Wenn wir von der Digitalisierung sprechen, dann sprechen wir immer auch davon, wie sich das Verhalten von Menschen, die Prozesse und Funktionsweisen verändern. Am Beispiel der Musikindustrie lässt sich der Wandel eindrucksvoll illustrieren: Manche Branchen sind einem so fundamentalen Wandel ausgesetzt, da ihre Geschäftsmodelle des analogen Zeitalters heute nicht mehr so funktionieren können, wie sie dies einst taten. Nun könnte man sich als normaler Bürger natürlich die Frage stellen: Und was hat das eigentlich mit mir zu tun? Viel mehr, als einem im ersten Moment bewusst ist. Was wir als Arbeit kennen, die Abläufe des Wirtschaftslebens, das steht in der digitalen Gesellschaft vor erheblichen Umbrüchen. Zwar kommen nicht alle so schnell wie in der Medienbranche. Aber sie kommen, früher oder später – oder sie sind schon da und werden in ihrer Entwicklung noch weiter gehen.
Die Digitalisierung ist natürlich nicht der erste radikale Umbruch in der Wirtschaftswelt. Aber so wie die erste Welle der Verstädterung im Mittelalter, die Industrialisierung und die damit einhergehende Landflucht ihre gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen mit sich brachten, so wird dies auch durch die Digitalisierung erfolgen – allerdings unter ganz anderen Bedingungen. Seit Jahrzehnten, wenn nicht bald über 100 Jahren, erzählen uns Ökonomen von der Globalisierung: Die Wirtschaft funktioniert nicht mehr nur lokal oder national, sondern über die Staatsgrenzen hinweg. Unsere T-Shirts sind als Produkt das Ergebnis eines aufeinander abgestimmten Prozesses, der von findigen Managern ausgedacht wurde: Sie werden dort produziert und verarbeitet, wo es am besten und billigsten möglich ist. Und die fertigen Produkte werden dort verkauft, wo es sich rechnet und wo die Kunden daran ein Interesse haben. Bis zum Internetzeitalter war dies für die Menschen ein relativ abstrakter Vorgang. In Thailand saß eine Näherin, die aus der in den USA produzierten Baumwolle ein Hemd nähte, das dann zusammen mit tausenden anderen Hemden zum Bekleidungshändler in unserer Fußgängerzone und in die anderen Läden der gleichen Warenhauskette transportiert wurde.
Heute können wir uns mit wenigen Klicks einen Maßanzug in Asien schneidern lassen: Alles, was man braucht, sind die genauen Maßangaben, der Internetzugang und die Kreditkarte. Irgendwann klingelt dann hoffentlich der Postbote und liefert uns ein Päckchen. Wir können uns im Internet Möbel zusammenklicken, die dann als Auftragsarbeit in China produziert werden. Noch ist diese individuelle Globalisierung wenig genutzt. Aber sie kommt. Genau wie die Individualisierung. Das Beispiel mit dem Maßanzug geht schon in diese Richtung. Wir haben Eigenschaften und Interessen. Und für diese versuchen wir die richtigen Antworten zu finden, indem wir die dazu passenden Waren und Dienstleistungen erwerben. Ob das nun die richtige Kaffeemischung ist (Lieferanten für die individuelle Bohnenmischung entsprechend des Kaffeegeschmacks gibt es auch) oder ein anderes Produkt, das individualisierbar ist, wie Turnschuhe, Autos oder Schokolade, das spielt grundsätzlich keine Rolle. Das Netz ist ein Verbund aus Rechnern. Und hinter diesen Rechnern stehen, oder genauer: sitzen Personen. Sie haben ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das Internet macht es möglich, diese Fähigkeiten kennenzulernen und sich dann darauf zu verständigen, ob und wie man diese nutzen könnte. Der Standort spielt dabei keine Rolle mehr.
Aber das Netz hat darüber hinaus auch noch eine andere Art von Sichtbarkeit hervorgebracht, die es vorher nicht gab. Schon lange werden Waren irgendwo billig produziert und hier verkauft. Doch erst mit dem Internet ist es denkbar, dass jemand ein Foto von Ihnen kommentiert und fragt: »Gefällt Ihnen das Hemd, das ich genäht habe? Für das Sie 40 Euro bezahlt haben, mehr als meinen Monatslohn? Schöne Grüße aus Dhaka.« Das Netz lässt die Welt kleiner werden, es globalisiert nach der wirtschaftlichen Dimension nun die soziale. So wie wir mit unseren Freunden, Bekannten und Verwandten über den ganzen Globus verstreut kommunizieren können, so können nun auch die Menschen hinter den Wirtschaftsprozessen plötzlich aus der anonymen Masse heraustreten. Das wird unser Verhältnis zur Globalisierung und zu wirtschaftlichen Aspekten mindestens genauso verändern, wie es die Schnell-Billig-Mentalität der letzten Jahrzehnte getan hat. Das Netz hält uns auch hier wieder den Spiegel unseres Handelns, unserer bewussten und unbewussten Entscheidungen vor: Es kann für mehr Transparenz sorgen und uns zum Nachdenken darüber bringen, ob unser Handeln unseren ethischen und moralischen Maßstäben wirklich entspricht.
Auch auf anderen Ebenen führt die Digitalisierung zu enormen Veränderungen. Wenn früher die klassische Organisationsstruktur von Arbeit und Wirtschaft an einen spezifischen Ort gekoppelt war – das Büro oder das Fließband, den »Arbeitsplatz« eben, dann muss dies schon heute bei diversen Tätigkeiten nicht mehr sein. Es wird immer Berufe geben, deren Ausübung definitiv mit einem Standort verbunden ist. Dort stehen die Maschinen, dort sind die Waren. Die Verkäuferin an der Fleischtheke des Supermarktes beispielsweise kann schlecht als »Telearbeiter« von zuhause aus arbeiten. Der Müllwerker, die Bauarbeiterin und der Postbote werden ihre Berufe auf absehbare Zeit nicht von einem beliebigen Ort auf der Welt aus ausüben können. So wenig wie Kindergärtner.
Doch bei allen Berufen, die von Kommunikation und der Verfügbarkeit von Wissen geprägt sind, ist die traditionelle Anwesenheit am Arbeitsplatz künftig in Frage gestellt. Die oft eher abfällig so bezeichneten Café-Arbeiter der digitalen Bohème nehmen diese Entwicklung vorweg: Für ihre Tätigkeit ist heute nicht mehr der Standort der Arbeit, sondern die Verfügbarkeit des Arbeitsgerätes, des Computers, und der Zugang zur Kommunikations- und Wissensinfrastruktur, dem Internet, maßgeblich. Heute gehen die meisten Angestellten noch morgens ins Büro oder fahren – manchmal sogar stundenlang – zur Arbeit. Dort setzen sie sich an einen Computer und benutzen ein Telefon. Am Ende des Arbeitstages fahren sie wieder nach Hause. In der Zwischenzeit haben sie oft kaum direkt mit Kollegen interagiert, abgesehen von E-Mails und Haustelefonaten. Vielleicht haben sie Ordner aus dem Regal gezogen, weil es nach wie vor viele Arbeitsunterlagen gibt, die nicht digitalisiert sind. Wenn Letzteres anders wäre, dann gäbe es eigentlich gar keinen Grund mehr, warum der Arbeitgeber für diese Tätigkeit noch einen festen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen sollte. Es gibt gute Gründe dafür, dies dennoch zu tun. Aber sie haben nichts mit dem eigentlichen Arbeitsablauf vor Ort zu tun. Dieser historische Zwang kann bald hinfällig sein. Wenn es so kommt, dann entstehen daraus neue Herausforderungen, nicht nur sozialer und gesellschaftlicher, sondern auch ganz pragmatischer Art.
Wie verhält es sich zum Beispiel mit Arbeitsunfällen, wenn es keinen spezifischen Standort für die Arbeitszeit mehr gibt? Ein Beispiel aus der persönlichen Praxis: Es war Sommer und schönes Wetter. Alles, was Falk Lüke an dem Tag brauchte, waren die Ruhe zum Arbeiten, ein Internetzugang und ein Computer. Er hatte einen nigelnagelneuen Laptop, dessen Akku lange hielt. Das sollte sich als Nachteil erweisen. Denn er legte sich in kurzen Hosen in einen Berliner Park, schrieb, telefonierte, schrieb und schrieb. Und zog sich einen gewaltigen Sonnenbrand zu. Das wäre im Büro natürlich nicht passiert. Wäre aber etwas Schlimmeres passiert, wäre dies dann ein Arbeitsunfall im klassischen Sinne gewesen?
Mit solchen zukünftigen Entwicklungen sind große Befürchtungen verbunden. Die Gewerkschaften unterstellen jedem Arbeitgeber, der Heimarbeit einführt, ohnehin, dass er einfach nur Kosten sparen will. Abgesehen davon lockert sich durch diese Arbeitsweise die Bindung an den Arbeitgeber, der Kontakt zu den Kollegen schwindet, die soziale Vereinsamung wächst. Wenn die Trennung zwischen Arbeitsplatz und Privatleben vollständig aufgehoben ist, dann gibt es auch keine echte Freizeit mehr. Außerdem wird die totale digitale Verfügbarkeit erwartet, deren Folgen ja auch schon bei Menschen mit einem festen Arbeitsplatz zu Burnout und anderen Katastrophen führen. Das individuelle Zeitmanagement und die Arbeitsdisziplin verlangen dem Einzelnen Erhebliches ab.
Diese Befürchtungen sind nicht von der Hand zu weisen. Sie verhindern allerdings oft auch eine konstruktive und zukunftsweisende Auseinandersetzung mit dem Thema. Die flexible Handhabung der Standorte, an denen wir arbeiten, kann auch ein großer Gewinn sein. Freischaffende wissen das durchaus zu schätzen. Und Menschen, die Familie haben, auch. Durch flexible Arbeitsplätze wird nicht grundsätzlich verhindert, dass man sich regelmäßig mit den Kollegen trifft, diskutiert und austauscht. Vielleicht wäre es für bzw. gegen die viel beklagten Leerläufe und überflüssigen Meetings hilfreich, wenn nicht ohnehin alle immer im Büro sind und ihre Zeit herumbringen müssen. Auf jeden Fall lassen sich Regelungen finden, die die möglichen Defizite einer solchen Arbeitsweise auffangen.
Neben dem festen Arbeitsplatz in der Firma steht ein zweites Grundprinzip der Arbeitswelt im Zuge der Digitalisierung zur Disposition: die Regelungen zur Arbeitszeit. Es gibt viele Berufe, in denen es darauf ankommt, dass Menschen zu bestimmten Zeiten verfügbar sind. Das ist von Branche zu Branche unterschiedlich. Aber in vielen Fällen, oft auch nur bei einzelnen Aufgaben, ist es nicht wichtig, dass diese zwischen neun Uhr am Morgen und fünf Uhr am Nachmittag erledigt werden. Sondern dass sie zum richtigen Zeitpunkt erledigt sind. Menschen leben nach unterschiedlichen biologischen Uhren, sie sind zu unterschiedlichen Zeiten in der Lage, viel zu leisten. Wäre es nicht von Vorteil, wenn sie nicht mehr in das enge Korsett fester Arbeitszeiten eingezwängt sind?
Eine weitere Veränderung betrifft die Art und Weise, wie wir arbeiten. Dieses Buch beispielsweise haben zwei Menschen gemeinsam geschrieben. Früher hätten wir uns dafür umständlich Schreibmaschinenseiten hin und her schicken oder uns zusammen vor eine solche setzen müssen. Diese Zeiten sind passé. Wir können uns, dank der digitalen Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen, schnell und problemlos austauschen, Textpassagen zuwerfen. Wir können gemeinsam in Dokumenten arbeiten, an diesen diskutieren und gegebenenfalls Auszüge zum Gegenprüfen schnell anderen Experten zur Verfügung stellen, wenn wir dies möchten (wofür wir uns an dieser Stelle sehr herzlich bedanken!).
Diese Art der Zusammenarbeit, oft »kollaboratives Arbeiten« genannt, ist die dritte Veränderung. Menschen können in der digitalen Welt unabhängig vom Ort auf diesem Planeten, an dem sie sich befinden, einfach zusammenarbeiten, solange keine physischen Güter im Spiel sind. In manchen Firmen gibt es bereits heute eine Arbeitsverteilung, die für »Rund-um-die-Uhr-Produktivität« sorgt: Dadurch, dass irgendwo auf der Welt immer ein Teil der Firma wach und am Arbeiten ist, kann jederzeit an den Produkten weitergearbeitet werden. Zuerst die in Asien oder Australien lebenden Mitarbeiter, gefolgt von den Europäern und Afrikanern, bevor dann die Kollegen in Nord- und Südamerika weitermachen. Ohne digitale Technik und entsprechende Ablaufprozesse wären solche örtlich und zeitlich getrennten, aber dennoch gemeinsamen Arbeiten undenkbar. Dieses Zusammenwirken unabhängig vom Ort, das ist eine neue Qualität. In den letzten Jahren haben sich die technischen Werkzeuge hierfür deutlich verbessert, so dass man sagen kann: Langsam wird es damit ernst – wir werden uns darauf einstellen müssen, dass dies von der Ausnahme zur Regel wird.
Diese Veränderungen machen es unvermeidlich, dass wir uns damit auseinandersetzen, wie wir in Zukunft eigentlich leben und unser Zusammenleben und -arbeiten gestalten wollen. Sie werden schleichend althergebrachte Formen der Arbeitswelt ablösen. Wenn wir nicht wollen, dass dieser Wandel einfach nur passiert, sollten wir versuchen, ihn aktiv zu gestalten.
Darüber haben schon vor hundert Jahren die Romanautoren spekuliert. Die Entwicklung war nicht ganz so schnell, wie sie es prognostiziert hatten, aber inzwischen sind die Roboter längst da. Die industrielle Produktion wird von ihnen mitbestimmt, diesen mehr oder minder intelligenten Geräten, die nach programmierten Logiken arbeiten. Die berühmten Autofließbandroboter, die keine Fehler und keine Pinkelpausen machen sollen, sind genauso existent wie der Staubsaugerroboter für das traute Heim. Sie sind noch nicht mit der gleichen Eleganz und künstlichen Intelligenz versehen, die sich mancher Schriftsteller schon vor Jahrzehnten ausgemalt hat. Aber es gibt immer mehr von ihnen.
Manche können uns bereits heute kleine, lästige Aufgaben abnehmen, Staubsaugen und Rasenmähen zum Beispiel, und sind sogar fast bezahlbar. Das sind die ersten Vorboten der neuen Haus- und Arbeitsgenossen, die wir in unserer digitalen Gesellschaft haben werden. Sie haben gegenüber menschlicher Arbeitskraft einige Vorteile: Sie werden nicht krank, sie haben keine Rückenbeschwerden, und wenn sie kaputt sind, kauft man einfach einen neuen oder baut Ersatzteile ein. Ein Roboter verlernt nichts, er kann mit den Informationen und dem Wissen seines baugleichen Vorgängers gefüttert werden und wird sich genau so verhalten. Roboter können Aufgaben ausführen, die Menschen aus physischen Gründen nicht oder nur mit viel Aufwand durchführen können – ob im Weltall, als Fassadenputzer oder als Flugobjekt. Wer einmal erlebt hat, wie die modernsten Einparksysteme quasi automatisch das Auto in die Parklücke setzen, bekommt ein Gefühl dafür, was sie leisten können, zum Teil viel besser als Menschen.
Sie können uns nicht alles abnehmen. Der Parkautomat in den neuen High-Tech-Autos zum Beispiel hat eine künstliche Beschränkung. Der Mensch muss als letzte Instanz immer noch das Gaspedal drücken. Sonst würden auch die Versicherungen nicht zahlen, wenn etwas schiefläuft. Man ist nicht völlig aus der Verantwortung entlassen. Und im Zweifelsfall kann der Mensch noch auf Dinge reagieren, die der Automat nicht wahrnimmt. Dennoch werden uns Roboter von einigen Aufgaben des Alltags freistellen können.
Und sie werden uns vor ethische Fragen stellen. Bereits heute gibt es Roboter, deren Arbeit über Tod oder Leben entscheidet. Nur nennen wir sie nicht Roboter, sondern Drohnen: Es sind Flugroboter, die von Militärs eingesetzt werden und grundsätzlich wie Flugzeuge funktionieren. Sie haben Sensoren und Kameras, um zu »sehen«, manche von ihnen sind zusätzlich mit Waffen ausgestattet. Im Afghanistan-Krieg sind derartige Roboter im Einsatz, überfliegen in großer Höhe und mit hoher Geschwindigkeit die Kriegsgebiete. Sie übertragen ihre Wahrnehmungen in die Steuerungszentrale, wo Militärs darüber entscheiden, wie diese Aufnahmen einzuschätzen sind. Und auch darüber, ob und wann gegebenenfalls der Flugroboter einen Marschflugkörper – auch er ist ein autonom funktionierendes System, an das nach erfolgter Programmierung kein Mensch mehr Hand anlegt – abschießt, um Menschen zu töten oder Bauwerke zu zerstören.
Heute wird die Möglichkeit als große Neuerung gepriesen, dass wir mit unserem Telefoncomputer sprechen können. Das war schon in der Science-Fiction-Serie ›Star Trek‹ gang und gäbe. In unseren Alltag sind die Roboter viel später und viel langsamer eingezogen als in die Science-Fiction. Sie heißen auch nicht so. Das tschechische Wort »robot«, Arbeit, ist nicht mehr populär. Wir reden stattdessen von Systemen, Computern und benutzen viele weitere Begriffe. Doch gemeint ist am Ende immer: ein technisches Gerät, das ohne unser individuelles Zutun entsprechend den einprogrammierten Anweisungen handeln kann. Diese Geräte sind längst nicht so klug, wie Isaac Asimov, Stanislaw Lem oder Gene Roddenberry prognostiziert haben. »Siri, schreib dieses Buch zu Ende!« – »Ich habe leider nicht verstanden.« Auch das wird sich ändern. Und wir müssen uns fragen, ob wir dafür eigentlich bereit sind.
Mit dem Internet verändern sich auch die Strukturen der Wirtschaft selbst. Ein Netz, das alle und alles in der Welt verbindet, das jeden mit jedermann ins Gespräch oder ins Geschäft bringen kann, funktioniert nach anderen Logiken als die klassischen, nationalen, regionalen und lokalen Märkte. Der klassische lokale Markt, das sind zum Beispiel Backwaren: Die Menschen möchten morgens frische Brötchen. Und dafür möchten sie keinen langen Weg zurücklegen. Deshalb ist es gut, wenn die Bäckereien möglichst nah bei den Menschen sind in Gestalt von vielen kleinen, lokalen Geschäften.
De facto ist es jedoch schon lange nicht mehr so, dass jeder Bäcker noch selbst den Teig zubereitet, ihn knetet, formt und dann backt. Die meisten Backwaren kommen aus großen Fabriken, in denen sie zentral hergestellt werden. Vor Ort werden sie nur noch aufgebacken. Durch die Massenproduktion werden die Stückpreise gesenkt, die Brötchen werden billiger. Solange die Qualität der gelieferten Produkte einigermaßen stimmt, gibt es daran auch nicht viel zu meckern. Doch mit den niedrigeren Stückkosten verdrängen die Backwarenketten die eingesessenen lokalen Bäckereien. Diese sind nicht mehr konkurrenzfähig, sowohl im Hinblick auf den Preis wie auch auf die Vielfalt des Angebots. Wer 30 Backstuben mit je vier Stück von einer Kuchensorte beliefert, hat 120 Stück dieses Kuchens gebacken. Das lohnt den Aufwand. Doch für den einzelnen Bäcker, den einzelnen Produzenten lohnt es sich nicht, vier Kuchenstücke zu produzieren, nur um eine größere Auswahl zu haben. Früher oder später macht er dicht, wenn die Kunden lieber zu den anderen Anbietern mit der großen Auswahl gehen. Und was, so fragen Sie sich vielleicht, hat das Bäckereiwesen mit dem Internet zu tun? Mehr, als man glauben könnte.
Denn so wie es für Sie keine Rolle spielt, wo die Teiglinge der Großbäckerei entstanden sind, sofern Sie eine Filiale in der Nähe haben, in der Sie ganz leicht fürs Frühstück einkaufen können, spielt es auch im Internet keine Rolle, wo die Produkte entstehen, für die Sie sich interessieren. Sie können sich auf japanischen Plattformen tummeln, US-Angebote nutzen und brasilianische, französische und finnische Software verwenden, sofern Sie sie verstehen. Und wir alle können beim gleichen Anbieter Bücher kaufen, beim gleichen Anbieter nach dem richtigen Suchergebnis auf unsere Schlüsselworte schauen, beim gleichen Anbieter die Musik kaufen und beim gleichen Anbieter alte Möbelstücke er- oder versteigern. Amazon, Google, Apples iTunes Store, eBay: Sie stehen stellvertretend für eine komplette Art von Dienstleistung. Und sie haben etwas Weiteres gemein: Sie profitieren davon, wenn immer mehr Menschen ein und dasselbe Angebot nutzen. Ganz so wie die Wikipedia, auch wenn diese ein nichtkommerzielles Projekt ist.
Das Netz begünstigt das Entstehen übergroßer Spieler im Markt. Das liegt vor allem an dem sogenannten Netzwerkeffekt. Er tritt ein, wenn ein Produkt besser wird, je mehr Menschen es nutzen: Facebook zum Beispiel lebt davon, dass dort möglichst viele andere Menschen sind und mit ihren Freunden Bilder, Nachrichten, Statusmeldungen und andere Dinge teilen. Diese Aktivität führt dazu, dass Facebook auch für andere, neue Nutzer attraktiv wird, die dann ihrerseits wiederum mit den anderen etwas teilen. Bis am Ende dann alle, die bei Facebook sein möchten, auch da sind. Dann ist der Markt erst einmal ausgeschöpft und die Firma muss sich überlegen, wie sie noch wachsen kann, wenn das Reservoir der Nutzer leer ist.
Dieser Effekt tritt im Internet immer wieder auf – oder eben auch nicht. Was nützt Ihnen die schönste Software, wenn sie kein anderer benutzt? Nichts, denn Sie können dann nicht mit anderen Menschen Dateien oder Nachrichten austauschen. Der Netzwerkeffekt begünstigt Monopole. Woran denken Sie, wenn Sie im Internet etwas er- oder versteigern wollen? Mit hoher Wahrscheinlichkeit an das Onlineauktionshaus eBay. Doch warum eigentlich? Schließlich gibt es doch auch andere Anbieter, einige davon nehmen sogar geringere Gebühren als der größte dieser Anbieter und müssten folglich eigentlich attraktiver für Käufer und Verkäufer sein. Doch wo suchen Sie? Dort, wo Sie das größte Angebot vermuten. Und wo verkaufen Sie? Dort, wo Sie am meisten potenzielle Käufer vermuten. Am Ende läuft dieser Effekt darauf hinaus, dass alternative Anbieter verschwinden und einzelne Anbieter den Markt dominieren. Wie im Bäckereiwesen.
4,6 Milliarden Menschen leben in den 16 bevölkerungsreichsten Staaten auf unserem kleinen Planeten. An erster Stelle steht die Volksrepublik China mit 1,354 Milliarden, an sechzehnter Stelle die Bundesrepublik Deutschland mit offiziellen 82 Millionen Einwohnern. Von diesen 4,6 Milliarden benutzt, wenn man den Angaben des Unternehmens Glauben schenkt, statistisch jeder zwölfte (ca. 380 Millionen) Facebook. Unter den bevölkerungsreichsten finden sich auch einige wirtschaftlich schwächere Länder wie Äthiopien, in denen die Menschen andere Sorgen als den Facebook-Zugang haben. Wenn man solche Länder ausblendet, stattdessen die Reichweite bei den »G-20«, den Industrienationen und Schwellenländern und aus Europa nur die großen vier (Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien) zugrunde legt, dann sind das 4,152 Milliarden Menschen. Davon sind fast 500 Millionen auf Facebook. Statistisch nutzt also fast jeder achte Bürger dieser Staaten dieses Angebot. Der Google-Konzern setzte Mitte 2011 sogar eine noch höhere Marke: Mehr als 1 Milliarde Nutzer griffen auf sein Angebot zu. Das sind historisch beispiellose Zahlen. Unternehmen, die derartige Kundenzahlen aufweisen, gab es vorher noch nie. Aber sind wir, die Nutzer dieser Dienste, überhaupt wirklich Kunden? Sind wir nicht eher das Produkt?
Als Kunden finden wir es natürlich großartig, wenn wir etwas kostenlos bekommen. Gewiss, für manche Dinge im Netz müssen wir bezahlen, zum Beispiel, wenn wir eine Reise buchen, eine Musikdatei, ein Buch oder eine spezielle Software erwerben. Das ist das klassische Modell. Ein Kunde erwirbt ein Produkt und bezahlt dafür. Wir bezahlen auch für unseren Internetzugang. Aber viele Dinge erhalten wir im Netz vermeintlich umsonst. Wir können kostenfrei die Dienstleistung einer Suchmaschine in Anspruch nehmen. Wir können kostenlos Zeitungsartikel im Netz lesen, Videos gucken oder unseren Freunden, Bekannten und Unbekannten neue Fotos zeigen. Wir können E-Mails schicken, eigene Blogs erstellen und vollschreiben, uns bei Twitter unterhalten oder andere Dinge tun, die uns vor wenigen Jahren überhaupt nicht in den Sinn gekommen wären. Kostenlos. Obwohl es etwas kostet, diese Angebote zur Verfügung zu stellen.
Die modernen digitalen Großkonzerne holen sich ihr Geld sehr wohl. Auch von uns Verbrauchern. Nicht direkt, sondern indirekt. Sie bieten uns ihre Dienstleistungen kostenlos an, weil ihre Wertschöpfung auf unserer Aufmerksamkeit basiert. Damit bezahlen wir ihr kostenloses Angebot, und diese Aufmerksamkeit können die Googles, Yahoos, Microsofts und Facebooks dieser Welt dann zu Geld machen. Während wir auf ihren Seiten herumsurfen, wird Werbung eingeblendet. Und für diese Werbung müssen diejenigen bezahlen, die sie schalten. Nun buchen Unternehmen nicht aus Spaß an der Freude Werbeplätze auf Internetseiten, sondern weil sie sich davon etwas versprechen. Sie möchten Kunden gewinnen, ihnen etwas verkaufen. Die Investition in Werbung lohnt sich, sobald sie Käufe initiiert. Je mehr Menschen sie sehen, desto höher ist die Chance dafür.
Dahinter steckt auch eine raffinierte Technik. Wenn Firmen Werbung schalten möchten, dann möchten sie diese optimal platzieren. Ein Mensch in einem indonesischen Internetcafé wird wenig mit der Werbung eines Kölner Schuhhändlers, eines Schweizer Kontaktlinsenverkäufers oder einer britischen Gärtnerzeitschrift anfangen können. Daher wird uns diese Werbung auf der Basis von ausgetüftelten Mechanismen serviert. Zum einen ist es der Kontext, in dem die Werbung angezeigt wird: Wenn Sie in einer Suchmaschine ein Wort eingeben, dann geben Sie damit unmissverständlich kund, was Sie interessiert. Dementsprechend kann man Ihnen Werbung präsentieren. Wenn Sie auf einer Website surfen, die bestimmte Themen behandelt – beispielsweise Fußball –, dann kann man passende Werbung einblenden. So weit, so einfach.
Aber Sie liefern mit Ihrer Nutzung der »kostenlosen« Angebote noch weitere Informationen über sich. Wenn Sie einen Dienst im Internet nutzen, für den Sie sich registriert haben, machen Sie Angaben über sich selbst. Wo Sie wohnen, wie alt Sie sind, wofür Sie sich interessieren. All das sind Daten, die dann unter Umständen für Werbung interessant sein können. Und Sie erzeugen, ganz nebenbei, immer neue interessante Daten: beispielsweise, wenn Sie ein Foto hochladen, das Sie mit Ihrem Smartphone gemacht haben. In der Datei kann durchaus vermerkt sein, an welchem Ort es aufgenommen wurde. Vielleicht sind Sie ja dort? Oder reisen dort öfter hin? Die passende Werbung dazu gefällig? Sie klicken häufiger hierhin als dorthin. Sie scheinen sich für etwas speziell zu interessieren. Möchten Sie nicht etwas Passendes dazu kaufen?
Unser Verhalten ist es, was die Werbetreibenden derzeit am meisten interessiert. Wenn wir direkt gefragt werden, was uns interessiert, können wir eine falsche Auskunft geben oder ein Interesse nur vortäuschen. Wenn man uns aber aus dem Hintergrund beobachtet, dann verfangen solche Manöver nicht, zumindest nicht dauerhaft. In unserem Suchverhalten, in den aufgerufenen Seiten im Web und in unserer Kommunikation drücken sich unsere Interessen aus. Überlegen Sie doch mal, an welcher Stelle in Ihrem Leben Sie am ehrlichsten sind. Vielleicht ist es Ihre Suche bei Google, dem Unternehmen, das auf alle Ihre Fragen eine Antwort verspricht.
Für Google arbeiten weltweit Ende 2011 etwas über 31 000 Menschen. Das sind nicht sonderlich viele für eine Firma, die im Jahr 2011 einen Umsatz von fast 40 Milliarden Dollar anpeilte. Zum Vergleich: Die August Oetker KG, die vor allem für Lebensmittel bekannt ist, aber einen gewichtigen Teil ihres Umsatzes inzwischen mit Bankgeschäften und Schifffahrt verdient, beschäftigte 2010 zwar über 25 000 Menschen, aber sie setzte gerade einmal knappe 10 Milliarden Euro, etwa 13 Milliarden Dollar, um. Ein großer Teil der Google-Angestellten ist keineswegs Programmierer. Es sind Anzeigenverkäufer und Kundenbetreuer. Der Kunde ist aber nicht der Nutzer. Sondern diejenigen, die Werbung betreiben. Das Ziel der Belegschaft, die zum Beispiel im höchsten Hochhaus Irlands arbeitet, besteht darin, Unternehmen dazu zu bringen, dass sie möglichst viel Werbung über Google schalten.
Wir kennen das schon als Mechanismus aus anderen Bereichen des Internets. Man kann mehr oder weniger jedes Interesse bedienen. Dieses Prinzip ist wohlerprobt und die Grundlage einiger Geschäftsmodelle in der digitalen Welt. Auf dieser Basis funktionieren auch vordergründig unspektakuläre Internetangebote wie zum Beispiel der Online-Buchhandel. Auch hier sind es der bequeme Zugang und der Umfang des Angebots, die den Unterschied zum klassischen Verkaufsgeschäft ausmachen.
Es ist sehr praktisch und bequem, wenn man sich vom heimischen Rechner aus ein Buch oder eine CD bestellen kann, die einem dann auch zugeschickt wird. Und das Angebot ist riesig. Wenn Sie in eine Buchhandlung gehen, finden Sie dort – auch in einer sehr großen Buchhandlung – eine begrenzte Titelauswahl. Alles andere muss der Händler für Sie bestellen, bei Großhändlern und Verlagen. Amazon und seine Verwandten sparen diese Zwischenebene einfach ein. Amazon ist ein Großhändler. Das Geschäftsmodell basiert nicht nur auf den Titeln, die sich gut verkaufen, den Bestsellern, sondern gleichermaßen auf den vielen Produkten, die nur selten gekauft werden. Amazon hat sie nicht etwa alle auf Lager, sondern bestellt sie ebenfalls, bei den Produzenten, den Verlagen. Amazon hat sie allerdings in seinem Online-Warenkatalog. Da gibt es keine Platzbeschränkung, aber jedes Buch ist auffindbar.
Der Journalist Chris Anderson, der für die Technologie-und-Gesellschaft-Zeitschrift ›Wired‹ schreibt, rechnete einmal aus, dass die Zahl der kleinen Verkäufe am Ende sogar mehr Umsatz für Amazon bringt als die relativ kleine Anzahl an Top-Titeln. Er rechnete dieses Modell auch für andere Geschäftsmodelle im Internet durch und fand immer wieder ähnliche Konstellationen vor: Es gibt eine relativ kleine Anzahl an Dingen, ob Musik, Webseiten oder eben Bücher, die eine große Zahl Menschen interessieren. Dies ist der Bereich, der klassischerweise auch durch den stationären Handel abgedeckt wurde. Allerdings gibt es einen Punkt, ab dem die Kosten für das Besorgen, Vorhalten und Ausstellen von Waren die durch sie erzielbaren Einnahmen übertreffen. Diese Kosten hat Amazon nicht, kann aber dennoch mit seinem Online-Katalog eine Vielzahl weiterer Interessen befriedigen. Chris Anderson nennt dies den »Long Tail«, den langen Schweif der Produkte. Auf die viel verkauften Massenprodukte folgen die in der Summe einen eigenen, noch größeren Markt ausmachenden Produkte, die für sich genommen jeweils nur wenige interessieren. Bis man etwas findet, für das sich wirklich niemand mehr interessiert, muss man offenbar lange suchen. Die menschlichen Bedürfnisse sind vielfältig.
Und genau diese individuellen Bedürfnisse werden durch die neuen Angebote in der digitalen Welt befriedigt. Im Idealfall sind die Kosten für die Herstellung und Lagerung nahe null: nämlich dann, wenn das Gut selbst nur in digitaler Form vorliegt, wie zum Beispiel bei Musik, e-Books oder Filmen. Aber selbst wenn Herstellung und Lagerung teurer sind, rechnet sich das. Es rechnet sich auch, dass Massenprodukte wie Kaffee, Möbel oder Schuhe plötzlich nach den individuellen Wünschen der Verbraucher produziert werden. Das ist zwar kein spezifisches Internetphänomen. Aber durch das Internet können wir unsere individuellen Wünsche direkt und einfach sogar beim Hersteller artikulieren. Dadurch erfährt die Idee der »Massen-Individualisierung« einen ungekannten Aufschwung.
Einen der radikalsten Ansätze für die Globalisierung via Internet verfolgt eine chinesische Firma. Sie trägt den märchenhaften Namen AliBaba und ist ein Marktplatz: Auf der 1999 gegründeten Seite können Unternehmen aus der ganzen Welt ihre Waren und Dienstleistungen anderen Unternehmen anbieten. Wer beispielsweise Waren aus China in den Irak transportieren möchte, findet dort eine Firma, die von Shanghai nach Bagdad liefert. Wer Elektronik oder Stahlnägel, Bio-Baumwoll-T-Shirts oder schusssichere Westen, Feuertüren oder Mobiltelefone für drei SIM-Karten sucht, kann dort ebenfalls Anbieter finden. Derzeit ist die Plattform vor allem im innerasiatischen Handel relevant, in Europa hat sie noch keine große Bedeutung. Was nicht heißt, dass das Konzept dahinter nicht auch hier funktionieren würde: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein kluger Kopf es auf europäische Verhältnisse überträgt.
Was heißt es, wenn wir Nutzer als Teil des Produktes dafür sorgen, dass all diese Angebote immer größer, besser und wichtiger werden und alle anderen verdrängen? So entwickeln sich quasi-natürliche Monopole. Obwohl alle Nutzer zu ihrem Wachstum beitragen, gehören diese Firmen aber nicht allen, sondern Einzelnen. Was passiert, wenn einer dieser Giganten doch eines Tages pleitegeht? Dass dagegen auch Riesenunternehmen nicht gefeit sind, versteht sich von selbst. Benötigen wir spezielle Regeln für derartige Monopole? Mit wem haben wir es eigentlich zu tun, wenn wir diese Angebote nutzen? Die bekanntesten Internetunternehmen haben ihren Sitz in den USA – Facebook, Apple, Google, Microsoft, Yahoo. Was bedeutet das für uns in der Bundesrepublik?
Wir haben darüber berichtet, wie Verbraucher Vertrauen schenken. Wir haben darauf hingewiesen, dass dieser Vertrauensvorschuss auf gewissen Annahmen wie Rechtssicherheit und der Einhaltung von Standards basiert. Ist dies überhaupt gerechtfertigt bei Unternehmen, die außerhalb Europas sitzen? Schon innerhalb der EU ist es für den einfachen Nutzer kaum nachvollziehbar, welches Recht Anwendung findet – oder einfacher gesagt: worauf er sich verlassen kann. Sitzen Unternehmen nun außerhalb Europas, ist es mit diesem Wissen endgültig vorbei. Welche Verbraucherschutzstandards gelten eigentlich in Kalifornien? Welche Datenschutzstandards im US-Bundesstaat Washington?
Dieses Problem kann man von zwei diametral entgegengesetzten Standpunkten betrachten, die aber beide etwas für sich haben. Der eine Standpunkt ist folgender: Das Internet ist von Natur aus international, kein Anbieter ist in der Lage, alle jeweiligen nationalen Rechtsnormen zu erfüllen, und das ist auch gar nicht wünschenswert. So sind die Gesetze zum Jugendschutz in den USA beispielsweise noch viel restriktiver als die in Deutschland. Während hierzulande nackte Brüste auf dem bekanntesten deutschen Druckerzeugnis, der ›Bild‹, jeden Tag auf der Titelseite erscheinen, hat die iPad-Ausgabe der gleichen Veröffentlichung »das Mädchen von Seite 1« eingespart. Nicht deshalb, weil im Internet Erotik ohnehin problemlos auffindbar ist. Sondern weil Apple, der US-Konzern, der das iPad herstellt und auch über die dafür verfügbaren Programme mit harter Hand regiert, explizit keine Erotik in seinem Onlineshop, wo die Leser die Bild-Anwendung herunterladen müssten, erlaubt. In anderen Ländern, zum Beispiel in China oder der arabischen Welt gibt es noch viel striktere Regeln. Wer will schon die chinesischen Richtlinien für Inhalte übernehmen? Oder die saudiarabischen? Oder die thailändischen Gesetze zur »Kritik am König«? Im Internet findet ein Stellvertreterkampf zwischen europäischen, US-amerikanischen und anderen Wertesystemen statt. Tun wir nicht gut daran, zu sagen: Wir machen gar keine Vorschriften, vom Internet lassen wir die Finger? Denn wir wollen keine Zensur übernehmen.
Auf der anderen Seite haben wir selbst, zum Beispiel in Europa, Regeln, auf deren Einhaltung wir größten Wert legen. Beim Datenschutz und beim Verbraucherschutz sind die europäischen Regeln nicht nur viel besser für die Nutzer als zum Beispiel die US-amerikanischen. Sie sind zudem für das Individuum auch noch viel einfacher zu verstehen, oder sie geben uns die Freiheit, nicht alles verstehen zu müssen. Sie haben ihre Tücken und ihre Macken, aber sie sind derzeit das Beste, was es auf der Welt zu diesem Thema gibt. Die Behauptung, dass es keine Möglichkeit gibt, diese Standards auch gegenüber Unternehmen durchzusetzen, die nicht in Europa sitzen, ist eine Ausflucht. Denn diese Unternehmen sind hier aktiv, sie verdienen hier Geld und betreiben ihr Geschäft mit lokal ansässigen Kunden.
Das europäische Datenschutzrecht ist eine internationale Erfolgsgeschichte. Denn es schreibt vor, dass keine Daten von EU-Bürgern außerhalb der EU verarbeitet werden dürfen, wenn es dort keinen vergleichbaren Standard gibt. Diese 1995 in die Welt gesetzte Idee hat dazu geführt, dass Länder auf der ganzen Welt sich neue Datenschutzgesetze gaben. Wer sich nicht an das europäische Niveau hält, ist raus. Mit einer Ausnahme: den USA. Diese haben ein Sonderabkommen mit der EU geschlossen, das formal das gleiche Schutzniveau wie in Europa garantieren soll und auf den schönen Namen »Safe Harbor-Agreement«, Sicherer-Hafen-Abkommen, hört. Schon als es verhandelt wurde, war schnell klar: Tatsächlich ist dieses Abkommen keineswegs in der Lage, das gleiche Niveau an Datenschutz zu garantieren, wie es eigentlich vorgesehen ist. Doch Europa traut sich nicht, dieses Abkommen zu kündigen. Stattdessen vertraut man darauf, dass in den USA langsam etwas in Bewegung kommt, denn in den vergangenen Jahren hat sich auch jenseits des Atlantiks eine veritable Diskussion über den Datenschutz entwickelt. Immer neue Vorstöße von US-Kongressmitgliedern, das nur schwach ausgeprägte US-Datenschutzrecht auf einen angemesseneren Standard anzuheben, beschäftigen die Lobbyisten der datenverarbeitenden Firmen in Washington.
Im Fall des europäischen Datenschutzniveaus sind wir uns vielleicht sogar noch mehrheitlich einig. Doch spätestens, wenn die Volksrepublik China auf die gleiche Weise argumentiert und sagt: Wer hier geschäftlich tätig ist, muss hiesige Standards befolgen, haben wir ein Problem. China ist nicht nur das bevölkerungsreichste Land der Erde, es ist auch das Land, in dem ein großer Teil unserer Produkte, insbesondere auch unserer digitalen Produkte, hergestellt wird – oft unter fragwürdigen Bedingungen. Und es ist ein Land, in dem Meinungsfreiheit wenig und die Meinung der Herrschenden viel zählt. Genau das versucht die Kommunistische Partei Chinas auch im Internet durchzusetzen – nicht zuletzt mit technischen Maßnahmen, darauf aufbauender Unterdrückung und deren abschreckender Wirkung. Ausländische Firmen haben sich immer wieder auch am chinesischen Internetmarkt versucht. Doch wer mit den Vorgaben der chinesischen Regierung konform geht, um nicht in die Filter der Zensoren zu gelangen, entfernt sich weit von dem, was wir als Meinungsfreiheit verstehen. Was dort als Internet gilt, ist keines, auch wenn es auf den gleichen technischen Standards aufbaut. Müssten wir im Westen nicht sagen, dass wir Einschränkungen der Funktionalität des Netzes aus politischen Motiven rundheraus ablehnen?
Die Idee, das Netz selbst zu manipulieren, wenn uns Inhalte nicht gefallen, ist sehr verführerisch. Aber wir müssen die Errungenschaften westlicher Demokratie – insbesondere den Minderheitenschutz, die freie Meinungsäußerung und das Rechtstaatlichkeitsprinzip – für jeden Eingriff in die Freiheit unserer Bürger auch hier konsequent verteidigen. Größtmögliche Offenheit des Netzes und die Freiheit der Meinungsäußerung im und über das Netz müssen als wichtigste Eckpfeiler demokratischer Nutzung definiert werden.
Das Netz stellt die westliche Welt vor eine große Aufgabe: Wie können wir unsere Werte auch in einem internationalen Verbund mit international agierenden Akteuren durchsetzen und bis zu welchem Grad können wir zulassen, dass die Freiheitlichkeit dieses Mediums in Frage gestellt wird? Offensichtlich ist, dass die westliche Wertegemeinschaft bislang noch keinen Weg gefunden hat, sich auf bestimmte Prämissen zu einigen – auch deshalb, weil die demokratisch gewählten Regierungen nur allzu oft andere Präferenzen haben als die Gesamtheit der Nutzer des Netzes. Regierungen sind im Netz keine unparteiischen Akteure, sie vertreten knallharte Interessen.
Die Funktionsweise von Fernsehen und Radio ist eindeutig und einfach: Deren Sende-Infrastruktur basiert bis heute auf der Idee der Ausstrahlung – sie senden, und wer möchte und technisch und finanziell dazu in der Lage ist, empfängt. Alle Empfänger bekommen das gleiche Signal, einen Teil des ständigen Datenstroms, der gesendet wird. Der »Sender« entscheidet, was in die Welt hinausgeht. Der »Empfänger« kann aus den verfügbaren Sendungen auswählen, aber ihre Inhalte nicht selbst bestimmen.
Bei diesem Prinzip liegt die Entscheidung über die Inhalte völlig in den Händen einiger weniger: Wer die Sende-Infrastruktur betreibt, kann auch entscheiden, was darauf enthalten ist. Ein wichtiger Teil der Sende-Angebote stammt von den sogenannten öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten, die sich durch eine Art Zwangsgebühren finanzieren. Wer ihr Angebot nutzt, muss dafür bezahlen. Wer es nicht tut, ebenfalls, sofern er oder sie nicht nachweist, dass der Empfang aufgrund mangelnder Geräte nicht möglich ist, oder sich nicht ausdrücklich von der Gebührenpflicht befreien lässt. Es gibt eine eigene Einrichtung für das »Einziehen« dieser Gebühren, wie es auf der Website der GEZ genannt wird. Wer einen Kabelanschluss hat, der bezahlt dafür an den Anbieter des Kabelanschlusses. Und der Anbieter kassiert gleich doppelt, nicht nur vom Empfänger. Für sein Angebot erhält er auch von den Sendern, deren Programm er in diese Infrastruktur einspeist, Geld – das sogenannte Einspeiseentgelt. Dieses Prinzip gilt grundsätzlich auch für Satellitenbetreiber und andere Verbreitungswege. Der Zugang zum Netz des Betreibers ist ein knappes Gut, und mit diesem knappen Gut lässt sich viel Geld verdienen – wenn es denn nachgefragt wird.
Das Internet und die Netze, die es bilden, funktionieren vollständig anders. Die Infrastruktur des Netzes ist grundsätzlich »dumm«. Es interessiert sich nicht dafür, wer wem welche Inhalte schickt. Es ist dafür konstruiert, möglichst zuverlässig Inhalte von A nach B zu transportieren. Diese Kernfreiheit des Netzes ist nicht nur aus politischen Motiven unter Beschuss. Auch aus wirtschaftlichen Interessen heraus ist die Versuchung groß, in die Funktionsweise des Netzes einzugreifen. Auf der einen Seite ist es der Kampf der vordigitalen Industrie, die zum Schutz des sogenannten geistigen Eigentums immer wieder Vorschläge macht, am Internet und seiner Funktionsweise herumzuschrauben, um damit Einzelrechte durchzusetzen. Das wäre sogar möglich, wenn man das Netz komplett umbaut. Aber dafür müsste man so tief in seine Struktur eingreifen, dass es mit dem Internet, das wir heute kennen, nichts mehr zu tun hat. Noch sind wir in Deutschland nicht so weit wie zum Beispiel in Frankreich, wo es das Hadopi-Gesetz gibt (von Haute Autorité pour la diffusion des œuvres et la protection des droits sur l’Internet). In Frankreich wurde eine eigene Behörde eingerichtet, die gegen Urheberrechtsverletzung im Internet vorgeht. Bei wiederholten Urheberrechtsverstößen ist das Abklemmen des Internetzugangs beim Übeltäter vorgesehen. Das ist der größtmögliche Eingriff in die Neutralität des Netzes.
Und es gibt noch ein zweites Bedrohungsszenario für die Freiheit im Netz, das auf den Wunsch mancher Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen zurückgeht, die für den Transport bestimmter Inhalte mehr Geld einnehmen wollen als für andere. Auf den ersten Blick klingt das sogar logisch: Manche Arten von Inhalten und manche Anbieter verursachen wesentlich mehr Verkehr in den Netzen als andere. Wäre es da nicht folgerichtig, den Transport dieser Inhalte und von diesen Absendern teurer zu machen als von anderen? Sollten nicht die Anbieter von Telekommunikation so wie die Anbieter von Kabelfernsehnetzen darüber entscheiden können, was zu welchen Bedingungen über ihren Leitungen wie transportiert wird?
Um das Problem zu verstehen, müssen wir noch einmal die Grundstruktur des Netzes betrachten. Jeder im Internet ist zugleich Sender und Empfänger. Wenn wir eine Webseite aufrufen, senden wir ein Signal, dass wir etwas empfangen wollen. Und wenn wir möchten, können wir auf unserem Computer selbst Seiten anbieten, komplette Mailserver betreiben oder andere derartige Dienste. Unser aller Rechner sind Teil des Internets, vom Giganten Google bis hin zu Nora Normalnutzer, die in ihrer Zweizimmerwohnung in einer mittelgroßen deutschen Stadt sitzt. Wir alle sind an die Netze, die man zusammengeschaltet als Internet bezeichnet, angeschlossen. Jeder bezahlt für seinen Zugang, für die Bandbreite, also die gleichzeitig mögliche Übertragungsmenge von Daten, und für ein Übertragungsvolumen. Wir bezahlen dafür die Provider, die Anbieter, die unsere Anfragen über die Netze und durch das Internet zum Zielrechner und wieder zurück befördern bzw. die Verbindung dafür herstellen. Bisher gibt es für diese Dienstleistung keine Hierarchie. Nach besten technischen Möglichkeiten werden alle Daten von A nach B befördert, gleichgültig, um welche Daten es sich handelt.
Für die physischen Leitungen, auf denen der Datenverkehr stattfindet, sind die Telekommunikationskonzerne dieser Welt verantwortlich. Sie betreiben eigene Netze und nutzen fremde, sie haben ein komplexes System von Übergabepunkten, Ein- und Ausleitungen geschaffen. Wir, die Nutzer, sorgen dafür, dass in diesem System etwas stattfindet: Wenn wir beispielsweise auf YouTube gehen und sagen, dass wir uns ein Video anschauen wollen, findet Verkehr, englisch »Traffic«, statt. Die Bits und Bytes, die beim Aufruf selbst durch das Netz flitzen, sind so wenige, dass sie in ihrer Gesamtsumme für die Anbieter irrelevant sind. Doch sobald ein Video läuft, werden in einem kontinuierlichen Strom nennenswerte Datenmengen durch das Netz geleitet: von den Rechnern des Anbieters zu dem Rechner desjenigen, der sich das Video ansieht.
Die Datenmengen, die die Nutzer im Netz senden und abrufen, steigen. Die Netzbetreiber müssten eigentlich ihre Netze weiter ausbauen. Wenn immer mehr Menschen und Geräte immer häufiger und mit mehr Datenhunger das Netz nutzen, dann sind höhere Kapazitäten vonnöten. Hier setzt nun ein klassischer marktwirtschaftlicher Effekt ein: die Verknappung. Was knapp und begehrt ist, kann für einen höheren Preis verkauft werden als etwas, das in großer Menge zur Verfügung steht – unabhängig vom eigentlichen Wert. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis, und wenn die Nachfrage hoch ist, kann der Preis hochgetrieben werden. Am formalen Preis möchten die Internetanbieter allerdings nicht drehen. Es gibt nämlich einen Wettbewerb unter den Anbietern von Internetzugängen, der nicht gerade mit Samthandschuhen ausgetragen wird. Was könnten die Firmen also stattdessen machen?
Sie könnten einfach den Verkehr auf ihren Leitungen manipulieren. Manche Anbieter propagieren ein Modell, bei dem es bevorzugte und nicht bevorzugte Daten gibt. Sie wollen Daten »unterscheiden«, was im lateinischen Wortsinne diskriminieren heißt. Das kann man sich etwa so vorstellen: Wenn man ein großes Rohr für Flüssigkeiten nimmt, kommt am Ende immer das als Erstes heraus, was man als Erstes hineingepumpt hat. Pumpt man zuerst Wasser hinein, kommt am Ende wahrscheinlich zuerst Wasser heraus. Pumpt man nach dem Wasser Champagner hindurch, kommt am Ende mit dem Wasser der Champagner heraus. Man kann aber in dieses große auch mehrere kleinere Rohre hineinlegen: eines für Bier, eines für Wein, eines für Champagner. Dann bleibt vom großen Rohr weniger übrig, aber in den kleinen Rohren fließt immer etwas, unabhängig davon, wie viel im großen Rohr gerade los ist. Es hat eine garantierte Bandbreite, die dem Rest des Rohres nicht mehr zur Verfügung steht.
Der Vergleich stimmt nicht zu hundert Prozent. Das Internet hat keine physischen Rohrwände. Aber er kann das Problem gut illustrieren: Während vorher alle Daten durch das gleiche Rohr müssen und kein Unterschied zwischen ihnen gemacht wird, gibt es nachher jemanden, der entscheidet, wer wie viel von dem Rohr abbekommt. Und der damit auch die Bedingungen diktieren kann: Wenn du Schampus willst, dann kannst du an das Rohr mit dem Champagner angeschlossen werden. Das kostet dich allerdings mehr. Und wenn du das nicht möchtest, dann bleibt für dich noch das Restrohr übrig. Das ist zwar kleiner als vor der Einführung der Champagner-, Whisky-, Scotch-, Bier-, Rotwein-, Weißwein-, Schaumwein- und Schnapsrohre, aber das ist ja nicht das Problem des Anbieters, sondern das der Nutzer. Wenn man bei dem Bild bleibt, gibt es sogar noch eine Steigerung: Der Anbieter schaut am Anfang des Rohres, was hineingeschüttet wird. Wer nur Bier hindurchschicken will, wird daran gehindert. Das ist keineswegs Zukunftsmusik, sondern heute bereits in manchen Netzen Realität.
So gibt es Mobilfunk-Anbieter, die ihren Kunden »Internetzugänge« versprechen. Was sie in Wahrheit meinen, ist etwas anderes: Sie bieten Zugang zu Teilen des Internets. Denn sie filtern bestimmte Arten von Verkehr einfach aus, sie behindern die Übertragung bestimmter Inhalte. Insbesondere eine Art von Diensten ist ihnen ein Dorn im Auge: die Telefonie über das Internet. Die Telefonie ist ein Geschäftsbereich, an dem die Telekommunikationsanbieter viel Geld verdienen. Technisch betrachtet ist »Voice over IP«, wortwörtlich »Stimmübertragung über das Internetprotokoll«, heute ein Standard, den auch die Telekommunikationsanbieter selbst intensiv in ihren Netzen verwenden. Wer heute telefoniert, tut dies in einem Großteil des Netzes in digitaler Form, auch wenn er selbst einen klassischen sogenannten Analoganschluss verwendet. Bei Mobiltelefonie gibt es seit 2009 in Deutschland keine analogen Zugänge mehr. Entsprechende Endgeräte können gar nicht mehr verwendet werden. Wenn wir in ein Telefon sprechen, werden digitale Daten erzeugt und diese dann über das Netz des Anbieters zum Zieltelefon übertragen, um dort wieder entschlüsselt zu werden. Diese Dienstleistung lassen sich die Anbieter teuer bezahlen – obwohl die Nutzer eigentlich günstiger direkt über das Internet telefonieren könnten, ohne den Umweg über das Telefonnetz des Anbieters. Wer dies dennoch tun will, der wird bei manchen Providern kurzerhand extra zur Kasse gebeten.
Und auch in einer anderen Hinsicht kastrieren vor allem die Mobilfunk-Anbieter den Internetzugang. Wenn ein Gerät einen Zugang zum Internet hat, dann kann es andere Geräte Huckepack nehmen. Das entspricht der Struktur des Netzes: Jeder einzelne Teilnehmer kann sein eigenes Unternetz aufbauen. Bei vielen Menschen steht zuhause ein sogenannter Router, der genau diese Funktion übernimmt: Er sorgt dafür, dass wir mit allen unseren digitalen Geräten ins Internet kommen – vom Laptop über das iPad oder Telefon bis zum modernen Drucker, dem wir einfach eine E-Mail mit einem Dokument schicken können und es dann ausgedruckt vorfinden. Manche Anbieter des sogenannten mobilen Internets unterbinden dies und verlangen für die Möglichkeit, dieses sogenannte »Tethering« (»Anleinen«) durchzuführen, einen Aufschlag. Hinzu kommt, dass in vielen Fällen unklar ist, was Internetprovider tatsächlich tun, und für den Einzelnen kaum festzustellen ist, ob, und wenn ja, wie die Leitungsanbieter in den Datenverkehr eingreifen.
Das alles sind erste Anzeichen dafür, dass bestimmte Akteure ans Internet selbst aus wirtschaftlichen Motiven heraus Hand anlegen. Sie möchten die Funktionsweise des Netzes künstlich beschränken und statt dessen, was wir heute unter Internet verstehen, etwas anderes anbieten. Sie wollen aktiv dafür sorgen, dass bestimmte Arten von Inhalten, bestimmte Sender und Empfänger mehr für die gleiche Dienstleistung – den Datentransport von A nach B – bezahlen. Dafür werden andere benachteiligt, die das nicht tun. Statt eines neutralen Netzes gäbe es dann eine Mehrklassengesellschaft. Und die hätte es in sich.
Denn wenn man die Transporteure darüber entscheiden lässt, was auf ihren Leitungen zu welchen Bedingungen von A nach B gelangt und eine solche Entwicklung eines nicht-neutralen Datentransports im Internet ein paar Jahre fortschreibt, dann wird das Netz, wie wir es heute kennen, passé sein. Diejenigen, die sich den höheren Preis für das Senden von Informationen leisten können – allen voran die Megafirmen des Internets, auf deren Angebote kein Provider verzichten kann, weil ihm sonst die Kunden weglaufen –, sind noch da. Die kleinen und mittleren Anbieter bleiben im Datenstau des »Restenetzes« auf der Strecke. Und zwar nicht nur die kommerziellen, sondern alle, die heute so stark davon profitieren, dass es eben keine solche Unterscheidung gibt.
Neue Unternehmungen müssten viel Geld aufbringen, um überhaupt ansatzweise konkurrieren zu können. Heute sprechen wir davon, wie demokratisch das Internet ist. Das könnten wir uns bei diesem durchaus realistischen Zukunftsszenario sparen. Ein Internet, in dem die Provider die Bedingungen für die von ihnen transportierten Daten diktieren, wäre kein demokratisches Internet mehr. Seiten wie die allseits geschätzte Wikipedia könnten unter diesen Umständen schlicht nicht überleben.
Zwei Dinge sind zentral, wenn es um Regeln für ein neutrales Netz geht. Wir müssen das Netz selbst vor Eingriffen in seine Struktur aus politischen und wirtschaftlichen Motiven beschützen. Und wir müssen gleichzeitig die Nutzer davor schützen, dass sie von Anbietern über den Tisch gezogen werden. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Man kann eine klare Unterscheidung treffen. Es gibt das Netz und seine Infrastruktur, und es gibt die Herrscher über die Leitungen, die für den reibungslosen und bestmöglichen Betrieb dieser Infrastruktur zuständig sind. Damit verdienen sie ihr Geld. Es ist nicht ihre Aufgabe, die Inhalte nach kommerziellen oder politischen Gesichtspunkten zu gewichten und zu sortieren. Für Inhalte und Dienste des Internets hingegen sind diejenigen verantwortlich, die sie bereitstellen und anbieten. Und sie sind auch dafür verantwortlich, dass den Nutzern kein Schaden zugefügt wird.
Der freie Fluss von Information ist das Rückgrat des Netzes. Und jede Information, die dort fließt, ist in gewisser Weise ein Datum. In Formation gebrachte Daten, das ist es, was unser Leben in der Vergangenheit verändert hat und für unsere Zukunft maßgeblich sein wird. Die Erfassung in Daten ist der Versuch, die Welt mit den Mitteln der Informationstechnologie in geordnete und weiterverarbeitbare Maße zu fassen. Die Vermaßung der Welt, die Beschreibung unseres stofflichen Seins und Daseins zwecks ihrer Berechnung, das erleben wir derzeit in großem Maße. Dabei machen wir dies nicht unbedingt für uns selbst, sondern für die Maschinen, die uns dienen sollen. Historisch betrachtet ist das nur konsequent.
Wenn wir von Wissenschaft reden, meinen wir immer schon den Versuch, Dinge zu erfassen, zu beschreiben, zu berechnen und anhand dieses Wissens Voraussagen zu treffen – wenn man einmal von den Geschichtswissenschaften absieht, die dies weit von sich weisen, da sich Geschichte nicht wiederhole. Wir Menschen sind ganz gut darin geworden, chemische Formeln zu finden und physische Eigenschaften zu entdecken und zu beschreiben. Auf der Basis unseres Nichtwissens entsteht durch die Forschung neues Wissen, das dann wieder zu neuem Noch-Nichtwissen führt. Nun wissen wir heute schon vieles. Und manches davon können wir sogar digital beschreiben, in den nach wie vor eher engen Grenzen dessen, was Informationstechnologie in unseren Tagen kann. Wir können Chromosomen analysieren, aber bei den meisten noch nicht wirklich sagen, welches Basentriplett in welcher Kombination was bedeutet und beeinflusst. Wir können komplette Welten simulieren, aber an die Komplexität der Physik, die bei einem Fußballspiel herrscht, kommt man bis heute nicht heran. Noch ist die Natur uns ein weites Stück voraus.
Einerseits wird die reale Welt digital abgebildet und erfasst. Der Begriff der »virtuellen Realität« ist etwas aus der Mode gekommen, trifft es aber eigentlich ganz gut. Andererseits halten die digitalen Anwendungen Einzug in die stoffliche Welt. »Augmented Reality« heißt das Schlagwort, mit dem diese Anwendungen beschrieben werden: erweiterte Realität. Was im ersten Moment eher nach Drogenmissbrauch klingt, sind kleine Anwendungen von digitaler Technologie. Moderne Telefone zum Beispiel haben eine Vielzahl von Sensoren, unter anderem für die Lage und Ausrichtung des Telefons. Nimmt man nun die Standortermittlung und diese Lagesensoren zusammen, können auf dem Bildschirm des Telefons Abbilder der Umgebung, angereichert mit weiteren Daten, angezeigt werden. Das kann zum Beispiel ein Kartendienst sein, der uns sagt, dass in dem Haus vor uns eine Wohnung zu kaufen ist, wie viel diese kostet und bei wem wir uns melden müssten, wenn wir uns dafür interessieren. Oder aber der Telefontaschencomputer merkt, dass Sie sich gerade kurz vor zuhause befinden. Und weil da auch ein Supermarkt in der Nähe ist, fragt er Sie, ob Sie nicht noch einkaufen gehen wollten. Diese Anwendungen existieren bereits, sie sind nicht besonders spektakulär und in gewisser Weise nützlich, ohne dass sie unverzichtbar wären.
Doch mit derartigen Vermengungen von virtueller und realer Welt ist noch wesentlich mehr denkbar: Wenn wir schlecht sehen, könnte uns derartige Software weiterhelfen, uns im Raum zu orientieren und Orte, Menschen und Objekte zu erkennen. Wenn Sie Ihre Brille gerne mal verlegen: Vielleicht weiß Ihr Computer ja, wo sie ist? Oder wo Ihr Kind ist? Oder Ihr Chef, wo Sie sind? Oder Ihre Frau? Und mit wem? Die Vermaßung der Welt bietet viele Möglichkeiten. Wirtschaftsvertreter propagieren gerne das »Internet der Dinge«, in dem jedes beliebige Ding eine Adresse im Internet haben kann und damit theoretisch auch selber Sender und Empfänger sein kann. Das geht dann oft einher mit Szenarien, in denen uns erzählt wird, wie schön die Welt doch wäre, wenn alles miteinander vernetzt und damit »klug« wäre.
Doch was passiert mit den Daten, die wir dadurch erzeugen werden? Wem sollen sie »gehören«? Wer darf sie nutzen? Und: Unter welchen Bedingungen? Auf all das gibt es heute noch keine wirklich klugen Antworten. Tatsächlich ist das Datenschutzrecht nur ein kleiner und nicht besonders aktueller Teil einer notwendigen, umfassenden Antwort auf genau diese Fragen. Wenn wir unseren Weg in die digitale Gesellschaft ungebremst fortsetzen, müssen wir darüber nachdenken, ob wir dafür mit unseren Rechtsordnungen gerüstet sind. Die beiden Autoren würden dies stark in Zweifel ziehen. Viele informationsrechtliche Gedanken sind bereits artikuliert und manche davon auch bereits in Gesetzesform gegossen. Doch die Grundfragen sind immer noch nicht beantwortet.
Tatsächlich muss man, wenn man von Daten redet, einen Schritt zurückgehen. Daten sind eine Deskription, ein virtuelles Abbild einer Realität (oder, zum Beispiel bei Spielen, einer Fiktion). Sie sind dafür da, die Realität auch maschinell verarbeitbar zu machen, Schlussfolgerungen zu treffen und daraus etwas abzuleiten. Für die Zukunft gibt es eine dreiteilige Fragestellung: 1. Unter welchen Umständen werden Daten erzeugt? 2. Wem »gehören« diese Daten, wer darf über sie verfügen? 3. Wer darf sie unter welchen Umständen verarbeiten, auswerten und nutzen? Sofern es um Daten geht, die unmittelbar an Personen geknüpft sind, scheint die Antwort einfach. Sie findet sich im Datenschutzrecht: Nichts ohne Wissen und Zustimmung der Betroffenen. Doch wie sieht es aus mit Daten, die keine Person direkt betreffen?
Ein Beispiel hierfür wäre wieder einmal eine Datensammlung, die Google durchführt: Wer heute einen Standortdienst nutzt, also die Möglichkeit, sich seinen Standort auf einer Karte in seinem Mobiltelefon anzeigen zu lassen, der nutzt dafür entweder die GPS-Satellitentechnik oder aber die sogenannte Triangulation, bei der sich anhand von in der Umgebung befindlichen Sendern relativ exakt ausrechnen lässt, wo man sich gerade befindet. Dazu können die Sendemasten der Mobilfunknetze genutzt werden. Noch genauer wird es allerdings, wenn man weitere Daten hinzunimmt: die Daten von im Umfeld vorhandenen WLAN-Funknetzen, also drahtlosen Internetzugängen. Diese senden in ihre Umgebung eine Identifikationsnummer und einen Namen, damit Geräte sie finden und darüber ins Internet gelangen können. Und die meisten von ihnen bleiben an dem Ort, an dem sie aufgebaut wurden. Als Google Autos durch Deutschlands Straßen schickte, um für das StreetView-Angebot Bilder aufzunehmen, da merkten sich diese Autos noch etwas Weiteres, nämlich wo welche WLAN-Funknetze zu finden sind. Diese Angaben wurden dann in die Kartendienste des Anbieters integriert. Wenn sich jemand in der Nähe eines Google bekannten WLANs befindet, wird dies für seine Positionsbestimmung verwendet. Und auch die Mobiltelefone, die mit Googles Betriebssystem Android ausgestattet sind, können derartige Informationen »nach Hause funken«, also Google mitteilen.
Man kann lange darüber diskutieren, ob dies eine missbräuchliche Nutzung der technischen Eigenschaft von WLANs und Mobiltelefonen ist. Doch an dieser Stelle kommt es uns auf etwas anderes an: Google hat die finanziellen und technischen Möglichkeiten, die Welt digital zu erfassen oder die erfassten Daten einzukaufen. Worauf das hinauslaufen kann, zeigte sich bereits Ende 2011: Die Firma Google kündigte an, dass sie intensive Nutzer ihres Kartendienstes für das Verwenden dieses Services zur Kasse bitten wolle. Dagegen spricht grundsätzlich nichts. Allerdings erkennen wir an solch einem Vorgehen, dass es ein großer Irrtum sein könnte, zu erwarten, dass Dienste, die heute kostenlos sind, dies auch auf Dauer bleiben werden. Private Unternehmen wollen möglichst hohe Gewinne erzielen. Wir helfen ihnen dabei, unsere Welt digital zu erfassen, wir vertrauen ihnen sozusagen unsere digitale Gesellschaft an. Ist das richtig? Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln.
Wolkig sind die Aussichten für die Zukunft des Netzes, wenn man den einschlägigen Trendauguren Glauben schenkt. Denn die Wolke, die Cloud, gilt als der nächste große Trend. Cloud Computing ist das Wort, das Unternehmensberater, Softwareentwickler und Journalisten derzeit am meisten begeistert. Hinter dem Schlagwort verbirgt sich ein grundsätzlicher infrastruktureller Wandel: Derzeit sind es in der Regel noch unsere lokalen Geräte, auf denen Dinge stattfinden. Dieses Buch wird auf einem Computer geschrieben, auf dem Programme laufen, die von dem lokalen Prozessor der Maschine und den anderen Bauteilen ausgeführt werden. Nichts von der eigentlichen Funktionalität, die für das Schreiben eines solchen Buches notwendig ist, findet außerhalb des Rechners statt. Aber das könnte auch ganz anders sein.
Im Internet ist, wie gesagt, jeder Sender und Empfänger. Jedenfalls theoretisch. Tatsächlich besteht ja jede Aktion im Netz aus der Anforderung von Daten und Antworten auf diese Anforderungen. Aber ein großer Teil der Menschen nutzt die Senderfähigkeiten der Geräte nicht wirklich, sondern verwendet den Rechner auf zwei Weisen: zum einen, um damit lokal auf der Maschine zu arbeiten. Und zum anderen, um auf entfernten Geräten etwas zu tun – auf anderen Rechnern, die ans Internet angeschlossen sind. Wenn wir aber heute eine Textverarbeitung zum Beispiel von Microsoft benutzen, läuft das Programm in der Regel noch lokal auf dem eigenen Rechner oder dem Firmenrechner. Es gibt dazu jedoch längst Onlineversionen: ob Microsofts »Office 365« oder GoogleDocs, die Textverarbeitungssoftware muss nicht auf dem Gerät laufen, an dem man gerade arbeitet. Die Software könnte genauso gut auf einem Rechner laufen, der irgendwo anders auf dieser Welt steht. Wir könnten damit ohne weiteres in der vertrauten Weise arbeiten, ohne das Programm selbst zu besitzen. So wie ein Großteil der Internetanwendungen auf den Servern irgendwelcher großen Firmen betrieben wird, so könnten wir künftig auch den Löwenanteil unserer Tätigkeiten im Internet erledigen. Bereits heute erfreuen sich manche Anwendungen großer Beliebtheit, bei denen wir nicht mehr lokal, sondern »remote«, also per Fernsteuerung Dinge tun. Ob Musikstreaming-Dienste wie Spotify, bei denen wir so, als ob wir die Dateien lokal gespeichert hätten, Musik hören können, legale und illegale Videostreaming-Portale oder eben die Bürosoftware: Das lässt sich alles auch auf entfernt stehenden Computern abspielen. Und alles, was wir lokal speichern, könnten wir auch auf Rechnern lagern, die ganz woanders stehen.
Im Jahr 2011 brachte Google mit dem ChromeBook einen Computer auf den Markt, der kaum etwas lokal macht. Er braucht das Internet wie wir die Luft zum Atmen. Ohne Netzzugang ist es ein wertloser Haufen Plastik, mit Internet ein eigentlich vollwertiger Computer. Das Besondere: Eigentlich alle Anwendungen, die wir sonst von normalen Rechnern kennen, finden bei diesem Rechner via Internet statt, nur kleinere Zwischenspeicherungen finden lokal statt. Wir haben damit eine Art schlauen Fernseher in Händen, ein Betrachtungsgerät, das vor allem der Fernsteuerung dient. Damit unmittelbar geht die Frage einher, wer hier eigentlich die Kontrolle hat?
2009 passierte dem als Buchhändler bekannt gewordenen US-Internetkonzern Amazon ein Missgeschick. Auf der Verkaufsplattform für elektronische Bücher, die Amazon betreibt, dem so genannten Kindle-Store, wurden die beiden Bücher ›Animal Farm‹ und ›1984‹ von George Orwell zu je 99 Cent kopiergeschützt verkauft. Genauer gesagt: Die Nutzer glaubten, sie hätten sie gekauft. Es gab nur ein Problem: Amazon hatte diese e-Books angeboten, ohne die Rechte daran zu erwerben. Und was unternahm Amazon daraufhin? Man »rief« die Bücher zurück. In der digitalen Umwelt der Amazon-Kindle-Lesegeräte hieß das, dass man die Dateien aus dem digitalen Regal nahm und sie auf den Endgeräten der Nutzer einfach löschte.
Im nicht-digitalen Leben wäre das folgender Vorgang: Jemand erwirbt legal ein Buch in einer Buchhandlung. Am nächsten Tag bricht der Buchhändler in dessen Wohnung ein, holt sich das Buch wieder und legt den Kaufpreis auf den Küchentisch. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass dies ausgerechnet bei Büchern des berühmten Science-Fiction-Autors George Orwell passierte, die beide Kontrolle und Überwachungsgesellschaft zum Thema haben. Die Käufer fragten verwirrt nach, wo denn das gekaufte Buch geblieben sei. Amazon drückte offiziell sein Bedauern darüber aus, dass man die Käufer nicht vorher aufgeklärt hatte. Amazon stand unter Rechtfertigungsdruck. Firmengründer Jeff Bezos sah sich genötigt, im Firmenweblog öffentlich Abbitte bei den Nutzern zu leisten: Die Löschaktion sei »dumm, gedankenlos und schmerzhaft außerhalb unserer eigenen Prinzipien« gewesen. Auf das Löschen auf den Endgeräten wolle man künftig verzichten, ließ die Firma verlauten. Zusätzliches Pech für Amazon: Die Aktion war nicht einmal durch die eigenen Allgemeinen Geschäftsbedingungen gedeckt.
Man könnte nun denken: Ein paar Bücher für 99 Cent, was ist das schon für ein Problem? Doch es waren ja nicht nur die 99 Cent und der Einbruch ins digitale Regal des Kunden, per se schon illegal. Auf die Löschaktion des Onlinebuchhändlers folgte auch noch ein Rechtsstreit, der die Weiterungen des Problems aufzeigt: Amazon hatte mit dem Löschen der Bücher auch die kompletten Notizen eines High-School-Schülers mitgelöscht, die dieser an dem digitalen Buch gemacht hatte und für seine Hausarbeit benötigte. Sie waren unwiederbringlich verloren. Der Schüler klagte und Amazon zahlte 150 000 US-Dollar an Wohltätigkeitsorganisationen, um das Verfahren schnellstmöglich loszuwerden.
Das Problem, das der Amazon-Fall aufzeigte, war typisch für die Speicherung in der »Wolke«. Cloud Computing heißt, dass irgendwer irgendwo große Rechenzentren betreibt, die mit gewaltiger Rechenpower ausgestattet und in der Lage sind, viele Anfragen zur gleichen Zeit zu bewältigen, und dass dort Daten in großen Mengen gespeichert werden können. Das kommt unserer Faulheit sehr entgegen, denn wir müssen uns um nichts kümmern. Die sogenannten Cloud-Anwendungen haben noch einen weiteren großen Vorteil: Was bereits im Internet liegt, können wir schnell und einfach mit anderen im Netz teilen. Wer beispielsweise Onlineservices wie DropBox, Wuala, TeamDrive oder Box.net benutzt, kann ganze Festplatten im Netz speichern und die Inhalte dann gezielt für alle, einige oder wenige zugänglich machen. Das ist sehr praktisch, wenn mehrere Leute auf ein Dokument zugreifen sollen. Und es ist praktisch, wenn man mit mehreren Rechnern arbeitet, beispielsweise am Arbeitsplatz und zuhause. Aber können wir diesen Anbietern wirklich vertrauen?
Viele dieser Angebote sind so aufgebaut, dass wir die Software des Anbieters nur so benutzen können, wie er es für richtig befindet. Die Anbieter diktieren die Bedingungen, die Nutzer sind von ihnen abhängig. Was dies bedeuten kann, zeigten Vorgänge rund um WikiLeaks: Die Whistleblower-Plattform mietete unter anderem Rechner-Infrastruktur von Amazon, um die vielen Anfragen bewältigen zu können, die auf die Seite nach der Veröffentlichung der US-Botschaftsdepeschen einprasselten. Amazon warf WikiLeaks von den Servern – und handelte sich dafür viel Kritik ein: Darf ein Infrastrukturdienstleister, als welcher Amazon in dem Fall handelte, Kunden mit missliebigen Inhalten einfach hinauswerfen? Da die Veröffentlichung der Depeschen nach US-Recht mutmaßlich illegal war, stand zumindest in diesem Fall das Recht auf der Seite der Firma. Das kann auch ganz anders sein.
Nicht nur Cloud-Computing-Anwendungen brechen mit dem Ur-Prinzip des Netzes, dass man an vielen unterschiedlichen Stellen autonom agieren kann. Cloud Computing führt aber noch stärker als die bisher schon dominanten Aufteilungen in Server und Client zu Abhängigkeiten, die bedenklich sind. Die Tendenz geht in Richtung zentralistische Strukturen. Dabei ließe sich das alles auch ganz anders organisieren. Viele Geräte, die bereits heute in Gebrauch sind, haben erhebliches ungenutztes Potenzial. Sie könnten wesentlich mehr tun, als sie derzeit machen. Das betrifft Mobiltelefone, Waschmaschinen und Laptops. Ein Großteil ihres Stromverbrauchs wird für Nichtstun verschwendet. Das könnte man nutzen. Sie könnten für solche Funktionen viele dezentrale »Hubs«, also Knotenpunkte, bilden. Doch derzeit läuft alles auf eine andere Entwicklung hinaus: Wir laufen Gefahr, uns kollektiv in die Abhängigkeit von einigen wenigen Big Playern zu begeben. Das Besondere am Netz ist, dass niemand eine wirkliche Kontrolle über das Netz in seiner Gesamtheit und seine Inhalte ausüben kann und dass jedes einzelne Gerät ein vollwertiger Computer ist, der beliebige Dinge tun und lassen kann, je nachdem, was man ihm befiehlt. Das wird dadurch in Frage gestellt.
Schon jetzt kann man sich die Frage stellen, ob wir wirklich noch die Kontrolle über unsere Endgeräte haben. Es gibt Geräte, da ist die Antwort offensichtlich: Nein. Das sind zum Beispiel Computer, die als Spielekonsolen ausgeliefert werden. Sie sind als geschlossene Umgebungen konzipiert und in einer komplizierten Kombination aus Hard- und Software darauf ausgerichtet, dass niemand an ihnen etwas verändern können soll. Der Grund dafür ist der Kopierschutz. Davon haben Sie in diesem Buch schon häufiger gelesen. Die Spielekonsolen werden oft weit unter ihrem tatsächlichen Wert verkauft. Das Geld verdienen die Hersteller mit den dafür verkauften Spielen: Jedes verkaufte Exemplar garantiert ihnen Einnahmen. In dem hart umkämpften Markt der Spielekonsolen kommt es darauf an, die Einstiegshürden gering zu halten.
Das Prinzip erinnert an die Einweg-Rasierklingen, die ein gewisser Herr Gillette entwickelte. Er gab den Rasierer als solchen für wenig Geld ab, verkaufte aber das zum Funktionieren notwendige Verbrauchsgut, die Klinge, sehr teuer. Ein Geschäftsmodell, das bis heute gut funktioniert. Wer ein Gerät einmal hat, der möchte es auch benutzen. Das Geschäftsmodell wird überall eingesetzt. Ob bei Wasseraufsprudlern, bei denen das Verbrauchsgut – die CO2-Kartusche – nachgekauft werden muss, bei Kaffeemaschinen, die mit teuren Pads befüttert werden müssen, oder selbst bei Autos: Es ist oft nicht mehr das eigentliche Produkt, das die relevanten Einnahmen garantiert, sondern der Service, der zu dem Produkt gehört, oder die Ersatzteile. Dazu tragen das Urheberrecht und sein enger Verwandter, das Patentrecht, einen großen Teil bei.