Kapitel 2

 

Da ist er plötzlich wieder: der Kordjacken-Typ. Vielleicht sollte ich ihn einfach fragen, ob er mir seinen Wagen nicht einfach so geben würde. Wäre das unverschämt? Natürlich wäre das unverschämt. Aber genau hier liegt mein Problem. Ich bin nicht unverschämt genug. Ich habe nicht diesen Augenaufschlag, der Männer dazu bringt, mir sofort ihren Gepäckwagen zu überlassen. Ich falle leider in die Kategorie „nett, harmlos und etwas langweilig“. Machen wir uns nichts vor: ich bin 29 Jahre jung, lektoriere Reiseführer, und bin an Weihnachten an einem fremden Flughafen eingeschneit, weil ich keine Kinder habe. Das wird sich auch nicht ändern, solange ich an Benny hänge. Benny. Da ist es wieder, das Gefühl. Nur nicht losheulen. Immerhin bin ich jetzt schon ein bisschen wütend. Und das heißt bei mir schon jede Menge.

„Verzeihung ... Ähm ... Hallo ...“

Okay, das klingt jetzt noch nicht wie eine Kampfansage, aber es kann sich ja noch steigern. Tatsächlich bleibt er stehen, als ich schüchtern an seinem Ärmel zupfe und gleich zum ersten Mal sein Gesicht sehen werde.

„Ja?“

Braune Haare schauen unter seinem schwarzen Hut hervor, er hat ein kantiges und unrasiertes Gesicht. Perfekt dazu passt die dunkle Brille, die inzwischen jeder trägt, auch wenn nur Fenstergläser eingesetzt sind. Er trägt sie bestimmt auch nur, um besonders hip zu wirken. Dahinter sitzen blaue Augen, die mich jetzt genau ansehen. Irgendwie sieht er ein bisschen aus wie ein klassischer Nerd, der daheim Comics sammelt und als Frodo verkleidet auf Fan-Conventions geht. Ich muss unverschämt sein – gar nicht so einfach bei den blauen Augen.

„Würdest du mir deinen Wagen überlassen? Du hast nur eine Tasche und die sieht nicht besonders schwer aus. Aber meine, ich habe sie total überpackt … Schau mal!“

Wie zum Beweis zerre ich am abgerissenen Gurt und lache dabei etwas hysterisch. Wie schnell kann sich eine Frau zu einer Vollidiotin machen? Ich habe den Rekord auf jeden Fall gerade gebrochen.

„Wie bitte?“

Er sieht mich mit einer Mischung aus Überraschung und Empörung an. Herr Gott, ich habe doch nicht nach einer Spenderniere gebeten! Also noch mal, diesmal vielleicht ohne Blamage.

„Ja also, ich brauche deinen Wagen. Also, nicht dein Auto. Mehr so das hier.“

Pippa, reiß dich verdammt noch mal zusammen! Er mag ja tolle blaue Augen haben und diese absurde Brille macht ihn unglaublich sexy. Aber es geht hier um wichtigere Dinge!

„Gepäckwagen.“

Wenn ich nur noch einzelne Worte von mir gebe, neige ich vielleicht nicht mehr dazu kompletten Unsinn zu erzählen. Er nickt und ich kann hoffen.

„Das kann ich leider nicht. Sportverletzung im Schultergelenk. Ich könnte dieses Tasche gar nicht tragen.“

Er will schon wieder weiter, als mir klar wird, was für ein Typ dieser Macho eigentlich ist. Die coole Brille, die ihn zu einem urbanen Hipster machen soll, ist doch einfach nur lächerlich. Peinlicher Vogel! Mit Sportverletzung meint er vermutlich eine Muskelverhärtung, die er sich beim World of Warcraft-Onlinespiel zugezogen hat. Denn obwohl er eine ganz gute Figur haben mag (nein, nicht darauf achten!) sieht er nicht so aus, als ob er Gewichte stemmen würde. Er ist ziemlich groß und eher schlank. Kein Muskelberg. Also doch der Rollenspiel-Nerd. Klar, solche Typen haben null Sozialkompetenz. Woher soll er also wissen, wie sich echte Gentlemen benehmen, wenn sie einem realen weiblichen Wesen und keinem Online-Troll begegnen? Ich beschließe, die Wut des heutigen Tages an ihm auszulassen. Das hat er jetzt davon.

„Vielen Dank auch, du Nerd.“

Das klingt erstaunlich bissig und ich bin fast etwas stolz auf mich. Er sieht mich irritiert an.

„Hey, ich muss auch hier rumstehen und warten.“

„Und? Verpasst du jetzt eine Folge The Big Bang Theory?“

Er will etwas erwidern, aber ich stampfe einfach davon. Nur nicht umdrehen. Der perfekte Abgang einer Diva. So als würde ich wie Joan Collins im Denver Clan die Treppen hinabschweben. Aber ich verheddere mich im letzten Träger meiner Tasche und lande fast der Länge nach auf dem Flughafenboden. Aber statt hier und jetzt einfach so auf die Schnauze zu fallen, reiße ich den zweiten Träger ab und habe jetzt den Salat. Der Kordtyp steht noch in meiner Nähe und jetzt hoffte ich, er muss bis nach Neujahr an diesem Flughafen versauern und verpasst seine LAN-Party.

Ich trete und schubse meine Tasche so lange über den spiegelglatten Boden, bis ich außer Sichtweite bin und atme dann tief durch. Nur nicht ausrasten oder heulen. Das bringt jetzt nichts. Ich muss mich beruhigen. Während andere zu diesem Zweck eine spezielle Yoga-Stellung einnehmen und sich in eine Palme verwandeln, hilft bei mir nur eine Cola. Ich muss nur einen Automaten finden. Bitte, etwas zu trinken. Flüssigkeit! Jetzt merke ich, wie ausgetrocknet ich bin. Nach dem Kaffee und einer kleinen Flasche mit Mineralwasser hatte ich heute noch nicht viel. Oh, ein Café! Dort müsste es eigentlich etwas zu trinken geben. Und vielleicht etwas zu essen, denn ich habe auch noch Hunger. Mein Adrenalin hat mich bisher von den anderen Gefühlen abgelenkt. Aber das Café ist überfüllt, es würde ewig dauern, bis ich ein Sandwich und eine Cola bekomme. Also bleibt nichts anderes übrig, als einen Automaten zu finden. Vielleicht reichen ja schon ein Päckchen M&Ms und eine Cola? Ich will ja nicht undankbar sein. Nur etwas Zucker, bevor mein Kreislauf mich ebenso hängen lässt, wie der komplette heutige Tag. Und natürlich Bing Crosby. Da vorne! Cola! Der Automat, ausnahmsweise nicht voll belagert von weiteren Großfamilien, die mir zu folgen scheinen. Ich will nur hoffen, dass es Cola gibt. Oder lese ich jetzt den Zettel „Außer Betrieb“? Würde sich das nicht perfekt in den bisherigen Verlauf einfügen? Vermutlich würde ich dann sogar lachen. Ein schüchtern wirkender Typ erreicht vor mir den Automaten und wirft Geld in den Schlitz. Nein, bitte nicht! Das darf nicht wahr sein!

Ich nähere mich langsam. Immer gegen den Wind anschleichen, geschmeidig bewegen, wie eine Großkatze. Da, tatsächlich, er bekommt eine Flasche Cola. Glasflaschen. Himmel, gibt es hier keinen Fortschritt? Wo bin ich hier gelandet? So schüchtern scheint der Typ dann doch nicht zu sein. Er öffnet die Flasche locker am Rand des Automaten, wie es nur echt coole Typen können. Der Deckel springt ab und fällt auf den Boden, wo er achtlos unter den Automaten gekickt wird. Ich lächele, als der Typ sich an mir vorbeischiebt. Da bleibt doch nur noch eines: ich werde es ihm nachmachen. Fanta, Cola, Cola Zero und Sprite. Was für eine wunderbare Auswahl. Wenn ich noch mehr Kleingeld finde, kann ich mir hier in den nächsten Stunden einen Zuckerschock holen. Trotzdem entscheide ich mich für das schwarze Getränk, das nach nichts schmeckt (wenn wir ehrlich sind). Millionen verdient dieser Konzern alleine durch Werbung. Jedes Kind kennt es, will es und kriegt es sogar. Aber wenn Sie mich fragen: Nach was schmeckt es eigentlich? Keine Ahnung. Beschreiben Sie doch mal den Geschmack. Na? Aha, dachte ich es mir doch. Es schmeckt nach nichts. Nach gar nichts. Und genau nach diesem Nichts sehne ich mich jetzt.

„Wird das heute noch was?“

Ich drehe mich überrascht um. Ja, ich kenne diese Stimme. Zwar nicht besonders gut, aber ich kenne sie. Zumindest habe ich sie schon mal gehört. Der Gepäckwagen, den ich aus dem Augenwinkel erspähe, lässt mich Böses ahnen. Ich drehe mich genervt um.

„Sieh einer an.“

„Also? Ich will mir dieses Jahr auch noch was zu trinken holen ...“

Diese Chance gebe ich ihm nicht. Er würde mir einfach so vor meinen Augen die letzte Flasche Cola aus dem Automaten ziehen – und dann würde er grinsend mit seiner Kordjacke und dem Gepäckwagen verschwinden. Tolle Leistung, Nerdboy, aber diesen Triumph schenke ich dir ganz sicher nicht einfach so.

„Gedulde dich bitte noch einen Moment. Ich entscheide mich gerade.“

Mein Geld wird immer weniger. Zumindest mein Kleingeld. Ich habe ja auch nicht damit gerechnet, unendlich viele Stunden hier in Stuttgart zu verbringen. Ich sollte schon längst über den Wolken sein. Auf dem Weg zu meiner Familie und dem Tier. Nachdem ich das Kleingeld durch den Schlitz schiebe, dauert es einige Sekunden … Endlich nehme ich das erlösende Geräusch wahr, die Flasche ist unten angekommen. Betont lässig – zumindest versuche ich so zu wirken – ziehe ich sie aus dem Automaten und sehe dann wieder zum Kordjacken-Typ hin.

„Tu dir keinen Zwang an.“

Ich gehe zwei Schritte zurück und für einen kurzen Moment überlege ich mir, ob es nicht die Chance wäre, seinen Gepäckwagen zu klauen. Mit einem leichten Schubs könnte ich seine hässliche Sporttasche auf den Boden schubsen und dann wäre ich weg. Es wäre das Highlight meines ansonsten besch...eidenen Tages.

Auch seine Colaflasche ist unten angekommen, das verrät das dumpfe Geräusch. Das heißt, ich muss mich entscheiden. Jawohl, Pippa Wunsch wäre gern unheimlich cool und gerissen. Sie würde dann als erster Flughafen-Outlaw in die Geschichte eingehen. Man würde sich an den Lagerfeuern erzählen, dass sie eine Frau ohne Nerven sei, kühn und überlegen. Dass sie Gepäckwagen stiehlt wie keine zweite und zahllosen Männern den Kopf verdreht. So ein Blödsinn! Ich habe null kriminelle Energie in mir. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Jetzt öffnet er seine Cola-Flasche genauso lässig, wie der Typ vorhin. Da dämmert es mir langsam. Wie um alles in der Welt soll ich nur diese Flasche öffnen? Ich beherrsche die Feuerzeug-Flaschenöffner-Technik kein bisschen (wie die meisten anderen Frauen übrigens auch). Ich bin der Typ Frau, der auf jeder Uni-Fete immer einen netten Kerl darum bitten musste, die Bierflasche zu öffnen. Okay, das ist eine gute Masche um nette Kerle kennen zu lernen. Ich habe, um es nicht unerwähnt zu lassen, meinen Ex-Freund Benny genauso kennen gelernt. Aber ich rauche nicht, also habe ich kein Feuerzeug. Benny ... Seine blonden Locken, seine strahlenden grünen Augen und das Zahnpasta-Lächeln, immer wenn er mich gesehen hat. Wie gerne hätte ich ihn jetzt hier. Er würde mir die Flasche öffnen, meine Tasche tragen und mich in den Arm nehmen. An Weihnachten und allen anderen Feiertagen fällt es mir besonders schwer, alleine zu sein. Deswegen war die Flucht zu meinen Eltern eine gute Art der Ablenkung. Jetzt stehe ich aber dennoch alleine hier und könnte heulen.

„Soll ich für dich die Flasche aufmachen?“

Ich muss mich verhört haben. Hat der Kerl etwa gerade angeboten, mir zu helfen? So so, dieser Gepäckwagen-Kordjacken-Kunstfell-Nerdbrillen-Typ kann mir also ohne weiteres die Flasche öffnen? Seinen Wagen darf ich aber nicht haben? Ich drehe mich zu ihm um und funkele ihn wütend an. Zwar sieht es ein bisschen so aus, als würde ich hektisch blinzeln, aber das ist mir jetzt egal.

„Schaffst du das denn mit deiner Sportverletzung?“

Ich drehe mich weg und warte, bis er mit seinem Wagen und der Flasche irgendwohin verschwindet, damit ich mich weiter meinem Problem widmen kann. Leider tut er das nicht. Er trinkt erst mal genüsslich einen Schluck Cola. Arschloch. Er weiß ganz genau, dass ich die Flasche ohne männliche Hilfe oder/und einen Flaschenöffner nicht öffnen kann. Aber lieber flehe ich einen dieser Flugbegleiter in viel zu engen Hosen an, als ihn darum zu bitten. Da beiße ich doch lieber meine Zunge ab und schlucke sie runter. Blödmann. Er bietet ein geradezu wunderbares Ventil für meine angestaute Wut. Ich kenne ihn nicht, weiß nicht mal wie er heißt – und es interessiert mich auch nicht. Obwohl ... Jetzt, da er sich endlich von mir entfernt, muss ich schon erwähnen, dass sein Hintern definitiv einen zweiten Blick wert ist. Aber ich habe größere Probleme als die Attraktivität dieses Giftzwergs (der mich übrigens um zwei Köpfe überragt). Ich werde diese Flasche alleine öffnen. Ich kann und werde es schaffen! Erst ein sicherer Blick in Richtung Kord-Nerd. Weg, gut. Sonst auch keine weiteren Zuschauer. Dann mal los. Wie war das? Flasche schräg halten, Maß nehmen und dann lässig an den Rand des Automaten schlagen.

Klirr.

Nein, so war das also wohl nicht gedacht. Dabei hätte ich es wissen müssen. Der komplette Flaschenhals ist an der scharfen Kante des Automaten zersplittert. Die Cola läuft mir über die Hand und mein Zeigefinger blutete. Peinlich. Ich habe mich zur kompletten Idiotin gemacht und muss nun an meinen Fingern lecken, um meinen Durst zu stillen. Das habe ich wirklich ausgesprochen gut hinbekommen! Ein Blick über die Schulter reicht, um das breite Grinsen des – ja, Sie ahnen es! – zu sehen. Natürlich hat er die ganze Szene beobachtet. Ich werde langsam aber sicher wütend. Also echt jetzt, so richtig wütend.

Können Sie sich vorstellen, wie deprimierend es ist, mit einer schweren Tasche, die man nur schubsen, aber nicht mehr tragen kann, einer Cola-Flasche (ich habe eine neue ziehen müssen) und keinem Freund auf der ganzen weiten Welt, hier im Stuttgarter Flughafen an Weihnachten gefangen zu sein? Während mein Ex-Freund (oder auch die Liebe meines Lebens) irgendwo vor einem wunderschön geschmückten Baum sitzt und Geschenke auspackt? Können Sie das? Ja, ich neige zu Übertreibungen. Aber vor mir sitzt die Großfamilie und mampft selbst gemachte Brote. Käse, Schinken, Salat … Eine Flasche Sprudel macht die Runde. Nein, das Leben ist nicht fair. Zumindest nicht mein Leben. Nach dem peinlichen Zwischenfall am Getränkeautomaten hatte ich noch immer keine Gelegenheit, meine Cola zu öffnen. Die Welt ist so ungerecht. Wenn meine beste Freundin jetzt hier wäre, das wäre wie ein Geschenk des Himmels. Ich kenne sie schon mein ganzes Leben. Einmal haben wir eine ganze Nacht darüber gelacht, wie lustig es wäre, einer Schulfreundin die Haare zu schneiden. Gott, das waren noch Zeiten! Inzwischen lebt sie in London und telefoniert den ganzen Tag mit unglaublich wichtigen Menschen, deren Namen ich noch nie gehört habe, die aber wohl die Weltwirtschaft am Laufen halten. Oder sowas in der Art. Ich habe es bis nach Freiburg gebracht, wo ich jeden Tag die Texte über fremde und exotische Orte korrigiere, an denen ich noch nie in meinem ganzen Leben war – und wo ich wohl auch niemals hinkommen werde. Wenn ich die Augen zumache, dann kann ich es mir manchmal so gut vorstellen: Dann schmecke ich die typischen Gerichte eines bestimmten Landes und rieche die Luft in der Natur von Amerikas Nationalparks. Dann spüre ich die Brandung der Bondi Beach in Australien. Dann höre ich in Südafrika die Löwen brüllen. Aber eigentlich lese ich nur Texte für Reiseführer. So komme ich irgendwie um die ganze Welt, ohne meine kleine Stadt verlassen zu müssen. Es traut mir auch niemand zu, einfach mal eine Safari durch den Krüger-Nationalpark zu machen. Denn tatsächlich glauben alle Leute, die mich kennen, dass ich jemanden brauche, der auf mich aufpasst. So wie ich jetzt hier sitze, würden die meisten ihnen Recht geben. Ich kann ja nicht mal alleine eine Flasche öffnen, ohne mir dabei in den Finger zu schneiden. Und das mit stolzen 29 Jahren.

„Willst du die Cola auch noch mal trinken oder hebst du sie auf?“

Diesmal erkenne ich seine Stimme sofort. Ich habe sie praktisch gespeichert, weil ich fest damit rechne, eines Tages seine Stimme im Radio zu hören. In meiner Vorstellung heißt er Tobias und ist natürlich stinkreich. Ich höre also Radio, ein Lied welches mir besonders gut gefällt: irgendwas von Robbie Williams. Sie würgen die letzten paar Takte ab – – Wie ich das hasse! Ich singe dann immer noch laut mit und plötzlich ist die Musik weg! Sie würgen also die letzten paar Takte ab, und der Moderator sagt mit seiner TKKG-Erzählerstimme: „Wir haben jetzt den Gewinner der Weltreise am Telefon. Hallo Tobias … “ Es trifft immer die Reichen. Die, die Australien schon zweimal gesehen haben. Vermutlich haben sie dort auch schon eine Stammkneipe. Ich habe Australien noch nicht gesehen. Werde ich auch nie. Dann drehe ich mich zu ihm rüber und lächele überlegen.

„Danke der Nachfrage. Ich hebe sie auf.“

Er grinst mich breit an und rückt seine Nerdbrille auf seiner Nase hin und her. Entweder das ist ein verrückter Tick oder er ist nervös.

„Ach ja, für einen bestimmten Moment oder so?“

„Für den nuklearen Winter!“

Wow, das war schlagfertig. Ich bin überrascht. So etwas kann ich eigentlich nicht besonders gut. Ich stottere dann immer und meine Gesichtsfarbe färbt sich rot. Und wenn ich sage rot, dann meine ich knallrot. Ich bekomme dann nicht einfach ein bisschen Farbe auf die Wangen – oh nein! Ich leuchte dann wie eine Glühlampe im Puff. Und meine Ohren erst – ich habe ziemlich große Ohren, die manchmal zwischen meinen Haaren aussehen wie Satellitenschüsseln, die auf dem Waldmond Endor rumstehen – meine Ohren werden dunkelrot. Heute nicht! Nicht vor diesem Kerl!!

„Das war witzig. Soll ich dir trotzdem die Flasche öffnen?“

Das wäre natürlich die beste Lösung. Ich gebe ihm die Flasche. Er macht sie auf und ich habe meine Ruhe. So lange, bis er in der Zukunft seine Reise gewinnt und ich dann mein Radio aus dem Fenster werfe. „Hass ist der Weg zur dunklen Seite der Macht, junger Jedi.“ Meister Yoda hat vollkommen Recht. Während mir noch zehn weitere Star Wars-Zitate durch den Kopf schießen, frage ich mich, mit welchem Recht ich ihn überhaupt einen Nerd nenne? Ich versuche zu lächeln. Das fällt mir eigentlich sehr schwer. Ich kann nicht besonders gut lächeln, während ich tiefe und ernste Mordgelüste gegen ihn hege. Eine spontane Verbrennung vielleicht?

„Das wäre wirklich sehr nett.“

Ich reiche sie ihm und hoffe, dass er sein Handwerk versteht. Noch eine kaputte Glasflasche kann ich nicht verkraften. Er greift in die Innentasche seiner Jacke und zückt ein blaues Feuerzeug. Aha, Blau. Sexy. Es gibt doch nichts Peinlicheres, als einen süßen Kerl in einer Kneipe anzusprechen. Er lächelt sexy, du machst dir Hoffnungen – und dann ein pinkfarbenes Feuerzeug. Entweder es gehört seiner Freundin oder er ist schwul. Beides ruiniert die Chance auf einen netten Abend zu zweit. Blau. Ja, das passt zu ihm. Peinlich finde ich übrigens auch diese Feuerzeuge mit einer halbnackten Frau drauf. Ein totaler Flop.

Der Deckel fliegt auf den Boden, die Flasche bleibt heil und er lächelt.

„Wow, nicht schlecht für einen Sheldon Cooper.“

Ich bin mir nicht sicher, ob er die Anspielung auf eine der Hauptfiguren aus The Big Bang Theory versteht. Aber es ist mir egal, ich will nur diese Cola.

„Habe ich gerne gemacht, Penny.“

Touché. Er kontert geschickt und scheint die Serie ebenfalls gut zu kennen. Ich spüre ein Lächeln auf meinem Gesicht. Nein, nicht lächeln. Hass! Ich suche den Weg zur dunklen Seite der Macht! Folge den Worten von Darth Vader und herrsche mit ihm über die Galaxie. Aber woher soll ich ahnen, dass der Han Solo in meiner Galaxie so süß lächeln kann? Ich will nach der Flasche greifen, aber er schüttelt kurz den Kopf.

„Ich nehme an, dein Name ist nicht wirklich Penny. Oder?“

„Nein.“

„Darf ich erfahren wie dein Name ist? Wenn ich dir schon die Flasche geöffnet habe?“

Was? Stellt er jetzt Ansprüche? Ich habe ihm noch nicht mal den Platz neben mir angeboten. Und jetzt will er wissen wie ich heiße? Soll ich lügen? Daniela? Soll ich Blödsinn reden?

„Pippa. Und du?“

Er reicht mir die Flasche, dabei berühren sich unsere Finger und irgendwie passiert da was.

„Nicht Sheldon.“

In meinem Kopf habe ich ihm ohnehin schon einen anderen Namen verpasst. Tobias. Ein neureicher Tobias, der die Weltreise gewinnen wird.

„Lukas.“

Lukas, sein Name ist Lukas. Irgendwie will ich jetzt mehr über ihn erfahren. Ist das sein Vor- oder Nachname? Ist es ein Zufall, dass er wie George Lucas, der Schöpfer meiner Star Wars-Galaxie heißt? Wo wohnt er, was macht er und wann kann ich endlich seinen Gepäckwagen haben? Ich höre meine Stimme und merke, dass ich ganz offensichtlich rede.

„Willst du dich vielleicht setzen?“

Was zum Henker erzähle ich denn da?

„Neben dich? Ich weiß nicht ... Vielleicht schlägst du mich.“

Verdient hätte er es ja.

„Oder aber ich beiße und spucke.“

Woher habe ich plötzlich diese Schlagfertigkeit? Das macht mir ja fast Angst. Nur einen Tag am Stuttgarter Flughafen und schon werde ich cool und lässig? Solche Verwandlungen passieren a) nie binnen so kurzer Zeit, und b) enden sie niemals gut. Schlag Mitternacht würde ich mich ja doch wieder in einen Kürbis verwandeln. Er nimmt übrigens wirklich Platz und seine Kordjacke streift meinen Unterarm. Was war das schon wieder? Dieses Gefühl ... Ich muss aufhören, die Assoziation zu Jordan Catalano, der Serienfigur meiner Jugendjahre zu ziehen.

„Dein Flieger geht nicht mehr raus?“

„Doch, klar. Ich verbringe für gewöhnlich nur gerne einfach so unglaublich viel Zeit an Flughäfen.“

„Mit kaputten Reisetaschen.“

Verdammt, verdammt, verdammt. Wir könnten den gleichen Humor haben und das ist kein gutes Zeichen. Bei allen Online-Dating-Portalen, bei denen ich ein Profil habe – also allen – gebe ich bei der Frage: „Was ist Ihnen bei Ihrem Partner besonders wichtig?“ grundsätzlich an: Humor. Benny hat einen ganz anderen Humor als ich, aber das fand ich nicht schlimm. Ich konnte immer über seine Witze lachen und mich dabei köstlich amüsieren, während ihm meine Art von Humor wohl eher unangenehm war.

Lukas sieht mich nicht an, sein Blick geht starr gerade aus, aber ich sehe, dass er lächelt. Wenn er lächelt, dann hat er Grübchen. Bitte, welche Frau ist immun gegen Grübchen bei Männern? Ich jedenfalls nicht. Um ihn nicht weiter anstarren zu müssen, entscheide ich mich etwas zu sagen. Gott steh mir bei!

„Geht deiner noch raus?“

Okay, so übel war das gar nicht. Eine Frage, kein Ausrutscher. Er zuckt mit den Schultern und sieht mich jetzt doch von der Seite an. Seine Augen sind wirklich erstaunlich blau. Auch wenn sie irgendwie müde wirken. Vermutlich hat er einen ebenso anstrengend Tag gehabt wie ich.

„Das wissen die noch nicht. Vielleicht komme ich mit einem anderen Flug weg.“

„Nach Hause?“

Zu Frau und Kind? Aber ich belasse es bei einer unverfänglichen Version der Frage.

„Ja. Und du? Weihnachten im Kreis der Familie?“

„Und dem Tier.“

Wieso ich das einfach so sage und nicht vorher darüber nachdenke, kann ich mir nur durch seine blauen Augen erklären. Immer wenn er seinen Blick von meinen Augen über meine Nase zu meinen Lippen gleiten lässt, werde ich nervös.

„Ihr habt ein Haustier?“

„Nein, aber mein Bruder hat wieder geheiratet.“

Okay, ich erteile mir jetzt mal eine kleine Auszeit. Bevor er nachfragen kann, sehe ich in eine andere Richtung und fixiere zur Strafe den kleinen Jungen der Großfamilie, der auf äußerst unappetitliche Art und Weise sein Brötchen verspeist. Ich höre Lukas lachen und spüre, dass er sich ein bisschen zurücklehnt. Ja, sicher, das klingt bestimmt lustig, wenn man nicht mit dieser Person verwandt ist, selbst wenn es nur angeheiratet ist. Jetzt trägt sie den gleichen Nachnamen wie ich – und somit könnten Menschen fälschlicherweise annehmen wir wären tatsächlich verwandt. Ich habe das Gefühl, die Sache erklären zu müssen. Das kann nur schief gehen. Also sehe ich ihn wieder an. Er hat die Brille abgenommen und putzt sie mit Hilfe seines grauen Strickpullis, der ihm irgendwie zu groß ist, und dessen Kragen so ausgeleihert ist, dass man das weiße T-Shirt darunter sehen kann.

„Sie ist nicht wirklich ein Tier.“

„Das dachte ich mir schon.“

„Sie sieht nur … irgendwie aus wie eins.“

„Das muss ja nichts schlechtes sein. Hat sie Augen wie Bambi?“

„Eher einen Hintern wie ein Brauereipferd.“

Er lacht wieder, diesmal richtig laut und es klingt tief und rau, als würde er rauchen oder sehr viel trinken. Ich bin also mal wieder der Pausenclown. Aber diesmal stolpere ich nicht über eine Stufe, lasse nicht meinen ganzen Einkauf auf der Treppe fallen. Nein, ich bin witzig. Bin ich witzig? Oder hat Lukas nur einen sehr merkwürdigen Humor, der meinem erschreckend ähnlich zu sein scheint. Daran könnte ich mich gewöhnen.

„Als ich dich vorhin gesehen habe, da schienst du irgendwie anders. Hätte ich gewusst, dass du meine Hilfe gar nicht brauchst hätte ich mir natürlich ein anderes Opfer gesucht.“

„Ja, das war alles nur mein raffinierter Plan. Das unschuldige, ungeschickte Mädchen auf der Suche nach einer breiten Schulter zum Anlehnen. Aber ich vergaß, da bist du ja der Falsche.“

„Bin ich?“

Blitzt da ein bisschen Enttäuschung in seinem Blick? Er setzt sich die Brille wieder auf und sieht mich genau an. Tatsächlich, er wirkt ein kleines bisschen enttäuscht. Verkraftet das sein Ego nicht?

„Deine lädierte Schulter ist reichlich ungeeignet zum Anlehnen.“

„Die Sportverletzung!“

Er klingt fast etwas erleichtert. Ich könnte Gefallen an dieser Art der Unterhaltung finden. Ich glaube im Sprachgebrauch nennt man es Flirt. Aber da ich nie flirte und es nicht beherrsche, nenne ich es mal: Gespräch.

„Richtig. Der Grund, wieso ich deinen Wagen nicht bekommen kann. Stattdessen hast du erst mal meinen jämmerlichen Weg durch diesen Flughafen verfolgt. Was hat dann dein Mitleid geweckt?“

„Erstens, das mit der Schulterverletzung stimmt tatsächlich. Beim Fußball blöd hingefallen. Und das war kein Mitleid.“

„Was war es denn dann?“

Er zuckt die Schultern und sieht wieder weg. Ich bekomme auf die Frage keine Antwort, nur ein Achselzucken. Aber vielleicht will ich die Antwort auch gar nicht hören.

„Also Pippa, was machst du beruflich?“

Er wechselt das Thema und ich bin mehr als dankbar, denn wenn er nichts gesagt hätte, dann hätte ich ihn einfach angesehen. Es ist absurd, weil er nicht wirklich mein Typ ist und weil ich ihn nicht mögen will. Aber es ist Weihnachten – und wer will schon an Weihnachten alleine und ohne Freunde dastehen? Vielleicht ist das ja so wie im Krieg, wenn man sich an bestimmten Feiertagen auf eine Waffenruhe einigt. Ich will nur nicht alleine sein und Lukas ist nun mal der Einzige, der da ist.

„Ich bin Redakteurin. Für Reiseführer.“

„Wow! Dann kommst du bestimmt total viel rum.“

Irrtum. Aber so reagiert jeder. Wenn er wüßte, dass ich Deutschland bisher nur für den Schulausflug nach London verlassen habe, würde er mich auslachen. Ich werde zwar von all meinen Freunden als Telefonjoker bei Günther Jauchs Wer wird Millionär für die Reisefragen genannt, aber ich bin keine besonders gute Reisende. Beweisstück A liegt wie ein erschossener Hund zu meinen Füßen: meine Reisetasche. Wäre ich Profi, dann wäre ich auch in der Lage, eine Tasche so zu packen, dass sie nicht an Übergewicht verendet.

„Nein, ich korrigiere nur die Texte. Passe sie an die Formatvorgaben an. Solche Dinge. Ich besuche nicht die Orte.“

Jetzt wirkt er enttäuscht, und diese Reaktion kenne ich zur Genüge. Alle denken mein Job wäre super cool. Bis sie erfahren, wie uncool mein Job wirklich ist. Und dann sehen sie alle so aus wie Lukas.

„Aber wäre es nicht besser, wenn sie dich dahinschicken, damit du weißt, wovon ein bestimmter Autor spricht?“

„Natürlich wäre es besser. Aber auch viel zu teuer. Wer zahlt schon dafür, dass ich einmal um die Welt fliege?“

Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass meine Firma eine recht kleine GmbH ist, die ganz sicher kein Geld für große Auslandsreisen der Mitarbeiter auf der hohen Kante liegen hat.

„Würdest du nicht gerne mal da- und dorthin?“

Ich wünsche mir manchmal, bei einem Thema bleiben zu können; aber während andere in einer Unterhaltung einem roten Faden folgen können, lasse ich mich von den vielen Gedanken in meinem Kopf ablenken. So wie jetzt. Lukas spricht weiter und meine Gedanken tun das, was ich nicht kann: reisen. Ich denke an den letzten Band, den ich gerade redigiert habe. Südafrika. Mensch, wie aufregend es sein muss in einer dieser 4-Sterne-Lodges zu nächtigen und die Löwen an einem Wasserloch zu beobachten. Oder der Band davor: Australien! Sydney und die vielen Surfschulen, die auch mäßigen Schwimmern wie mir das Glücksgefühl auf dem Brett beibringen könnten. Zumindest behauptet das unser Reiseführer.

„Hallo?“

Lukas wedelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht und ich komme zurück in die Realität.

„Huh?“

„Ob du nicht auch mal gerne an die ganzen Orte möchtest?“

„Doch klar, sicher. Irgendwann mal. Vielleicht. Mal schauen.“

Ein euphorisches „Na logo!“ sieht definitiv anders aus. Aber wozu lügen? Ich kann mir eben nicht vorstellen, wie ich alleine irgendwo auf Weltreise unterwegs bin. Ich finde es ja schon anstrengend, ein ganzes Wochenende nur mit mir alleine zu verbringen. Wie soll das erst werden, wenn ich drei Wochen buche? Irgendwie muss ich dieses Thema umschiffen.

„Und du spielst also Fußball?“

Da jeder Mann gerne über sich spricht, wird Lukas sicherlich keine große Ausnahme sein. Zwar zögert er – aber ich heuchle einfach etwas Interesse und ermutige ihn mit einem Lächeln dazu, mir etwas über sich zu erzählen.

„Ja, aber nicht hauptberuflich.“

Das habe ich mir schon gedacht, dafür sind seine Waden doch etwas zu zierlich. Haben nicht alle Fußballer dicke Waden? Oder waren es dicke Oberschenkel? Ich kenne mich beim Thema Fußball nicht sonderlich gut aus. Okay, ich kann sagen, welcher Spieler mit welchem Top-Model mal in den Schlagzeilen war. Aber der Sport an sich interessiert mich nicht im geringsten.

„Hauptberuflich machst du also was … ?“

Muss man ihm denn alles aus der Nase ziehen? Die meisten Kerle, die ich kennen gelernt habe, können gar nicht mehr aufhören, über sich zu sprechen, wenn sie erstmal losgelegt haben. Lukas hier scheint da etwas anders zu sein. Noch weiß ich nicht, wie ich das einschätzen soll. Ist er einfach nur schüchtern? Oder verheimlicht er mir etwas? So etwas in der Art, dass es sein Hobby ist, Frauenkleider zu tragen.

„Ich bin sowas wie ein Autor.“

„Sowas wie?“

„Ja. Also ich schreibe.“

Ein Schriftsteller, sieh einer an. Dazu passt natürlich auch schon seine Nerdbrille viel besser. Schriftsteller sind irgendwie sexy, haben immer diese Aura eines verträumten Poeten. Frauen wie ich fliegen auf Schriftsteller.

„Habe ich vielleicht sogar schon mal was von dir gelesen?“

Sein Lächeln wird breiter, seine Brust schwillt vor Stolz gerade zu an, und er will gar nicht mehr so schmal wirken.

„Da bin ich mir sogar sicher.“

Doppel-Wow. Ein Promi! Ich verbringe Weihnachten mit einem Promi. Lande ich etwa noch als Nebenfigur in seinem neuen Bestseller und kann damit meine studierten Kollegen beeindrucken? Das wäre nun wirklich der Hammer.

„Zum Beispiel?“

Er ist verlegen, das kann ich sehen, Vielleicht liegt es an mir, da ich mich wie ein kleines Fangirl aufführe. Aber darin habe ich nun mal genug Übung, immerhin bin ich seit 1991 großer Take That-Fan. Nein, das ist nicht wahr, ich bin RIESEN Take That-Fan – und ich weiß, wie sich Fangirls zu benehmen haben. Immerhin hatte ich viel Zeit, das zu perfektionieren. Wenn ein Lied der Jungs im Radio gespielt wird, dann kann ich noch immer kreischen, als wäre ich sechzehn und unglaublich in Jason Orange verliebt (ja, googeln Sie den Namen gerne, das ist der, an den sich außer mir nur wenige erinnern). Wie auch immer, ich bin ganz aufgeregt und gespannt zu erfahren, was für ein großartiger Schriftsteller meine neue Bekanntschaft ist.

„Kennst du dieses Orangen-Shampoo?“

Wovon redet er? Shampoo?

„Ähm, ja, ich denke schon. Wieso?“

Er räuspert sich und rückt seine Brille wieder gerade.

„Erfrischender Duft, der Sie auf eine Orangen-Plantage nach Sizilien entführt und Ihnen ein gänzlich neues Duschvergnügen beschert.“

Es klingt auswendig gelernt. So wie er mich ansieht, erwartet er nun Applaus oder offene Münder. Oder beides. Ich kann ihm nur Verwirrung anbieten.

„Das ist von mir.“

„Klingt nicht gerade wie Lyrik.“

„Nein, nein. Ich schreibe die Texte, die auf den Produkten stehen. Shampoo, Fertigsuppen, Rasierschaum, Kerzen … Das ganze Repertoire.“

Kein Schriftsteller. Kein Spiegel-Bestseller.

„Verstehe.“

Ich gebe mir offenbar nicht genug Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen, denn er sieht mich traurig an.

„So reagieren alle. Erst so: Wow! Und dann: Ach, Werbefuzzi.“

„Nein, nein, es ist cool.“

Ist es nicht. Er ist nerdy und irgendwie …

„Ich habe mich ja schon immer gefragt, wer diese Texte schreibt.“

Interessant. Er hebt die Hand und grinst. So hat er irgendwas süßes, wenn er mich wie ein kleiner Junge etwas unsicher ansieht. Diese Grübchen sind wirklich süß. Diese Weihnachtshormone tun mir nicht gut. Ich werde zu einer billigen Kopie meiner Jugendjahre.

„Aber Reiseführer sind viel cooler.“

Er will mir ein Kompliment machen, aber es will ihm nicht so recht gelingen. Verschämt sieht er weg, als auch er bemerkt, wie komisch sein Satz klingt. Aber ich nehme das Kompliment trotzdem heimlich an und freue mich ein bisschen.

„Und wohin sollte dich dein Flieger heute bringen?“

Da er leider doch keinen weiteren Umgarnungsversuch unternimmt, versuche ich zumindest, das Gespräch nicht ins Leere laufen zu lassen.

„Nach Hamburg. Nach Hause.“

„Ich war noch nie in Hamburg.“

Ich war noch nie irgendwo, aber das behalte ich erneut für mich. Allerdings sieht er wieder zu mir.

„Vermutlich wird das ein weiterer Name auf der Liste mit Städten, die ich nie sehen werde.“

Es soll wie ein Witz klingen. Er soll noch immer denken, dass ich lustig und unterhaltsam auf eine clevere Art und Weise bin, aber irgendwie klingt das sehr niedergeschlagen. Ich überspiele es mit einem breiten Grinsen. Wenn ich so weitermache, gehe ich als Kinderschreck durch. Das kleine Mädchen der Großfamilie schaut mich schon unsicher an. Weniger Zähne zeigen, Pippa. Ob Cola wirklich hilft, um mich zu beruhigen? Ich nehme zur Sicherheit noch einen großen Schluck.

„Aha. Du hast also schon einen festen Plan für dein Leben. Welche Stadt wirst du noch nicht sehen?“

Komisch, meine Mutter hat mir mal die gleiche Frage gestellt. Und ja, ich habe tatsächlich eine Liste. Es geht nicht darum, dass ich diese Städte nicht sehen will, ich werde sie einfach nie sehen. Soviel zu meinem Selbstbewusstsein und meinem Job mit den Reiseführern. Ich reise mit dem Finger auf der Karte um die Welt.

„New York, Rom, Venedig, Los Angeles, Paris, Barcelona – und natürlich Hamburg.

„Natürlich Hamburg. Das will jeder sehen. Aber wieso willst du es nicht sehen?“

„Oh, ich will die Stadt schon sehen, ich werde sie nur nicht sehen. Das ist ein Unterschied.“

Und wieso erzähle ich einem Wildfremden meine Lebensgeschichte? Es scheint keine gute Idee gewesen zu sein, ihn hier neben mich zu bitten. Jetzt rede ich mich um Kopf und Kragen. Das ist keine Cola auf der ganzen Welt wert, auch wenn er wirklich süß ist und ich mich in seinen blauen Augen verlieren könnte. Es geht ihn nichts an.

„So pessimistisch? Bis eben hielt ich dich für optimistisch. Wieso solltest du Paris nicht sehen? Kauf dir ein Ticket und flieg für eine Woche hin.“

Ich muss fast lachen. Weiß er denn nicht, dass man da erstmal einen Plan aufschreiben muss? Urlaub einreichen? Impfungen? Sprache? Flugangst? Hotel? Um nur einige Steine zu nennen, die auf dem Weg liegen. Aber auch nachdem ich ihn eine kleine Weile studiere, scheint er der Meinung, die Idee wäre brillant.

„Sicher. Klar. Alleine oder was?”

„Suche dir einen Reisepartner.”

Der Kerl hat vielleicht Nerven.

„Ich buche also mal eben so Paris. Ich bin ja so unendlich spontan. Klasse Idee, Lukas.“

„Du bist nicht spontan? Oh, dann ist heute wirklich dein Glückstag. Ehrlich.“

Ich kann ihm nicht folgen. Ich sitze im Flughafen fest und verpasse das beste Weihnachtsessen der ganzen Republik, teile mir eine Sitzfläche auf dem Boden neben einem fast Fremden und könnte heulen. Und er spricht von Glückstag? So süß er auch sein mag, ich kann mich ausgesprochen gut einige Stunden selbst bemitleiden. Wieso macht er mir das jetzt kaputt? Spielverderber.

„Glückstag, weil du mich getroffen hast. Meine Freunde, davon gibt es genug, sind der festen Überzeugung, dass ich die Spontaneität in Person bin.“

Ich möchte das bezweifeln, denn unter spontanem Verhalten stelle ich mir etwas anderes vor.

„Was hast du denn schon so Spontanes gemacht? Mir erst einmal fast zwei Stunden spontan nachgestellt, bevor du mich spontan angesprochen hast?“

Touché. Er zuckt sogar einen kurzen Moment zusammen, bevor seine Hand an die Brille wandert und er sie wieder in Position bringt.

„Das ist etwas anderes. Ich musste erst mal die richtigen Wörter finden.“

„Du schreibst hauptberuflich Werbetexte, oder?“

„Frauen ansprechen war nicht Teil der Ausbildung.“

„Schockierend!“

Da ist es wieder. Verbales Pingpong. Können wir es nicht dabei belassen? Davon bekomme ich ein Kribbeln im Bauch und muss lächeln. Ganz anders, als wenn er mich zu einem Spontankauf von irgendwelchen Flugticktes überreden will.

„Weißt du, wieso ich zum Beispiel in Stuttgart bin?“

„Wegen den Spätzle?“

„Wohl kaum! Ich hatte einfach Lust, was anderes zu sehen. Ablenkung. Also bin ich hierher geflogen, habe bei Freunden an die Tür geklopft und mir die Stadt angesehen. Ist das spontan?“

Ja. Nein. Vielleicht. Vor allem aber ist es dämlich. Hat er denn die Risiken nicht bedacht? Zum Beispiel könnten seine Freunde verreist sein. Oder sie lassen ihn aus anderen Gründen nicht in die Wohnung. Wie dem auch sei, Spontaneität kann in die Hose gehen. Ich zucke nur ratlos die Achseln.

Lukas steht so schnell auf, dass ich fast erschrecke, und greift nach meiner Tasche. Zum Glück bin ich noch bei klarem Verstand. Ich ergreife ebenfalls einen der abgerissenen Träger meiner Tasche und sehe ihn kämpferisch an.

„Spontanter Kleptomane?“

„Nicht doch. Ich will dich dazu bewegen, was Spontanes zu machen.“

Dieser Typ entwickelt sich zu einer regelrechten Plage. Mir reichen die wöchentlichen Anrufe meiner Eltern, die mich mal zu etwas mehr Wagemut ermutigen wollen. Ganz sicher werde ich hier und jetzt keine Dummheit machen. Ich zerre meine Tasche wieder zurück auf den Boden.

„Ich sag dir jetzt, was ich ach so Spontanes mache. Ich werde nach meinem Flug fragen, dann meine Eltern anrufen und mich bei ihnen ausheulen. Ist das für den Herrn okay?“

Langsam lässt er meine Tasche los und sieht mich enttäuscht an.

„Super.“

Gott, das ist doch kein Grund, so traurig zu schauen. Ich will nur wissen, wann ich endlich nach Hause komme. Ich schätze, es sieht richtig scheiße aus, was die Chancen auf Weihnachten bei der Familie angeht. Lukas lässt nicht locker und greift wieder nach meiner Tasche. Das Lächeln ist in sein Gesicht zurückgekehrt. Es ist so ansteckend, dass sich meine Lippen ebenfalls verziehen.

„Soll ich dich zu den Telefonzellen fahren?“

Zuerst weigert er sich, dann lässt er den Gentleman raushängen – und jetzt will er mich nicht mal mehr in Ruhe lassen. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer, den ich ihm sofort untersagen will. Zu spät. Es springt und springt.

„Sehr gerne.“

Wir hieven meine Tasche zu seiner auf den Wagen, wobei er mich überrascht ansieht.

„Wie lange verreist du?“

Er schüttelt verständnislos den Kopf, während er meine Tasche betrachtet. Ich könnte und sollte lügen. Vier Monate wäre als Erklärung für das Gewicht meiner Tasche realistisch. Die Wahrheit klingt anders.

„Vier Tage.“

Lukas lacht und dreht den Gepäckwagen lässig um, damit ich darauf Platz nehmen kann. Mit einer kleinen Verbeugung deutet er mir an, ich dürfte Platz nehmen. Und das tue ich auch. Auf zwei Reisetaschen sitzt es sich erstaunlich bequem. Jetzt habe ich nicht nur einen Gepäckwagen und eine Cola, sondern auch noch einen Chauffeur.

„Wohin soll es gehen, Miss Daisy?“

Sogar die Großfamilie beobachtet uns lächelnd, ich fühle mich plötzlich wohl.

„Zu den Telefonzellen, Hoke.“