Kapitel 4

 

Diese Großfamilie ist wirklich der absolute Hammer und ich beneide sie ein bisschen. Sie kommt mir vor wie eine Pandabärenfamilie. Sie sitzen oder liegen ganz nah beieinander, haben aus Jacken Decken gemacht, aus Taschen Kopfkissen – und essen noch immer. Ich hingegen habe jetzt einen Mars-Riegel und die JOY. Die Bravo war leider von letzter Woche, und da ich mich letzte Woche schon mal mies gefühlt habe, na ja ... kenne ich sie schon. Ich lese also wieder einen dämlichen Artikel über die Darsteller von Twilight und ihr verkorkstes Liebesleben. Hinter meiner linken Schulter taucht das älteste Mädchen der Familie auf und liest mit. Einfach so. Sie sollte ihre Eltern anflehen, ihr auch diese Zeitschrift zu kaufen, denn ich hasse es, wenn Menschen mir etwas weglesen. Ich sehe die Buchstaben förmlich. Ich bin kurz davor, straffällig zu werden.

„Willst du diese Zeitschrift vielleicht haben?“

Ich klinge viel ruhiger als ich mich fühle. Als das Mädchen schüchtern nickt, gebe ich sie ihr einfach – ohne den Artikel zu Ende gelesen zu haben.

Jetzt habe ich meine Ruhe, aber keine Unterhaltung mehr. Soll ich mich jetzt besser fühlen? Ich setze mir meine Kopfhörer auf und suche ein Lied aus der Sammlung auf meinem iPod, das zu meinem momentanen Gefühlsleben passt. Ich entscheide mich für einen Song von Philipp Poisel. Obwohl ich mich auf den Text und Philipps Stimme konzentrieren will, ist mir nicht entgangen, dass der letzte Aufruf für den Flug nach Hamburg schon ausgerufen wurde. Also sitzt Lukas jetzt im Flieger, in einem der wenigen, die diese Stadt noch verlassen. Und ich sitze hier und frage mich, wie ich das jemals meinen Eltern erklären soll. Es ist das schlimmste Weihnachten, das ich jemals „gefeiert“ habe. Vielleicht abgesehen von dem Jahr, als unser Tannenbaum gebrannt hat und das Wasser in meinem Goldfischglas als Feuerlöscher herhalten musste. Aber das ist lange her. Gut, letztes Jahr war auch nicht der Knaller. Aber dieses Jahr, alleine und verlassen am Flughafen – dieses Jahr stellt alles in den Schatten.

„Sie haben eine Cola bestellt?“

Ich sehe etwas überrascht zu dem Kellner, der aus dem Café hinter mir gekommen ist. Er trägt ein weißes Hemd, eine schwarze Weste und ein rotes Namensschild, das seinen Namen, Robert, verrät. Inzwischen gäbe es im Café genug freie Plätze, aber ich will heute mit niemanden mehr reden und ganz sicher habe ich keine Cola bestellt.

„Ähm ... nein ... das habe ich nicht.“

Es sei denn, er empfängt telepathisch Bestellungen, aber dann wäre er nicht hier, sondern beim Supertalent oder einem ähnlichen TV-Format. Ist nicht so, dass ich sie nicht trinken würde, aber ich habe sie nicht bestellt. Daran könnte ich mich doch noch erinnern, oder hat mich die Winterdemenz wirklich schon so stark befallen? Der Kellner ist ein pickliger junger Kerl, der mit diesem Job vermutlich sein Studium finanziert und an Weihnachten auch andere Pläne haben sollte. Vermutlich ebenfalls Single. Der Arme, ich weiß wie er sich fühlt. Es tut mir Leid, ihn wieder wegzuschicken, aber ich leide besser ohne Cola.

„Nun, der Mann da drüben hat gesagt ...“

Nur langsam folge ich mit dem Blick seinem ausgestreckten Finger – und meine, die Sekunden würden zu Stunden. Aber da sehe ich ihn! Der Hut, die Jacke, die Taschen und die blauen Augen. Unverändert. Lukas. Sein Flieger soll doch jede Minute starten! Was zum Henker macht er dann noch hier?

„Ja dann ... danke!“

Ich nehme die Cola und warte, bis der Kellner weg ist. Lukas steht mit seiner Tasche noch immer am Eingang zum Café. Obwohl Philipp Poisel mich gerade fragt, wo mein Himmel anfängt, nehme ich die Kopfhörer ab und hoffe, dass er nicht meine Frisur ruiniert hat. Will Lukas denn nicht rüberkommen? Ist es womöglich nur ein Pappaufsteller, den er mir zum Trost hat anfertigen lassen? Nein, er setzt sich in Bewegung, kommt auf mich zu … Und dann liegt seine Tasche auch schon wieder auf unserem Wagen.

„Hi.“

„Hallo.“

So fangen die besten Unterhaltungen an, habe ich mir sagen lassen.

„Ich konnte nicht in den Flieger steigen. Die Vorstellung, dass du hier alleine mit einem Gepäckwagen sitzt ....“

„Mr. Spontaneität, ja?“

Er nickt und lächelt.

„Du hast gerade das Drehbuch zu E.T. umgeschrieben, das ist dir schon klar.“

Er zuckt nur lässig die Schultern.

„Damit kann ich leben.“

„Du bist allerdings völlig umsonst zurückgekommen. Mein Flieger nach Berlin geht in einer halben Stunde.“

Sein Mund steht offen, seine Augen starren mich an, und er wirkt vollkommen aus der Bahn geworfen und enttäuscht. Er versucht natürlich, weiterhin unheimlich männlich auszusehen. Er ist wie Clint Eastwood in Die Brücken am Fluss, als er Meryl Streep heimlich Blumen pflückt und sie ihr schenken will. Sie behauptet allerdings, die Blumen wären giftig. Eastwood lässt sie daraufhin einfach fallen und starrt sie an. So wie Lukas mich jetzt anstarrt. Meryl fängt dann tierisch an zu lachen und Clint würde im Erdboden versinken, wenn er nur könnte. Abgesehen davon, dass ich weniger Oscar-Nominierungen habe, könnte ich jetzt aber Mrs. Streep sein, denn ich fange zu lachen an und Lukas sieht mich verdutzt an.

„Das war nur ein Witz.“

Das war vielleicht zu viel, aber ich musste sichergehen. Ich wollte wissen, wie er sich fühlt, wenn ich verschwinde. Ich wollte wissen, ob er enttäuscht wäre. Ob es ihm was ausmachen würde, wenn ich einfach so aus seinem Leben verschwinde. Sein Gesicht entspannt sich, er ist mir nicht böse, nickt und grinst. Das habe ich vermisst. Gut, dass er zurückgekommen ist. Ich fühle mich wie Julia Roberts, als sie ihren verdienten Oscar für Erin Brockovich bekommen hat.

„Somit sind wir hier gestrandet.“

„Noch. Aber wenn ich mich nicht irre, dann wolltest du was Spontanes machen.“

Er hebt abwehrend die Hände.

„Hey, ich habe meinen Teil schon eingehalten. Was glaubst du, wie bescheuert die Frau geguckt hat, als ich auf den letzten Metern kehrt gemacht habe?“

Das kann ich mir vorstellen: Gefühle fuhren Karussell in seinem Kopf, er wusste nicht, ob links oder rechts der richtige Weg war. Und alles woran er denken konnte, das war ich. Ja. Besser als Redford und die Streisand. Viel besser. Oscarverdächtig. Frauen im Kino, sie haben schon geweint, aber dann macht der Kerl kehrt und landet wieder bei der Richtigen. Diese Geschichte gefällt mir bisher.

„Jetzt bist du dran, Pippa.“

„Ich kenne mich in Stuttgart nicht gut genug aus, um was Verrücktes zu machen. Was erwartest du? Soll ich nackt durch den Flughafen rennen?“

„Verlockende Vorstellung. Aber du solltest nicht darüber nachdenken. Es soll ja spontan sein.“

„Und bis dahin sitzen wir hier und spielen Buddha?“

Er setzt sich neben mich, einfach so, und wir sitzen plötzlich viel enger zusammen als zuvor. Unsere Arme berühren sich, unsere Beine, fast sogar unsere Schuhe.

„Erzähl mir etwas über dich.“

Und dann nimmt er den Hut zum ersten Mal selber ab, fährt sich einmal schnell durch die Haare und lockert den Schal. Er macht es sich bequem. Hier, bei mir. Aber was kann ich denn schon so Unglaubliches erzählen? Vermutlich nichts. Wenn ich ihn also nicht mit meinem belanglosen Gerede ins Koma langweile, wird er sich früher oder später in ein Taxi schwingen und in eine aufregendere Zukunft fahren.

„Hm. Nun. Ich arbeite mit Reiseführern.“

„Weil es dein Traum ist?“

„Weil es dem tatsächlichen Reisen sehr nah kommt.“

Er scheint nicht überzeugt, aber ich muss ihn ablenken.

„Wieso Produktebeschreiber?“

„Weil es dem tatsächlichen Schreiben sehr nah kommt.“

Mist. Er ist gut. Ich würde sagen, wir spielen auf Augenhöhe. Er drückt sich um das Schreiben, ich mich um das Reisen. Wir sind ein tolles Team.

„Wieso reist du nicht?“

„Wieso schreibst du nicht?“

So kommen wir schon mal nicht weiter, das steht fest.

„Hast du schon die Welt gesehen?“

Er nickt und strahlt dabei. Mit dem Lächeln könnte er glatt Werbung für eine Weltreise machen.

„Rom hat mir gefallen. Im Sommer, als ich mit der Schule dort war. Budapest mit meinen Eltern, München auf eigene Faust ... Berlin mit drei Freunden und einem Sixpack. Freiburg mit meinen Großeltern.“

Dabei sieht er mich an. Freiburg.

„Das zählt jetzt aber nicht als Welt.“

„Okay, New York als Austauschschüler. Sydney als Backpacker, Thailand als Tourist, Frankreich als verliebter Idiot und Portugal als Surfer.“

„Aha. Haben Mami und Papi dir das Geld gegeben?“

„Mama und Papa sind geschieden. Lukas wollte aus der Schussbahn. Also ...“

„Bist du einmal um die Welt.“

„Mama und Papa wären wohl ziemlich froh, wenn ihr kleiner Lukas zu Hause bleiben und endlich eine Familie gründen würde.“

„Aber der kleine Lukas will viel lieber die Welt sehen?“

Er zuckt die Schultern.

„So langsam komme ich ins Alter, da wirkt es peinlich, wenn ich sage, dass ich lieber surfen will, als mit der Frau Hundewelpen auszusuchen.“

Dann wirft er mir einen Blick zu, der mich aus allen Wolken schubsen will.

„Mit dir wäre das was anderes.“

Solche Blicke kenne ich eigentlich nur aus Filmen wie Remember me oder Zwei an einem Tag. Schmachtende Blicke, flammende Liebe. Große Emotionen. Ich weiß in solchen Moment ehrlich gesagt nie, was besser wäre: ihn einfach küssen oder warten ob er es tut.

„Erzähl mir von dir, Lukas.“

Es ist nur ein Flüstern, aber ich würde töten, um mehr über ihn zu erfahren. Zu wissen, wieso er nicht über den Wolken ist und nach Hamburg fliegt, sondern jetzt hier, ganz nah, neben mir sitzt. Er sieht wieder von meinem Augen, über meine Nase, zu meinen Lippen und ich hoffe, sie gefallen ihm. Ich habe so lange keinen Mann mehr geküsst, weil ich auf Benny und die Auferstehung seiner Gefühle für mich gewartet habe. Aber jetzt will ich wieder küssen. Und zwar Lukas.

Die nächste halbe Stunde verbringen wir damit, uns gegenseitig Fotos auf unseren Handys anzugucken und Geschichten zu hören. Er erzählt mir von seinen Freunden, von Hendrik, mit dem er in einer WG wohnt, ganz in der Nähe der Alster. Dort gehen sie dann zusammen spazieren und reden über Männersachen, zum Beispiel über Frauen. Seine Freunde sehen nett aus, viele Fotos in verschiedenen Kneipen, Pubs und Bars, immer ist da dieses Leuchten in seinen Augen, wenn er lächelt. Er sieht sogar gut aus, wenn er betrunken in einem Bus sitzt. Er zeigt mir ein Foto von seinem VW-Käfer, auf den er besonders stolz ist, und von Hendriks Ex-Freundin Julia, die lustig aussieht. Ich kann sie mir sehr gut an Hendriks Seite vorstellen. Sie scheinen auch beide ziemlich nett zu sein. Fotos von Ex-Freundinnen hat er keine auf seinem Smartphone – ein gutes Zeichen.

„Ich habe gedacht, du würdest Tobias heißen.“

Keine Ahnung, wieso ich ihm das erzähle?! Immerhin sollte er das eigentlich nicht erfahren. Schließlich kann ich doch nicht erklären, was ich mir dabei so gedacht habe. Sein Blick wirkt nicht ganz so verwirrt, wie ich zuerst angenommen habe.

„Tobias? Das ist witzig. Ich dachte du heißt Jolanda.“

„Wie bitte?“

Wie kann ein Mensch nur so verrückte Gedanken haben. Jolanda? Das sollte ich ihm übel nehmen.

„Na ja, ich habe dich gesehen, als ich dich geschubst habe und ... Tja ... Ich dachte an Jolanda.“

„Ich will schwer hoffen, das ist ein Witz!“

„Nein! Ich habe mir vorgestellt, du würdest dein Zimmer mit High School Musical-Postern vollkleben und dann zur Musik von One Direction tanzen!“

„Was? Hey! Hör mal ... Du kennst mich nicht und erfindest ein total verrücktes Leben, in dem ich aber keinen Platz habe und mich auch noch unwohl fühlen würde!“

„Welche Poster hängen denn in deiner Wohnung?“

Star Wars.“

Ja, ungelogen – Star Wars.

„Du bist ... du bist doch eine Frau.“

„Wow, dass du das bemerkt hast.“

Ja, ich kenne das. Entweder sie sagen: Du hörst nur Take That. Du schaust dir nur Liebesfilme an. Unsinn! Ich liebe Star Wars!

„Ich bin eben keine gewöhnliche Frau. Star Wars ist meine Religion. Es ist der beste Film aller Zeiten. Es ist die Geschichte über Helden, Liebe und großen Taten.“

„Hast du noch nie was von Herr der Ringe gehört?“

„Nein.“

An dieser Stelle lasse ich diese Notlüge gelten. Aber er durchschaut mich. Natürlich kenne ich dieses Buch, jeder kennt es.

„Das ist die Geschichte über Helden, Liebe und großen Taten. Star Wars ist nur ein billiger Abklatsch ...“

„Woha! Abklatsch? Vorsicht, mein Freund!“

Ich rücke ein Stück von ihm weg. Er greift etwas an, das mir wichtig ist, das ich liebe. Mehr als alle anderen Filme. Dieser Film hat mein Leben verändert. Und kein anderer Film kann mein Leben noch mal so verändern. Er verschränkt die Arme vor der Brust. Was wird das? Ein Duell der Nerds?

„Ich kenne diese Star Wars-Fans. Ich mag den Film auch, aber die Hobbits und die Elben. Streicher! Dieses Buch hat mich verändert. Ich habe mir den Film angesehen und ich glaube, er hat mich noch einmal verändert.“

„Hobbits?“

Er sieht mich schief an und grinst. Hier prallen Welten aufeinander. Und dabei sind wir uns so ähnlich.

„Yoda?“

Wir versuchen, uns feindselig anzusehen, aber wir können es nicht besonders gut. Wir lächeln beide.

„Ich ziehe Mittelerde deiner Galaxie jeder Zeit vor.“

„Ich will gar nicht zu deinen lockigen Zwergen mit den riesigen Latschen!“

„Das sind keine Zwerge, das sind Hobbits!“

Dann schmollt er und sieht dabei so entzückend aus, dass ich mir überlege, ob er nicht vielleicht der attraktivste Mann dieses Flughafens ist.

„Dann eben Hobbits.“

Er nickt, als hätte er einen kleinen Triumph über mich errungen. Ich will nicht so sein und greife nach seiner Hand. Erst als ich seine Haut spüre und ein Zucken durch meinen Körper schießt, wird mir klar, was ich da gerade tue. In seinem Blick spiegelt sich Überraschung, aber seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Ich muss schnell etwas sagen, sonst steht die Geste einfach so im Raum.

„Ich habe übrigens gesehen, dass weiter hinten ein großer Weihnachtsbaum aufgebaut ist.“

Sein Blick lässt mich keine Sekunde los. Ich muss immer weiter reden, sonst kann ich für nichts mehr garantieren. Den Weihnachtsbaum mit der Lichterkette und den kitschigen roten Kugeln habe ich am heutigen Tag bestimmt schon zehn Mal passiert. Immerhin ist heute Weihnachten, da ist so ein beleuchteter Nadelbaum nicht besonders ungewöhnlich.

„Na, dann sollten wir mal los.“

Manchmal ist mir seine Spontaneität doch zu viel. Wie ein Kind, das an ADHS leidet, muss er immer was Neues machen, als könne er kaum still sitzen. Aber für den Fall, dass wir nur heute Nacht haben, sollten wir daraus auch etwas unglaublich Schönes machen. Sitzen und träumen kann ich auch morgen noch. Aber jetzt mit ihm durch die Flughafenhalle zu fahren, das ist etwas, wovon ich in den kommenden Tagen sprechen und träumen werde. Obwohl Weihnachten nicht gerade als Highlight meines Jahres gilt, bin ich jetzt froh, diesen Tag hier mit ihm zu verbringen.

Während er mich auf unserem Gepäckwagen an allen anderen Gestrandeten vorbeischiebt, fühle ich mein Herz schlagen. Nur das. Alle anderen Körperfunktionen scheinen nebensächlich geworden zu sein. Sogar das Atmen. Wichtig ist nur, dass mein Herz schlägt, hüpft und tanzt. Er fährt mich bis in die erste Reihe an den Baum und setzt sich dann neben mich.

„Es ist Zeit für die Geschenke, oder?“

„Geschenke?“

„Wir sollten sowas wie „Gestrandeten-Wichteln“ spielen.“

„Ich habe gar keine Geschenke für dich.“

Aber das weiß er. Und natürlich hat auch er schon einen Plan, wie wir das beheben können: Mehr als zehn Euro darf es nicht kosten; es soll eine Überraschung sein und wir müssen es auch irgendwie in Geschenkpapier packen; in einer halben Stunde treffen wir uns dann am Duty-Free-Shop und kommen zusammen zurück zum Weihnachtsbaum. Er scheint nicht besonders viele Frauen zu kennen, denn dann wüßte er, dass eine halbe Stunde für Weihnachtsshoppen utopische Vorstellungen sind. Er könnte auch einen halben Tag ansetzen, es würde immer noch nicht ausreichen. Wie dem auch sei, ich gebe mich seiner Idee hin, weil ich sie unglaublich süß finde, es aber nicht zugeben will. Wir kennen uns beide kaum und müssen ein passendes Geschenk für den anderen in weniger als vierzig Minuten auf einem Flughafen auftreiben. Er behält den Gepäckwagen und ich renne sofort los, aus Angst in der anberaumten Zeit kein vernünftiges Geschenk zu finden. Dabei will ich unbedingt das perfekte Geschenk für ihn auftreiben. Eine kleine, aber schöne Überraschung, etwas, das ihn für eine lange Zeit an uns und diesen Abend hier erinnern soll.

Aber meistens gibt es eben nur Kitsch zu kaufen. Taschen, Tassen, T-Shirts und Kissen mit dem Aufdruck dieser Stadt. Die Teddybären, die sich alle ebenfalls als echte Stuttgarter zeigen, tragen passend zur Saison eine rote Mütze und kleine Handschuhe. Sicher, es würde jedes Kinderherz höher und schneller schlagen lassen, aber das ist nicht das Richtige wenn man das Herz eines Mannes wie Lukas für sich gewinnen will. Aber will ich das denn? Sollte ich nicht mal so spontan sein und sagen, dass ich nur einen heißen Flirt mit einem tollen Typen am Flughafen genossen habe? Ich werde ihn danach nie wieder sehen und mich nur noch an sein Gesicht erinnern. Ich könnte endlich so verrucht sein, wie viele meiner Freundinnen, die mir dieses Talent leider absprechen.

Wo Lukas ein Geschenk für mich finden will, weiß ich nicht; aber mich zieht es zu den Büchern, Postkarten und Kleinkram. Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie etwas suchen und alles total dämlich ist? Keine Jeans entspricht der Vorstellung in Ihrem Kopf, kein T-Shirt will Ihnen auch nur annähernd gefallen. Als ich es sehe, weiß ich sofort: das ist es! Das passiert mir beim Shoppen oft. Ich suche ein Shirt und kaufe einen Hut, in den ich mich sofort verliebt habe. Ich suche eine Hose und kaufe eine Tasche, von der ich meine, dass ich ohne sie nicht mehr leben kann. Als ich jetzt das perfekte Geschenk für Lukas finde, möchte ich am liebsten einen kleinen Freudentanz vollführen, aber es sind zu viele Menschen da und ich habe zu wenig Alkohol im Blut, um mir diese Peinlichkeit zu erlauben. Nur das kleine Fräulein in meinem Herzen, das steppt so wild wie die ganze Truppe um Riverdance.

Ich bezahle mehr als zehn Euro, weil ich noch eine Kleinigkeit als Bonus dazu lege und eine Frauenzeitschrift kaufe. Immerhin muss ich es auch noch einpacken und was bietet sich besser als Geschenkpapier an, als eine Ausgabe vom JOY-Magazin? Wenn es ihm nicht gefällt, werde ich mich einfach mit einem dümmlichen Witz aus der Affäre ziehen, damit er meine Enttäuschung in dem Fall nicht sehen muss.

 

Vor dem Duty-Free-Shop warte ich auf ihn, sein Geschenk liegt liebevoll eingepackt in meiner Tasche und der Stolz steht mir vermutlich ins Gesicht geschrieben. Dann sehe ich ihn mit dem Gepäckwagen um die Ecke kommen, ein Lächeln auf dem Gesicht, das es locker mit meinem aufnehmen kann. Direkt vor mir kommt der Wagen zum stehen.

„Hast du mich vermisst?“

Die Wahrheit ist: ja, tatsächlich – aber mein Kopf deutet etwas anderes an. Ich schüttele den Kopf und will mich sofort ohrfeigen. Wieso bin ich nicht einfach ehrlich?

„Gut, ich dich auch nicht.“

Wir lügen beide und wir schämen uns nicht das zuzugeben. Wenn der Mund etwas sagt, muss der Körper nicht immer die gleichen Signale senden. Oft genug habe ich behauptet, es würde mir gut gehen, dabei konnte ich vor Schmerzen kaum stehen. Alle haben es gesehen und wollten mich nach Hause schicken, aber ich habe es satt gehabt mich im Bett zu verstecken und zu weinen.

Lukas beobachtet eine Frau im Duty-Free-Shop hinter mir und schüttelt den Kopf. Ich folge seinem Blick zu einer blonden Dame, die in ihrem Kostüm sehr wichtig aussieht. Tagsüber muss sie eine wichtige Position in einer schicken Firma einnehmen. In meinen Jeans, den Ugg Boots und dem großmaschigen Schal sehe ich vermutlich nicht ganz so wichtig und durchgestylt aus.

„Völlig falsche Wahl.“

„Wie meinen?“

„Das Parfüm. Es ist scheußlich.“

Aber die Blondine sieht sehr begeistert aus.

„Der Text überzeugt sie vermutlich.“

Tatsächlich liest sie die Beschreibung auf der Packung und entscheidet sich dann, das Produkt zu kaufen. Es dämmert mir.

„Der Text ist von dir.“

Lukas nickt und zuckt die Schultern, als müsse er sich dafür entschuldigen.

„Die meisten Texte da drinnen sind von mir.“

„Aber natürlich.“

Männer! Immer müssen sie mehr aus dem machen, als es wirklich ist. Genervt verdrehe ich die Augen. Oft genug habe ich schon gehört: „Was Ronaldo und Messi mit dem Ball anstellen können, das kann ich auch.“ Echt? Wow! Wahnsinn. Kannst du auch acht Stunden in den Wehen liegen und dann ein 3500 Gramm schweres Lebewesen auf die Welt pressen? Nein? Egal, du kannst ja gegen einen Ball treten. Pfft. Männer!

Lukas nimmt meine Hand und zerrt mich ins Innere des Ladens.

„Komm schon. Ich beweise es dir!“

Er fordert mich auf, ein Produkt meiner Wahl zu nehmen. Es fehlt nur noch Markus Lanz, der sagt: „Topp, die Wette gilt.“ Aber ich will nicht so sein. Wahllos greife ich nach einem Produkt und drehe mich damit wieder zu Lukas, der diese Aufgabe sehr ernst zu nehmen scheint. Er sieht die kleine Flasche in meiner Hand nachdenklich an. Ich kann förmlich sehen, wie es hinter seinen schönen Augen rattert. Die Stirn in Falten gelegt, die Hand am Kinn, die Haare völlig außer Form geraten und dadurch nur noch attraktiver. Aber das sage ich ihm natürlich nicht.

„Lassen Sie sich von dem Duft afrikanischer Gewürze in eine fremde Nacht entführen, die Ihre Sinne betört und Ihnen lang anhaltende Frische verleiht.“

Ich schüttele fassungslos den Kopf, während ich die Zeilen, die Lukas vor sich hin spricht, tatsächlich Wort für Wort auf der Packung in meiner Hand lese.

„Du solltest damit irgendwo auftreten.“

Aber er schüttelt nur den Kopf und sieht sich weiter in dem Duty-Free-Shop um. Ich will wissen, wie gut er in seinem Job wirklich ist, also suche ich die Produkte aus und lasse mir von ihm den Text auf der Packung aufsagen. Bei vier von fünf Produkten lag er schon richtig. Nur einmal hat er sich geirrt und schuldet mir jetzt fünf Euro. Aber reich werde ich bei diesem Spiel nicht.

„Was ist mit dem da?“

Ich zeige auf eine Packung Rasierschaum, er nickt sofort.

„Schon während der Rasur wird die empfindliche Männerhaut geschont, Hautirritationen werden vermindert. Für das beste Gefühl. Ich benutze das übrigens auch.“

Wieder stimmt der Text und ich gebe mich geschlagen. Er ist ohne Zweifel gut in seinem Job.

„Ich bin ehrlich beeindruckt. Sowas habe ich noch nie gesehen.“

Er zuckt nur die Schultern, als wäre es keine große Sache, die Produktbeschreibungen aller kaufbaren Dinge in diesem Laden auswendig rezitieren zu können.

„Das ist fast unheimlich.“

„Das ist mein Job.“

Es ist gar nicht mehr so übel, wie ich zu Beginn gedacht habe. Er ist nicht Hemingway, er ist eher wie ein MacGyver- Taschenmesser-Set. Große Unterhaltung. Wir schlendern weiter und kommen bei den Damendüften zum Stehen.

„Hier kenne ich mich leider gar nicht aus, tut mir Leid.“

Aber er hat mich auch so schon zur Genüge beeindruckt. Eigentlich hat er das schon mit der Technik beim Öffnen der Flaschen. Aber das muss ich ihm ja nicht direkt auf die Nase binden.

„Wenn du schreiben könntest, über was du willst – was wäre es?“

Ich drehe mich mit einem kleinen Probespender eines unverschämt teuren Parfüms zu ihm um.

„Ich weiß nicht. Ich denke auch nicht darüber nach.“

Ich halte den Spender wie eine Pistole vor die Brust.

„Dann denk jetzt darüber nach.“

Er atmet genervt aus und sieht mich ernst an. Es scheint sein wunder Punkt zu sein, aber ich will unbedingt wissen, was für ein Schriftsteller er wäre, wenn er sich trauen würde. Ein großartiger, da bin ich mir bereits sicher.

„Ich denke, ich würde Komödien schreiben. Dinge aus dem Leben. Alltagsbegegnungen.“

Während er das sagt, sieht er mich nicht an. Sein Blick wandert in die Ferne und was er dort sieht, kann ich nur erahnen. Aber er spricht weiter.

„Ich würde zuerst ein Online-Blog führen. Irgendwas witziges, was die Leute gerne lesen. Und wenn das gut ankommt, dann würde ich Geschichten aufschreiben, die mir auf meinen Reisen passieren. Kurzgeschichten.“

Dann erst sieht er wieder zu mir und ich lasse den Parfümspender langsam sinken. Ich kann mir das alles gut vorstellen und bin mir sicher, er wäre in wenigen Monaten ein Geheimtipp.

Mit einer frechen Handbewegung nimmt er mir das Parfüm aus der Hand und richtet es auf mich.

„Wohin würdest du reisen, wenn du dich trauen könntest, Pippa?“

Ich will dieser Frage genauso gerne aus dem Weg gehen wie einem Besuch beim Zahnarzt, aber es wäre nicht fair. Er musste schließlich auch springen. Zu dumm, dass ich mir über eben genau diese Frage schon so präzise Gedanken gemacht habe.

„Paris. Ich würde auf alle Fälle sofort und als erstes nach Paris.“

Ungewollt muss ich lächeln, weil in meinem Kopf die komplette Reise schon geplant ist. Alles steht schon, nur der Mut fehlt. Und das schon seit Jahren. Lukas schüttelt den Kopf.

„Wieso Paris?“

„Weil es nicht so weit weg ist und es dennoch so scheint, als ob es in einer anderen Welt liegen würde. Und weil jede Frau davon träumt.“

Er nickt und sieht mich durchdringend an.

„Jetzt wäre ein toller Moment um zu fliegen, weißt du? Dort ist es schön an Weihnachten und so.“

„Sehr teuer.“

„Unsinn.“

„Ich fliege nicht gerne.“

„Dann fahr mit dem Zug.“

„Lange Fahrt.“

„Dafür brauchst du nur ein gutes Buch.“

Ich nehme ihm den Parfümspender wieder weg und stelle ihn an seinen Platz zurück.

„Dann schreib mir eins.“

„Wenn ich dir ein Buch schreibe, steigst du in den Zug und düst nach Paris?“

Ich zucke die Schultern. Vielleicht. Vermutlich nicht. Aber ich könnte mutig sein und nicken. Immerhin hat er es sehr deutlich gemacht, dass er nicht schreiben will. Er führt ja nicht mal ein Blog, das doch inzwischen jeder schreiben kann, und sehr viele einfach als kleines Hobby betreiben. Lukas wäre mein Lieblingsblogger, weil er lustig ist. Wenn er nur halb so lustig schreibt, dann wird das ein echter Erfolg.

„Abgemacht.“

Er streckt mir die Hand entgegen und ich zögere für den Bruchteil einer Sekunde. Aber dann sehe ich ihn mit seinem Buch, das ihn zum gefeierten Nachwuchsautor macht, ihn auf der Frankfurter Buchmesse zu einem umjubelten Helden werden lässt; und ich sehe ihn, wie er grinsend in die Menge winkt. Auf die Frage, für wen er dieses Buch geschrieben hat, muss er dann antworten: „Für Pippa.“ Ich wäre dann für immer mit seinem Leben verbunden. Mein Herz tanzt bei dieser Vorstellung wie das Mitglied einer lateinamerikanischen Tanzformation vor sich hin. Fast will ich meine Füße im Takt meines Herzens über den Boden tanzen lassen, aber ich nehme einfach seine Hand an – und wieder passiert etwas. Aber ich konzentriere mich lieber auf sein Lächeln. Wir stehen einigen Damen im Weg, die sich wohl an diesem Tag noch schnell mit herrlichen Düften beschenken lassen wollen. Aber ich nehme kaum etwas wahr. Er legt seine Hand um meine Hüfte und zieht mich ein Stück näher an sich heran. Jetzt stehen wir nicht mehr im Weg, dafür aber so nah beieinander wie noch nie, seitdem er hier ist. Jetzt werde ich ihn küssen. Genau jetzt. Weil es keinen guten oder perfekten Moment für den perfekten Kuss gibt. Es gibt vielleicht gar keinen perfekten Kuss, aber wenn ich es jetzt nicht versuche, dann werde ich es auch nie erfahren. Ich beuge mich ein bisschen zu ihm und stelle mir vor, was für ein Soundtrack wohl just in diesem Moment gespielt werden sollte, wenn es sich um eine Filmszene handeln würde. Vielleicht etwas mit viel Geigen, einer zauberhaften Stimme, eine sanfte Melodie.

Doch dann erreichen mich die Töne einer Art von Blaskapelle, und ich will den Kopf schütteln. Nein, das ist etwas zu pompös, etwas zu viel, zu groß. Und außerdem ist diese Melodie schon vergeben. John Williams hat mit dieser genialen Anfangsmelodie von Star Wars ein grandioses Stück Musik geschrieben. Auch wenn ich sie liebe, in diesem Moment ist sie gänzlich unpassend. Dennoch dröhnt sie jetzt durch den Duty-Free-Shop und ich bemerke die Blicke der anderen Menschen. Lukas grinst.

„Deine Tasche klingelt.“

Natürlich. Star Wars. Mein Handy. Verdammt! Danke, Mr. Williams. Ich wühle mich durch die Untiefen meiner Handtasche, bis ich mein Handy endlich zu fassen kriege.

„Hallo?“

„Pippa, ich bin es noch mal. Papa.“

„Papa.“

Obwohl ich fast dreißig Jahre alt bin und über 600 Kilometer von meinem Elternhaus getrennt, schafft es mein Vater noch immer, jeden Versuch zu durchkreuzen, einen Kerl näher kennen zu lernen. Das muss ein bestimmtes Vater-Gen sein. Als könnte er mich oder Lukas sehen, trete ich einen kleinen Schritt zurück und bringe unbewußt Abstand zwischen uns. Ich verfluche still und heimlich das Wunderwerk der Technik und die Tatsache, dass ich scheinbar wieder vollen Empfang habe.

„Wir haben eine Überraschung für dich.“

„Toll.“

„Wir haben dir ein Zimmer im Hotel am Flughafen gebucht. Eines der letzten, aber du hast ein Zimmer. Es ist auf deinen Namen gebucht, also gönne dir eine warme Dusche und ein weiches Bett. Wir warten mit dem Essen auf dich. Morgen soll es ja schon nicht mehr ganz so übel aussehen.“

Juhu.

„Danke!“

Mein Mund ist trocken. Ich will keine warme Dusche, zumindest nicht ohne Lukas, aber wie soll ich ihm oder meinem Vater das erklären?

„Frohe Weihnachten, Kleines.“

„Euch auch.“

Ich schiele zu Lukas, der an einigen Parfüms schnuppert und mit keinem der Düfte besonders zufrieden scheint.

„Ruf uns an, sobald du im Hotel bist ja?“

„Klaro.“

Wir verabschieden uns und ich lege auf. Mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als in ein Hotelzimmer zu ziehen. Ich kenne die Stimme meines Vaters. Wenn er um mich besorgt ist, dann kriegt er viel zu schnell Magenprobleme. Irgendwie ist bei ihm die Zahl 29 noch nicht so ganz angekommen – aber es rührt mich, dass er sich solche Sorgen um mich macht. Ich seufze und drehe mich zu Lukas, der hinter mir steht und schon zu ahnen scheint, dass der Abend anders verlaufen wird, als ursprünglich geplant.

„Schlechte Nachrichten? Hat das Tier dein Zimmer besetzt?“

„Blödmann.“

Aber ich mag seinen Sinn für Humor. Er ist irgendwie süß. Alles an ihm scheint süß zu sein. Ich will ihn nicht loslassen müssen.

„Meine Eltern haben mir ein Hotelzimmer gebucht.“

„Das ist doch spitze.“

„Ja, schon – aber …“

Oh, ihm scheint die Tatsache gar nicht so viel auszumachen. Zumindest ist er gar nicht so enttäuscht, wie ich angenommen hatte. Ärgerlich. Haben wir gerade nicht noch geflirtet? Habe ich mir das alles nur eingebildet? Wundern würde es mich nicht. Ich scheine mich bei so vielen Dingen zu irren, die mit dem männlichen Geschlecht zu tun haben.

„Ich bringe dich hin.“

„Was machst du dann die ganze Nacht?“

Er zwinkert mir zu und schiebt mich langsam zum Ausgang.

„Ich warte auf das Frühstück. Das du mir ausgeben wirst.“

Plant er doch mit mir? Mit uns?

„Das wäre doch nicht fair! Du lässt deinen Flieger für mich sausen und jetzt sollst du in der Flughafenhalle übernachten?“

„Ich habe noch etwas zu tun, mach dir um mich bitte keine Sorgen.“

Ich ergreife seine Hand. Das ist das zweite Mal, dass ich die Initiative ergreife. Das sieht mir gar nicht so ähnlich, oder? Ich wachse hier noch über mich hinaus.

„Ich folge dir. Mit dem Gepäckwagen, versteht sich, Miss Daisy.“

Ich drücke ihm, einfach so, einen Kuss auf die Wange. Es überrascht ihn so sehr wie mich, aber es musste endlich mal getan werden. Eigentlich wollte ich auf seine Lippen zielen, aber das habe ich mich dann doch nicht getraut. Ich bin nun mal ein Schisser. Ich kneife immer dann, wenn andere springen oder sich überschlagen, oder andere tollkühne Dinge mit ihrem Körper anstellen. Und so kneife ich auch jetzt. Aber nicht ganz, es ist zumindest ein kleiner Kompromiss.

„Wofür war das denn?“

„Für alles.“

Er sieht etwas verlegen aus, rückt die Brille zurecht und nickt. Ich verstehe nicht, warum so ein attraktiver Kerl nicht eine Freundin im schönen Hamburg hat, die nur auf seinen Anruf wartet und sich in den Schlaf weint, weil er nicht neben ihr liegt. Stattdessen steht er hier neben mir und fährt mein Gepäck Richtung Ausgang. Wir gehen im Gleichschritt und ich verdränge das Gefühl, das so sehr nach Abschied schmecken wird.

Die Kälte will mir förmlich ins Gesicht beißen und ich ziehe den Schal enger um meinen Hals und den Mund. Es hat noch immer nicht aufgehört zu schneien, das viele Weiß wirkt so friedlich und fast schon feierlich. Dem besonderen Augenblick irgendwie angemessen. Lukas, der ein ganzes Stück größer ist als ich, zieht sich seinen Hut tiefer in die Stirn. Ich muss lächeln. Einfach so, weil es unglaublich schön ist, auch wenn es mich durcheinander bringt.

„Kalt?“

Er schüttelt den Kopf, aber ich sehe, dass auch er seinen Schal etwas höher zieht und die Jacke zumacht.

„Wenn ich Handschuhe dabei hätte, würde ich eine Schneeballschlacht anfangen.“

„Das wäre keine gute Idee. Frauen schreien immer und werden hysterisch, sobald sie auch nur einen Schneeball sehen.“

„Wirklich? Aber doch nicht Frauen wie du.“

Er wird langsamer und das macht mich nervös. Ich weiß genau, woran er denkt und was er vorhat. Er wird sich bücken, einen Schneeball formen und ich werde rennen. Rennen wie der Teufel, ausrutschen und mir Knie und Ellenbogen aufschlagen. So wie immer eben.

„Du musst wissen ...“

Ich halte ihn am Ärmel seiner Jacke, aber er bückt sich trotzdem.

„ … ich bin schnell. Kein leichtes Ziel.“

„Werden wir ja sehen.“

Ich hasse Kerle, die aus dem schönen Schnee direkt einen Spielplatz für Schneeballschlachten machen müssen. Ich denke an das kalte Wasser, welches einem in den Kragen läuft. Nein, das muss doch wirklich nicht sein. Oder doch? Den Gepäckwagen zwischen uns, gehe ich zum ersten Mal in Deckung, als der Schneeball über meinen Kopf hinweg segelt.

„Sogar für einen Hobbit war das eine miese Vorstellung.“

„Das war doch nur zum Aufwärmen.“

Und schon schmettert er den nächsten Schneeball, diesmal direkt in meinen Nacken. Das war ein Volltreffer. Aber, obwohl es so kalt ist, das meine Hände kaum diesen Ball formen können, setze ich zum Gegenschlag an. Ich bin keine leichte Beute, dafür hatte ich zu viele Winter in Freiburg. Bevor er auch nur zum Ausholen kommt, trifft ihn meine Rache im Gesicht.

„Au!“

„Treffer!“

Frauen jubeln viel schöner als Männer – nur leider sehr viel kürzer, weil mich Lukas wie ein Footballer einfach zu Boden reißt. Wir landen beide weich im Schnee und mir fällt Bing Crosby ein. Vor kurzem hatte ich noch eine große Abneigung gegen ihn und sein Gefasel von weißen Weihnachten, aber inzwischen könnte ich dieses Lied den ganzen Tag singen. Hätte es heute nicht geschneit, hätte ich Lukas nie kennen gelernt, hätte diese Schneeballschlacht nicht machen können ... würde ich jetzt nicht hier liegen. Neben ihm im Schnee. Beide auf dem Rücken, den Blick in den Himmel gerichtet. Mir fällt Philipp Poisel wieder ein. Vorhin hat er noch für mich gesungen und wollte wissen, wo mein Himmel anfängt. Nun kann ich es sagen: genau hier. Genau über dem Flughafen in Stuttgart, direkt hier, wo auch Lukas' Himmel anfängt. Alles andere spielt gerade keine Rolle mehr. Wo seine Gedanken sind, weiß ich nicht – aber ich hoffe, eine kleine Rolle darin zu spielen.

„Gar nicht so übel heute.“

Er murmelt es eher vor sich hin. Aber ich kann es hören, weil er will, dass ich es höre. Er dreht sich zur Seite und sieht mich an, das spüre ich. Obwohl es kalt ist, obwohl meine Finger sich taub anfühlen, habe ich das Gefühl, den Schnee um uns herum schmelzen zu spüren. Das ist so der Moment wie im Film Romeo und Julia, als sie sich zum ersten Mal durch das dicke Glas des Aquariums sehen. Es trifft beide wie ein Blitz. Oder in Pretty Woman, wenn Richard Gere seine Dame abholen will und Julia Roberts im Cocktail-Kleid wartet. Er sieht sie an und es trifft ihn ohne Zweifel wie der Blitz.

„Es ist das beste Weihnachten, das ich je erlebt habe. Dank dir.“

Darauf weiß ich weder eine bissige Antwort noch eine amüsante Reaktion. Ich habe Männer das schon oft sagen hören, aber nie zu mir. Vergessen wir Benny für einen Moment, denn bei ihm war es eine Lüge, wie ich inzwischen weiß. Ich habe ein Recht darauf, ein neues Glück zu finden. Waren Lukas' Augen eigentlich schon immer so schön? So leuchtend? Ist mir eigentlich klar, was ich hier mache? Er hat seinen Flieger sausen lassen. Für mich. Das ist keine Geschichte, die mir meine Freundinnen erzählen. Ich erlebe das gerade.

Seine Hand berührt meine Wange, und es tut mir fast schon Leid, dass sie so kalt ist. Er müsste Handschuhe anziehen. Meine Wange ist deswegen so warm, weil sie das immer wird. Meistens ist sie dann auch sehr rot und ich wette, ich sehe aus wie ein Leuchtturm, der in den Schnee gefallen ist. Man sucht sich doch immer Filme oder Lieder, um die eigenen Gedanken und Gefühle zu beschreiben. Ich mache das immer, weil ich das Gefühl habe, andere hätten es schon viel schöner gesagt. Jetzt fallen mir hundert Songs ein, die meisten von Take That oder Robbie Williams, aber leider muss ich zugeben, das Herbert Grönemeyer das Lied zu diesem Gefühl geschrieben hat: Flugzeuge in meinem Bauch. Wenn Luke Skywalker und Han Solo in Star Wars denken, das wäre ein Großangriff von imperialen Raumschiffen, dann müssten sie hier sein. Jetzt! Denn diese Flugzeuge in meinem Bauch scheinen ihren ganz persönlichen Überfall auf mich zu planen. Und der dafür Verantwortliche liegt neben mir und streichelt meine Wange.

„Ist es erlaubt?“

Ich finde es wunderschön, wenn Männer Frauen fragen, ob sie sie küssen dürfen. Dann ist man darauf vorbereitet und weiß genau, dass jetzt der absolute Höhepunkt des Abends kommt. Ich hatte manchmal das Gefühl, früher auf Partys als 16jährige, total überrascht worden zu sein. Man kam dann später heim, die Eltern fragten, wie es war und man sagte: okay. Aber nur, weil man nicht vorher wusste, was passieren würde. Und dann ist es passiert.

Diesmal nicke ich.

Er beugt sich zu mir rüber, nur ein bisschen, dann hält er kurz inne, als ob er sich nicht sicher ist, ob das richtig ist. Wenn Frauen es sich dann anders überlegen, haben sie hier die Chance, einen Rückzieher zu machen. Wenn Frauen aber von sich aus die Lücke zwischen ihren und seinen Lippen schließen, dann ist das der klassische Fall von: wir haben uns geküsst. Ich werde also nicht sagen müssen, dass er mich im Schnee geküsst hat. Nein, ich kann sagen, dass wir uns geküsst haben. Also bleibt mir jetzt nichts anderes übrig, als diese Lücke zu schließen und meinen Kopf nur ein ganz kleines bisschen zu seinem zu drehen.

Seine Lippen schmecken im ersten Moment wie Erdbeeren. Ehrlich, ich weiß nicht wieso, aber so kommt es mir vor. Es hat sich so angefühlt, als würde man zum ersten Mal im Leben eine Mango oder eine Papaya essen. Man weiß, es gibt diese Frucht, man weiß auch, wie andere es beschrieben haben, aber man selber hat es noch nie probiert. Und deswegen ist die Spannung besonders groß. Wird man enttäuscht oder schmeckt Papaya tatsächlich wie Honigmelone. Nein, dieser Kuss zwischen mir und Lukas im Schnee, an Weihnachten, am Stuttgarter Flughafen ... Das alles schmeckt weder nach Erdbeere noch nach Honigmelone. Es schmeckt einfach traumhaft. Ich würde so gerne Worte finden, die beschreiben, was ich gefühlt habe, aber mir fällt kein Film ein, der es schon beschrieben hat. Kein Lied hat es je im Radio besungen, und jetzt bin ich mir sicher, dass die Wörter dazu einfach noch nicht erfunden worden sind. Wenn ich es ausspreche, ist es vorbei. Doch, es gibt einen Film: Playing by heart. Angelina Jolie sagt: „Reden über Liebe ist wie Tanzen zur Architektur“. Sie hat Recht. Mehr als nur das. Sie trifft es genau. Es ist so, als würde ich versuchen den Zauber der Liebe zu erklären. Biologisch oder chemisch. Ausgesprochen kann ich die Wörter nicht mehr zurücknehmen, kann sie nicht tief in meinem Inneren einsperren. Ich werde nur sagen: wir haben uns geküsst.

Und obwohl es kalt und spät ist, obwohl ich auf dem Weg zu meinem Hotel bin, bleiben wir noch eine ganze Weile im Schnee liegen. Sobald wir sprechen oder aufstehen, ist der Moment vorbei. Er hält meine Hand noch immer fest in seiner. Unsere Finger sind ineinander verschlungen und mein Kopf lehnt an seiner Schulter. Er riecht noch immer nach Lenor und Cool Water und ich weiß, dass dieses Geschenk zu Weihnachten das größte und schönste ist, das ich jemals bekommen habe. Ich bin zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig glücklich. Und habe mich versehentlich verliebt.