garnison dieses Viertel betritt. Wir wissen allerdings nicht, ob Furcht sie davon abhält oder Bestechungsgelder ... «

Der Prinz räusperte sich ungehalten. Zalbar verzog das Gesicht und deutete auf eine andere Gegend.

»Außerhalb der Stadtmauer im Norden befinden sich mehrere Freudenhäuser und Spielhöllen. Von dort werden kaum Verbrechen gemeldet, doch glauben wir, das liegt eher daran, daß dort keiner gern etwas mit der Obrigkeit zu tun hat, als daran, daß keine Verbrechen geschehen. Ziemlich weit im Westen der Stadt liegt das ärmlichste Viertel, in dem Bettler und völlig Heruntergekommene hausen, die man in der Stadt Abwinder nennt. Von allen Bürgern, denen wir bisher begegnet sind, scheinen sie die harmlosesten zu sein.«

Nachdem er seinen Bericht abgegeben hatte, kehrte Zalbar an seinen Platz zu den anderen zurück, und der Prinz richtete sich wieder an sie alle.

»Hier sind eure vorrangigen Pflichten, bis ihr neue Anweisungen erhaltet.« Er blickte die Männer eindringlich an, während er weitersprach. »Als erstes tut ihr euer Bestes, im Stadtosten Vergehen zu verhindern oder wenigstens zu mindern.

Als zweites schließt ihr die Kais für die Schmuggler. Wenn ihr das erledigt habt, werde ich gewisse Bestimmungen rechtskräftig machen, die es euch ermöglichen, gegen die Freudenhäuser vorzugehen. Bis dahin dürfte ich die dringendsten Gerichtssachen geklärt haben, dann können wir gemeinsam einen Plan zur Wiederherstellung der Ordnung im Labyrinth ausarbeiten. Irgendwelche Fragen?«

»Erwartet Ihr Probleme mit der hiesigen Priesterschaft wegen der befohlenen Errichtung neuer Tempel für Savankala, Sabellia und Vashanka?« fragte Bourne. »Ja, allerdings«, antwortete der Prinz. »Aber die Schwierigkeiten dürften wohl eher diplomatischer als gewaltsamer Natur sein. Deshalb werde ich mich persönlich um sie kümmern, und ihr könnt euch ungestört euren Aufgaben widmen.«

Es kamen keine weiteren Fragen, und der Prinz stählte sich für seine abschließende Anweisung.

»Was euer Benehmen betrifft, während ihr die Befehle ausführt ...« Kadakithis machte eine dramati sche Pause, die er benutzte, jeden der Männer hart anzublicken. »Ich weiß, ihr seid Krieger und gewöhnt, Widerstand mit blanker Klinge zu begegnen. Selbstverständlich ist euch erlaubt, euch mit der Waffe zu verteidigen, wenn man euch angreift, und ihr dürft die Waffen auch zum Schutz von Bürgern dieser Stadt benutzen. Aber ich werde keinesfalls Brutalität oder unnötiges Blutvergießen im Namen des Reiches dulden! Was immer auch eure persönliche Einstellung sein mag, ihr werdet das Schwert nicht gegen einen Bürger erheben, ehe sich nicht erwiesen hat — erwiesen, hört ihr? — daß es sich bei ihm um einen Verbrecher handelt. Die Einheimischen haben bereits einen Namen für euch gefunden: sie nennen euch Höllenhunde! Sorgt dafür, daß dieser Spitzname sich nur auf den Eifer bezieht, mit dem ihr euren Pflichten nachgeht, und nicht auf eure Grausamkeit. Das ist alles!«

Es ging nicht ohne finstere Blicke und Gemurmel untereinander ab, als die Männer den Saal verließen. Ihre Treue und Ergebenheit gegenüber dem Reich standen außer Zweifel, aber Kadakithis fragte sich, ob sie ihn auch wirklich als Repräsentanten dieses Reichs anerkannten.