Epilog

 

Der Eiffelturm steht hell beleuchtet mitten in der Pariser Nacht. Es ist kalt und um mich herum stehen zahlreiche Menschen, die aus der ganzen Welt an diesen Ort gekommen sind. Ich höre verschiedene Sprachen, manche klingen so fremd, wie ich mich jetzt fühle. Den ganzen Tag bin ich alleine durch diese wundervolle Stadt gelaufen, habe Fotos gemacht und Croissants gegessen. Man ist keine Sekunde in Paris und schon wird man verschluckt von der atemberaubenden Atmosphäre des Großstadtlebens. Die Architektur hat mich sofort begeistert, jede Hausfassade scheint eine Geschichte zu erzählen, die Kirchen wirken größer und mächtiger als sonst wo. Wie konnte ich nur all die Jahre diese Schönheit verpassen? Und das nur aus Angst, alleine in den Straßen verloren zu gehen. Aber selbst wenn man sich in Paris verläuft, es gibt immer etwas Neues zu entdecken. Hinter jeder Ecke wartet ein neues Wunder, das einem den Atem rauben will.

Jetzt hier zu stehen ist nur noch ein Bonus des heutigen Tages. Ein krönender Abschluss – zumindest rede ich mir das seit Stunden ein. Nur noch wenige Minuten, dann fängt der große Countdown an und jeder wird einen Partner zum umarmen, küssen und festhalten haben. Noch bin ich alleine. Von Lukas keine Spur. Meine Hände, die in schwarzen Wollhandschuhen stecken, fühlen sich unendlich kalt an. Bennys Worte schießen mir durch den Kopf, als irgendwo verfrüht eine Rakete in den Himmel geschossen wird. Ist Lukas der Richtige? Werde ich es überhaupt jemals erfahren? Würde jemand wirklich so viel Anstrengung betreiben, um dann zum vereinbarten Termin nicht zu erscheinen? Die Zyniker lachen mich aus, weil ich tatsächlich hier bin und zwischen den fremden Menschen friere. Die Romantiker feiern mich als Heldin, weil ich an die Liebe glaube, selbst nachdem mir immer und immer wieder das Herz gebrochen wurde. Meine Mutter wird schimpfen, weil ich keine Mütze trage und kalte Ohren habe. Und ich selbst spüre die Tränen auf meinen Wangen, als alle in den großen Countdown einsteigen, wie ein griechischer Chor. Es dämmert mir so langsam. Er wird vielleicht nicht kommen. Oder mich nicht finden. Oder beides. Egal, wie auch immer, mir wird das versprochene Happy End verwehrt bleiben, weil mein Herz ein Spielplatz für grobmotorische Liebhaber zu sein scheint. Kein gepflegter Rasen für begnadete Ballkünstler, eher ein Bolzplatz für Stolperfußballer.

„Dix!“

Kann ich nicht trotzdem oder gerade deswegen stolz auf mich sein?

„Neuf!“

Weil ich noch immer an die große Liebe glaube und mir diesen Glauben von niemanden nehmen lasse?

„Huit!“

Weil ich wirklich in den Zug gestiegen bin, Herr der Ringe auf der Fahrt gelesen habe und mit meinem Reiseführer in der Hand ganz alleine durch die Stadt gelaufen bin?

„Sept!“

Weil ich Tränen in meinen Augen und ein Lächeln auf meinen Lippen spüre, während ganz Paris bereit ist, mit mir zu feiern?

„Six!“

Weil ich laut mitzähle, obwohl ich die Sprache nicht beherrsche und so gerne weinen würde?

„Cinq!“

Weil ich trotz Herzschmerz nicht wütend auf Lukas bin, sondern dankbar, weil er zumindest ein Versprechen gehalten und mich nach Paris gebracht hat?

„Quatre!“

Weil ich Benny endlich losgelassen habe, und mich nicht mehr mit den schmerzhaften Erinnerungen der vergangenen Jahre belasten muss?

„Trois!“

Weil ich das kommende Jahr zu meinem Jahr machen will, mich durch meine Städteliste arbeiten und meinen Urlaub in den Ländern der Erde verbringen werde, die ich in meinem Kopf schon hundertmal bereist habe?

„Deux!“

Weil ich … Verdammt! Mir gehen die Argumente aus.

„Un!“

Eine Hand schiebt sich in meine. Überrascht sehe ich auf und erkenne sofort die Brille mit dem schwarzen Rand. Er ist völlig außer Atem, mit seinem geliebten Hut, der Kordjacke, alles sieht aus wie immer. Lukas.

„Bonne année!“

Er schreit es in mein Ohr, aber es klingt wie ein Flüstern, während ich mein Gesicht in das künstliche Fell am Kragen seiner Kordjacke drücke und tief einatme. Er riecht nach einer Mischung aus Cool Water und Lenor. Mein Lukas! Wir halten uns fest, während bunte Raketen den Himmel über uns erleuchten und ein neues Jahr an genau diesem Ort beginnt. Für mich fühlt es sich an wie ein neues Leben. Lukas sieht mich lächelnd an, zieht ein kleines Buch aus seiner Jackentasche.

„Für dich.“

Er hat es geschafft! Auch wenn es nicht übermäßig dick ist – es ist dennoch eine kleine Novelle. Ich lasse meinen Daumen durch die Seiten sausen. Hier steht es, schwarz auf weiß: unsere Geschichte, geschrieben von Lukas Glück. Ich sehe wieder zu ihm hoch. Glück. Lukas' Nachname lautet Glück. Mein Glück. Seine Wangen sind rot und in seinen Augen spiegeln sich die Raketen vom Himmel.

„Ich habe meinen Namen, meine E-Mail Adresse und meine Telefonnummer reingeschrieben. Damit ich dich nicht wieder verliere.“

Lukas Glück hat für mich, Pippa Wunsch, ein Buch geschrieben. Egal was das Jahr für mich bereithält, diesen Moment kann mir niemand mehr nehmen. Sanft nehme ich sein Gesicht in meine Hände und sehe ihn an. Wieso er in mein Leben gefallen ist, kann ich nicht sagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihn vor einigen Monaten noch nicht mal gekannt habe, sein Name unbedeutend war und sein Gesicht unbekannt. Jetzt werde ich die Geschichte so enden lassen, wie es sich gehört: mit einem Kuss, der nach Erdbeere schmeckt.

 

Ende