Kapitel 3

 

Lukas, mein persönlicher Chauffeur oder Zivi, schiebt mich mit erhobenem Kopf und straffen Schultern an allen vorbei. Für diesen kurzen Moment fühle ich mich toll. Fast etwas verrückt und … ja, sogar wohl. Ich habe Mr. Spontaneität an meiner Seite und finde es klasse. Richtig klasse. Es ist das Highlight meines Tages. Meiner Woche. Sind wir doch mal ehrlich: es ist das Highlight dieses Monats. Denn außer dem täglichen Flirt-Spruch von meinem Bäcker („Einen schönen Tag noch, Hübsche.“) passiert nicht viel in meinem Leben. Benny ignoriert meine E-Mails, in denen ich betont locker tue, um eine Antwort über den Verlauf seines Lebens als Verlobter dieser blöden Kuh zu bekommen. Auch meine SMS-Nachrichten, die ich immer mal wieder an ihn schicke, bleiben meist unbeantwortet. Ganz schlimm wird es an den Tagen, an denen ich vor seinem Haus rumstehe und darauf warte, ihn ganz zufällig zu treffen. Für diesen „Zufall“ habe ich auch noch einige gute Themen rausgesucht, die ihn in ein Gespräch mit mir verwickeln sollen, und die amüsant wie auch intelligent zu gleichen Teilen sind. Er wird mich dann ins Innere bitten, weil es schon so kalt ist und mir einen Tee machen. Auf der Couch reden wir weiter, schwelgen in Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit. Eines führt zum anderen, wir fallen übereinander her, er trägt mich ins Schlafzimmer, wo wir uns leidenschaftlich lieben und er mir gesteht, dass der Fehltritt mit Theresa – die dummerweise jetzt seine Verlobte ist – ihn nicht glücklich macht und er ständig an mich denken muss. Nichts davon ist in den letzten Monaten passiert. Ich habe mich hinter einem Busch versteckt, als ich Benny und Theresa aus dem Auto habe steigen sehen. Ein blöder Köter hat mich angebellt, ich musste den Rückzug durch drei fremde Gärten antreten. Ohne leidenschaftlichen Sex und mit einem gebrochenen Herzen habe ich dann Unmengen an Schokolade in mich hineingestopft. Nein, die letzten Monate waren, auf gut Deutsch, scheiße. Ich werfe einen Blick über meine Schulter: Lukas, mein Chauffeur, ist der versöhnliche Abschluss eines echt fiesen Jahres.

Schlimm genug, verlassen zu werden – aber dann noch zu erfahren, dass mein Ex-Freund heiratet und die Frau, die jetzt seine wird (und mit der er mich sechs Monate lang betrogen hat) in wenigen Wochen auch noch Mama wird. Lukas ist vielleicht der verdiente Weihnachtsengel, der einige Wunden küssen soll. Das Lächeln auf meinem Gesicht wird breiter und breiter. Stop, da sind meine Ohren. STOP! Aber ich grinse noch immer. Und das nur, weil ich mir Lukas Lippen auf meinen vorstelle … Schlechte Idee. Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht steigt. Nein, ich werde rot und grinse wie ein Honigkuchenpferd. Etwas weniger verräterisch hätte es auch getan. Muss ja wirklich nicht jeder hier wissen, dass ich gerade schmutzige Fantasien über meinen Chauffeur hinter mir habe.

Er bremst direkt vor einer freien Telefonzelle ab, ich rutsche möglichst elegant von dem Wagen. Er öffnet mir die Tür zur kleinen Kabine und erinnert dabei an einen englischen Butler. Die Brille passt hervorragend zu seiner charmanten Art, die sich in den letzten paar Minuten in den Vordergrund gedrängt hat.

„Aber du kommst nicht mit rein.“

„Oh, natürlich nicht. Ich werde hier warten. Mit den Taschen.“

„Hältst du meine Cola. Aber nicht daraus trinken. Das finde ich nämlich total widerlich.“

„Ja, total. Klar, Miss Daisy.“

Ich verschwinde im Inneren und spüre, wie er in meinem Rücken die Tür schließt. Komisch, der gesamte Menschenauflauf hat sich in Luft aufgelöst. Vermutlich ist der Handyempfang schlagartig besser geworden oder sie haben aufgegeben. Außer mir sucht nur ein alter Mann passendes Kleingeld. Wie enttäuscht er sein wird, wenn er feststellt, dass nur eine Telefonkarte durch den Schlitz passt. Die Wunder der Technik. Meine Finger tippen die Nummer, ohne dass ich ihnen dabei zusehe. Ich sehe noch immer zu Lukas. Er steht beim Wagen, direkt vor meiner Zelle, die Cola in der Hand, die andere in der Hosentasche. Ein bisschen sieht er aus wie mein Bodyguard.

„Wunsch?“

„Papa? Hier ist Pippa.“

Ich hoffe, er erinnert sich – anders als meine Mutter – an seine Tochter, die im weite entfernten Freiburg wohnt und eigentlich auf dem Weg zu ihnen sein sollte.

„Hey, Kleines, wann kommst du denn endlich?“

Juhu! Mein Vater hat mich im Weihnachtsstress also nicht vergessen. Gott sei Dank!

„Ich habe noch keinen Flug. Es schneit wieder. Ich glaube nicht, dass ich es noch schaffen werde.“

„Es gehen gar keine Flieger mehr raus? Nichts?“

„Nichts in Richtung Berlin. Tut mir leid.“

„Och ... das ist schade. Dein Bruder und Nina werden enttäuscht sein.“

„Nina?“

„Deine Schwägerin.“

Ach so. Stimmt. Sie hat ja auch einen anderen Namen, außer das Tier. Da ich sie aber selten (nie!) mit ihrem Geburtsnamen anspreche, entfällt er mir von Zeit zu Zeit eben auch.

„Ja. Stimmt. Schade.“

Ich kann nicht anders und tue so, als ob ich mich übergeben müsste. Lukas grinst und hebt die Cola-Flasche zum Toast. Jetzt lächle ich auch. Er hat echt tolle Augen. Blau – und wenn er lacht, dann funkeln sie ein bisschen. Wie Sterne, die auf den Wellen im Meer tanzen. So stelle ich es mir zumindest vor, denn ich war noch nie am Meer. Aber pssst! Nicht Lukas sagen!

„Bist du noch dran?“

„Ja Papa. Ich bin da.“

„Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass du alleine in diesem Flughafen bist, Kleines.“

„Ich bin nicht alleine.“

„Wie bitte?“

Ich habe ganz vergessen, dass ich mit meinem Vater spreche. Mit dem Mann, der mein erstes Date quer durch unseren Garten gejagt hat, weil der Kerl der Meinung war, dass Gary Moore kein guter Sänger und Gitarrist ist. Meinem ersten festen Freund hat er so große Angst gemacht, dass ganze vier Wochen vergingen, bis wir uns zum ersten Mal küssten. Ich mag eine erwachsene Frau sein, aber für meinen Vater bin und bleibe ich sein „Kleines“. Und sein Kleines verbringt keine Nacht an einem Flughafen mit einem fremden Mann. Wenn er jetzt erfahren würde, dass ich mich mit einem Kerl eingelassen habe, der meine Cola-Flasche geöffnet hat und mich samt meinem Gepäck durch die Gegend schiebt – dann würde er ins Auto steigen und auf Schneeketten von Berlin bis nach Stuttgart fahren, um mich ins Auto zu schleifen und sich Lukas zur Brust zu nehmen. Dann würde er ihn fragen, für wen er sich halten würde, was er denn für Absichten mit mir hätte, wo sein polizeiliches Führungszeugnis wäre und ob seine Brille Fensterglasgläser hätte ...

„Was soll das heißen: Du bist nicht alleine?“

Ich hasse es, meine Eltern anzulügen. Ich kann ja nicht mal meinen Chef anflunkern, wenn ich mir einen zusätzlichen freien Tag erschleichen will. Ich bin zu gnadenloser Ehrlichkeit verdammt. Lukas steht noch immer vor der Telefonzelle, wie ein treuer Hund, den man beim Supermarkt nicht draußen anleinen muss, weil er ohnehin auf das Herrchen wartet.

„Eine Kollegin ist auch da. Uschi. Es ist alles in bester Ordnung.“

„Welche Uschi?“

Mein Vater ist zum Glück nicht besonders gut darin, sich Namen meiner Kollegen zu merken. Wir sind schon froh, wenn er alle Onkel und Tanten richtig benennt.

„Uschi, meine Kollegin von der Arbeit. Papa, ich habe dir oft von ihr erzählt.“

Uschi und ich gehen vielleicht mal zusammen in die Mittagspause, aber wieso sie jetzt hier mit mir sitzen sollte, wüßte ich spontan auch nicht. Ich bete, dass mein Vater nicht nachfragt, sonst müsste ich mich in noch mehr alberne Lügen verstricken.

„Was ist mit deinem Handy? Können wir dich erreichen?“

Ich sehe kurz zu Lukas, der so tut, als würde er von meiner Cola trinken. Dann spielt er den Überraschten und lächelt spitzbübisch. Ich hebe nur mahnend den Finger und er nickt, bevor er kurz salutiert. Ich kenne diesen Mann nicht. Ich weiß eigentlich gar nichts über ihn und doch reicht sein bloßer Anblick, um mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Dabei weiß ich ganz genau, es wird nicht gut enden. Es endet nie gut. Die Fakten sprechen für sich. Freiburg vs. Hamburg. Spontaneität vs. mich.

„Kaum Empfang.“

„Ich will, dass du dir ein Hotel suchst. Jetzt gleich. Wenn du ein Zimmer hast, dann rufst du uns wieder an. Ich will nicht, dass du Weihnachten am Flughafen feierst. Verstanden?“

Ich bin wieder sechzehn und höre auf das, was mein Vater mir sagt. Ich weiß genau, er hat Recht. Wenn ich wirklich keinen Flieger mehr bekomme, dann sitze ich hier die ganze Nacht fest. Und ich bin jetzt schon komplett fertig und müde. Wie soll ich mich denn auf dem Fußboden erholen?

„Ja, okay.“

„Du meldest dich?“

„Ja, Grüße an Mama und ...“

Wie heißt sie doch gleich? Sag jetzt bloß nichts falsches, Pippa!

„Ich grüße alle von dir.“

Kaum habe ich den Hörer aufgelegt, klopft Lukas gegen die Scheibe. Ich schiebe die Tür einen Spalt auf.

„Ja?“

„Du hast aufgelegt, ich dachte wir gehen ...“

„Aha.“

„Und ich muss dir etwas beichten.“

Dum dum dum di dum ... So oder so ähnlich klingt mein Herz gerade. Unsere Gesichter sind sich erstaunlich nah gekommen, er lehnt sich näher an den Spalt, damit ich ihn besser verstehe.

„Ich habe deine Cola leer getrunken.“

Entschuldigend hält er eine leere Glasflasche gegen die Glastür. Ich sehe ihn an und will ihn küssen. Er lächelt mich an und nickt dann zum Gepäckwagen.

„Lass uns gehen.“

Er nickt Richtung Kiosk und hebt den Daumen in die Luft. Wieso ist mir bisher nicht in den Sinn gekommen, dass er vielleicht eine Freundin hat. Kinder. Was, wenn er gar keine Lust hat, noch mehr Zeit mit mir zu verbringen? Und was, wenn er morgen früh weg ist. Oder ich morgen früh weg bin. Wozu dann das Ganze? Ich trete aus der Kabine und muss mich aus der Komfortzone der Telefonzelle einer anderen Realität stellen. Lukas zieht den Gepäckwagen wieder zu uns. Ich darf mich unter keinen Umständen in ihn verlieben.

„Bevor wir spontan werden, muss ich checken ob noch ein Flieger nach Hamburg rausgeht.“

„Deine Freundin wartet bestimmt schon.“

Zugegeben, ich würde es lieber jetzt erfahren, als morgen mit einem gebrochenen Herzen. Allerdings hätte ich auch die weniger plumpe Art wählen können. Er sieht mich von der Seite an und schüttelt den Kopf.

„Nein, aber meine Eltern.“

Er weiß natürlich, wieso ich so doof gefragt habe. Ich bin erleichtert. Nur! Nicht! Verlieben!

„Und dein Freund hat nichts dagegen ...“

„Bin Single.“

Das hätte gerne weniger euphorisch klingen sollen, Frau Wunsch. Aber er lächelt mich an. Okay, die Fronten sind geklärt. Wir sind beide Singles. Und beide hier. Aber was, wenn sein Flieger jetzt doch noch rausgeht? Was, wenn er jetzt nach Hause kann? Ich werde langsamer, während wir in Richtung Information gehen. Kennen Sie dieses Gefühl, sich endlich dazu überwunden zu haben, den Kerl an der Theke anzusprechen? Sie stehen auf, gewillt alles zu geben – und dann ist er schon weg oder will gerade zahlen? So fühle ich mich. Was bleibt mir dann? Wieder meinen Ex-Freund zurückzugewinnen? Das hat in den vergangenen Monaten ja wirklich zauberhaft funktioniert. Ich habe jetzt keine Chance, Lukas besser kennen zu lernen, wenn dieser verdammte Flug noch nach Hamburg geht. Vermutlich ist ihm die ganze bizarre Geschichte nicht mal bewusst. Ich erlebe hier etwas, das ich vor inzwischen vier Jahren zum letzten Mal erlebt habe. Aber wer ist dieser Lukas überhaupt? Ich kenne nicht mal seinen Nachnamen und verliere mich hier in Erinnerungen mit ihm, die ich noch nicht mal habe.

Jetzt entscheidet sich also, ob Lukas weggeht oder bleibt. Was passiert mit meiner Liste? Auch er verlangsamt seine Schritte, je näher wir der Information kommen.

„Würdest du Hamburg gerne mal sehen?“

„Na ja, es steht auf der Liste direkt hinter Paris, New York, Barcelona und Los Angeles, aber vor Rom. Ist das okay?“

„Kein schlechter Schnitt. Welche Städte hast du denn schon gesehen?“

Die Stunde der Wahrheit.

„Alle.“

„Alle?“

Nicht so ganz.

„Ich arbeite mit Reiseführern. Es fühlt sich so an, als hätte ich schon alle gesehen.“

„Und wo warst du schon so richtig?“

„Berlin. London. Freiburg. Stuttgart.“

Was für eine jämmerliche Liste. Kein Wunder, dass er er mich aus großen Augen ansieht. Wir sind inzwischen stehen geblieben.

„Aber ...“

„Ich weiß.“

Egal was er sagen will, ich habe es schon gehört. Standpauken über Standpauken. Motivationsansprachen, Ermutigungen. Alles schon da gewesen. Um nicht wieder in eine solche Situation zu kommen, deute ich auf den Schalter vor uns, der gerade frei geworden ist. Nur widerwillig macht er einen Schritt nach vorne und lässt mich und den Gepäckwagen zurück.

„Verzeihung, ich würde gerne wissen, wie es mit den Flügen nach Hamburg aussieht.“

Die junge Frau hinter der Theke sieht uns einen kurzen Moment nachdenklich an, als würde sie es spannend machen wollen. Ich würde sie gerne erdrosseln, bevor sie den Mund aufmacht und mir mein Weihnachtsgeschenk wegnehmen kann. Ich hoffe inzwischen sogar, dass er bleiben muss, weil es schneit und schneit. Oh Bing Crosby, ich liebe dich und werde sofort eine Facebook-Seite dir zu Ehren erstellen.

„Hamburg? Da gibt es einen Flug ... vermutlich müssen Sie umbuchen, es sind noch wenige Plätze frei.“

Lukas sieht mich an. Ich versuche, cool zu wirken. So, als ob es mir völlig egal wäre. Als wäre in China ein Sack Reis umgefallen. Mir doch egal, ist alles total cool.

Herr Gott, er kann jetzt nicht wegfliegen! Ich habe mir jetzt schon ein schönes Weihnachts-Fest ausgemalt. Er darf nicht fliegen! Bitte!

„Wann geht der Flug denn?“

„In einer Stunde. Wollen Sie beide jetzt umbuchen?“

Sie wirft einen Blick knapp an seiner Schulter vorbei zu mir und schaut mich mit einem standardisierten Lächeln an. Glaubt sie etwa, ich wäre seine Freundin? Das wäre natürlich die Lösung. Ich fliege nach Hamburg, mit ihm und von dort dann nach Berlin. Bin ich von allen guten Geistern verlassen? Kann das denn sein? Nein. Ich schüttele also kurz den Kopf, während Lukas sein Ticket der Frau gibt und mich dann wieder ansieht. Das Lächeln sieht nicht ganz so glücklich aus.

„Ich komme nach Hause.“

„Ja. Wie E.T. – der hat es dann ja auch geschafft. Happy End.“

Klingt das so bitter, wie ich mich fühle? Würde mich nicht stören, wenn es so sein sollte. Ein bisschen Tragik fehlt gerade noch in meinem Leben. Außerdem lässt E.T. den kleinen Elliott auch alleine zurück, und so ein echtes Happy End ist es auch gar nicht, weil Elliott nämlich ganz viel weint. Und ich weiß schon, wer auch weinen wird. Es wird auch nicht E.T. sein, der zu seiner Familie nach Hamburg fliegt.

„So, bitte sehr, Ihr Ticket. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug.“

Flirtet diese Schnecke jetzt etwa mit Lukas? Jetzt, da sie weiß, dass ich nicht mit ihm nach Hamburg fliege und wohl nicht seine Freundin bin? Ist es nicht schlimm genug, dass sie ihn mir wegnimmt? Ich könnte mich übergeben. Direkt auf ihre schicke Uniform.

„Und was kann ich für Sie tun?”

Bei mir klingt das alles dann nicht mehr ganz so höflich. Ich bin mir sicher, dass sie das nicht wirklich wissen will. Was sie für mich tun kann? Lukas hier lassen! Ich hebe nur die Hand und murmele etwas von wegen „Kein Bedarf“. Dann marschiere ich energisch weg, dicht gefolgt von Lukas.

„Bist du sauer, weil ich fliege?“

„Was? Nein ... das wäre ja ... Ach, Unsinn ... Wieso? Kann mir doch egal sein.“

Jetzt sieht er aus wie ein geschlagener Hund. Nicht wie ein Kampfhund, sondern wie einer dieser Taschenhunde, die einen ansehen, als wollten sie sagen: „Wir haben kein Zuhause. Nimm uns mit.“ Ich muss kurz an meine Kindheit denken, als im TV die Werbung für die Knuddel-Hunde, die Wauzis, lief. Sie wurden in diesen hässlichen Kartons verkauft, die tatsächlich aussahen wie ein Zwinger. Und sobald man die Eltern überredet hatte, so ein Hündchen zu kaufen (das dauerte bei dieser tränenreichen Werbung nie besonders lange), riss man den Karton auf und fühlte sich wie ein aktives Mitglied von Greenpeace. Zurück zu Lukas.

„Ich meine ... nicht, dass es mir egal ist ... Ich wollte nur ... Ach, ich freu mich für dich und deine Familie. Ehrlich.“

Ich bin ein guter Mensch. Ich freue mich wirklich. Aber wieso klinge ich dann jetzt auch so traurig, als würde ich gleich losweinen?

„Aber du bleibst dann hier ... alleine? Kann ich das verantworten?“

„Ach, ich bin doch schon groß.“

Ich simuliere eine Geste, in der ich meistens Arnold Schwarzenegger oder Ralf Möller (oder beide?) gesehen habe. Irgendwas zwischen Bodybuilder und Totalversager. Lukas lächelt. Traurig, aber er lächelt. Vielleicht überlegt er es sich ja doch noch mal anders und bleibt hier. Bei mir.

„Ich lasse dir natürlich den Gepäckwagen da. Ist ja Ehrensache.“

„Ein Gentleman.“

Ich wollte diesen Gepäckwagen so dringend haben – jetzt würde ich ihn sofort zurückgeben, wenn ich Lukas dafür behalten dürfte.

„Ich fand es toll dich kennen gelernt zu haben.“

Ich nicke tapfer.

„Aber ich schulde dir noch eine Cola. Und ich begleiche meine Schulden immer.“

Soll mich das aufbauen? Soll es. Okay, er begleicht seine Schulden. Aber das sagt er vermutlich zu jedem Mädchen, welches er am Flughafen kennen lernt. Zuerst einen auf Softie machen und dann abhauen. Typisch Mann. Ich erinnere mich an den ersten echten und heftigen Streit mit Benny. Er war bei mir in Freiburg; statt sich dem Streit und mir zu stellen, hat er sein Zeug gepackt und ist abgehauen. Eine Stunde später stand er dann mit einer Packung Ben & Jerry Eis wieder vor meiner Tür. Das muss Liebe sein, finden Sie nicht? Aber natürlich ist mir jetzt klar, dass Benny inzwischen für Theresa Eis holt. Mir könnte Lukas Eis holen. Was er aber nicht tun wird. Er wird nach Hamburg fliegen, was ich noch immer ein bisschen bedauere. Ich würde so gerne mal seine Haare sehen, die er noch immer unter diesem schwarzen Hut versteckt. Ich greife nach seinem Hut und ziehe ihn einfach vom Kopf. Er lässt es mich tun, ohne zu fragen oder sich zu beschweren. Sie sind nicht so kurz, wie ich gedacht habe. Im Nacken werden sie lockig und jetzt rutscht ihm eine Haarsträhne ins Gesicht, die er mit einer geübten Handbewegung wieder aus seiner Sichtbahn schiebt.

„Durchgefallen?“

„Was?“

„Die Frisur. Ist sie durchgefallen?“

Ich schüttele den Kopf und reiche ihm den Hut zurück.

„Ganz im Gegenteil.“

Zufrieden setzt er sich den Hut wieder auf und sieht mich dann ernst an.

„Also, wenn ich deine Telefonnummer haben könnte, dann werde ich dich auch mal anrufen. Du telefonierst doch so gerne.“

Es mag nur ein kleiner Strohhalm sein, aber ich bin gewillt, mich mit meinem ganzen Kampfgewicht (55 Kilogramm bei einer Größe von knapp 1 Meter 60) an ihn zu klammern. Vielleicht ruft er ja wirklich mal an. Mitten in der Nacht, weil ich ihm fehle? Unsinn. Solche Dinge passieren nicht im echten Leben. In Romanen oder Filmen, aber nicht in Pippa Wunschs Leben. Was mich verwirrt, ist die Tatsache, dass er mir sein Buch mit dem Titel Herr der Ringe reicht. Zusammen mit seinem Kuli, den er aus der gleichen Tasche zieht wie das Feuerzeug vorhin. Das Buch sieht gebraucht aus, vielleicht weil er es immer und immer wieder gelesen hat. Bei meinem Glück vergisst er das Buch im Flugzeug. Aber dann könnte er noch immer über das Radio eine groß angelegte Suchaktion starten. „Wenn du am 24.12.2012 am Flughafen in Stuttgart warst, ungeschickt und witzig bist, Pippa heißt und aus Freiburg kommst, dann melde dich bitte bei Lukas!“ Mein Gott, das wäre romantisch. Und vollkommen unrealistisch. Also schreibe ich ihm meine Handynummer schnell auf die erste Seite und reiche ihm sein Buch zurück.

„Danke.“

Ich will seine Nummer nicht, weil ich dann versucht bin, ihn anzurufen – was ich aber nicht will. Ich will warten, bis er sich bei mir meldet. Mit schüchterner Stimme. Erst als er seine Tasche vom Wagen hebt und sie über die Schulter wirft, weiß ich, dass es Zeit ist für die Verabschiedung. Zugegeben, ich habe zu oft Barbara-Streisand-Filme gesehen. So wie wir waren ist ein ganz spezieller Fall. Sie und Robert Redford (ein Traummann) stehen sich gegenüber, und sie streicht ihm ein letztes Mal die Haare aus der Stirn. So würde ich es bei Lukas auch machen. Wenn ich die Streisand und er Robert Redford wäre. Und wenn er diesen Hut, den er zu lieben scheint, nicht tragen würde. Mich würde man aber vermutlich eher mit Sarah Jessica Parker besetzen. Ich liebe die Serie Sex and the City. Wann immer Carrie mal wieder einen ihrer verrückten Ausbrüche hat, drehen sich meine Freunde zu mir und sagen: „Hey, die ist ja wie du!“ Na, immer noch besser, als würden sie mich mit der überaus schrulligen Calista Flockhart aus Ally McBeal besetzen. Und Lukas? Jake Gyllenhaal.

„Ich muss dann langsam los.“

Mein Jake Gyllenhaal muss los. Jetzt. Ihm scheint der Abschied wesentlich leichter zu fallen als mir. Für einen kurzen Moment bin ich versucht, in Tränen auszubrechen, ihn zu bitten zu bleiben ... Nur einmal im Leben möchte ich einen guten Auftritt haben. Das wird aber vermutlich noch auf sich warten lassen. Ich reiche ihm die Hand und bin überrascht, als er die Tasche wieder abstellt und mich umarmt. Was bisher nur Schwärmerei war, Träumerei und zu viel Julia-Roberts-Filme, ändert sich in genau diesem Moment. Ich spüre den Kord an meiner Wange, rieche wie er riecht (Cool Water ist die beste Erfindung seit dem Auto und der DVD) und weiß, dass seine Bartstoppeln an meiner Wange kratzen. Auf eine unglaublich erotische Art und Weise. Ich will ihn nicht wirklich loslassen und er mich offensichtlich auch nicht. Wir stehen einige Minuten so da.

„Du bist die mit Abstand witzigste und gleichzeitig schrulligste Person, die ich in diesem Jahr kennen gelernt habe. Das finde ich schön.“

Das ist vielleicht nicht das erste Kompliment, das jemandem einfällt, der eine Frau wie Scarlett Johansson sieht, aber es ist ein Kompliment. Er lässt mich langsam los und obwohl ich es nicht will, lassen auch meine Arme ihn los. Ich habe aber keine Kontrolle mehr über meine Bewegungen oder Gedanken. Alles woran ich denken kann, ist diese herrliche Mischung aus Cool Water und Lenor.

„Also E.T. – dann komm mal gut nach Hause.“

Mit einem Witz kann man Tränen noch am besten zurückhalten, oder? Er drückt seinen Zeigefinger an meine Stirn, ganz wie E.T. in der Schluss-Szene des Films und krächzt mit verstellter Stimme, ganz wie der schrumpelige Außerirdische: „Ich bin immer bei dir.“

Es ist erschreckend zu sehen, wie viele Menschen Filmzitate aus dem FF beherrschen. Ich mag ein Filmfreak sein, weil ich eine DVD-Sammlung habe, die einer gut ausgestatteten Videothek gleicht. Aber Lukas hier ist und bleibt ein Nerd. Mein absoluter Lieblingsnerd.

„Ich werde mich mal ganz spontan bei dir melden.“

„Ich bin gespannt.“

Er geht rückwärts, als wolle er noch was sagen, aber er tut es nicht. Ich habe also seinen Gepäckwagen, keine Cola und keinen Lukas mehr. Aber, das sollte man nicht verachten, die blöde Kuh von der Information hat unsere Umarmung gesehen. Sie sieht noch immer zu mir und Lukas. Ich lächele nicht mehr ganz so traurig und hoffe wirklich, dass er mich anruft. Wenn nicht, werde ich eben eine Radio-Aktion starten. Er dreht sich um, nachdem er mir noch ein Lächeln geschenkt hat. Und dann bin ich alleine. Ich sollte meine Eltern anrufen. Ich sollte ihnen alles erzählen, mich in den Zug setzen und nach Hause fahren. Aber ich genieße meinen Schmerz. Sobald ich einen Platz gefunden habe, an dem es sich gut leiden lässt, werde ich leiden. Vielleicht kaufe ich mir auch eine Tafel Schokolade und eine Bravo. Wenn ich leide, dann werde ich wirklich kindisch. Also, noch mehr als ohnehin schon. Wie kann man jemanden vermissen, den man gerade erst kennen gelernt hat? Dieses Jahr endet also doch nicht so gut, wie ich angenommen habe.