6. Sandra
März 2011
Sandra hat sich in Los Angeles, genauer gesagt in Santa Monica, in der 2nd Street direkt hinter der Ocean Avenue, gut eingelebt. Von ihrer Wohnung sind es nur einige hundert Meter, bis sie den schmalen Parkstreifen entlanglaufen kann, der zwischen der Straße und dem Abhang zum Palisades-Beach verläuft. Es ist ihr wie viele anderen zur Gewohnheit geworden, hier noch vor dem Frühstück eine Runde zu joggen. Ein leichter Wind weht häufig vom Meer, sodass der Verkehr auf der nahen Straße nicht stark stört. Die oft nur in Papier oder alte Decken eingewickelten Obdachlosen, die unter einem Baum übernachten und oft schon (oder noch) am Morgen betrunken sind, waren für sie in diesem vornehmen Teil der Stadt anfangs ein fast unverständliches Phänomen. Inzwischen sind sie für Sandra genauso selbstverständlich wie der herrliche Blick auf den Strand und der aus Holz gebaute Santa Monica Municipial Pier, der einige hundert Meter in die Bucht hinausreicht, wo sich Einheimische und Touristen tummeln, in Boutiquen einkaufen, etwas essen, oder nur in der Sonne ausrasten.
Sie kennt die meisten alten Männer, die auf dem Steg den ganzen Tag geduldig in der Sonne sitzen und ihre Angel nur so zum Zeitvertreib ins Wasser halten, um irgendwann mit einigen winzigen Fischchen nach Hause zu gehen. Manchmal, wenn sie Lust und genug Zeit hat, läuft sie vom Park auch hinunter, am Strand entlang, oder schwimmt ein paar Minuten im kalten Wasser des Pazifiks. Sie fühlt sich gesund und fit und merkt auch immer wieder anerkennende Blicke, die ihr folgen.
Mit
ihrem Job als Leiterin der Personalabteilung bei einer der größten
Banken ist sie recht zufrieden, vor allem, weil man mit ihr so
zufrieden ist. Sie gilt als die beste Personalchefin, die man je
hatte. Alle wundern sich über ihr ungewöhnliches Geschick mit
Menschen und ihr Gehalt wurde schon mehrmals, ohne dass sie darum
bitten musste, deutlich erhöht. Man will dieses Juwel schließlich
nicht verlieren.
Sandra weiß natürlich, warum sie so gut ist: Sie ist Emotiopathin. Sie kann intuitiv die Stimmung anderer Menschen erspüren, auch kleinste Stimmungsumschwünge, Zuneigungs- oder Angstgefühle, Erregungszustände, Begeisterung, Langeweile usw. registrieren.
Es gab Zeiten1, da sie mit ihren Fähigkeiten in wichtigeren Positionen tätig war. Damals, vor über sieben Jahren bei der PPU, der Para-Psychologischen Unit der EU.
Klaus Baumgartner, Chef der PPU, hatte damals auf Wunsch des Leiters der EU-Kommission eine geheime Gruppe von Para-Begabungen für »Sondereinsätze« aufgebaut. Manchmal denkt Sandra mit ein bisschen Wehmut an die Tage, wo sie sich ganz wichtig fühlte, so als würde sie ganz oben in der Politik mitmischen, mit schwindelerregenden Aussichten, als sie zum Beispiel mit dem Vorsitzenden der Kommission und einigen ihrer Kollegen bei internationalen Verhandlungen teilnahm und durch das Erkennen der Gefühle der Verhandlungspartner für ihre Seite große Vorteile herausarbeiten konnte oder als sie bei der unblutigen Beendigung von Flugzeugentführungen entscheidend mithalf.
Aber dann begann alles danebenzulaufen. Klaus, den sie immer sehr geschätzt hatte, der als »Späher« die Fähigkeit besaß, andere Para-Begabungen zu orten, war auf Marcus, einen mächtigen Telekineten, gestoßen. Es war Klaus‘ Aufgabe, Marcus für die PPU zu gewinnen.
Marcus wollte sich aber politischen Zielen trotz großzügiger Angebote nicht unterordnen. Wie wenig sie ihn damals verstand, obwohl sie doch einen Teil seiner Gefühle lesen konnte, wundert sie noch heute. Als sich Marcus weigerte, bei der PPU mitzumachen, zeigten die vorgesetzten Politiker von Klaus Baumgartner ihr wahres Gesicht. Sie beschlossen, gegen den Widerstand von Klaus, Marcus zu töten. Marcus konnte zwar fliehen (zur Erleichterung der ganzen PPU!) und wurde später offiziell für tot erklärt, nur kam er tatsächlich wenig später mit seiner offenbar auch para-begabten Partnerin Maria bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
Erst durch die Vorgangsweise gegen Marcus wurde es Klaus und seinen Mitarbeitern klar, dass sie alle als nützliche, aber auch gefährliche »Mutant«, als »Ungeheuer«, betrachtet werden. Vorher wollten sie Marcus‘ Warnungen nicht glauben. Klaus hat sie dann versteckt gewarnt: Er selbst war durch einen sehr rigiden Vertrag mit der EU-Kommission noch auf Jahre verpflichtet und wurde genau überwacht, aber seine Mitarbeiter hatten mehr Flexibilität.
1 Mehr dazu in »XPERTEN - 1: Der Telekinet« [3].
Sie setzte sich sofort nach der Warnung mit einer neuen Identität ab. So wurde damals aus Sandra Hill Sandra Baker, aus einer Engländerin eine Amerikanerin, die aus Boston nach Los Angeles übersiedelte, wo sie nach langem Nachdenken doch beschloss, ihre Para-Begabung wieder vorsichtig für einen Job einzusetzen. Es standen ihr ungezählte Alternativen offen, sie hätte sicher sehr gut Immobilien oder andere große Objekte verkaufen können, weil sie immer auf die Stimmung der potenziellen Käufer hätte eingehen können ... Aber sie empfand das nicht als fair. Sie hätte eine erstklassige psychologische Beraterin abgeben können, aber hatte auch da Bedenken. Schließlich gründete sie ein Personalvermittlungsunternehmen. Damit wurde sie, wenig überraschend, so durchschlagend erfolgreich, dass man in Chefetagen auf sie aufmerksam wurde. Schließlich kaufte die Bank ihr Unternehmen zu unwiderstehlich guten Bedingungen mit der Auflage, dass sie auch die Personalberatung der Bank übernehmen müsste. Und diese Aufgabe trat dann im Laufe der Zeit immer mehr in den Vordergrund.
Jedenfalls wird Sandra durch den Verkauf ihrer Firma finanziell unabhängig und hat nun außerdem einen interessante Aufgabe bei der Auswahl und Betreuung von tausenden von Menschen. Sie hat in den letzten Jahren ihre Fähigkeiten immer mehr geschärft. Sie kann jetzt einwandfrei feststellen, wenn jemand lügt oder etwas verbergen will, aber auch in welchem Bereich sich jemand Sorgen macht oder sich besonders sicher fühlt.
Sandras Leben verläuft nicht problemlos. Da sind etwa ihre Zweifel, ob sie das Richtige tut, wenn sie ihre Para-Fähigkeit nur beschränkt und für relativ alltägliche Aufgaben einsetzt, aber nicht auch dort, wo sie damit sehr wesentlich helfen könnte ... allerdings mit der Gefahr, wieder als Para-Begabung erkannt zu werden. Sehr deutlich wird das für sie, als sie einmal als Geschworene vom Anfang an weiß, dass der Angeklagte unschuldig, ist aber einer der Hauptzeugen der Täter. Das Verfahren läuft dann so unglücklich, dass sie nur mit allergrößter Anstrengung die Verurteilung des Angeklagten verhindern kann, der wahre Täter aber wird nicht überführt. Wie viele Fehlurteile bis zu Hinrichtungen hätte sie schon verhindern können? Und sie kennt niemanden, mit dem sie die komplexe Problematik - Verantwortung gegenüber der Gesellschaft versus Verantwortung gegenüber sich selbst - diskutieren kann!
Ein zweites, weniger philosophisches, aber persönlicheres Problem bedrückt Sandra fast noch mehr. Sie ist jetzt knapp über 30, eine hübsche, fitte, erfolgreiche Frau. Sie wünscht sich einen Partner, ist aber außerstande eine Beziehung einzugehen. Die Tatsache, dass sie bei jedem Treffen die Gefühle des Gegenübers bis zu feinen Nuancen empfindet, ob sie will oder nicht, ist eine unüberbrückbare Hürde. Da sitzt sie also etwa beim ersten Abendessen mit einem sympathischen Gegenüber und merkt, dass er seine Gefühle zu ihr mit jenen zu einer anderen Frau vergleicht.
Auf die Frage: »Denkst du an jemand anderen?«, ist die Antwort stets eine Lüge.
Sandra
hat zwar gelernt, dass sie manche Fragen einfach nicht stellen
darf, aber es nützt nichts. Es ist furchtbar, wenn sie merkt, wie
ihr Partner sie interessiert ansieht, aber wenn ein junges Mädchen
im Mini vorbeigeht, denselben Mann eine Welle der Erregung
überflutet. Es ergeben sich Situationen, an die man zunächst gar
nicht denken würde. Sie empfängt das Gefühl: »Wäre ja nett, mit der
eine Nacht zu verbringen, aber meine Freundin verlasse ich deswegen
nicht«; sie registriert eine Veränderung der Begeisterung bei
kleinen Äußerungen von ihr oder während der Blick des Mannes von
ihren Augen bis zu den Schuhen wandert, sie merkt, wie sie
zentimeterweise »vermessen« wird: Das ist super, das ist gut, das
geht ...
Gerade wenn das dem Partner gar nicht bewusst ist, wird es dadurch noch schlimmer. Und berührt man sich erst, küsst man sich, dann kann sie immer nur halb bei der Sache sein, weil sie Gefühle empfängt, die wie in einer Rückkopplung ihre Reaktionen beeinflussen - es ist furchtbar. Sandra ist nur froh, dass sie wenigstens nicht die genauen Gedanken erkennen kann, sondern nur die Gefühle, aber sie wünscht sich immer wieder, dass sie ihre Begabung wenigstens manchmal abschalten könnte.
Als Sandra an einem verregneten Tag nicht joggen geht, sondern stattdessen kurz in die Santa Monica Mall, kommt sie in eine Drogerie, wo sie des Öfteren Kleinigkeiten besorgt. Diesmal steht eine ihr unbekannte auffallend hübsche Frau etwa ihres Alters bei der Kasse.
»Neu hier?«, meint sie freundlich.
Die Frau lächelt: »Nicht wirklich, mir gehört das Geschäft; eine der Verkäuferinnen ist heute krank, drum springe ich ein.«
Sandra spürt Gefühle der Freundschaftlichkeit, der Gelassenheit und der Selbstsicherheit von der Besitzerin ausgehen.
»Haben Sie das alles selbst aufgebaut oder wie schafft man es, einen so tollen Laden zu besitzen? Muss man dazu nicht halber Millionär sein?«, scherzt Sandra. Zu ihrer Verblüffung reagiert die Besitzerin auf diese Aussage mit ganz heftigen Gefühlen.
Nun wird Sandra neugierig: »Sie haben das Lokal geerbt?«
»Ja«, sagt die Besitzerin.
Sandra weiß, dass sie lügt. Aber auch ein anderes Gefühl registriert sie, so etwas wie Trauer, Nostalgie, Dankbarkeit an irgendjemanden.
»Entschuldigen Sie meine Neugier«, sagt Sandra vorsichtig und wagt einen Schuss ins Blaue: »Ich habe einmal das Glück gehabt, dass mir ein guter Freund beruflich sehr geholfen hat, und da habe ich einen Moment gedacht, dass wir vielleicht Ähnliches erlebt haben.« Sandra merkt den Stimmungsumschwung, eine plötzliche Welle des Interesses.
»Also ich finde Sie nicht neugierig. Es ist doch nett, wenn man sich ein bisschen unterhält. Ich bin Monika«, sagt die Besitzerin und streckt die Hand aus.
»Sandra«, stellt sich diese vor und schüttelt kurz die Hand, »ich bin öfter bei dir hier einkaufen.«
Monika geht darauf nicht ein, sondern knüpft an das Vorhergehende an: »Auch mir hat ein Freund einmal sehr geholfen, ein bemerkenswerter Typ aus Österreich, eine ziemliche Spielernatur, oft kam er mir fast wie ein Zauberer vor ... Ich habe leider den Kontakt zu ihm verloren.«
Sandra spürt Trauer und Dankbarkeit in Monika. Eine Intuition zwingt sie weiterzumachen.
»Ich war einige Zeit in Österreich, in Wien«, erzählt Sandra, »und habe dabei einige sehr nette Menschen kennen gelernt. Leider ist mein bester Freund dort, der Marcus«, sie lächelt traurig, »dann bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen.«
Sandra merkt die enorme Aufregung in Monika, die sich auf sie überträgt. Zögernd sagt dann Monika, so leichthin, wie sie es in ihrer Erregung kann: »Du meinst nicht zufällig Marcus Wallner?«
Jetzt ist es Sandra die sich kaum halten kann: »Ja, den meine ich. Reden wir tatsächlich über dieselbe Person?«
Monika starrt Sandra an: »Ich weiß nicht, wie viele Marcus Wallner es in Wien gibt. Aber wenn wir über denselben reden, dann irrst du dich: Der Marcus, den ich meine, der lebt noch.«
Sandra wird schwindlig, denn es gab vor zirka sechs Jahren sicher nur einen Marcus Wallner im Wiener Telefonbuch! Meinen sie wirklich dieselbe Person und wieso behauptet dann Monika, dass er noch lebt?
»Ich habe Marcus vor ungefähr sieben Jahren in Wien kennen gelernt, warst du denn auch in Wien?«, fragt Sandra. »Nein. Ich arbeitete damals in Las Vegas. Marcus und ich hatten dort zusammen beim Roulett viel Glück und das ist dann der wirkliche Grundstock für dieses Geschäft geworden.«
Damit ist klar, dass sie über denselben Marcus reden. Monika schaltet alle Zweifel aus:
»Ich habe ein Bild von ihm aufgehoben, weil ich ihm sehr viel verdanke.« Monika zeigt ein Foto von Marcus, wie er neben der sportlich gekleideten, durch einen Strohhut kaum erkennbaren Monika in einem Hotelfoyer2 offenbar von einem Fotografen überrascht wurde.
»Was für ein irrsinniger Zufall«, staunt Sandra, »aber wieso glaubst du, dass er noch lebt? Er ist mit einem Flugzeug abgestürzt, schon vor Jahren.«
»Davon weiß ich nichts. Aber ich weiß, dass er lebt.« Monika und Sandra sind so in das Gespräch verwickelt, dass sie erst jetzt die murrenden Kunden sehen, die zahlen wollen. Sandra geht ein paar Schritte weg, aber Monika winkt ihr fast panisch zu.
»Warte noch, wir müssen weiterreden.« Sandra hatte genau dasselbe im Sinn. Der Kundenstrom reißt aber nicht ab. Obwohl beide neugierig sind, was die andere über Marcus weiß, müssen sie ein Abendtreffen vereinbaren, sobald die Drogerie schließt.
Monika ist den ganzen Tag mit Gedanken an Sandra und Marcus beschäftigt. Sie hat ja den Rat von Marcus befolgt und mit dem Geld aus den Casinos eine neue bürgerliche Existenz aufgebaut. Sie war oft nahe daran Marcus zu suchen, doch war bei ihrer Trennung ein Wiedertreffen eigentlich ausgeschlossen worden.
2 Das ist die Aufnahme, die vor dem Ausflug von Marcus und Monika zum Lake Powell im Caesars Palace in Las Vegas gemacht wurde, mit durchaus unfreundlichen Hintergedanken: Das Foto diente den Casinogangstern zur leichteren Identifizierung von Marcus, siehe »XPERTEN - 1: Der Telekinet« [3].
Sandra ist tagsüber auch geistesabwesend: Was weiß Monika über Marcus? Vor allem: Wieso denkt sie, dass er lebt? Wenn er wirklich noch lebt, dann muss Sandra ihn finden. Sie muss herausbekommen, wie er und Maria mit ihren Para-Begabungen fertig geworden sind. Sie sind die Einzigen, mit denen sie offen reden könnte, außer den Ex-Kollegen von der PPU, und diese scheinen unauffindbar.
Das Gespräch am Abend zwischen Monika und Sandra beginnt zunächst mühsam. Beide wollen nicht die volle Wahrheit sagen. Monika erzählt von ihrer Freundschaft mit Marcus, ist aber nicht bereit zu erklären, warum sie sich wirklich getrennt haben, obwohl sie noch immer von Marcus schwärmt und obwohl Marcus sie, nach Monikas Darstellungen, auch »sehr schätzte«. Sandra wieder kann nur wenig über Marcus erzählen, denn die Para-Begabung von Marcus scheint Monika unbekannt zu sein und ihre eigene will Sandra auch nicht verraten.
Sandra lenkt das Gespräch daher zunächst auf allgemeinere Themen, versucht Esoterik, Para-Phänomene, Vorahnungen, andere irrationale Phänomene und besondere Arten der Intuition anzusprechen. Und beim letzten Thema spürt Sandra, wie Monika plötzlich sehr interessiert ist. Sandra geht daher einen Schritt weiter:
»Monika, ich bitte dich, das niemand zu sagen. Aber ich weiß, dass ich irgendwie ein besonderes Gespür für die Gefühle anderer Menschen habe, es ist mir manchmal fast unheimlich. Dieses intuitive, nicht erklärbare Erkennen von Eigenschaften, bei mir sind es Gefühle, ist oft sehr stark. Und ich empfinde jetzt gerade, dass dich das, was ich gerade sage, sehr anspricht. Ich versuche zu erraten, aber ich denke, dass auch du manchmal intuitiv etwas weißt, ohne es begründen zu können. Stimmt das?«
Monika blickt verblüfft: »Ja, Sandra, du hast Recht. Und ich habe es noch nie gewagt, das jemandem zu sagen. Aber ich weiß oft intuitiv, wo jemand ist oder wie es ihm geht. Ich habe mich noch nie geirrt. Das war auch bei Marcus so: Er kam eines Tages nach Las Vegas zurück, ich wusste absolut nichts davon, aber ich wusste es plötzlich, dass er wieder da ist. Und genau so weiß ich, dass er noch lebt. Es klingt verrückt, aber ich bin aber absolut sicher.«
Sandra schaut noch immer zweifelnd, aber sie spürt deutlich, dass Monika überzeugt ist von dem, was sie sagt.
»Wie oft hast du schon so ein intuitives Wissen gehabt?«
»Schon einige Male.« Sie lügt, merkt Sandra. »Du meinst schon sehr oft?«
»Ja.« Diesmal lügt Monika nicht.
Sandra hat gerade einen Menschen mit einer ihr vorher unbekannten Para-Begabung entdeckt: Monika ist eine »Para-Orterin«, sie kann Personen unter bestimmten Umständen aufspüren bzw. weiß, ob sie noch am Leben sind oder nicht!
»Monika, ich glaube dir.«
»Du glaubst mir?«, fragt Monika fast erstaunt.
»Ja. Und du musst jetzt mit mir Marcus finden. Ich muss ihn treffen, und ich glaube, du willst das auch.« Eine Welle von Bestätigungsgefühlen von Monika überschwemmt Sandra.
»Wie können wir vorgehen, Monika. Spürst du, wie weit eine Person weg ist?«
»Das hängt von den Menschen ab. Bei Marcus geht es einigermaßen, da weiß ich zum Beispiel, dass er zurzeit mindest 5.000 km entfernt ist. Theoretisch könnten wir also systematisch viele Punkte in der Welt anfliegen und irgendwann wüsste ich: ‚Jetzt ist er näher als so-und-so viele tausend Kilometer.‘ Wir könnten so, aber recht mühsam, in seine Nähe kommen, ganz finden kann ich ihn so nicht, aber bis auf einige Kilometer schon.«
»Du bist toll, Monika. Ich weiß, wie wir vorgehen können.«
Nachdem in Auckland Marcus der potenzielle Verbündete Barry (jener Barry vom Reisebüro mit dem eigentümlichen Para-Doppelgänger) entkommen ist, konzentriert er sich auf seine SR-Inc., auf die Weiterführung der Para-Forschung und trifft sich mehrmals mit Aroha, um deren durch den Mindcaller ausgelöste Para-Fähigkeit besser zu verstehen.
Trotz aller Bemühungen bleibt der Mindcaller geheimnisvoll: Er scheint einerseits Aroha die Möglichkeit zu geben, mit ihrer Großmutter in Verbindung zu treten, aber es ist keine richtige Kommunikation. Sie stellen fest, dass das, was Aroha von der Großmutter erfährt, dieser nicht bewusst ist. Andererseits scheint der Mindcaller in einem gewissen Sinn ein Speicher alten Wissens zu sein. Wahrscheinlich hängen die beiden Aspekte direkt zusammen. Der Mindcaller speichert also auf geheimnisvolle Weise Szenen aus der Natur, aber auch das Wissen von Menschen. Und was immer er speichert, es ist nicht jederzeit verfügbar, sondern drängt sich Aroha in gewissen Situationen einfach auf. Von allen bisher bekannten Para-Phänomenen scheint dieses in einem gewissen Sinn das »irrationalste« zu sein! Oder liegt es nur daran, dass die andere Hälfte des Mindcallers fehlt, wie Maria einmal spekulierte?
Da erreichen Marcus schlechte Nachrichten aus Österreich. Seine Mutter ist an einem Magengeschwür schwer erkrankt und muss rasch operiert werden. Sie liegt in kritischem Zustand im Krankenhaus in Graz. Marcus beschließt, sich doch wieder nach Österreich zu wagen. Er trägt inzwischen Brille, hat einen Bart, ist mehr als sechs Jahre älter, seine Haare trägt er nun kurz ... Wenn er ein bisschen Acht gibt, wird man ihn nicht erkennen. Der Zufall will es übrigens, dass die Verbindung über Singapur etwas besser ist als über Los Angeles, denn sonst hätte Monika Marcus auf einmal ganz in der Nähe gespürt!
Marcus fliegt über Frankfurt direkt nach Graz und fährt sofort ins Krankenhaus. Die Operation vor drei Tagen ist zum Glück sehr gut verlaufen, seine Mutter wird unvorhergesehen schnell das Spital verlassen können. So ist die Wiedersehensfreude doppelt groß und man beginnt gleich (nach jetzt schon zweijähriger Pause) einen Besuch von Marcus‘ Eltern in Neuseeland zu planen.
»Marcus, glaubst du nicht, dass ihr es inzwischen wagen könnt, alle einmal nach Österreich zu kommen?«, fragt der Vater.
»Es muss ja nicht, so schade das ist, grade bei uns in Eisenerz sein, aber ihr könntet euch doch in einer schönen Gegend und in einer vernünftigen Entfernung von uns, sei es notfalls in dem Haus in der Nähe von Tragöß, das ihr noch immer habt, oder besser irgendwo im steirischen Salzkammergut einquartieren. Durch die neuen Straßen im Gesäuse und Ennstal sind wir zum Beispiel in einer Stunde von Eisenerz in Bad Mitterndorf und das ist doch eine wirklich vielseitige und schöne Gegend!«
»Ja, das klingt sehr verlockend, Vater, ich bespreche es mit Maria, wenn ich zurück bin.«
Marcus bleibt so lange in Graz, bis seine Mutter aus dem Spital nach Hause kann. Dann wagt er noch einen kurzen Abstecher zu seinem Elternhaus in Eisenerz. Es ist traurig zu sehen, dass es dem Ort wirtschaftlich noch schlechter geht, als er es in Erinnerung hat. Aber der Leopoldsteiner See ist unverändert schön und er erinnert sich sehr deutlich daran, wie er hier seine Frau Maria kennen lernte.
Schließlich verbringt er ein paar Tage in Wien. Er wohnt im Hotel Dorint-Biedermeier, wo er ein schönes Apartment hat und wo er ganz in der Nähe seiner inzwischen in Wien verheirateten Schwester ist. Untertags sitzt er aber in der Nationalbibliothek und versucht in verschiedensten Quellen über eigentümliche Vorkommnisse in der Vergangenheit nachzulesen. In ihm entsteht allmählich ein vager, fast ungeheuerlicher Verdacht. Aber er wird mehr recherchieren müssen und so gut die Bibliothek ist, es dauert oft Tage, bis man ein altes Buch aus den Archiven bekommt.
Er vermeidet peinlich den Einsatz seiner T-Kraft, aber als er einmal ein Auto sieht, das im Begriff ist, ein spielendes Kleinkind beim Rückwärtseinparken zu überrollen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als das Kind mit seinen Pseudohänden wegzureißen. Die Mutter, die mit Entsetzen das Unglück auf ihr Baby zukommen sah, versteht nicht, wieso dieses plötzlich durch die Luft fliegt und sanft am Gehsteig landet. Marcus hat aber unnotwendig Angst, dass seine Begabung wieder entdeckt und er wieder verfolgt wird. Die Frau wagt niemandem von der Geschichte zu erzählen: Niemand würde sie glauben. Marcus ahnt nicht, dass diese Frau ab sofort auf ihre Stamperl Schnaps am Nachmittag verzichten wird!
Als er am Nachmittag in sein Hotel zurückkehrt um sich für ein vornehmes Abendessen mit seiner Schwester und ihrem Mann im Palais Schwarzenberg fertig zu machen, klingelt das Telefon. »Hallo, Marcus«, sagt eine Stimme, die vertraut klingt und die er doch nicht sofort einordnen kann.
»Hier spricht Monika, seinerzeit aus Las Vegas, erinnerst du dich noch?«
Marcus atmet tief durch: »Monika, wo bist du, wie hast du mich gefunden, was ist los?«, sprudelt Marcus.
Monika lacht. »Ich erzähle dir alles und ich habe mindestens eine erfreuliche Überraschung für dich. Aber ich möchte dich erpressen. Du hast mir seinerzeit immer von den Bergen in Österreich erzählt. Ich möchte, dass du mit mir eine leichte Bergwanderung machst. Ich bin in 30 Minuten bei dir im Hotel, und dann fahren wir los. Morgen Abend bist du wieder zurück, mich los und wirst einiges Interessantes erfahren haben. Du suchst eine einfache und nette Wanderung aus. Wir fahren jetzt zum Ausgangspunkt, ich möchte einmal einen Abend in den Bergen erleben.«
»Monika, du bist verrückt. Ich bin für heute schon verabredet ...«
»Tut mir Leid, Marcus. Ich bin für dich aus den USA hergeflogen, nur für dich, da kannst du schon auch absagen, was immer du vorhast. Entweder du sagst jetzt sofort zu oder du hörst nie mehr von mir und es entgeht dir dann einiges«, pokert Monika.
»Okay, in 30 Minuten in der Lobby.«
»Prima«, freut sich Monika, »übrigens nur noch eine Warnung: Nimm dir für morgen Abend nichts vor. Es wartet noch jemand hier, der dich morgen Abend sehen will. Alles andere erfährst du in Kürze.« Monika legt auf.
Marcus ist so verwirrt, dass er seine Subjektivzeit durch seine Para-Begabung beschleunigt, um sich alles genauer überlegen zu können: Was gibt es jetzt zu tun? Zuerst muss er seiner Schwester absagen und das wird lästig. Er wird das Essen im Wintergarten des Palais Schwarzenberg auf übermorgen Abend verschieben, vorsichtshalber, und gleich noch einen Strauß Blumen mit einer Entschuldigung schicken lassen.
Wohin soll er mit Monika? Die einfachen Wege in den Wiener Hausbergen, vor allem der Rax, sind sehr überlaufen, die schönen Klettersteige wie »Wildfährte« oder »Haidsteig« sind aber zu schwierig. In seine geliebten Eisenerzer Berge traut er sich nicht, da ist er doch zu bekannt. Zur Edelraute Hütte und am nächsten Tag auf den Bösenstein? Vielleicht auch ein bisschen zu felsig für Monika und für ihn: er hat ja nicht einmal richtige Bergschuhe mit! Weiter nach Norden, etwa zur Pühringer-Hütte an den herrlichen Lahngangseen vorbei oder auf die leichtere Tauplitz zum romantischen Steierersee?
Das Wetter im Norden der Steiermark klingt verdächtig. Also dann einen leichten, aber schönen Berg im Süden. Der Hochobir, das ist es! Sie können heute noch bis Eisenkappel fahren, dann in aller Früh die spektakuläre Straße hinauf zur Eisenkappeler-Hütte und von da zu Fuß in zwei Stunden auf leichtem Weg auf den Hochobir. Die letzten paar hundert Meter sind dort auch hochalpin, schroffe Abhänge nach Norden und Nordwesten, und ein herrlicher Ausblick. Und das kann man ohne Rucksack, nur mit einem Regenschutz, etwas zu trinken und mit normalen Wanderschuhen gehen. Marcus lässt sich in Normalzeit zurückfallen, macht die notwendigen Telefongespräche, reserviert zwei Einzelzimmer in einem Gasthaus in Eisenkappel - der Empfehlung des dortigen Tourismusbüros folgend -, zieht sich für eine Wanderung um, nimmt sonst das Allernotwendigste und fährt in die Lobby hinunter. Da kommt gerade Monika herein, in kurzer Hose, luftigem T-Shirt, frech aufgesetztem Strohhut und einer großen Strohtasche über dem Arm. Wo hat er sie schon so gesehen? Natürlich! Damals, als sie zum Ausflug an den Lake Powell starteten. Sie muss bewusst wieder etwas Ähnliches angezogen haben, denkt er. Er umarmt sie, schaut sie dann prüfend und billigend an.
»Aber wir gehen in die Berge, dein Wunsch, hast du genug mit? Du schaust blendend aus, aber es wird morgen Früh kühl sein. Hast du einen Regenschutz?«
Monika lacht: »Mach dir keine Sorgen, ich habe alles mit, was ich brauche.«
Sie fahren aus Wien über die Ungargasse und den Gürtel auf die Autobahn nach Kärnten. Monika fragt mit keinem Wort, wo es hingeht, sondern stürzt sich mit Fragen auf Marcus: wie es ihm geht, wo er jetzt lebt, was er macht ...
»Ich erzähle dir alles, aber zuerst bist du dran. Wie hast du mich gefunden und warum hast du mich gesucht?«
»Marcus, bevor ich dir das erzähle, musst du mir versprechen, das Folgende niemandem zu erzählen, außer ich habe es dir vorher erlaubt. Okay?« Markus nickt.
Vorsichtig spricht Monika weiter. »Zuerst musst du wissen, dass ich das Geld, das du mir gegeben hast, gut verwendet habe. Ich habe mir ein großes Geschäft in Santa Monica gekauft und bin schlagartig brave Geschäftsfrau geworden.«
Marcus schaut zweifelnd; er kennt Monika ganz anders, als exklusives Escort-Mädchen.
»Du brauchst nicht so zu schauen, es stimmt wirklich. Und ich habe oft an dich gedacht. Dabei habe ich das erste Mal bemerkt, dass ich eine spezielle Begabung - sagen wir ruhig Para-Fähigkeit - besitze, die mir vorher nicht so bewusst war: Ich konnte spüren, wenn Leute, die mir nahe standen, in der Nähe waren oder nicht. Ich habe zum Beispiel einmal, ein paar Monate nachdem wir uns getrennt haben, bemerkt, dass du nicht mehr so weit weg wie in Europa bist.«
Marcus zuckt zusammen: Das war vielleicht, als er nach seiner Flucht aus Europa nach Neuseeland eine längere Unterbrechung mit Maria auf den Bahamas machte!
»Übrigens«, fährt Monika fort, »fiel mir bei dieser Gelegenheit auf, dass ich dich bei deinem zweiten Las-Vegas-Besuch mit verstellter Stimme warnte, obwohl ich gar nicht wissen konnte, dass du zurück bist. Ich wusste aber: Du bist wieder in Las Vegas.«
»Ja, das klingt plausibel«, denkt Marcus.
»Dann, vor zirka drei Jahren warst du einmal kurz ganz nah, ich nehme an, in Los Angeles, dann warst du zwei Tage nicht weit weg, dann wieder in Los Angeles und seitdem warst du meist weit weg.« Marcus ist fasziniert: Nach dem großen Unfall flog er über Los Angeles zu seinem Rechtsanwalt in Las Vegas, wo er zwei Tage blieb, bevor er wieder nach Neuseeland zurückkehrte. »Zwischendurch warst du ein paar Mal weit, aber nicht so weit weg, so, als würdest du an der Ostküste, in Kanada oder Hawaii Urlaub machen.« Marcus interpretiert: Das waren die Urlaubsaufenthalte in Französisch Polynesien!
Monika erzählt weiter: »Übrigens, ich spüre natürlich auch andere Personen, die ich kenne. Ich wollte es zuerst nicht glauben. Aber irgendwie habe ich diese spezielle Begabung. Dann traf ich durch reinen Zufall vor kurzem diese Frau, Sandra, und wir stellten fest, dass wir dich beide kannten. Sie wollte dich unbedingt finden ... Sie ist diejenige, die du morgen Abend treffen wirst.«
Marcus wird ganz unruhig: Ist das Sandra Hill, die Emotiopathin? Er lässt Monika weiterreden.
»Also, ich wollte dich auch gerne wiedersehen. Aber, keine Angst, es sind über sechs Jahre vergangen und selbst damals haben wir keinen Anspruch aufeinander erhoben. Aber einen Freund wiederzusehen, warum nicht? Aber Sandra ist ganz gierig darauf, dich zu treffen. Ich weiß nicht genau warum. Seid ihr verliebt gewesen?«
»Nein, Monika, wir kannten uns nur beruflich.«
»Also hat es mit ihrer Begabung zu tun, dass sie Gefühle erspüren kann?« Marcus wird unruhig: Wie viel weiß Monika wirklich? Sie ist nicht dumm, das weiß er von damals, aber sie spricht so unschuldig über Para-Begabungen, dass er es kaum glauben kann.
»Jedenfalls«, fährt Monika fort, »haben wir beschlossen dich zu finden. Da du sicher nicht mehr Marcus Wallner heißt, nachdem du dich versteckst, hatten wir zwei Möglichkeiten: meine oder die Begabung Sandras auszunutzen oder dies zu kombinieren. Das taten wir. Ich wusste, dass du lebst - Sandra war ganz glücklich, als ich sie endlich davon überzeugt hatte. Sie faselte immer von einem Flugzeugabsturz, bei dem du getötet wurdest, ich spürte aber, dass du irgendwo weit weg lebst. Es war Sandras Idee, deinen Vater in Eisenerz zu besuchen, und schon als wir in Wien landeten wusste ich: Du bist in der Nähe, in Wien warst du zu dem Zeitpunkt aber sicher nicht.«
Marcus ist fasziniert: Da war er wohl noch in Graz!
»Sandra stellte deinem Vater ein paar harmlose Fragen, ich wusste gar nicht so recht, warum, und dann war sie ganz glücklich und sagte mir: ‚Marcus ist in einem Hotel in Wien, nicht weit von der Wohnung seiner Schwester entfernt.‘ Der Rest war dann einfach, denn du warst so unvorsichtig, den Vornamen Marcus nicht zu verändern!«
»Kannst du dich erinnern, was Sandra meinen Vater fragte?«, ist Marcus neugierig. »Ja, und ich kann dir auch seine Antworten sagen und wie sie sie kommentierte. Ihr Gespür für die Gefühle von anderen ist einfach irr. Sie begann: ‚Wir suchen Marcus.‘ Dein Vater: ‚Ja wissen Sie denn nicht, dass er tot ist?‘ Sandras Kommentar zu mir: ‚Eine glatte Lüge.‘ Sandra: ‚Aber wir haben gehört, dass er in Wien Freunde oder Verwandte besucht.‘ Dein Vater: ‚Absoluter Unsinn.‘ Sandras Kommentar zu mir: ‚Er besucht Verwandte in Wien.‘ Nach weiteren zwei Fragen war sie sicher: Du bist in Wien und wohnst in der Nähe deiner Schwester. Ist doch nicht schlecht, oder? Ich habe mir aber ausgehandelt, dass ich dich zuerst treffe. Zufrieden?«
Marcus ist überwältigt und mehr als nachdenklich. Monika scheint eine echte Para-Begabung zu haben, morgen wird er Sandra treffen. Wenn es gelänge, sie beide nach Great Barrier zu bekommen, wäre die Gruppe um vieles stärker. Wenn er wüsste, dass Monika und Sandra am Frankfurter Flughafen einen netten jungen Mann in der Senator Lounge kennen gelernt haben, nämlich Barry, wäre er noch erregter. Monika und Sandra könnten ihn vermutlich finden. Allmählich würde ihre Gruppe in Neuseeland die oft ersehnte »kritische Masse« erreichen, mit der man sich irgendwann »outen« kann.
Monika und Marcus erzählen einander von den Erlebnissen in den letzten Jahren, wobei Marcus manche Aspekte nicht genauer anspricht. Noch ist er nicht sicher, ob er Monika als Para-Gefährtin gewinnen kann. Auch fühlt er sich noch immer stark zu ihr körperlich hingezogen, stellt sich vor - und verbietet sich dies selbst sofort -, wie sie jetzt wohl nackt aussieht. So verführerisch wie vor zirka sieben Jahren? Wie würde das sein, wenn sie mit ihnen auf Great Barrier Island wohnen würde? Monika hört, vielleicht eine Spur enttäuscht, dass Marcus inzwischen glücklich verheiratet ist und zwei Kinder hat, beide mit besonderen Begabungen, die Marcus nicht genau beschreibt.
Monika registriert sehr wohl, dass er ihr in puncto Para-Begabungen nicht alles sagt. Sie ist auch nicht mehr überrascht, dass er zwei Einzelzimmer in einem Gasthaus in Eisenkappel gebucht hat. Das Lokal liegt nach dem eigentlichen Ort, schon nahe bei der slowenischen Grenze, und die Aufmachung mit roten Lichtern lässt zunächst vielleicht mehr erwarten als ein Landgasthaus. Dieses scheint es aber zu sein. Nach einem einfachen Essen ziehen sich Monika und Marcus zurück. Marcus will um 5 Uhr früh, echt bergsteigerisch früh, wie er sagt, starten.
Dass der Abend so kurz ist, enttäuscht Monika etwas. Die Fahrt am nächsten Frühmorgen zur Eisenkappel-Hütte in einer erst langsam erwachenden Bergwelt gefällt ihr aber sehr gut. Der Weg zum Gipfel des Hochobirs ist einfach und wird durch die Geschichten über den seinerzeitigen Silberabbau in diesen Höhen, die Marcus erzählt, etwas wirklich Besonders. Das ist Marcus, wie sie ihn kennt. Und dass nicht nur geredet, sondern auch geflirtet wird, geht aus dem Gedicht hervor, das Marcus ins Gipfelbuch schreibt und das Monika schlagfertig kommentiert. Und das Gedicht zeigt wohl auch, dass Marcus es (langjähriger Vojeur!) wieder geschafft hat, Monika nackt zu sehen:
Hochobir
Sie schlug es vor: in unserm Rappel
Da fuhren wir nach Eisenkappel.
Am nächsten Morgen stiegen wir
Auf diesen Berg, den Hochobir.
Ich fragte sie: Gefällt es dir?
Sie sagte: »Ja.« Da dacht ich mir:
Ich habe Jause und ein Bier,
Ich hör den Pfiff vom Murmeltier,
Es ist schön warm, dass ich nicht frier,
Und Monika ist eine Zier.
So bin ich froh, dass wir jetzt hier.
Achtung: Mit dem Auffalten des Papiers erklären Sie, dass sie mindestens 18 Jahre alt sind und keine Einwände gegen erotisches Textmaterial haben. Ansonsten nicht öffnen, sondern bitte im Gipfelbuch weiterblättern!
Die nackte Maid am Hochobir:
Fürn Gipfel war‘s die schönste Zier.
Und denkt man drüber nach ganz plastisch,
Dann wird die Szene fast orgastisch.
Am Hochobir die nackte Maid
Erweckte auch so manchen Neid.
Denn alle, die noch ferne waren,
Die ärgern sich selbst noch nach Jahren,
Erblickten zwar ganz ferne Haut
Und Po und Busen, gut gebaut,
Ja sahen selbst die beiden schmusen,
Er zwickte gar in ihren Busen!
Doch als die Späher sie entdeckt,
Wurd hurtig alles schnell bedeckt.
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Danke Monika, für deinen Mut!
Marcus, steirischer Gelegenheitsdichter
PS von Monika:
Da gibt es Mädchen, die sich zieren,
Ich aber tu mich nicht genieren.
Was ich oft tat beim FKK,
Warum nicht auch am Gipfel da?
Noch jeder Mann, der nackt mich sah,
Der seufzte; »Ja, komm bitte nah!«
Auch manche Frau, die mich erblickt,
Wurd richtig heiß und ganz entzückt.
Nur manche wünschte wohl für sich
So auszusehen wie jetzt ich,
Ein bisschen sexy, jugendlich:
Kommt nur zu mir her, liebet mich.
Anmerkung für Marcus:
Erstens, die letzte Zeile ist aus reimtechnischen Gründen notwendig und keine Aufforderung.
Zweitens, wenn
deine Geschichte nicht stimmt, dass man nach alter österreichischer
Tradition, wenn man zu zweit, aber sonst allein den Gipfel erreicht
und das Wetter mitmacht, sich die Frauen kurz entkleiden, dann
verspreche ich, dass ich mich irgendwie revanchieren
werde.
Die Rückfahrt nach Wien verläuft harmonisch. Marcus zeigt Monika die Ruine der Burg und die Tropfsteinhöhle in Griffen. Sie bleiben kurz in Bad Waltersdorf stehen, wo Marcus besonders an dem Besuch der Sauna interessiert scheint. Sie vereinbaren in Wien am Vormittag eine »geschäftliche Besprechung« beim Frühstück im Hotel, wo Marcus wohnt. Sandra, die Marcus ja am Abend sehen wird, sollte auch dabei sein. Er wird versuchen, sie davon zu überzeugen.
Sandra und Marcus treffen sich (wie ist Sandra auf diese Idee gekommen?) in einem typischen Wiener Großbeisel in Simmering, beim Pfister. Bedienung und Essen sind super. Aber der Kellner lässt sie auch in Ruhe, als er merkt, dass sie das wünschen. Marcus und Sandra verstehen sich, was Para-Begabungen anbelangt, so gut wie nie zuvor. Sie erzählt Marcus auch von ihren Selbstzweifeln, ob es richtig ist, dass sie mit ihren Fähigkeiten nicht mehr für andere Menschen macht, und dass sie sehr einsam ist, weil bei jedem Versuch eine Beziehung aufzubauen das Erleben der Gefühle des anderen alles so kompliziert macht. Marcus erzählt Sandra nicht nur von seinem Ziel, in Neuseeland eine nicht mehr ignorierbare Gruppe von Para-Begabungen einzurichten, sondern auch, dass er dort eine Forschungsgruppe eingerichtet hat, die sich mit Para-Begabungen beschäftigt. Eines der Ziele ist es, Abschirmmechanismen gegen Para-Begabungen zu entwickeln. Es könnte sein, dass sich vielleicht daraus etwas ergibt, was Sandra befähigt, ihre Begabung auf Wunsch an- und abzuschalten, oder etwas, wodurch sich andere gegen das Abhören ihrer Gefühle durch Sandra schützen können. Diese Forschungen, aber auch, was er ihr von Maria, den Begabungen seiner Kinder, von Aroha und von einem Para-Doppelgänger erzählt, fasziniert Sandra sehr. (Wenn Marcus einmal den Namen Barry erwähnt hätte, wären beide noch mehr verblüfft gewesen.)
Finanzielle Probleme scheint es bei der Gruppe in Neuseeland nicht zu geben. Marcus schlägt Sandra vor, zu ihnen zu kommen. Sie hat sich schon fast dafür entschieden, doch hält sie sich noch bedeckt. Marcus will von ihr genau wissen, ob Monika eine Para-Begabung hat oder sie sich dies nur einbildet oder vorgibt.
»Marcus, ich hatte den Eindruck, du kennst Monika recht gut.« Da wird Marcus fast verlegen.
»Monika ist eine Person mit einem für mich neuen Phänomen, das ich für mich ‚Para-Orter‘ genannt habe. Sie kann mit Sicherheit Personen, die sie kennt oder mag, bis zu einem gewissen Grad orten. Ich glaubte, du bist tot. Sie wusste, da du lebst, und sie wusste auch immer ungefähr, wie weit du weg warst. Interessanterweise scheint sie dabei keinen Richtungssinn zu haben: Neuseeland und Europa sind für sie in den USA gleichwertig. Aber du solltest sie für dein Team gewinnen. Ich weiß, sei still, dass du auch persönliche Probleme hast. Deine Frau Maria weiß nichts von den tollen Tagen, die du offenbar einmal mit Monika hattest. Du liebst Maria, aber du findest Monika noch immer sehr attraktiv und möchtest am liebsten gleich mit ihr ins Bett; zum Unglück will sie das auch. Damit wirst du irgendwie fertig werden müssen. Aber Monika wird eine ganz wertvolle Verstärkung für deine Gruppe sein. Und wenn du Monika nach Neuseeland mitnimmst, komme ich auch. Erstens, vielleicht kann ich dir, Maria und Monika bei eurem Dreiecksproblemen helfen. Zweitens, und für mich wichtiger: Ich glaube heute an das, was du vor Jahren mir und den anderen der PPU gesagt hast: Wir müssen uns unabhängig von anderen Organisationen zusammenschließen. Ich habe mich in den letzten Jahren trotz großer persönlicher Erfolge immer sehr einsam gefühlt.«
Marcus starrt Sandra an; sie hat alles gesagt, was zu sagen war. Sie hat seine Gefühle erkannt und formuliert. Ist es ein Wunder, da sie eine Emotiopathin ist?
Das Sektfrühstück im Garten des Hotels Dorint-Biedermeier im historischen Sünnhof wird einfacher, als man erwarten könnte. Marcus bittet Sandra und Monika zu ihrer Gruppe auf Great Barrier Island in Neuseeland zu kommen. Er deutet noch einige Punkte an, die Sandra besser versteht als Monika. Aber beide sagen letztlich zu. Sie werden sich bei ihren Aktivitäten in Los Angeles zunächst für ein Jahr vertreten bzw. beurlauben lassen und werden in sechs Wochen in Neuseeland sein.
Marcus ist mehr als zufrieden mit seinem Besuch in Österreich. Er fühlt sich noch immer zu Hause in diesem Land. Seiner Mutter geht es wieder gut. Ganz nebenbei hat er zwei Verbündete für ihre Gruppe auf Great Barrier Island gefunden, auch wenn seine frühere Beziehung zu Monika ihm Kopfzerbrechen macht. Er wird sehr rasch Maria einiges zu erzählen haben. Nach kurzen Verabschiedungen von Freunden und Familie fliegt er über Singapur nach Auckland zurück, wo Maria und die Kinder ihn am Flughafen abholen. Sie haben schon sehr auf ihn gewartet. Maria und Marcus fallen sich in die Arme. Marcus glaubt zu wissen, dass nichts zwischen ihn und Maria kommen wird und kommen darf.