Menschen und Maschinen

Die Internetbewohner

Sind Sie »drin«? Drin, das heißt: im Internet. Wahrscheinlich sind Sie es, aber wenn nicht, so gilt das doch für sehr viele Menschen um Sie herum. Insbesondere die jungen. Was heißt das eigentlich genau, im Internet zu sein? »Die heutigen Schüler – vom Kindergarten bis zum College – verkörpern die ersten Generationen, die mit diesen neuen Technologien aufgewachsen sind. Sie sind schon ihr gesamtes Leben umgeben von Computern, Computerspielen, digitalen Musikabspielgeräten, Videokameras, Mobiltelefonen und all den anderen Spielzeugen und Werkzeugen des digitalen Zeitalters und ihrer Nutzung«, stellte der New Yorker Marc Prensky, der sich intensiv mit der Anpassung von Bildung an die Gegebenheiten der modernen Welt befasst, bereits 2001 fest.

Welche Geräte sind Ihnen vertrauter – und vielleicht auch angenehmer: Sonys Walkman oder Apples iPhone? Die klassische Landkarte oder Google Maps? Vielleicht noch die gute alte Schreibmaschine – oder das iPad? Kennen Sie noch das Geräusch, das der Diaprojektor macht, wenn es wieder ein Bild weitergeht? Das morsezeichenähnliche Surren des Impulswahlverfahrens beim Telefon? Denken Sie bei einer Anwendung zunächst eher an etwas Medizinisches, vielleicht eine Fangopackung? Wenn ja, dann würde man Sie nach Prensky als Digital Immigrant bezeichnen. Als jemanden, der in die digitale Welt von heute nicht hineingeboren wurde, der sich diese Welt erst erschließen musste oder muss. Dem gegenüber stellt er diejenigen, die mehr oder minder selbstverständlich in der digitalen Welt groß geworden sind. Er nennt sie Digital Natives, also digitale Eingeborene. Es gibt nach Prensky zwei große Gruppen von Menschen: diejenigen, die mit anderen Medien und Kommunikationsmethoden groß geworden sind, und diejenigen, die digital aufgewachsen sind. Die Grenzen sind fließend. Es gibt natürlich auch Digital Immigrants, die sie überschreiten und sich erwerben oder erworben haben, was man im Englischen »media literacy« nennt – auf Deutsch in etwa mit Medienkompetenz übersetzbar. Aber dennoch sieht Prensky fundamentale Unterschiede zwischen den beiden Gruppen.

Vielleicht kennen Sie ja noch den Begriff MTV-Generation. Er steht unter anderem für die Innovation, dass man Musik mit Videos untermalen kann, aber vor allem steht er für eine Generation von Menschen, die mit dieser neuen Form der Präsentation von Jugend an vertraut sind. Wer sich heute Fernsehmusikshows aus den 1970ern ansieht, den beschleicht unweigerlich ein Gefühl von Langsamkeit. Denn mit MTV kam die Geschwindigkeit: Schnitt. Schnitt. Schnitt. Auch wenn man aktuelle Fernsehwerbung mit der aus früheren Jahren vergleicht, wird die Entwicklung mit bloßem Auge sichtbar. Und selbst für die seriösesten unter den Fernsehnachrichten gilt: Dem Zuschauer wird heute mehr Information in kürzerer Zeit zugemutet. Digitaltechnik hat vieles erst möglich gemacht, zum Beispiel die modernen Nachrichtenstudios. Sie sind vor allem eines: leer und voller grüner Wände. Erst durch die Arbeit von Computern mit Bild und Grafiken werden sie zum Leben auf dem heimischen Endgerät erweckt. Die Zuschauer haben sich daran ebenso gewöhnt wie an Farbfotos in Zeitungen, an Infografiken und die strikten und oft sehr ähnlichen Stundenuhr-Muster des Radioprogramms. Wer würde zur vollen Stunde keine Nachrichten erwarten, egal auf welchem Sender? Wir lernen also auch, wie wir Informationen aufnehmen und verarbeiten. Gibt es ähnliche Effekte für die digitale Generation? Es ist anzunehmen, aber die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen.

Natürlich hat Prenskys Konzept seine Grenzen der Nützlichkeit. Auch heute fahren Kinder erst einmal Dreirad, Tretroller oder Fahrrad und nicht den von Apple-Chef Steve Jobs und anderen als Zukunft der Mobilität bezeichneten Elektroroller Segway, bei dem alles, angefangen bei der Balance, elektronisch gesteuert ist. Dafür gibt es gute Gründe, nicht nur den Preis. Trotzdem kommen die Kinder viel früher als die vorherigen Generationen mit solcher Technik in Berührung. Und viele Dinge werden sie gar nicht mehr tun, die früher notwendig waren, weil es keine anderen technischen Möglichkeiten gab. Dass ein Telefon eine Nummer und keinen Nutzernamen hat, ist dieser technischen Logik geschuldet, aber aus menschlicher Sicht vollkommen irrelevant. Schon jetzt ist das Prinzip, dass wir eine Nummer anrufen, wenn wir einen Menschen sprechen wollen, eigentlich obsolet. Es wird vermutlich immer Menschen geben, die sich Telefonnummern merken. Aber notwendig wird es nicht mehr sein.

Nora Normalnutzer

Heute benutzt ein großer Teil der Bewohner der reichen Länder der Welt das Internet und agiert auch ansonsten immer mehr in digitalen Umgebungen. Sehr viele Menschen haben ein Mobiltelefon. Die modernen Geräte sind heutzutage in erster Linie Computer, die zusätzlich noch ein Funkmodul haben, das gesprochene Sprache erst digitalisiert und als Daten durch den Äther zum nächsten Funkmast schickt. Bis diese Daten dann beim empfangenden tragbaren Computer wieder zurück in menschliche Sprache umgewandelt werden.

Für die meisten Menschen ist aber ein Mobiltelefon immer noch ein etwas komfortableres, herumtragbares Telefon, mit dem man gegebenenfalls auch einmal Kurznachrichten an andere Menschen schreiben kann. Für sie entspricht das Konzept Telefon im Grund immer noch dem Blechdosenprinzip: Man spricht auf der einen Seite hinein, ein Faden übermittelt das Signal an das andere Ende, und dort kann man hören oder sprechen.

Diese Einstellung ist ein Erbstück der analogen Zeit, und nicht das einzige. Die Tastatur, auf der diese Zeilen gerade geschrieben werden, ist das beste Beispiel für solche Erbstücke. Die Anordnung der Tasten ist streng logisch betrachtet nicht intuitiv und auch nicht sinnvoll. Sie geht auf die mechanische Schreibmaschine zurück: Die am häufigsten benutzten Tasten sollten nicht dicht beieinander liegen, damit sich die Hämmerchen mit den Buchstaben möglichst selten ineinander verhakten.

Viele andere der Konzepte und Nutzungsweisen unserer heutigen teildigitalen Welt stammen im Kern ebenfalls von analogen Vorläufern ab. Wir arbeiten am Computer unverändert mit Ordnern und Dateien, auf Englisch Files, zu Deutsch Akten. Auch heute noch erschwert oder erleichtert uns die eine oder andere Hängeregistratur der Bürowelt das Leben. Die »Reiter«, die uns in Firefox und Internet Explorer das Navigieren zwischen verschiedenen Webseiten vereinfachen, sind von den klassischen Mappen übernommen. Karlchen Klammer allerdings – die aufdringliche Hilfsfunktion in Gestalt einer mit den Augen klimpernden Büroklammer in Microsofts Office-Paket – war dann wohl für die meisten Nutzer zu viel des Analogen. Sie wurde wieder abgeschafft.

Ursprünglich diente das alles dazu, den Sekretärinnen den Übergang zur »Elektronischen Datenverarbeitung« (EDV) zu erleichtern. Sie sollten die vertrauten Kategorien und Methoden auch in der elektronischen Welt wiederfinden. Sich davon loszumachen ist nach wie vor nur für einen Teil der Nutzer eine Selbstverständlichkeit. Statistiken zufolge nutzen fast vier Fünftel der Deutschen das Internet. Nur: Was heißt das eigentlich?

Es gibt die einen, die mit ihrem iPhone kleine Videos drehen, diese auf YouTube stellen, bergeweise Bilder im Internet hochladen, bei dem standortbezogenen sozialen Netzwerk Four-Square ein- und auschecken und beim kreativen Neuinterpretieren von Kulturgütern mit den begrenzten Möglichkeiten des Urheberrechts analoger Prägung Erfahrung machen. Und es gibt die anderen. Die digitale Lebenswirklichkeit vieler Internet- und Computernutzer sieht anders aus. Tatsächlich gibt es zwei digitale Spaltungen. Zum einen die Spaltung in diejenigen, die einen Zugang zum Internet haben, und die anderen, die keinen haben. Letztere wurden im Lauf der letzten zwanzig Jahre deutlich weniger, sind aber dennoch eine relevante Größe.

Die zweite Spaltung verläuft zwischen den Nutzern des Netzes. Und sie ist schwerer greifbar. Der Internetzugang als solcher lässt sich statistisch leicht abfragen. Aber welche Kriterien legt man für eine aktive Nutzung an? Ist der passive Konsum von YouTube-Videos wirklich ein guter Indikator? Die Europäische Statistikbehörde Eurostat versucht in ihren Statistiken einige Computer- und Internetfertigkeiten abzufragen. Wer sich diese Daten anschaut, sieht Erstaunliches. 74 Prozent der Deutschen waren im Jahr 2010 laut Eurostat im Internet unterwegs. Und 43 Prozent nutzten im Jahr 2010 Onlinebanking. Aber nur 28 Prozent der Bundesbürger gaben an, dass sie Spiele, Bilder, Musik oder Filme abspielen oder herunterladen. Die sogenannte »Onlinestudie« im Auftrag von ARD und ZDF, die seit einigen Jahren auch das tatsächliche Nutzungsverhalten abfragt, bringt weitere Details ans Licht: Zwar nutzt fast jeder E-Mails und Suchmaschinen. Aber Onlinecommunitys zum Beispiel sind nur bei knapp zwei Dritteln der Männer und nur einem guten Drittel der Frauen Bestandteil der Internetnutzung.

Tatsächlich gibt es im Netz also sehr unterschiedliche Nutzertypen. Der Hauptunterschied ist schnell beschrieben. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die das Internet als notwendiges Werkzeug für bestimmte Aktivitäten benutzen: Hier einmal schnell etwas er- oder versteigern, dort ein günstiges Flug- oder Bahnticket erwerben, vielleicht ein paar News oder ein paar Einträge in der Wikipedia lesen oder ein lustiges Video angucken.

Und auf der anderen Seite gibt es die Nutzer, die das Internet und seine Möglichkeiten in ihren Alltag integriert haben, für die Plattformen wie Facebook oder Twitter nichts Besonderes, sondern normal sind, die aktiv Inhalte erstellen, im Internet diskutieren und ihr Sozialleben zu einem nicht zu kleinen Teil mit ebendiesen Möglichkeiten organisieren. Auch hier gibt es natürlich keine klare Separierung, aber offenbar ist, dass insbesondere bei den mit diesen Formen aufgewachsenen oder zumindest länger damit vertrauten Internetnutzern Neugierde und Spieltrieb zur Nutzung neuer Plattformen, neuer Endgeräte und neuer Konzepte führen.

Doch beide Gruppen sind auf die Vorarbeiten anderer angewiesen. Wenn man die Geschichte der Computer, des Netzes und seiner Auswirkungen betrachtet, stellt man immer wieder fest, dass solche technischen Erfindungen in den allermeisten Fällen von einer speziellen Art von Menschen erdacht werden: von Visionären, die aber zu dem Zeitpunkt, als ihre Ideen entstanden, nicht ahnen konnten, wie sehr sie damit die Welt verändern würden. Die Liste dieser Menschen ist lang: Steve Jobs, Steven Wozniak und Bill Gates, Jay Miner und Jack Tramiel, Tim Berners-Lee, Konrad Zuse, Karlheinz Brandenburg, Jeff Bezos, Larry Page und Sergej Brin, Linus Torvalds, Dennis Ritchie und Marc Andreesen. Sie hatten einfach nur eine Idee. Was sich für die Menschheit daraus entwickelte, wohin die Reise ging, das lag an vielen Zufällen – und daran, ob es Menschen gab, die diese Ideen und Produkte in der realen Welt für andere Menschen relevant gemacht haben.

Die mächtigen Maschinenbediener

Die Administratoren agieren im Hintergrund, für die meisten Menschen unsichtbar, solange alles funktioniert. Administration heißt schlicht Verwaltung. Das Wort Administrator könnte man also problemlos auch mit Verwalter übersetzen. Doch wenn Systeme, Netzwerke und Anwendungen funktionieren sollen, sind sie Straßenbauamt, Verkehrspolizei und Architekturbüro in einem: Sie verwalten die Infrastruktur, auf der unsere digitale Gesellschaft gebaut ist. Sie betreuen die Computer und Netzwerksysteme, die Daten von A nach B, vom heimischen Rechner zu Google oder an einen anderen Ort auf der Welt und zurück fließen lassen. Sie sind diejenigen, die als unsichtbare Hände den Datenfluss organisieren oder schlicht als Systemadministrator bei Ihrem Arbeitgeber dafür sorgen, dass Ihr Computer das tut, was er tun sollte. Vom kaputten Kabel bis zum Softwareupdate, Administratoren sind unsichtbar und mächtig. Sie können im beruflichen Umfeld in Ihre Hard- und Software eingreifen, können bei Netzwerken einzelne Seiten sperren oder mitlesen, was Sie unverschlüsselt über die Internetleitungen verschicken. Wenn der Administrator Ihres E-Mail-Systems für Sie Ihr E-Mail-Passwort zurücksetzen kann, dann könnte er auch ein beliebiges anderes einrichten. Sie sind wohl oder übel gezwungen, Ihren Administratoren zu vertrauen.

Nicht weniger mächtig sind die Programmierer, auf deren Arbeit die Administratoren aufbauen. Von der Waschmaschine über das Telefon, von der Ampelschaltung bis zur Produktionsstraße, von der programmierbaren Nähmaschine über die Elektronik im Auto, von angeblich intelligenten Kassensystemen bis hin zur Textverarbeitung, vom Betriebssystem des Computers bis zum Cola-Automaten: In fast allen Geräten stecken heute Datenverarbeitungsprogramme, Software, also Anwendungen. Ähnlich wie die Tätigkeit der Administratoren findet die Tätigkeit der Programmierer in den allermeisten Anwendungsfällen im Hintergrund statt.

Wenn Sie im Supermarkt eine Milchpackung aus dem Regal nehmen, passiert heutzutage noch nichts. Aber sobald die Kassiererin oder der Kassierer diese über den Barcodescanner zieht, löst das in der Regel wesentlich mehr aus als nur die Übermittlung der Information »89 Cent« an die Kasse. Moderne Kassensysteme verarbeiten diese Information gleich weiter. Es ist nämlich nur die Menge X an Milch im Laden vorrätig, und nun wurde wieder eine Tüte verkauft. Also kann das System auch gleich in der Zentrale ankündigen, dass voraussichtlich dann und dann wieder Milch benötigt wird. Ihr Einkauf kann also dazu führen, dass in der Zentrale die nächste Lieferung für diese Filiale bereits auf die Paletten gepackt wird. So funktionieren moderne Warenwirtschaftssysteme.

Software ist keine Hexerei, sondern nur ein Stapel möglichst durchdachter Anweisungen an die Recheneinheit nach dem Motto: Wenn dies, dann jenes – Strom an, Strom aus: In der Programmiersprache 11011001. Inzwischen gibt es jede Menge Programmiersprachen, die zwischen uns als Menschen und den Maschinencode diverse Übersetzungen eingebaut haben. Und es gibt Menschen, die sich darauf spezialisiert haben, eben hierauf aufzubauen und Programme zu schreiben, die den jeweiligen Anforderungen gerecht werden. So sind zum Beispiel an eine Textverarbeitung andere Anforderungen zu stellen als an die Software einer Heizung. Erstere erfordert vielfältige Arten von Interaktion mit Menschen, Letztere kommt nur in reduzierter Form in Kontakt mit uns: Ein paar Knöpfchen, ein paar Angaben, das war’s. Tatsächlich wird eine erstaunliche Menge Software für Maschinen und automatisierte Steuerungen geschrieben. Das Eingreifen von Menschen ist dabei nur für den Fall vorgesehen, dass etwas nicht funktioniert oder das System neu gestartet werden soll.

Aber mit dem, was Programmierer der Welt vorsetzen, muss die Welt auch zurechtkommen. Der finnische Mobiltelefonhersteller Nokia beherrschte mit seinen Geräten lange Zeit den Markt. Ein Manager der Firma soll einmal, als in einem Fahrstuhl sein Nokia-Telefon klingelte und alle zu ihren Geräten gegriffen haben, gesagt haben: »Das ist der Sound von Marktmacht.« Die Geräte der Firma waren einfach bedienbar, die Aufteilung klar: Die rechte Funktionstaste war für das Menü, die linke für die Auswahl und Bestätigung. So wie bei Computermäusen. Zu dieser Zeit – kurz nach der Jahrtausendwende – stellte auch der deutsche Elektromischkonzern Siemens noch Mobiltelefone her. Siemens gehörte zwar zu den ersten Herstellern von Mobiltelefonen, aber nicht zu den populärsten. Der Markt war heiß umkämpft. Und die Siemens-Geräte hatten einen großen Makel: Bei ihnen lief die Bedienung anders als auf den Nokia-Geräten: links das Menü, rechts die Auswahl. Viele Menschen hatten die Bedienung aber auf Nokia-Geräten gelernt. Siemens blieb dennoch »seinem« Bedienoberflächenkonzept lange treu. Vielleicht hatten die Siemens-Programmierer ja einen guten Grund für die Umstellung. Aber auf den Markterfolg wirkte sich das negativ aus.

Was daraus zu lernen ist: Menschen eignen sich im Laufe des Lebens gewisse Techniken an und weichen ungern davon ab. Wir gewöhnen uns ein Verhalten an, und wenn wir es einmal erlernt haben, möchten wir es nicht mehr aufgeben. Wenn wir dazu gezwungen werden, treten jede Menge Probleme auf. Ähnliches war auch bei der klassischen Knopftastatur, der legitimen Nachfolgerin der Wählscheibe, zu beobachten. Es dauerte Jahre, bis sie durch simulierte Tastenfelder, die sogenannten Touchscreens, ersetzt wurde. Nicht wenige Menschen konnten nur schwer von der Drei-Zeichen-auf-einer-Taste-Logik lassen, so umständlich diese eigentlich ist. Auch Microsoft, Hersteller der bekannten Office-Büroanwendungsserie, musste solche Erfahrungen mehrfach machen, wenn das Unternehmen ein neues Bedienverfahren einführte, egal, wie unlogisch die vorherige Version eigentlich war.

Was aber passiert, wenn Programmierer eigentlich überhaupt gar keine Ahnung von dem haben, was sie da programmieren? Es entstehen reihenweise Missverständnisse. Denn auch Programmierer sind ganz normale Menschen, und sie können nur ihrem eigenen Verständnis und den dokumentierten Anforderungen entsprechend arbeiten. Da kann es schon einmal vorkommen, dass Dinge falsch benannt werden, dass Funktionen für den Endanwender in vollkommen unlogischer Reihenfolge ablaufen – oder dass ein Produkt für Nichtprogrammierer weder verständlich noch nützlich ist. Das passiert selbst bei großen Unternehmen, die ansonsten für ihre nutzerfreundlich einfach gestalteten Produkte bekannt sind. Mit Wave wollte Google eine Software starten, die den Wirrwarr aus per Mail verschickten Dokumentenversionen, Kommentaren in Texten und E-Mails und Ähnlichem zum historischen Phänomen machen sollte. Unter Programmierern gibt es allerhand nützliche Helferlein, die dieses Chaos – wie es Büroalltag ist – zu beheben helfen: Versionierungssysteme, Dokumentenmanagementsysteme, Task-Manager.

Allein: Die Software war ausschließlich Google-intern getestet worden. Und dort arbeitet nun einmal kaum ein Durchschnittsbürger. Kaum ein normaler Nutzer konnte mit Wave etwas anfangen. Der erfolgsverwöhnte Konzern stampfte das Angebot nach wenigen Monaten wieder ein. Fast zeitgleich wiederum, aber fast unmerklich, startete der Konzern eine kleine Änderung bei seiner Suchmaschine, die eine Schreibmaschinengewohnheit abschaffte: Wer bei Google heute etwas eingibt, bekommt die Ergebnisse der Suche schon angezeigt, bevor er die Eingabetaste (Enter oder auch Return genannt) drückt. Diese Taste war früher der Zeilenhebel, der das Blatt um eine Zeile hochrückte und an den Anfang der nächsten Zeile zurückkehrte. Was bei vielen Geräten mit einem freundlichen »Ping« quittiert wurde. Auf Computern ist das an vielen Stellen eigentlich vollkommen unnötig.

Es sind also Programmierer, die uns ein Stück weit die Dinge vorschreiben: was Software kann, wie sie zu benutzen ist – und damit letztendlich auch, was damit überhaupt möglich oder unmöglich ist. Und es sind die Administratoren, die dafür sorgen, dass wir diese Dinge so nutzen können, wie wir dies möchten – oder eben sie. Der US-Rechtsprofessor Lawrence Lessig benutzt gern die simple Formel »Code is Law«. Auf Deutsch heißt das in etwa: »Programmiercode ist Gesetz.« Denn so, wie in Gesellschaften und Staaten Regeln als Recht kodifiziert werden, bestimmen Programmierer mit ihrem Code weitgehend die Gesetze, nach denen wir uns in der digitalen Welt richten. Die Schwerkraft sorgt dafür, dass Isaac Newtons Apfel zwangsläufig nach unten fällt. Und in der Welt der Bits und Bytes sind wir genauso zwangsläufig an bestimmte Regeln gebunden, über die sich bislang vorwiegend Programmierer und Administratoren oder deren Brötchengeber verständigt oder die sie schlicht gesetzt haben. In dieser Welt funktionieren Dinge oft anders als im »Meatspace«, der fleischlichen, materiellen Umwelt. Und die Regeln, die aus der analog geprägten Welt auf die heutige digitale übertragen werden, sind oftmals nicht mehr angemessen für diese. Sie würden ein Update, eine zeitgemäße Überarbeitung, benötigen. Doch die meisten Programmierer, Administratoren und Hardware-Entwickler sind sich der Bedeutung ihres Tuns kaum bewusst. Sie sind schlicht apolitisch. Und wenn sie es nicht sind, haben sie oft Probleme damit, sich mit den komplexen, gewachsenen politischen Systemen so weit anzufreunden, dass sie mitspielen könnten. Außerdem: Konzepte für das Regelupdate, die könnte man ja eigentlich auch von der Politik und ihren Vertretern erwarten. Oder ist das zu viel verlangt?

Politiker und Aktivisten

Es war im Sommer 2011 während der alljährlichen »CDU MediaNight«. Eine Reporterin von der NDR-Satiresendung Extra3 hatte dem Staatsminister für Kultur und Medien Bernd Neumann (CDU) eine einfache Frage gestellt: »Angenommen, das Internet ist voll, wo sollen die Daten dann zwischengelagert werden?« Der Minister war offensichtlich etwas irritiert und antwortete: »Sie fragen mich jetzt aber auch ganz schwierige Fragen. Wie das jetzt im Einzelnen von Unternehmen zu regeln ist, weiß ich nicht. Ich bin sicher, dass Google zum Beispiel als eine der größten Firmen ein Konzept hat, wie mit den Daten umzugehen ist. Ich weiß auch nicht, wann das Internet voll ist.«

Tja, das wissen wir auch nicht. Es war eine Nonsens-Frage. Der Kulturstaatsminister, berüchtigt für seine Äußerungen zum Internet und berühmt als regierungsinterner Lobbyist älterer Medienformen wie Fernsehen und Zeitungen, hatte sich nach bestem Wissen und Gewissen um eine Antwort bemüht, statt den Interviewern freundlich, aber bestimmt einen Vogel zu zeigen. Er wusste es offensichtlich nicht besser und konnte nur hoffen, dass ein Konzern wie Google für diese schwierige Frage eine bessere Antwort hatte. Dort hätte die Frage sicherlich große Heiterkeit ausgelöst. Bernd Neumann ist nicht der erste und wird vermutlich auch nicht der letzte Politiker sein, der sich mit Antworten zum Thema Internet disqualifiziert. Auch für Politiker ist es nicht leicht, immer auf dem Laufenden zu sein. Und in diesem Fall für jemanden, dem das Internet offensichtlich fremd ist, ganz besonders.

Nur: Auch dieser Politiker entscheidet über die künftige Gestaltung unserer Gesellschaft mit ihren vielfältigen digitalen Elementen mit. Die Politik hat sich der Themen Internet und Digitalisierung lange Jahre in erster Linie ausschließlich zu Werbezwecken angenommen. Wer Internet nutzt, ist cooler als der, der kein Internet nutzt. Nach der Devise verfuhr schon der damalige Kanzlerkandidat der SPD Gerhard Schröder 1998. Für sein Schattenkabinett fand er den Unternehmer Jost Stollmann. Der sollte Minister für Wirtschaft und Technologie werden. Nur hatte Stollmann schon vor Amtsantritt keine Lust mehr, als ihm klar wurde, dass er im politischen Spiel viel schneller unter die Räder kommen würde, als er dachte. Denn Politik ist ein hartes Geschäft, in dem man ohne Wissen über das Funktionieren der tagtäglichen Machtspielchen nicht weit kommt. Statt dem Internetunternehmer Jost Stollmann wurde dann wenig später mit Werner Müller ein Energiemanager gefunden, der Wirtschaftsminister werden durfte und wenig bleibenden Eindruck auf dem Gebiet des Internets und der Digitalisierung hinterließ. Stollmann ging wenig später auf Weltumseglungstour.

Er wäre Außenseiter gewesen in einer Politikerkaste, die sich mit dem Internet und der Digitalisierung der Welt kaum aktiv beschäftigte. Und wenn, dann vorrangig unter dem Aspekt von Sicherheit, von Terrorismusabwehr. Weder für die wirtschaftlichen noch für die anderen Möglichkeiten der Digitalisierung gab es politische Aufmerksamkeit. Das offensichtliche Desinteresse wurde so lange konserviert, bis die Bretter vor dem Kopf langsam moderten. Erst mit dem 17. Deutschen Bundestag, gewählt im September 2009, zogen jüngere Politiker in den Bundestag ein, die überhaupt einen gewissen eigenständigen Sachverstand, im Hinblick auf die Nutzung neuer Medien, mitbrachten. Nun wurde inhaltliche Plan- und Ziellosigkeit abgelöst von einem heillosen Durcheinander aus politischem Aktionismus und internen Streitigkeiten zwischen den Internetaffinen und zum Beispiel den Sicherheitspolitikern.

Nicht nur in Deutschland tut sich die Politik mit dem Internet und den Herausforderungen der Digitalisierung schwer. In Frankreich, den Niederlanden, England, Kanada oder den USA – überall gibt es ein ähnliches Bild. Nur wenige Politiker hatten überhaupt eine Vision, was mit den neuen Techniken möglich sein könnte. Der bekannteste von ihnen ist der frühere Vize-Präsident der USA und spätere Umweltaktivist Al Gore. Er sprach 1994 vor der Internationalen Fernmeldeunion (International Telecommunications Union, ITU) über das Internet als »Information Super Highway« – zu Deutsch oft als Datenautobahn übersetzt. »Die globale Informationsinfrastruktur wird nicht bloß eine Metapher für eine funktionierende Demokratie sein, tatsächlich wird sie das Funktionieren der Demokratie verbessern, indem sie die Teilhabemöglichkeiten für die Bürger erweitert«, so Gore damals. Und er sagte, was nur auf den ersten Blick nach einem seltsamen Vergleich klingt: »Die globale Informationsinfrastruktur bringt Veränderungen mit sich, die sogar wichtiger als Fußball sind.« Nicht alles, was er 1994 sagte, würden die beiden Autoren so unterschreiben. So meinte er beispielsweise, dass der Schutz des sogenannten geistigen Eigentums eine der wichtigsten Aufgaben in diesem Zeitalter würde. Hierüber ließe sich trefflich streiten. Aber die Perspektive und die Offenheit gegenüber der Zukunft, den Grundoptimismus betreffend die Möglichkeiten des Netzes zu diesem relativ frühen Zeitpunkt, hätte man sich in Deutschland und vielen anderen Ländern gleichermaßen gewünscht. Stattdessen herrschten Ignoranz und der Glaube daran, dass das mit diesem neumodischen Internet doch auch wieder vorbeigehen werde.

Fernab der politischen Entscheidungsträger entwickelte sich unter denen, die eine leise Vorahnung von dem hatten, was da auf die Gesellschaft zukommt, eine lebendige und bunte Szene. Immer mehr Menschen stellten sich die Frage, ob man wirklich die Gestaltung einer künftigen digitalen Gesellschaft inkompetenten Politikern und in erster Linie auf ihren Gewinn konzentrierten Unternehmen überlassen wolle – und ob die Antworten, die diese formulierten, wirklich das sind, was die Bürger wollen könnten.

Bereits in den Frühzeiten des Internets als neuem Massenmedium gab es Aktivisten. Manche von ihnen, wie der Bielefelder Verein Foebud, waren in der Mailbox-Szene aktiv, einer Art Postlager-Vorgänger des Internets, wie wir es heute kennen. Einige entstammten der klassischen Bürgerrechts- und Friedensbewegung, andere eher der Computerbastler- und -experimentier-Szene wie die im Chaos Computer Club organisierten Hacker. Sie alle einte eines: Mit dem Internet und seinen Vorläufern hatten sie die Möglichkeit bekommen, sich über große Distanzen hinweg zu organisieren und miteinander zu diskutieren. Sie konnten sich nun vernetzen, ohne auf Transporteure wie die klassischen Medien angewiesen zu sein, ohne die Briefpost in Anspruch nehmen zu müssen. Sie waren schon lange da, bevor eBay und Amazon dem Internet vorübergehend ihren Stempel als Shoppingcenter der nächsten Generation aufdrücken konnten. News jenseits des Mainstreams, jenseits von ›Tagesschau‹ und ›Bild‹, das war für allerlei vorerst kleinere Gruppen eine spannende Möglichkeit.

Im Jahr 2002 war Markus Beckedahl einer von wenigen deutschen Aktivisten und Wissenschaftlern, die sich im Koordinierungskreis rund um den mehrjährigen Prozess des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft vernetzt hatten. Der World Summit on Information Society (WSIS) sollte die erste internationale Debatte rund um Netzpolitik werden. Er suchte eine Möglichkeit, um in Tagebuch-Form von den Vorbereitungskonferenzen aus Genf und den gleichzeitigen Protesten auf EU-Ebene gegen eine Richtlinie zur Patentierung von Software von seinen Erlebnissen vor Ort zu berichten. Auf der Suche nach einem damals noch seltenen freien System für die Veröffentlichung einfacher Inhalte im Web fand er eine Software namens Nucleus. Diese ermöglichte es, ohne großen Programmieraufwand etwas zu schreiben und dann durch einen einfachen Klick den Text im Web zu veröffentlichen.

Ein bis zwei Jahre berichtete er nun von seinen Reisen und Erlebnissen. Währenddessen lief in den USA die Wahlkampf-Kampagne von Howard Dean. Dabei entstanden große Netzwerke von Blogs, die gemeinsam Kampagnen durchführten. Erst dadurch erfuhr Markus Beckedahl, dass er ein »Blogger« war, da er eine Blog-Software nutzte. Im Sommer 2004 startete Netzpolitik dann als das Blog, als das es jetzt aufgestellt ist. Die kostenlose, quelloffene, also freie Software Wordpress bot mehr Möglichkeiten als Nucleus. In Deutschland entstand nach und nach eine Gemeinschaft von Blogs, die untereinander verlinkten und diskutierten. In dieser »Blogosphäre« und auf netzpolitik. org wurden aktuelle Entwicklungen kommentiert, wurde auf interessante Berichte, Artikel und Kampagnen hingewiesen. Ein Knotenpunkt entwickelte sich rund um das Themenfeld. Die klassischen Medien fingen erst spät an, überhaupt über diese Themen zu berichten. Von anfänglich wenigen Dutzend über mehrere Hundert konnte sich netzpolitik.org währenddessen zu mehreren Zehntausend Lesern täglich vorarbeiten. Immer mehr Menschen stellten fest, dass die Politik mit der Thematik nach wie vor hilflos umging – und stattdessen einen Bock nach dem anderen schoss.

In seiner offenkundigen Hilflosigkeit unternahm der Bundestag 2010 dann das, was er immer tut, wenn man nicht so recht weiterweiß: Man setzte eine Enquete-Kommission mit dem schönen Namen Internet und digitale Gesellschaft ein, die sich mit den großen Fragen beschäftigen sollte. Markus Beckedahl wurde als eines von 17 sachverständigen Mitgliedern durch die Grünen vorgeschlagen, Falk Lüke arbeitete, zu Beginn noch beim Bundesverband der Verbraucherzentralen, hinter den Kulissen an den Themen, wurde als Experte zum Thema Netzneutralität von der Kommission geladen und berichtete als Journalist über den Fortgang.

Was kommt dabei heraus, wenn 17 Parlamentarier und 17 Sachverständige sich eines riesigen Themenpotpourris annehmen? Das Ziel sollte eigentlich sein, sich von den tagesaktuellen Debatten zu lösen. Aber wie geht das, wenn fast alle zukünftig wichtigen Themen auch heute virulent sind? Es wurden viele der wichtigen und richtigen Fragen gestellt. Aber dennoch wurde schnell klar, dass weder die Sachverständigen noch die Bundestagsabgeordneten bei den meisten Themen wirklich ihre tagespolitischen Brille ablegen oder gar die Zwänge eines parlamentarischen Systems wenigstens ein Stück weit außen vor lassen konnten. Das führte dazu, dass auf der einen Seite Inseln der Friedfertigkeit entstanden. Von vorneherein gab es ja den Konsens, dass die Politik nicht so weitermachen könne wie bislang und dass einige der althergebrachten Regelungen grundsätzlicher Überarbeitung bedürften. Und auf der anderen Seite war man heillos zerstritten: Wie genau dies zu geschehen habe, das war in erster Linie von bereits existierenden Parteilinien geprägt.

Manche Internetaktivisten feierten bereits das Zustandekommen dieser Kommission als großen Erfolg. Sie waren Schlimmeres gewohnt. Politik ist ein überaus mühsames Geschäft. Das wird für den Normalbürger am meisten sichtbar, wenn Wahlkampf ist. Dann versuchen die Parteien insbesondere die Unterschiede zur Konkurrenz zu betonen und sich als innovative Organisationen, die die richtige Wahl für die Zukunft sind, aufzustellen. Als der Bundestagswahlkampf 2009 vor der Tür stand, besuchte Falk Lüke eine Diskussionsrunde eines Tochterunternehmens der Deutschen Presseagentur. Eingeladen waren die Wahlkampfleiter der Grünen, der FDP, der SPD, ein CDU-naher Politikberater und der damalige Leiter des ZDF-Hauptstadtstudios Peter Frey. Die Runde sprach darüber, wie sie den anstehenden Wahlkampf im Internet durchführen wollten. Und Peter Frey sprach davon, dass das Fernsehen auf jeden Fall Leitmedium bleibe. Obama war das Wort, das in aller Munde war. Obama, Obama, Obama. Jeder wollte ein bisschen wie Obama sein, obwohl es weit und breit keinen Charakter wie Barack Obama gab. Über einen zentralen Aspekt des amerikanischen Wahlkampfs wurde jedoch kein Wort verloren. Barack Obama hatte einen sehr intensiven Onlinewahlkampf geführt. Doch in seinem Wahlprogramm gab es auch eine Komponente, die den deutschen Wahlkämpfern völlig fremd war: Internetpolitik. Er hatte es geschafft, auch bei den Meinungsführern im Internet eine Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Politikwissenschaftler wissen, dass eine solche Aufbruchsidee eine Voraussetzung für Wechselstimmung ist, also für den grundsätzlichen Willen einer Bevölkerung, einen Wandel in der Regierung herbeizuführen.

Obama hatte einige politische Punkte im Programm, die eng mit dem Internet verknüpft waren – zum Beispiel eine verbesserte Offenlegung von Daten und Verfahrensweisen der US-Regierung unter dem Namen OpenGovernment. Damit konnte er bei den Menschen punkten, die im Netz aktiv waren und bloggten, twitterten – also eine Vernetzung herbeiführten, die auch ihm und seiner Kampagne zugute kam. Doch obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits eine große netzpolitische Debatte gärte, ging es den deutschen Parteien und deren Wahlkampfplanern ausschließlich um die Frage, wie man im Internet am besten Werbung betreiben könne. Sie verstanden das Internet als reinen Werbekanal, ohne Interesse daran, seine Nutzer zu involvieren und deren Themen zu berücksichtigen. Da hatten sie etwas gründlich missverstanden.