Kapitel 1

 

 

Schnee, soweit das Auge reicht. Als hätte sich die Stadt eine weiße Daunendecke über den Kopf gezogen. Nur die Lichter, die wie Sterne in den Abend hineinfunkeln, lassen darauf schließen, dass dieser Teil der Welt noch bevölkert ist.

I´m dreaming of a white Christmas … Schön und gut, aber ich heiße nicht Bing Crosby und träume auch nicht von weißen Weihnachten. Ich träume ohnehin sehr selten und wenn, dann kann ich mich kaum an den Traum und die wirren Zusammenhänge erinnern. Eigentlich nie. Selbst als meine beste Freundin mir einen Traumfänger aus ihrem USA-Urlaub mitgebracht hat, stellte sich keine Besserung ein. Können wir traumlosen Schläfer uns also nicht von solchen Songs distanzieren? Ich gebe es in der Öffentlichkeit zwar nicht zu, aber ich bin eher so ein Last Christmas- Typ. Ich denke lieber an letztes Jahr zurück und wundere mich darüber, welchen Typen ich da wieder im Vollsuff geküsst habe. Ich trinke nämlich genauso selten, wie ich träume, also fast nie. Deswegen fällt mir die Einschätzung auch ungemein schwer, wie viel von dem Cuba Libre wohl zu viel sein würde. Das ist, als ob man mich fragt: „Schätze doch mal, wie alt ich bin.“ Da habe ich eine Trefferquote von 100 Prozent. Und zwar für eine Blamage! Manche Partner meiner engsten Freundinnen haben schon wochenlang kein Wort mit mir gesprochen, weil die Antwort: „42?“ ungefähr zwölf Jahre am Ergebnis vorbeiging. Ich kann auch nicht besonders gut Entfernungen schätzen. Das erklärt, wieso ich mich bei den Bundesjugendspielen um mindestens zwei Ehrenurkunden betrogen fühle. Das müssen einfach mehr als 15 Meter gewesen sein. Von meinem Standpunkt aus flog der Ball mindestens 30 Meter! Würde ich jetzt mal schätzen.

Und ausgerechnet jetzt, da ich schätze, dass ich heute keine große Chance mehr auf einen Flieger nach Berlin habe – ausgerechnet jetzt, da meine gesamte Familie auf mich und meine Geschenke wartet, scheint sich das Blatt zu wenden und ich werde zu einer grandiosen Schätzerin.

Vielen Dank auch, liebes Schicksal. Manchmal wünschte ich wirklich, mein Schicksalsbeauftragter hätte eine E-Mail- Adresse, damit ich meine Beschwerden direkt an ihn senden könnte. Wieso schätze ich nie meinen Kontostand am Ende des Monats richtig ein? Dann muss ich wieder das Sparschwein plündern, um dem Sushi-Lieferanten den Betrag bar auszuzahlen, weil mein Konto mal wieder überzogen ist. Ich schätze mal, mein Schicksalsbeauftragter macht das einfach gerne mit mir. Vermutlich wollte er mal Drehbuchautor für eine mittelmäßige deutsche Soap werden – und jetzt tobt er sich eben in meinem Leben aus. Schönen Dank!

Als meine Mutter mir vor zwei Monaten eröffnet hatte, dass sogar mein Bruder mit seiner neuen Frau (ich nenne sie liebevoll „das Tier“) kommen würde, hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als an Weihnachten einfach krank im Bett zu liegen und eine geniale Ausrede für meine Absage zu haben. Aber man gewöhnt sich ja schließlich an alles. So habe ich mich mit dem Gedanken abgefunden, neben einer zwei Meter Frau mit der Figur eines Profi-Boxers zu sitzen, und mir derbe Witze und feste Schläge auf den Rücken antun zu müssen (und zwar immer dann, wenn sie einen ihrer Witze übermäßig gut findet – also immer). Und ganz nebenbei verschwindet auch noch der Löwenanteil des Rehbratens, den meine Mutter zubereitet hat, auf ihrem Teller.

Vor einigen Jahren wußte sie nicht einmal, dass man Reh essen kann, und zeigte ernsthafte Wissenslücken im Fachbereich Biologie auf. „Rehe … “ (ich zitiere sie hier wörtlich!) „ … das sind doch diese Pferde mit Geweih.“ Der niedliche Versuch meines Bruders, es am Beispiel von Bambi etwas zu verdeutlichen, scheiterte kläglich. Wie dem auch sei, jetzt stehe ich hier auf dem Stuttgarter Flughafen und wünsche mir nichts sehnlicher, als bei meiner Familie zu sein. Ich hatte schon ein mieses Gefühl, als mein Chef in mein Büro gestürmt kam und mir freudig mitteilte, dass ich diesmal die Delegation aus Australien zu einer kleinen Stadtrundfahrt durch Stuttgart begrüßen durfte.

„Pippa, es wird Zeit, Ihnen endlich mehr zuzutrauen!“

Pippa, das bin ich: Philippa Wunsch. Neunundzwanzig Jahre alt, Redakteurin für Reiseführer.

Ich arbeite seit vier Jahren in der Firma und noch nie durfte ich irgendeine Aufgabe übernehmen, die Besuch von unseren Arbeitgebern betraf. Für gewöhnlich wurde mein Kollege Hannes geschickt, dessen Englisch so gut war wie mein Schätzvermögen. Ich nehme an, ich habe mich klar ausgedrückt.

Und also sagte dann mein Chef:

„Alle anderen haben ja Familie oder Partner, die können da nicht weg. Aber ich dachte Sie, als Single, Sie machen das bestimmt gerne.“

Er musste mich ja nicht bei jeder Gelegenheit an meinen Familienstand – ledig – erinnern. Ich wußte auch so, dass Benny nicht mehr da war.

Also fuhr ich, Single-Dame ohne feste Bindung, Kinder oder Haustiere, von Freiburg nach Stuttgart, wo ich die Herrschaften zwei Tage lang durch die Schwabenmetropole geleitete, und dabei Lob und sogar Anerkennung, sowie einige Telefonnummern abbekam. Während die Surferjungs inzwischen auf dem Weg nach London waren, saß ich hier fest. Seit Stunden. Und die Flocken vor den großen Glasfenstern wurden immer größer und dicker. So sieht es aus, wenn der Himmel mal zeigt, was er so kann. Offenbar hat er heute einen extrem großzügigen Tag, was Schneeflocken angeht. Nichts geht mehr, zumindest wird das hier gemunkelt; und auch meine Frage, ob ich vielleicht mit dem Zug nach Freiburg in meine kuschelige Ein-Zimmer-Wohnung kommen könnte, wurde mit dieser Auskunft beantwortet: „Auf den Schienen sieht es noch schlimmer aus.“

Also sitze ich hier auf meiner Reisetasche, weil Bing Crosby uns die Flausen in den Kopf gesetzt hat, dass es an Weihnachten schneien muss. Ehrlich, das ist doch schwachsinnig. Wie viele Menschen wohl auf den Kontinenten der südlichen Hemisphäre leben? Ich schätze mal so … nein, besser nicht. Aber es sind bestimmt viele. Und die feiern alle am Strand in kurzen Hosen und mit einem kühlen Bier in der Hand. Wie um alles in der Welt kann dann ein Song über Schnee an Weihnachten ein Welthit werden? Zumindest habe ich dieses Schicksal, hier für eine kleine Weile mit einer ganzen Gruppe anderer Menschen festzusetzen. Zahllose Gestrandete fluchen und schimpfen, ebenso wie ich. Hektisch ziehen Familien von einem Schalter zum nächsten, Kinder weinen, Paare streiten sich, Manager versuchen die Flugbegleiterinnen abzuchecken. Fast alles wie immer. Scheinbar bin ich eine der wenigen Single-Ausnahmen. Ich sitze auf meiner Reisetasche, während mein Blick auf die Anzeigentafel über unseren Köpfen geheftet ist. Aber es verändert sich nichts. Ich könnte also auch aufstehen und mir irgendwo ein Brötchen und einen Kaffee holen, aber das ist ein kleines und sehr schweres Problem.

Ich bin eine Frau. Und wir Frauen packen eben nun mal zu viel ein. Viel zu viel, um genau zu sein. Aber ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, die Reißfestigkeit dieser Sporttasche einer anerkannten Sportfirma zu testen. Und zwar bis zum Limit. Auf dem Weg hierher habe ich schon den Verlust eines Tragegurts bedauern müssen. Nach den Feiertagen werde ich ein Beschwerdeschreiben an besagte Firma schicken. Wenn ich jetzt aufstehe und diese Tasche mit mir nehmen will, dann brauche ich einen starken Mann oder einen Gepäckwagen – oder beides.

Fälschlicherweise hatte ich angenommen, dieses Jahr wäre mir zum Abschied freundlich gesonnen, deswegen habe ich meinen Gepäckwagen schon abgestellt. Woher sollte ich auch wissen, dass ich so viel Zeit hier verbringen würde? Und mich dabei auch noch bewegen muss! Wieso packen wir Frauen nur so viel ein? Klar, Sie wissen schon, man weiß ja nie was passieren wird – deswegen ist es immer besser, für alle möglichen und unmöglichen Zwischenfälle Massen an Klamotten in der Tasche zu haben. Aber ich habe es übertrieben. Ich gebe es zu. In solchen Momenten wünsche ich mir nichts mehr, als nur einen Kulturbeutel tragen zu müssen. So wie die Männer. Was packen die schon groß ein? Zwei Unterhosen (wenn wir Glück haben!) und eine Zahnbürste. Klar, sie sehen in den Klamotten von gestern ja auch am Tag darauf noch unverschämt sexy aus – denken sie. Während es bei uns Frauen als Hygienemangel angesehen wird, wenn wir am nächsten Tag den gleichen Lippenstift auftragen wollen. Mein Tag hat heute um fünf Uhr morgens angefangen. Das ist die Zeit, zu der ich mich für gewöhnlich gerade mal auf die andere Seite drehe, wenn ich mich überhaupt bewege. Ich bin also schlecht gelaunt und muss meinen Eltern sagen, dass sie mein Zimmer an meinen Bruder und das Tier vergeben können. Während alle den Pferd-mit-Geweih-Braten meiner Mutter genießen dürfen, werde ich in Stuttgart sein – alleine. Wieso? Weil es immer noch schneit. Und Benny den wachsenden Babybauch seiner Verlobten Theresa streichelt. Ich hasse Weihnachten.

 

Es ist wirklich tröstend zu sehen, dass ich in so einem Moment nicht alleine bin – aber können sich diese Menschen bitte nicht alle zeitgleich vor den wenigen Telefonzellen herumdrücken? Schließlich muss ich meine Mutter anrufen. Im Zeitalter des iPhone 5 sollte man doch annehmen, dass Telefonzellen ausgestorben sind, und höchstens noch den Kids der 90er Jahre ein Begriff sind. Also jemandem wie mir. Aber das Bild der Menschen die sich um die kleinen Zellen drängeln, in der Hoffnung, den Kampf zu gewinnen, erinnert mich an eine Schlachtenszene aus Spartacus. Allerdings mit weniger Blut. Ich wühle kurz unter meiner dicken Jacke und ziehe mein iPhone aus der Tasche. Ja liebe Leute – auch wenn ich in den 80er Jahren geboren bin, kann ich dennoch ein Touchscreen-Handy bedienen. Fast überheblich und mit übergroßer Geste will ich die Nummer meiner Eltern wählen … Was? Kein Empfang? Das muss ein schlechter Scherz sein. Aber dann begreife ich auch, wieso all diese Menschen, die auch alle über ein Handy verfügen, hier sind – und warum sie nicht ihr zigarettenpäkchengroßes Handy ans Ohr halten.

„Verzeihung.“

Ein Kerl schiebt sich an mir vorbei und rempelt mich dabei an. Ja, bin ich denn in den letzten paar Sekunden plötzlich unsichtbar geworden? Und was ist das? Ein junger, dynamischer Mann (mit einem ganz süßen Hintern, wie mir auffällt), schiebt eine leicht aussehende Sporttasche auf einem Gepäckwagen vor sich her. Ich hingegen schleppe mich mit Bleigewichten auf einer Schulter durch die Gegend? Hey, dieser Wagen sollte mir gehören! Mir – und nicht diesem Kerl in der braunen Feinkordjacke mit dem falschen Fell am Kragen. Sofort werden Erinnerungen an meinen Jugendschwarm wach. Jordan Catalano, gespielt von Jared Leto, in der unverwechselbaren TV-Serie Willkommen im Leben. Wie gefesselt saß ich vor dem Fernseher und habe mit Angela Chase gelitten, gelacht und geweint, als ihr Schwarm, der wunderbare Jordan, lieber mit ihrer besten Freundin ins Bett gestiegen ist. Männer wie dieser Jordan sind die falschen; und wir Frauen verlieben uns immer wieder in sie, als ob wir vergessen hätten, wie weh es beim letzten Mal getan hat. Kordjacken mit falschem Fell – es sieht aus als hätte ein Teddybär dafür sein Leben lassen müssen – sind also gefährlich. Ich muss mich von ihm fern halten! Seine Jeans wird von einem Gürtel über der Hüfte gehalten. Ein Glück: keiner dieser Spinner, die meinen, mit einer extra Portion Coolness ausgestattet zu sein, nur weil sie eine Hose in der Kniekehle tragen. Dazu trägt er einen schwarzen Hut, wie ihn viele „Kreative” dieser Tage tragen. So einer ist es also, Marke Hipster. Bestimmt kommt er aus Berlin, ist ein total cooler Typ und in seinem Kiez bekannt wie ein bunter Hund. Die meisten meiner Freundinnen würden für einen Typen wie ihn alles liegen und stehen lassen. Aber ich habe höhere Ziele als nur eine dämliche Telefonnummer. Ich! Will! Diesen! Gepäckwagen!

Kurz plane ich, ihn mit meiner Reisetasche k. o. zu schlagen und dann mit seinem Gepäckwagen Fahrerflucht zu begehen – aber es tut sich etwas an den Telefonzellen und die Menschenschlange, in der ich mich befinde, macht einen großen Schritt nach vorne. Sehr gut. Nur noch vier Familien vor mir. Einige von ihnen sehen aus, als hätte ich sie schon mal in einer RTL2-Reality-Show gesehen. Aber ich verkneife mir die Nachfrage bei den Exemplaren vor mir. Eine Großfamilie. Fünf Kinder, eine wohl beleibte Mutter und ein vollschlanker Vater, der sich hinter einem Laternenpfahl verstecken könnte. Die Kinder sehen aus wie die perfekte Mischung von beiden Extremen. Aber von wem sie das Benehmen haben, kann ich nicht auf Anhieb sagen. Einer der Jungs tritt dem Mädchen ans Schienbein, sie schreit auf, aus Solidarität schreit das andere gleich mit. Die Mutter packt den Jungen, der Vater packt das Mädchen und schubst sie möglichst weit voneinander weg, so als wären sie im Ring und müssten in getrennte Ecken. Ruhiger wird es deswegen nicht, ganz im Gegenteil. In unterschiedlichen Stimmlagen, aber in der gleichen Lautstärke höre ich Sprüche wie: „Er hat angefangen!“ „Sie hat mich zuerst getreten!“ und „Seid jetzt still, sonst setzt es was.“

Einige der Menschen um uns herum drehen sich zu uns und schütteln die Köpfe. Wie? Was? Denken die etwa, ich gehöre zu dieser Familienbande? Unauffällig mache einen kleinen Schritt zurück, nehme Abstand zu dem schreienden Grüppchen ein. Sofort wird diese Aktion mit einem wütenden Blick der Mutter quittiert. Wie kann die erwachsene Tochter es wagen, sich jetzt von ihrer Familie zu distanzieren? Ich trete wieder näher an sie heran, weil ich Angst habe, wenn ich jetzt etwas sage, dann „setzt es was.“ Ich bin genervt. Wirklich genervt. Wenn ich Bing Crosby jetzt treffen würde …

Was ist das? Ein Mann in einem langen schwarzen Mantel schiebt sich direkt aus der Zelle neben mir und hält mir lächelnd die Tür auf. Mir. Und nicht der Familie. Ich husche unter seinem Arm ins Innere und ziehe die Tür so schnell zu, als wäre sie aus Panzerglas und könnte mich selbst vor einer Zombie-Attacke schützen. Die Mutter wirft mir (als ihrer neuen Ziehtochter) einen vernichtenden Blick zu. Aber ich drehe mich schnell weg und wühle meinen Geldbeutel aus meiner Handtasche, in der ich ohne Probleme eine ganze Flüchtlingsfamilie durchschmuggeln könnte. Wie gut, dass ich ab und zu auf meine Mutter – also meine richtige Mutter – höre und diese alte Telefonkarte immer bei mir trage. Sofort schiebe ich sie in den dafür vorgesehenen Schlitz, nicht ohne noch dem Mann im Mantel einen dankbaren Blick zuzuwerfen. Er nickt mir grinsend zurück und schultert dann seine Laptop-Tasche, als würde sie nichts wiegen. Unmöglich kann er alles, was er braucht in dieser Tasche unterbringen. Jetzt erklärt sich auch der schwarze Mantel. Er muss ein Zauberer sein. Denn ohne Magie kann ich mir das nicht erklären. Er ist leider ein bisschen zu alt, sonst hätte ich ihn zu einem Kaffee eingeladen. Aber ich habe jetzt eine ganz andere Mission. Ich wähle die Nummer meiner Eltern in Berlin und warte, während der Junge der Großfamilie seine Nase gegen die Scheibe meiner Telefonzelle drückt – dabei verteilt er eine ordentliche Portion Rotz auf der Scheibe. Oh Bing, gnade dir Gott!

 

Schon nach dem dritten Klingeln nimmt meine Mutter ab und ich kann den weinerlichen Unterton in meiner Stimme nicht verbergen. Am liebsten würde ich heulen, aber ich bringe die Worte ganz ohne Tränen über die Lippen.

„Mama? Ich bin noch in Stuttgart.“

„Wer ist da?“

„Pippa. Deine Tochter.“

Ich frage mich, wie oft Frauen bei meiner Mutter anrufen und sie Mama nennen. Soweit ich weiß, gibt es außer mir und meinem Bruder (der zwar längere Haare, aber auch eine tiefere Stimme hat als ich) keine weiteren Kinder.

„Ah, Pippa ... wie geht es dir? Wo bist du?“

Lassen Sie sich nicht täuschen, die Verbindung ist hervorragend. Aber vermutlich löst meine Mutter, während ich einen panischen Anruf voller Verzweiflung tätige, eines dieser Sodoku-Rätsel. Oder ein Kreuzworträtsel. Oder sie liest Video-Text. Meine Mutter ist ein Paradebeispiel für Multitasking. Nur leider hört sie dann nicht mehr zu.

Ich verdrehe einen Moment die Augen und sehe dann, wie der Junge der Großfamilie die Zunge an das Glas der Telefonzelle drückt. Nett. Das gibt bestimmt eine hübsche Entzündung der Mundschleimhaut.

„Ich bin noch in Stuttgart. Und ich habe hier keinen Empfang. Also stehe ich in einer Telefonzelle. Es schneit hier, ich komme nicht weg.“

„Ja, in Berlin schneit es auch.“

Das ist besonders aufmunternd. Meine Mutter ist ein wahres Motivationstalent.

„Tja. Soll ich wieder nach Freiburg?“

„Aber dann sehen wir uns ja gar nicht.“

„Ich weiß.“

Es wäre das erste Weihnachten in meinem ganzen Leben, das ich nicht bei meinen Eltern verbringe. Plötzlich fühle ich mich so, als wäre ich zehn Jahre alt. Alles was ich möchte, ist eine Umarmung von meiner Mama.

„Wart doch erst mal ab, was passiert. Vielleicht tut sich ja noch was mit dem Flug und dann ... rufst du noch mal an, ja? Ich muss jetzt die Soße umrühren.“

„Okay.“

Und dann hat sie schon aufgelegt. An Weihnachten herrscht bei uns daheim grundsätzlich Stress, und meine Mutter zählt nicht zu den stressresistentesten Menschen die ich kenne. Irgendwie habe ich mir gewünscht, dass meine Mutter fast traurig wäre, dass ich nicht kommen kann. Sie hätte ja auch spontan anfangen können zu weinen, oder so etwas. Sie hätte meinen Vater rufen und ihm die schreckliche Nachricht überbringen können. Nichts. Nur: „Ich muss jetzt die Soße umrühren.“ Und was soll ich in dieser Zeit bitte tun? Auf meiner Tasche sitzen und die Schneeflocken zählen? Weiß sie denn nicht, in welch aussichtsloser Lage ich mich befinde, so ganz ohne Gepäckwagen?

Bevor der Junge die Scheibe auch noch einschlagen kann, trete ich aus der Zelle und marschiere mit einer Art Tunnelblick durch die Massen. Meine Reisetasche zerre ich hinter mir her wie ein Tier, das ich ich auf einer Safari erlegt habe. Und genau so fühle ich mich auch. Jetzt sollte man mir unter keinen Umständen eine Schußwaffe oder einen spitzen Gegenstand reichen.