Gemeinsam in die Gesellschaft von morgen?

Was lässt sich aus diesen Ereignissen und Beobachtungen schließen? Die Bundesrepublik ist noch weit entfernt von einer Informationsgesellschaft, solange ihre politischen Entscheider und viele der wirtschaftlichen Akteure, aber auch viele Bürger das Netz vorrangig als eine potenzielle Bedrohung begreifen. Diese Haltung führt in erster Linie zu Scheindebatten, zu widersinnigen Regeln und zu vielfältigen Problemen. Das Netz muss begriffen werden als das, was es ist: ein wunderbarer Gestaltungsraum, der uns dazu zwingt, auch althergebrachte Normen und Werte, Organisationsformen und vordergründig akzeptierte Zustände in Frage zu stellen und diese neu zu denken, um am Ende Wege zu finden, die in die Zukunft führen. Der Mangel an technischem Verständnis auf Seiten von Politik, in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft ist eklatant. Auch viele Nutzer haben noch keine wirkliche Vorstellung davon, welche Tragweite die technischen Veränderungen haben, welche Bruchlinien sie erzeugen oder aufzeigen. Es fehlt an dem Bewusstsein, dass mit dem technischen zugleich auch ein Normenwandel einsetzt, der dringend gestaltet werden muss. Es wird wohl mindestens noch eine Generation dauern, bis der Diskurs wirklich breit und interdisziplinär stattfinden kann.

Aber das kann an vielen Stellen zu spät sein. Wesentliche Weichen für unsere Zukunft werden heute gestellt. So wie es sich beim Datenschutz verhält – man kann seine Privatsphäre aufgeben, aber nicht mehr zurückbekommen –, so verhält es sich auch bei anderen netzpolitischen Großbaustellen: Das Netz ist zu wichtig geworden, um es den Ahnungslosen unter den Politikern zu überlassen.

Netizens, Nationalstaaten und Schurken

Machen wir uns nichts vor. Das Internet und die Debatten darüber sind ein Spiegel der weltpolitischen Situation. Das Netz ist ein im demokratischen Westen entstandenes Ding, mit dem die Diktaturen dieser Welt in seiner Reinform nichts anfangen können. Es fordert, wie wir hoffentlich in diesem Buch gezeigt haben, auch manche Norm- und Wertvorstellungen in unseren ach so demokratischen und pluralistischen westlichen Gesellschaften heraus.

Müssen wir damit leben, dass wir nicht jeden Verbrecher fangen können, auch wenn seine Taten noch so widerlich sind? Ja, das werden wir müssen. Denn es gibt keine Alternative. Wenn wir unsere Gesellschaften so abzusichern versuchen, dass uns nichts mehr passieren kann, dass Menschen selbst mit größter krimineller Energie nicht mehr kriminell werden können, dann landen wir in einer Diktatur, die ihre Bürger immer und bei jeder Gelegenheit überwacht, um kleinste Anzeichen für ein potenzielles Fehlverhalten zu finden.

Wenn wir heute auf manchen Flughäfen ohne unser Wissen per Wärmebildkamera gecheckt werden, ob wir nicht hohes Fieber haben und damit eventuell schwere Krankheiten zum Zielort transportieren, wenn unser Genom vielleicht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für psychische und gesundheitliche Probleme enthält, wenn wir aufgrund von Mustererkennung schon bei Kindergartenkindern sagen könnten, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit später Straftaten begehen werden, weil sie im »falschen« sozialen Umfeld groß werden, was heißt das dann für uns? Was ist uns das Individuum wert, wo ziehen wir die Grenzen dessen, was wir uns an Schlüssen und potenziellen Fehlschlüssen erlauben wollen?

Das Netz lässt sich nicht dauerhaft zensieren

Eine der wunderbarsten, am meisten verdammten und am meisten geschätzten Eigenschaften des Internets ist seine Architektur. Schneidet man einen Weg ab, findet sich früher oder später auf die eine oder andere Weise ein anderer Weg, um ans Ziel zu gelangen. Das Internet ist von vorneherein darauf ausgelegt, dass Informationen nicht zwangsläufig der »einen« Route folgen müssen, sondern sich ihren Weg suchen können. Dieser Umweg kann manchmal etwas langsamer, manchmal etwas umständlicher sein, aber am Ende steht fast immer die erfolgreiche Übermittlung von Daten. Das ist Demokratie pur.

Dass dies nicht in jedermanns Interesse ist, versteht sich von selbst. Selbst in den zensurwütigsten Regimen der Welt, im Iran, in China und bis zum Januar 2011 auch in Tunesien, klappte es trotz aller möglichen Barrieren, die von staatlicher Seite errichtet wurden, nicht, das Netz vollständig unter Kontrolle zu bekommen und die Menschen ihrer Kommunikationsmöglichkeiten zu berauben. Der Arabische Frühling, oft als »Facebook-Revolution« bezeichnet, ist durch das Netz befördert worden. Aber der Auslöser lag woanders: Durch das Netz hatten Menschen, die den härtesten Überwachungsrepressalien und politischer Verfolgung ausgesetzt waren, das Gefühl, dass sie nicht allein sind. In der oft gar nicht existenten, aber gefühlten Anonymität des Netzes tauschten sich diejenigen aus, die mit den Kleptokraten, den Nahrungsmittelpreisen, der Beschränktheit und Perspektivlosigkeit der Jugend in den arabischen Ländern unzufrieden waren. Es war nicht das Netz, was manchen den Tod oder Verletzungen, Gefängnisstrafen und Misshandlungen brachte, es war auch nicht das Netz, was die Diktatoren in Frage stellte. Das Netz ermöglichte aber Kommunikation unter denen, unter denen es schon längst gärte.

Wenn man viele Unzufriedene miteinander in Kontakt bringt, kann daraus eine Bewegung entstehen. Ob diese Erfolg hat, hängt aber nicht vom Internet ab. Es kann dazu genutzt werden, aber am Ende fällt die Entscheidung über Wohl und Wehe von Menschen und Ländern nicht im Internet. Es ist eine Infrastruktur, es schafft Verbindungen über Raum, Zeit und Orte hinweg zwischen Menschen, transportiert Inhalte von Maschinen zu Maschinen. Hätten wir aus Tunesien und Ägypten genauso viel gehört, wenn nicht die Menschen dort, vor Ort, über das Netz miteinander und damit auch mit der Außenwelt kommuniziert hätten? Wenn nicht Aktivisten Bilder direkt vom Kairoer Tahrir-Platz ins Netz gespeist hätten – allen Widrigkeiten wie dem Versuch der Regierenden, das Netz abzuschalten, zum Trotz? Obwohl Regime auch selbst das Netz nutzen, um Menschen zu identifizieren und zu verfolgen? Was teils sogar sehr viel einfacher ist, als es in anderen, nichttechnischen Umgebungen ist.

Die Kommunikation ermutigt Menschen. Am Beispiel Syrien sieht man sehr gut, was das bedeutet. Dort ist das Netz weitgehend abgeschaltet, aber es ist der einzige halbwegs funktionierende Kanal nach außen. Auch deshalb, weil Menschen von außerhalb wie die Aktivisten des Telecomix-Netzwerks immer wieder Löcher in die Sperren des Regimes bohren und so dafür sorgen, dass mehr aus dem Land herausdringt, als dem Regime lieb ist. Ohne das Wissen um die Vorgänge vor Ort schaut die Weltgemeinschaft schneller weg, als gut ist. Das Netz bildet das Scharnier zwischen den Welten.

Natürlich hat dieser Zustand des durch seine Struktur intelligenten, aber inhaltlich ignoranten Netzes, das sich nicht um die Inhalte des von ihm vermittelten Datenverkehrs kümmert, auch seine Nachteile. Eine wichtige E-Mail wird genauso behandelt wie Werbemüll, es gibt keine Unterscheidung zwischen dem neuesten Video von Unterdrückungsversuchen des Regimes in Syrien und dem neuesten Lady-Gaga-Hit. Aber wie oft man das Blatt dreht und wendet: Selbst wenn die Versuchung groß ist, das Netz »klug« zu machen und an den Schaltstellen Filter, Bremsen und Beschleuniger einzusetzen, damit unliebsame Inhalte nicht mehr übertragen werden oder andere schneller durch das Netz transportiert werden, man wird immer wieder an dem gleichen Punkt ankommen: Niemand sollte bestimmen, was wie durch das Netz transportiert wird. Das Netz ist klug genug, alles von A nach B zu bringen. Und wir sollten klug genug sein, es dabei zu belassen.

Sich einbringen, aber die Verschwörungstheorie zuhause lassen

Mittlerweile haben wir eine andere Debatte über das Verhältnis zwischen Netz und Politik als noch vor wenigen Jahren. In Zeiten, wo beinahe täglich neue Politiker auf Twitter und anderen sozialen Medien begrüßt werden, scheint die Situation der Kinderreporter, wie im Kapitel ›Politiker und ihr Umgang mit dem Netz‹ beschrieben, mittlerweile in etwas weitere Ferne gerückt. Aber noch immer überraschen Politiker wie Siegfried Kauder oder Hans-Peter Uhl mit Vorschlägen zur Netzpolitik und dem Internet, die sich wie verzweifelte Schreie aus einer anderen Zeit anhören.

Debatten wie die rund um das Zugangserschwerungsgesetz oder den Jugendmedienschutzstaatsvertrag im Jahr 2010 haben gezeigt, dass zivilgesellschaftliches Einmischen in die Diskussion zum Erfolg führen kann – oder zumindest zum Verhindern von schlechten Ideen mit potenziellen Kollateralschäden für Freiheit und Demokratie. Aber noch immer werden Debatten wie die um die Vorratsdatenspeicherung geführt, obwohl niemand auf die Idee kommen würde, vergleichbare Gesetze für den analogen Raum schaffen zu wollen. Wer will schon, dass ab Verlassen des Hauses jede Bewegung, jedes betrachtete Schaufenster, jeder Gesprächspartner für Monate in einer Datenbank gespeichert wird? Oder das Kaffeekränzchen bei den Nachbarn mit allen Beteiligten, der Uhrzeit und dem Ort?

Die Medienkompetenz vieler Beteiligter in den öffentlichen Debatten rund um das Netz hat sich gesteigert. Dazu beigetragen hat sicherlich die stärkere Verbreitung von modernen Smartphones, durch die das Internet in die Jackentasche gewandert ist und bei vielen zum ständigen Begleiter wurde. Wer persönlich betroffen ist, denkt vielleicht etwas mehr über die Konsequenzen von neuen Gesetzen nach. Aber ausreichend ist das immer noch nicht.

Medienpolitiker waren es in den vergangenen Jahrzehnten gewöhnt, Medien mit einem festen Raster zu regulieren. Wer über einen längeren Zeitraum mit einem Regulierungsrahmen arbeitet, wer vor allem in Rundfunkänderungsstaatsverträgen, Bundesländern und fest eingefahrenen Strukturen denkt, wird vor der Herausforderung stehen, vernünftige Regulierungen für ein transnationales Netz zu finden. Wenn auf einmal jeder zum Sender werden kann, ist die Komplexität etwas größer als wenn man eine beschränkte Anzahl von UKW- und Kabelfrequenzen zu vergeben und zu kontrollieren hat. Alleine schon die Frage, welches Bundesland für einen Server eines Nutzers aus Köln, der in einem Rechenzentrum in Nürnberg steht, verantwortlich ist, überfordert die meisten.

Diese Komplexität und das oft kaum vorhandene technische Wissen um die Entwicklungen im Netz nutzten in den vergangenen Jahren Interessenvertretungen der Industrie gerne aus. Kaum ein Tag vergeht in Berlin oder Brüssel, wo nicht zahlreiche Unternehmen, ihre Verbände oder von ihnen beauftragte Public-Affairs-Agenturen mit Veranstaltungen zum Thema um die Aufmerksamkeit und die knappe Zeit von Entscheidungsträgern ringen. In einer andauernden Berieselung werden nicht nur den Fachpolitikern Botschaften eingehämmert und Kontakte gepflegt, die dann bei zukünftigen Vorhaben genutzt werden, um für die eigenen Positionen zu werben. Doch auch wenn es immer wieder zu der überraschenden Erkenntnis kommt, dass braune Umschläge und schwarze Kassen nicht von allen Politikern abgelehnt werden, greifen Verschwörungstheorien zu kurz, um zu beschreiben, wie Entscheidungen entstehen.

Zwischen 2002 und 2005 lief auf internationaler Ebene ein Prozess rund um den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft der Vereinten Nationen. Erstmalig sollte bei diesem Gipfel ein Multi-Stakeholder-Prozess ausprobiert werden: Regierungen waren zu der Ansicht gekommen, dass ein Weltgipfel ohne diejenigen, denen die Kabel und Infrastrukturen gehörten, nicht möglich sei – und auch nicht ohne die Menschen, die diese digitale Gesellschaft bevölkern. Und so wurde mit der Einbindung zivilgesellschaftlicher Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen experimentiert und ausprobiert, wie man diese in festgefahrene diplomatische Strukturen und Verhandlungen einbinden konnte. Auch die Bundesregierung konnte sich nicht dagegenstellen. Und so kam es immer wieder zu Konsultationen im Wirtschafts- oder Außenministerium in Berlin, um mit Vertretern beider Akteure die aktuellen Themen der Debatte zu diskutieren. Konkret sah das so aus, dass die zivilgesellschaftlichen Vertreter um 15 Uhr in einen Raum gelassen wurden, wo die Ministerialvertreter bereits mit Siemens, Bitkom und den anderen IT-Industrievertretern an einem Tisch saßen. Jeder durfte mal etwas sagen. Dann mussten die neuen Besucher den Raum auch wieder verlassen, damit Industrie und Regierung weiter ihre Strategie planen konnten.

Spätestens nach der Debatte um das Zugangserschwerungsgesetz im Jahre 2009 hat sich die Politik etwas geöffnet. Zu Dialogrunden rund um Internet-relevante Themen in Familien- und Innenministerien werden teilweise auch nicht organisierte Vertreter der Zivilgesellschaft eingeladen, um die eigene Sichtweise zu vertreten. Der Chaos Computer Club kann sich vor Einladungen von Politikern, von Bundes- und Landtagsfraktionen und Ministerien kaum noch retten. Anderen geht es genauso. Dabei zu sein hilft zwar, die eigenen Netz-Positionen in Richtung Entscheider zu artikulieren, löst aber noch nicht das strukturelle Problem der Entscheidungsfindung.

Die Debatte um das Urheberrecht illustriert das Zustandekommen von Entscheidungen in Berlin. Im vergangenen Jahrzehnt hat die Bundesregierung bereits zweimal versucht, das Urheberrecht zu modernisieren. Der sogenannte dritte Korb, ein weiterer Modernisierungsversuch, hat zum Zeitpunkt, an dem dieses Buch entsteht, noch immer nicht richtig begonnen. Geht man zu den Anhörungen der Bundesregierung oder des Bundestags zu diesem oder einem anderen Thema der digitalen Welt, bietet sich das immer gleiche Bild: Dutzende Verbandsvertreter etlicher Urheberrechtsverbände, von Drehbuchautoren über die Verlage bis zu den Hollywood-Vertretern aus den USA, werben für die Ausweitung und eine damit einhergehende bessere Durchsetzung ihrer jeweiligen Rechte. Die Interessen der Nutzer werden so gut wie nie artikuliert. Sie kommen im Spannungsfeld zwischen Urhebern und Verwertern in den Debatten bisher zu kurz. Dass die Nutzer meist nur von Verbraucherzentralen und wenigen Einzelpersonen vertreten waren, hat vor allem einen Grund: Sie sind nicht ausreichend organisiert. Wer teilnehmen will, muss Zeit und manchmal auch Fahrtkosten organisieren. Fachwissen ist notwendig, das man sich nicht mal eben anlesen kann, Argumente wollen abgewogen und erörtert sein und Verbündete gefunden werden. Wenn sich auf den Tischen vor der Tür zahlreiche Stellungnahmen von Verbänden finden, die andere Interessen vertreten, hat dies denselben Grund.

Während die Teilnahme an Anhörungen zu diesem Thema in Berlin trotz einiger Hürden noch manchmal durchführbar ist, so wird dies auf anderen politischen Ebenen fast zu einer Mission Impossible. Unser Urheberrecht basiert auf der Europäischen Urheberrechtsrichtlinie, die auf EU-Ebene den Rahmen für die nationale Gesetzgebung schafft. Um etwas Grundlegendes zu ändern, muss man nach Brüssel. Aber auch die EU-Ebene hat das Urheberrecht nicht erfunden, sondern führt lediglich aus, was bereits vorher auf internationaler Ebene im Rahmen von Diskussionen bei der UN-Organisation World Intellectual Property Organization (WIPO) oder multilateralen Abkommen wie TRIPS oder aktuell ACTA diskutiert wurde. Wer dort mit am Tisch sitzt, entscheidet darüber, welchen Gestaltungsspielraum die untergeordneten politischen Instanzen überhaupt haben. Und bei den internationalen Verhandlungen sitzen die hochbezahlten Lobbyisten der Rechteindustrie selbstverständlich mit am Tisch. Einerseits, weil sie sich die Reisen und Spesen leisten können, andererseits, weil sie teils direkt von den jeweiligen Regierungen in die nationalen Delegationen geholt werden. Vertreter von Wissenschaft und Zivilgesellschaft bleiben in der Regel außen vor. Nicht nur wegen der Fahrtkosten für Treffen in Nairobi, Genf, Buenos Aires oder Washington. Sondern auch, weil sie kaum in die nationalen Delegationen aufgenommen werden. Nicht nur der deutsche Staat gibt lieber seinen Wirtschaftsvertretern eine Stimme als anderen Akteuren.

Dass die Positionen von Urhebern und Verwertern insbesondere von den oft federführenden Kulturpolitikern übernommen und dann vertreten werden, hat neben der Lobbydominanz vor allem einen Grund: Viele von ihnen kommen selbst aus dem Kulturbetrieb und werden tagtäglich während ihrer Arbeit oder von ihren ehemaligen Kollegen mit deren jeweiligen Wünschen und Forderungen konfrontiert. Morgens ein Gespräch im Abgeordnetenbüro, mittags ein Vortrag oder eine Podiumsdiskussion auf einem kulturpolitischen Kongress mit Urhebern und Verwertern, abends ein parlamentarischer Abend, dazwischen viel Post und Telefonate. Die Hauptmotivation der Kulturpolitiker besteht darin, etwas zur Förderung der Kulturschaffenden beizutragen. Wenn man ständig hört, dass eine Verschärfung und stärkere Durchsetzung von Urheberrechten diesen zugute kommen würde, verinnerlicht man diese Position irgendwann und denkt weniger darüber nach, ob es auch alternative Sichtweisen gibt. Und schon gar nicht mehr hinterfragt man grundsätzlich, ob das Urheberrecht in seiner derzeitigen Form überhaupt das tut, was es vorgibt zu tun – den Urhebern bei der Veröffentlichung ihrer Werke zu ihren Rechten zu verhelfen. Statt einen Schritt zurückzugehen und über den Wandel und sinnvolle Antworten nachzudenken, wird die normative Kraft des Faktischen beschworen: Weil es so ist, wie es ist, ist es richtig und muss genauso weitergehen. Das passiert, wenn man immer nur in seinem eigenen Mikrokosmos agiert.

Diese politische Bunkermentalität findet man auch bei Innenpolitikern, die sich mit Fragen der sogenannten Inneren Sicherheit beschäftigen. Wer oft mit Sicherheitsbehörden zu tun hat, hat ein nachvollziehbares Anliegen, die Beamten zu stärken und ihnen möglichst viele und umfangreiche Ermittlungswerkzeuge zur Bewältigung ihrer Aufgaben zur Hand zu geben. Dass diese Ermittlungswerkzeuge Auswirkungen auf Bürgerrechte haben könnten, spielt dabei weniger eine Rolle. Schließlich trifft man ständig glaubwürdig wirkende Beamte, denen man vertraut und die mehr oder weniger hochmotiviert mit ihrer Arbeit für Sicherheit sorgen wollen.

In der Debatte um das Zugangserschwerungsgesetz wurde dies deutlich. Die Einführung von Netzsperren wurde von Jugend- und Kinderschützern vehement gefordert. Diese Gruppe trifft sich auch regelmäßig. Sie sind hochmotiviert und engagiert, Wege zu finden, um Kinder und Jugendliche tatsächlich zu schützen. Da kann man in einzelnen Debatten aufgrund fehlender Technikkompetenz und damit einhergehender fehlender Technologiefolgenabschätzung leicht über das Ziel hinausschießen, wie es im Fall des Zugangserschwerungsgesetzes passierte. Die Motivation vieler Beteiligter wurde an einem in der Debatte allgegenwärtigen Mantra sichtbar: »Wenn nur ein Kind gerettet wird, ist diese Maßnahme sinnvoll.« Dass Sperren kein einziges Kind retten, aber vielen Kindern das Leben in der Welt von morgen erschweren könnten, war ihnen zu diesem Zeitpunkt meist schlicht nicht bewusst. Gleichzeitig gab es in der Debatte noch einige Player mit ganz anderen Motiven, allen voran der Interessenverband des Video- und Medienfachhandels Deutschland (IVD): Sein plötzliches engagiertes Auftreten war kaum der Ausdruck spontaner Kinderfreundlichkeit und Gemeinsinnorientierung, sondern Geschäftsinteresse. Mit Netzsperren als Zensurinfrastruktur hätte man vermeintlich den Zugang zu Kinderpornografie und später vielleicht auch Pornografie sperren und etwas Gutes tun können, das war die Theorie. Bei einem solchen ernsthaften Anliegen kann dann eine solche Theorie dazu führen, medienunkundige Politiker von Schnapsideen mit allerlei Nebenwirkungen zu überzeugen.

Die Debatte um Netzsperren hatte aber auch ein erfreuliches Ergebnis: Dadurch, dass unterschiedliche Akteure aus unterschiedlichen Welten, Jugendschützer, Politiker und Engagierte aus dem Netz zusammenkamen, wurde dann letztendlich ein besserer, effektiverer und mit deutlich weniger Kollateralschäden für die Freiheit behafteter Weg beschritten und das Ziel »Löschen statt Sperren« definiert.

Die vermeintliche Verschwörung der Fischminister

Im März 2005 erlangte ein bis dahin in der Netzöffentlichkeit weitgehend unbekannter Ausschuss im EU-Rat der Mitgliedsländer große Aufmerksamkeit: der Fischereiausschuss. In diesem Ausschuss treffen sich die Agrarminister der einzelnen EU-Mitgliedsländer zum Austausch. In der lange währenden Debatte um eine EU-Richtlinie zur Einführung von Softwarepatenten im europäischen Binnenmarkt hatte der EU-Rat seine Zustimmung in ebendiesem Ausschuss auf die Tagesordnung gesetzt. Sofort gab es zahlreiche Verschwörungstheorien, dass man damit die Abstimmung verheimlichen wollte oder den fachlich zweifelsohne nicht kompetenten Agrarministern unterjubeln wollte. Man redete sich die Köpfe heiß darüber, wie denn die Agrarminister ohne Hintergrundwissen dieses komplexe Thema diskutieren könnten, an dem selbst Fachleute oft scheitern. Wer nicht gleichzeitig von Software-Entwicklung und Patentwesen Ahnung hat, ist in solchen Debatten verloren – also fast jeder. Von einem Demokratiedefizit war vielerorts die Rede.

Die Realität war etwas simpler. Zwischen den Mitgliedsländern war die später vom EU-Parlament gekippte Richtlinie bereits fertig verhandelt, das Treffen der Agrarminister im Fischereiausschuss war einfach das nächste hochrangige beschlussfassende Treffen für den EU-Rat. Und so kam es, dass die damalige deutsche Agrarministerin Renate Künast als Vertreterin der Bundesregierung im Fischereiausschuss die EU-Richtlinie zur Patentierung von Software ohne Debatte abnickte. Die Wege der Politik sind manchmal rätselhaft und unverständlich. Aber wenn man die Regeln kennt und etwas über das Funktionieren von Politik weiß, dann kann man sie zumindest verfolgen. Viele der im Umlauf befindlichen Verschwörungstheorien sagen mehr über diejenigen aus, die sie in Umlauf bringen, als über die Realität.

Im Dezember 2011 überraschte die EU-Kommissarin für Digitales, die Niederländerin Neelie Kroes, die Öffentlichkeit mit einer Personalie. Karl-Theodor zu Guttenberg berate zukünftig die EU-Kommission in Fragen der Internetfreiheit und wie Internetnutzer, Blogger und Cyberaktivisten in autoritär regierten Ländern auf Dauer im Rahmen einer NoDisconnect-Strategie unterstützt werden können. Der über seine Doktorarbeit gestolperte Ex-Verteidigungsminister habe viele Talente und sei der richtige Mann für diesen Job. »Wenn jemand die Macht des Internets versteht und seine Macht, die Politik zu kontrollieren, dann ist es Karl-Theodor«, erklärte Neelie Kroes auf einer gemeinsamen Pressekonferenz. Nur schade, dass die interessierte deutsche Öffentlichkeit bisher noch nichts davon mitbekommen hatte. Nicht nur im Netz löste der neue Job für Guttenberg Erstaunen und massive Kritik aus. Viele fragten sich, warum und wodurch Guttenberg qualifiziert sei, zum Thema Internetfreiheit die EU-Kommission zu beraten. Dass jemand mit Hilfe von Internetnutzern beim Betrügen erwischt wurde, kann man ja wohl kaum als Kernqualifikation anführen. Außerdem waren von ihm bisher nur Forderungen nach einer weiteren Ausweitung von Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen im Netz zu hören – genau das, wovor er nun Blogger in repressiven Staaten schützen sollte.

Da die Entscheidung für viele rational nicht nachvollziehbar war, schossen auch hier wieder Verschwörungstheorien wie Pilze aus dem Boden. Beliebt war in diesem Zusammenhang die Legende der Bilderberg-Konferenzen, laut Wikipedia »informelle, private Treffen von einflussreichen Personen aus Wirtschaft, Militär, Politik, Medien, Hochschulen und (ehemaligem) Adel«. Kurz: ein Vernetzungstreffen von Freunden des transatlantischen Austauschs, wo Neelie Kroes und Guttenberg in den Vorjahren Gäste waren. Gut möglich, dass sie sich dort kennengelernt haben, vielleicht aber auch in einem anderen Zusammenhang. Immerhin war Guttenberg Chef zweier Bundesministerien, wenn auch nicht lange, und Neelie Kroes bereits mehrere Jahre EU-Kommissarin. Und ebenso gut möglich, dass die Ernennung von Guttenberg als EU-Berater für Internetfreiheiten auch langweilige Gründe hatte: Er kann gut Englisch, für deutsche Politiker keine Selbstverständlichkeit, hat viele Kontakte durch seine frühere politische Arbeit, er hatte gerade Zeit und verbrachte diese in Think-Tank-Kreisen in den USA, wo die Themen der »NoDisconnect«-Strategie der EU-Kommission als Netzfreiheits-Strategie der US-Regierung diskutiert werden. Guttenberg war für die Aufgabe kaum geeignet. Aber dahinter eine große Verschwörung zu wittern wäre unangemessen. Auch ohne dass jemand einen großen Masterplan entworfen hätte, begehen Menschen Fehler.

Problematisch sind manchmal auch Wechsel zwischen Politik und Industrie. Was in den USA für Politiker gängig ist, kommt auch in Deutschland und Europa in Mode. Wenn der frühere EU-Kommissar für Industriepolitik, Informationstechnik und Telekommunikation, Martin Bangemann erst für die Regulation des EU-Telekommunikationsrahmens zuständig ist und ein halbes Jahr nach seinem Ausscheiden in den Vorstand des spanischen Telekommunikationsanbieters Telefonica wechselt, wird ein Mangel an Lobbyregeln sichtbar. Hier sind deutlich längere Karenzzeiten sinnvoll, mindestens zwei Jahre, bevor ein Ex-Politiker zu einem Marktteilnehmer wechselt, für den er vorher als aktiver Politiker zuständig war. Ein anderes Beispiel liefert der parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Hans-Joachim Otto u. a. zuständig für den Bereich »moderne Informations- und Kommunikationstechnologien«.

Otto war kurz vor seinem Wechsel in die Bundesregierung nebenberuflich zu seiner Bundestagsabgeordnetentätigkeit Partner einer Kanzlei geworden und leitete dort für wenige Monate ein Beratungsteam rund um das Thema »Telekommunikation, Medien und Technologie«. Es ist ja grundsätzlich gut, wenn Politiker auch konkrete praktische Erfahrungen in ihre Arbeit einbringen können. Im Fall Otto ruht seine Partnerschaft zwar für die Zeit seiner Tätigkeit als Staatssekretär, es bleibt aber trotzdem ein Grundunwohlsein darüber, ob man in einem solchen Fall dauerhaft zwischen privatwirtschaftlichen Interessen und einer Aufgabe in der Bundesregierung trennen kann oder ob hier – und das muss nicht mal beabsichtigt sein – nicht ein zu großer Interessenwiderspruch besteht.

Politik ist menschengemacht, und die Entscheidungen, die in ihr getroffen werden, sind oft einfach nur falsch. Es ist sehr viel bequemer, sich Verschwörungstheorien einfallen zu lassen und nach Indizien hierfür zu suchen, als aktiv gegen Verfehlungen einzutreten, nach Fehlern zu suchen und diese öffentlich zu machen. Denn das ist unbequem. Von seinem Sofa aus auf Twitter oder Facebook zu artikulieren, dass man Politik grundsätzlich doof findet, kann ein Schritt in die Richtung sein, aber nur ein allererster. Doch es gibt positive Beispiele dafür, dass es sich lohnt, etwas weiter zu gehen und selbst die Geschicke in die Hand zu nehmen.

Mit wenigen Ressourcen viel erreichen

Anfang des Jahrtausends war die europäische Netzaktivisten-Szene noch überschaubar. Die ersten Schlachten rund um das Netz waren geschlagen, aber der lange Weg der Netzpolitik hatte gerade erst begonnen. Was fehlte, war eine bessere Vernetzung und Koordinierung der vielen Akteure. Im Frühjahr 2002 trafen sich Vertreter von rund zehn national agierenden Netz-Bürgerrechtsorganisationen im Chaos Computer Club in Berlin, um den Grundstein für ein europäisches Netzwerk der Aktiven zu legen: European Digital Rights (EDRi). Das Vorbild waren die USA, wo es eine Vielzahl von Organisationen wie die »Electronic Frontier Foundation« oder »Public Knowledge« geschafft hatte, Druck auf die Politik auszuüben und gleichzeitig als Ansprechpartner für Netzfragen zur Verfügung zu stehen. EDRi sollte fortan als Vernetzungsinstanz eine Plattform bieten, um sich europäisch besser zu koordinieren, voneinander zu lernen und allen eine Möglichkeit zu bieten, auf EU-Ebene mit einem gemeinsamen, europäischen »Hut« aufzutreten.

Seitdem ist das gut gelungen. 2011 hat EDRi 28 Mitgliedsorganisationen aus 18 europäischen Staaten, dazu kommen noch einige befreundete Organisationen mit Beobachterstatus. Der Weg dahin war nicht einfach: Die europäische digitale Bürgerrechtsszene besteht aus vielen kleinen, in der Regel nur national arbeitenden Organisationen und Initiativen mit wenig Geld und Aktivisten. Gleichzeitig waren die Aktiven lange Zeit überfordert mit der Vielzahl von Bürgerrechtseinschränkungen, die in Europa nicht erst seit 2001 diskutiert und eingeführt worden sind. Die vielen Freiwilligen, die sich ehrenamtlich für Netzpolitik engagierten, blieben in der Regel auf ihre Heimatländer beschränkt. EDRi lieferte aber das Netzwerk und Scharnier nach Brüssel.

Die größte Herausforderung war es, eine Finanzierung für ein Büro in Brüssel zu organisieren. Im Gegensatz zu den USA finden sich in Europa nicht unzählige Stiftungen, die ein zivilgesellschaftliches Engagement finanzieren, zumal die Kombination mit dem Themenfeld Netzpolitik noch weniger abgedeckt ist. Doch mittlerweile beschäftigt EDRi drei Personen in Brüssel, die als Ansprechpartner und Schnittstelle für EU-Kommission, EU-Parlament und verwandte Institutionen zur Verfügung stehen, politische Prozesse beobachten und sich als zivilgesellschaftlicher Player dort einmischen, wo es um Netzfreiheiten und digitale Bürgerrechte geht. Und das mit wachsendem Erfolg. EDRi ist zum Frühwarnsystem für netzpolitische Fragen auf der EU-Ebene geworden. Zudem kann man in frühen Stadien politischer Prozesse noch mehr bewegen und das Schlimmste verhindern, als wenn der Zug schon mit voller Fahrt rollt. Ein Beispiel verdeutlicht dies: 2009 war das Jahr der Diskussion über Netzsperren und das Zugangserschwerungsgesetz. Gegen Ende des Jahres schien die Diskussion vorüber, das Vorhaben wurde auf Eis gelegt, eine gesellschaftliche Debatte über bessere und grundrechtsfreundlichere Alternativen war in Deutschland im Gange. Ende gut, alles gut? Vollkommen unerwartet meldete sich die EU. Innenkommissarin Cecilia Malmström kündigte eine EU-Richtlinie zum Schutz von Kindern an, die auch wieder den umstrittenen Vorschlag der Netzsperren enthielt, der verbindlich für alle Mitgliedsstaaten sein sollte.

Alles wieder zurück auf null? Es begann der übliche Richtlinien-Prozess auf EU-Ebene, fernab der interessierten und uninteressierten (Netz-)Öffentlichkeit. Während zuvor die Zensursula-Debatte sehr viele Blogger motiviert hatte, sich zu engagieren, spielte der EU-Prozess für fast niemanden eine Rolle. Außer für EDRi und einige Einzelpersonen, allen voran Christian Bahls. Bahls hatte während der Netzsperren-Debatte in Deutschland die Initiative MOGiS – »MissbrauchsOpfer Gegen InternetSperren« gegründet, aus der später »MOGiS e. V. – Eine Stimme der Vernunft« wurde, und sich eingemischt. Während der EU-Debatte reiste er regelmäßig nach Brüssel, um etwas zu tun, wozu sonst keiner Lust hatte: einfach mal an die Türen von Abgeordneten klopfen und sich als Ansprechpartner anbieten, um Bewusstsein für die politischen Folgen der Netzsperren-Debatte zu schaffen und Hintergründe für eine effektivere Bekämpfung von Kinderpornografie zu liefern. Bahls stand jedoch vor der Herausforderung, seine Reisen zu refinanzieren, und rief daher oft zu Spenden in seinem Blog und auf Twitter auf – mal mit mehr und meist mit weniger Erfolg. Es ist ihm und einer Handvoll anderer Personen zu verdanken, dass die Netzsperren zwar letztendlich nicht ganz aus der Richtlinie hinausgeflogen sind, aber zumindest in der Endfassung nicht mehr verpflichtend für alle EU-Mitgliedsstaaten gelten.

Vieles läuft noch nicht so optimal, wie man sich das wünschen möchte. Politische Prozesse sind manchmal schwer zu durchschauen. Die Macht einiger Lobbys ist groß. Teilweise haben sie über Jahrzehnte aufgebaute Kontaktnetze und ausreichend Manpower in Form von bezahlten Lobbyisten. Aber viele Beispiele aus der Netzpolitik-Welt zeigen auch: Einzelne hochmotivierte Menschen und Netzwerke können jetzt schon ehrenamtlich in ihrer Freizeit eine Menge erreichen, wenn man sich aufrafft und sich engagiert, statt nur herumzumeckern. So wie es in Parlamenten, Regierungen und Ministerien oft Einzelne sind, die Dinge vorantreiben, so sind es Aktivisten wie Jörg-Olaf Schaefers, Alvar Freude, Christian Bahls, der Franzose Jeremie Zimmermann oder die Aktiven des CCC, die mit ihrer akribischen Arbeit immer wieder schlechte Politik verhindern und die Verantwortlichen in Richtung einer besseren digitalen Gesellschaft vor sich hertreiben.

Viele Erfahrungen zeigen auch, dass Politikerinnen und Politiker sich oftmals freuen, wenn ihnen technische Hilfe angeboten wird und wenn man das Gespräch sucht – sei es in ihren Wahlkreisbüros oder in den Parlamenten. Oftmals steckt hinter ihrem Handeln keine Bösartigkeit, sondern sie wissen es nicht besser. Dies zu ändern ist eine Hauptherausforderung in der Netzpolitik der kommenden Jahre. Der Anfang ist gemacht. Aber nicht nur für die Politik gilt die Maßgabe, dass Verschwörungstheorien im Regelfall besser zuhause gelassen werden sollten, wenn man ernsthaft etwas bewegen will.

Warum man Wirtschaftsvertretern zuhören sollte

Unternehmen sind in unserer sogenannten sozialen Marktwirtschaft eine der Säulen, auf denen die Gesellschaft ruht. Wer sich mit Politik beschäftigt, stößt immer wieder auf ein Phänomen: Wirtschaftliche Interessen treffen auf ein offenes Ohr bei Politikern. Ob als Einzelunternehmen oder im Verband, die Wirtschaft ist eine Macht, gegen die sich schlecht regieren lässt. Sie zahlt Steuern, hat Angestellte und Arbeiter, die Wähler und ebenfalls Steuerzahler sind.

Das liegt nicht zuletzt daran, dass Unternehmen genau wissen, wie relevant Politik für sie ist. Von harten Fakten wie der Frage, wie Unternehmen besteuert werden und welchen rechtlichen Verpflichtungen sie nachkommen müssen, bis hin zu Genehmigungsverfahren und Standortentscheidungen: Unternehmen haben ein ureigenes Interesse an politischen Entscheidungen und Prozessen. Und auf der anderen Seite haben Politiker ein ausgeprägtes Interesse an wirtschaftlichem Erfolg von Unternehmen: Wenn die Wirtschaft floriert, profitieren davon auch die Wähler, die in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen leben, und der Staat, der von Steuerzahlungen profitiert. Der Staat selbst ist auch Auftraggeber für die Wirtschaft, und unter den Auftraggebern einer der Angenehmsten: mit hoher Wahrscheinlichkeit bezahlt er früher oder später die anfallenden Rechnungen, er kann weder weglaufen noch wirklich pleitegehen. Das ist, verkürzt dargestellt, der Grund, warum zwischen Politik und Wirtschaft ein enger Austausch stattfindet – manchmal ein zu enger.

Nun sind wirtschaftliche Interessen nicht per se schlecht für die Allgemeinheit. Im Gesamtgefüge unserer Gesellschaft ist es wichtig, dass Wirtschaft funktionieren kann. Und – so die Grundidee der Marktwirtschaft – es ist auch vollkommen legitim, mit Dienstleistungen und Produkten Geld zu verdienen, Profite zu erzielen.

Doch wenn es um die Frage der digitalen Gesellschaft und deren Ausgestaltung geht, dann ist die Beziehung eine ganz besondere. Wir haben ja bereits ausführlich dargestellt, dass die Politik im Bereich der Digitalisierung zumindest in der Vergangenheit keineswegs so leistungsfähig und kompetent agierte, wie man sich dies hätte erhoffen können. So gibt es eine Vielzahl gescheiterter IT-Großprojekte, die aus Steuermitteln bezahlt oder per Gesetz angeordnet wurden. Die Ideen für diese Großprojekte kamen manchmal aus der Politik, manchmal aus der Wirtschaft. Ob Lkw-Mautsystem, ob IT-Modernisierung der Bundeswehr (»Herkules«), ob der Elektronische Entgeltnachweis ELENA, der »neue« elektronische Personalausweis, der digitale Behörden- und Organisationenfunk BOS, die Modernisierung der Arbeitsagentur-IT-Systeme – deren Datenverarbeitungssystem bis zur Überarbeitung ab 2003 aus den 1960ern stammte – oder die elektronische Gesundheitskarte (eGK), die Arbeitslosengeld-II-Lebensunterhaltsleistungen A2LL, oder die Finanzverwaltungssoftware FISCUS: Fehlschläge, nicht funktionierende Software, Preisexplosion und jahrelange Verzögerungen, die die IT-Projekte zum Erstanwendungszeitpunkt schon wieder veraltet sein lassen, sind häufige Ergebnisse dieses Austausches. Viele von ihnen sollten als so genannte Public Private Partnership, als Gemeinschaftsunternehmen von Wirtschaft und Staat, betrieben werden. Die Wirtschaft finanziert bei diesen Modellen im Regelfall vor, der Staat zahlt dann im Rahmen einer bestimmten Laufzeit zurück und gibt meist noch einiges obendrauf. Doch warum ist so oft so viel schiefgegangen, wo doch die gemeinsame Expertise von Wirtschaft und staatlichen Stellen ein Scheitern hätte unmöglich machen sollen?

Der Grund dafür liegt in der Ahnungslosigkeit vieler Politiker. Wirtschaftsvertreter sind oft in der Lage, mit großen Plänen und komplexen Strukturtabellen zu suggerieren, dass sie eine Lösung für ein Problem hätten. Oft glauben sie das wahrscheinlich auch selbst – nur: In Ermangelung von Fachkenntnis sind Politiker bei all diesen Fragen häufig nicht skeptisch genug, nicht in der Lage, mit den richtigen Fragen die Schwachstellen von Konzepten zu ergründen. Es herrscht ein Ungleichgewicht – so, als ob Ihnen ein Bankberater eine Anlageform als »wenig riskant« empfiehlt und Sie aber überhaupt keine Ahnung vom Gegenstand und seinen Risiken haben. Für die IT-Wirtschaft bedeutet dies Aufträge, für die verantwortlichen Politiker bedeutet dies meist nichts. Denn bis Projekte mit teils zehnjähriger Laufzeit umgesetzt werden, sind sie oft schon über alle Berge und in anderen Bereichen unterwegs.

Die IT-Wirtschaft gehört zu den Kuscheltieren der deutschen Politik. Und sie kuschelt gern zurück. Es gibt eine Vielzahl von Veranstaltungen, Vereinen und Formaten, in denen die IT-Wirtschaft der Politik zu Leibe rücken darf. Da gibt es zum Beispiel den »IT-Gipfel der Bundesregierung«. Er findet seit 2006 jährlich statt und das offizielle Ziel lautet: Stärkung des IT-Standortes Deutschland. Auf dieser Veranstaltung dürfen sich Wirtschaft und Regierung wechselseitig auf die Schultern klopfen und ihre Forderungen an die jeweils andere Seite postulieren. Diese Veranstaltung glänzt vor allem durch eines: Sie ist kritikfreie Zone, ein inszeniertes Branchen-Schaulaufen. Nichts soll den schönen Schein des erfolgreichen IT-Landes schmälern, Kratzer im Lack sind auf dem Gipfel wie in den Vorbereitungstreffen auf Arbeitsebene kaum erwünscht. Und wenn dann doch mal ein Thema umstritten ist, wird nach diplomatischem Verfahren entweder darüber geschwiegen oder fröhlich darüber hinweggefloskelt.

Diese teils seltsamen, symbiotisch-parasitär anmutenden Formen des Auf-dem-Schoß-Sitzens sind die eine Seite des Verhältnisses von Politik und IT-Wirtschaft. Die Wirtschaft will Geld verdienen und die Politik sich im Glanze des Erfolges eines Wirtschaftszweiges sonnen, so das Gentlemen Agreement. So weit, so einfach. Nur: Kann das gut sein? Wie eng sollten diese Bereiche wirklich kuscheln? Läuft die Politik bei all dem nicht Gefahr, gnadenlos übervorteilt zu werden – und am Ende steht als Dummer der Bürger und Steuerzahler da?

Groß und bekannt in der deutschen IT-Wirtschaft, sind oftmals Konzerne oder Töchter dieser Unternehmen. Historisch stammen sie aus den klassischen Dienstleistungssparten: Infrastruktur- und Kommunikationstechnik, Beratung und Großrechnerbetrieb. Doch ist das tatsächlich noch die »Digitalwirtschaft« im weitesten Sinne? Oder ist es nicht vielmehr nur ein kleiner Ausschnitt aus der Vielfalt der Unternehmen? Tatsächlich sind bereits heute – und das wird in der Zukunft immer mehr zum Normalfall werden – große Teile der Wirtschaft mit dem Netz verknüpft. Sie alle sind Teil der Internetwirtschaft, erkennen aber oft noch nicht, wie sehr sie von digitalen Strukturen abhängen. Wenn sie dies eines Tages begreifen, wenn Politiker aufhören nur mit den IT-Großunternehmen zu reden und sich stattdessen auch mit kleinen und mittelständischen IT-Unternehmen intensiver über die grundsätzlichen Aspekte der digitalen Gesellschaft unterhalten, wird diese Inzucht automatisch ein Ende finden.

Wenn man sich regelmäßig und ausführlich mit Unternehmensvertretern über die großen Fragen der Digitalisierung unterhält, stellt man oft mit einem gewissen Erstaunen fest, dass manche von ihnen durchaus ein Gewissen haben und die Profitorientierung ihres Arbeitsgebers zumindest für einen Moment hinter die gesamtgesellschaftlichen Interessen und die damit verbundenen Fragen stellen können. Viele Unternehmen leiden unter dem mangelnden Verständnis von Politikern für die Fragen der Digitalisierung genauso, wie es die informierten Bürger tun. Als Ursula von der Leyen ihre Stoppschilder im Internet einführen wollte, waren es nicht zuletzt die Internetprovider, die laut aufschrien – mit Ausnahme weniger Großkonzerne. Die Internet-Provider wissen, wie das Netz funktioniert und was Eingriffe in seine Infrastruktur bewirken können. Wer sich tagtäglich mit dem Netz beschäftigt, kommt früher oder später an den Punkt, an dem er in Rage gerät, weil Politiker vor lauter guten Absichten die vermeintlich einfache Lösung wählen wollen, ohne zu verstehen, um was es wirklich geht und was die Folgen sind.

Medien sind auch nur Menschen

Nicht nur Politiker haben gerne einfache Antworten auf komplexe Fragen, von denen sie nicht wirklich etwas verstehen. Auch Journalisten berichten gerne über Themen, von denen sie keine Ahnung haben. Zum Beispiel im Fernsehen, in Sendungen wie dem ›Morgenmagazin‹. Sie haben drei oder vier Stunden Zeit, sich ernsthaft in ein Thema einzuarbeiten, Experten zu finden und Interviews zu führen. Das führt oft zu sachlich falschen Ergebnissen. Das ist allein schon den Arbeitsbedingungen geschuldet.

Tatsächlich lässt sich in den Redaktionen fast aller Medien im Hinblick auf die digitale Gesellschaft dasselbe beobachten wie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Es gibt diejenigen, die eine Ahnung davon haben, dass wir mitten in einem radikalen Umbruch unserer Gesellschaft stecken. Und es gibt diejenigen, die damit nichts anfangen können, denen die Themen fremd sind und die sich eigentlich nur wünschen, dass alles bleibt, wie es war. Dieser Bruch geht quer durch alle Medienformen, -häuser und betrifft alle Medienmacher. Es ist keineswegs eine reine Altersfrage: Der Mitherausgeber der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ Frank Schirrmacher beispielsweise versucht am Puls der Zeit zu sein und räumt in seiner Zeitung regelmäßig einigen Themen der Digitalisierung Platz ein. Als der Chaos Computer Club im Oktober 2011 eine Software zugespielt bekam, die sich im Nachhinein als bayerischer Landestrojaner entpuppte, ließ er den CCC-Sprecher Frank Rieger nicht nur auf mehreren Seiten die Funktionsweise und Fehlerhaftigkeit der Software erklären. Er räumte Rieger auch den Platz ein, aufzuzeigen, warum dieser Trojaner seiner Ansicht nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für eine Onlinedurchsuchung widerspricht. Die ›Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung‹ machte mit der Enthüllung auf – hätte es sich im Nachhinein als Ente herausgestellt, hätte Schirrmacher wohl den Hut nehmen müssen.

Doch es gibt auch andere Journalisten. Sie versuchen, gegen das Netz und die Digitalisierung anzuschreiben. Ihnen fehlt jegliche Offenheit für den Gedanken, dass man das Netz auch großartig finden kann und dass die digitale Gesellschaft eine Chance bietet, überkommene und zweifelhafte Gewohnheiten über Bord zu werfen. Es ist ihnen nicht zu verdenken, denn für sie ist das Netz eine doppelte Bedrohung: Zum einen kratzten die Abwanderung von Anzeigen und das neue Leseverhalten an der wirtschaftlichen Basis ihrer Profession im althergebrachten Sinne. Und zum anderen fürchten sie um ihre Meinungs- und Deutungshoheit, um ihren Status. Wenn jedermann ins Netz schreiben, seine Meinung äußern und jeden – ob fundiert oder nicht – kritisieren kann, dann schwindet das, was für einige den Job so attraktiv macht: Meinungsführerschaft. Konnten Journalisten früher durchaus für sich in Anspruch nehmen, dass sie die exklusive Rolle als Mittler zwischen dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschehen und den normalen Bürgern ausfüllen würden, tritt heute eine viel direktere Kommunikation neben diese Funktion.

Früher konnten Journalisten zum Beispiel Filmrezensionen verfassen, ohne dass sie den Film gesehen hatten. Heute dauert es nur wenige Stunden, bis ihnen die Nutzer im Internet Fehler nachweisen. Es gibt immer jemanden, der sich besser mit etwas auskennt. Früher nahm derjenige sich manchmal die Schreibmaschine vor und verfasste einen Leserbrief, der, wenn überhaupt, oft nur in Auszügen abgedruckt wurde – Tage später. Heute stehen solche Kommentare unmittelbar und oft für die Ewigkeit direkt bei einem Artikel.

Das ist Gleichmacherei – aus Sicht der Nutzer eine manchmal begrüßenswerte, aus Sicht mancher Journalisten eine Entwertung ihrer Arbeit und eine Erniedrigung. Manche Journalisten definieren sich nicht über das, was sie schreiben, in Mikrofone sprechen oder vor der Kamera äußern, über die Inhalte. Sie definieren sich über das mit dem Status »Journalist« verbundene Image. Für diese Journalisten brechen zweifelsohne harte Zeiten an. Aber alle Kritiker zwingen uns auch immer wieder dazu, über die digitale Gesellschaft und ihre Ausgestaltung nachzudenken. Sie sind hilfreiche Bremsklötze auf der rasanten Fahrt in eine neue Welt. Für diese Rolle verdienen sie Respekt und Zuneigung. Journalisten sind die Chronisten ihrer Zeit, aber sie sind auch ganz normale Menschen, die einem ganz normalen Beruf nachgehen und auch nur mit Wasser kochen.

Politiker wissen es oft nicht besser

Das gilt auch für Politiker. Tatsächlich erleben viele erst durch das Internet, dass medienvermittelte Kommunikation nicht Talkshowformat haben muss. Peter Altmaier, CDU, alter Hase im Politbusiness, Bundestagsabgeordneter seit Mitte der 1990er. Und trotzdem konnte er im Herbst 2011 etwas Neues lernen: Er meldete sich bei Twitter an, jenem Dienst, auf dem Menschen in 140 Zeichen miteinander Nachrichten und Meinungen austauschen. Zum Vorschein kam ein anderer Peter Altmaier als der, den die Bürger aus Talkshows bereits kannten: einer, der nicht nur darauf aus ist, seine Sicht der Dinge zu verbreiten. Sondern einer, der erreichbar ist, auf Nachrichten anderer Twitterer reagierte. Ein nachdenklicher Mensch, der schlagfertig und gewitzt seine konservativen Positionen vertritt. Altmaiers Twitterbeiträge sind so, wie der Mensch dahinter wohl ebenfalls ist, sagen andere, die ihn schon lange kennen. Das gibt es auch bei anderen Politikern. Der langjährige Vorsitzende der schleswig-holsteinischen SPD Ralf Stegner zum Beispiel nutzt Twitter schon seit mehreren Jahren. Was er dort schreibt, wie er sich gibt, auch das wirkt authentisch – aber sicherlich keineswegs immer sympathisch für viele seiner Leser.

Kann das Netz leisten, was Funk und Fernsehen, ›Bild‹ und ›Spiegel‹ nicht geschafft haben – die Politiker so erscheinen zu lassen, wie sie sind? Fehlbar, aber auch menschlich, manchmal arrogant und manchmal charmant? Hier gilt, was stets für das Netz gilt: Es bietet eine Plattform für all jene, die mit dem Medium Chancen verbinden. Und über kurz oder lang wird es jene bestrafen, die sich der Kommunikation grundlos verweigern. Das Netz verschiebt die Grenzen der politischen Kommunikation, ohne sie einzureißen, in eine andere Richtung. Ob das gut ist? Wir werden sehen. Was aber auf keinen Fall schadet: dass Politiker nun direktes Feedback und Expertise suchen können und diese, auch ungefragt, bekommen. Insbesondere für die Netzpolitik gilt: Manche Politiker sind lernwillig und lernfähig. Sie sind bereit, den Menschen zuzuhören, die ihnen etwas zu sagen haben. Zumindest, solange diese sich nicht im Ton vergreifen. Und können sich dabei von einer technisch kaum beschränkten Menge von Menschen über die Schulter schauen lassen.

In allem steckt heute – und wir hoffen, wir haben das aufzeigen können – in unterschiedlichem Maße etwas Digitalisierung. Mal mehr, mal weniger. Kann man das ausblenden? Kann man daran vorbeigehen? Keine Chance. Wenn wir die Netzpolitik der vergangenen Jahre betrachten, kommen wir immer wieder zu dem Schluss, dass vieles gut gemeint und schlecht gemacht war. Die Bereitschaft, über den Tag hinaus zu denken, sich den grundsätzlichen Fragen eines Zusammenlebens in einer digitalen Gesellschaft zu stellen und dafür vielleicht auch liebgewonnene Gewissheiten zurückzustellen, sie war lange nicht vorhanden. Doch sukzessive wird sich die Politik diesen Fragen stellen. Mit jeder Legislaturperiode rücken jüngere Politiker nach. Sie bringen ihre eigene Lebenswelt mit – und das ist oft nicht mehr die der alten Sicherheitspolitiker oder anderer strukturkonservativer Technikignoranten. Sondern die von Menschen, die sich bewusst werden, dass sie als Abgeordnete und Verantwortungsträger nicht nur für ihren Wahlkreis zuständig sind. Dass ihre politischen Entscheidungen in einer digitalen Gesellschaft auch an anderen Stellen des Planeten Wirkung entfalten, dass wir mit der digitalen zugleich auch eine globale Gesellschaft werden und dass wir, wenn wir die Werte Demokratie und Freiheit ernst nehmen, sie nicht auf dem Scheiterhaufen der Tagespolitik und kurzfristiger politischer wie wirtschaftlicher Interessen opfern sollten.