5. Barrys Flucht
Februar/März 2011
Marcus will nicht zu interessiert erscheinen. Er ist am nächsten Tag erst einige Minuten nach 10 Uhr in Barrys Büro. Barry begrüßt ihn, serviert ihm Kaffee und wartet, was Marcus zu sagen hat. Dieser schweigt.
Barry gibt schließlich lächelnd nach und beginnt von sich aus zu reden: »Marcus, du weißt also, dass ich zur Lösung des großen Banküberfalls beigetragen habe?«
»Ja.« »Und du weißt auch, was das für mich bedeutet hat?«
»Ich glaube schon. Erstens viel Geld, von dem du trotz deiner aufwändigen Auslandsreisen mit hübschen Begleiterinnen erst einen Bruchteil ausgegeben hast ...« Marcus merkt, wie Barry zusammenzuckt, »und zweitens, du hast dich in große Gefahr begeben. Denn wenn das Verbrecher-Kartell nur eine Ahnung hätte, dass du beteiligt warst, würdest du nicht mehr lange leben. Aber keine Angst: Wir haben sehr diskret recherchiert. Ich muss dir übrigens ein Kompliment machen: Deine Spur ist nur durch Zufall entdeckbar, du bist sicher. Und egal, was wir heute aushandeln, wir sind keine Erpresser und verwenden unser Wissen nur, um dich für uns zu gewinnen.«
»Wer ist ‚uns‘?«
»Wir«, lacht Marcus, »das sind eigentlich nur meine Frau Maria, die du gut kennst, und ich. Aber unsere Kinder Stephan und Lena gehören auch (bald) dazu, sie haben ebenfalls spezielle Begabungen. Außerdem wird sich uns vermutlich eine junge Frau in Auckland anschließen. Und es gibt ein paar Leute in Europa, die wir auch gewinnen wollen.«
»Was habt ihr vor?«
»Wir haben - durch ähnliche Tricks wie deine - viel Geld. Wir wollen mit unseren Fähigkeiten den Menschen helfen, wir wollen aber auch ungefährdet leben können. Wie, glaubst du, hat SR-Inc. so viele erstaunliche Erfolge für sich verbucht?«
Barry nickt verständnisvoll. »Aber als eine Minderheit mit Sonderbegabungen gibt es nur zwei Möglichkeiten: Man verheimlicht und verbirgt sie sehr, mehr als du es tust, sonst hätte ich dich ja nicht gefunden. Oder man ist als Gruppe so stark, dass man jeder Übermacht trotzen kann. Und das ist eigentlich mein Ziel. Ich möchte eine Gruppe haben, die für die Menschheit arbeitet, aber von dieser entweder akzeptiert wird ... eine schwierige Aufgabe, ich weiß ... oder die so mächtig ist, dass sie akzeptiert werden muss.«
Barry ist fasziniert. Er hat die zweite Möglichkeit nie in Erwägung gezogen. Und hier ist eine ihm durchaus sympathische Gruppe, die dies vorhat und ihn gewinnen möchte. Und ja, er weiß, er könnte durchaus dazu beitragen. Aber etwas anderes fasziniert ihn noch mehr: »Du hast gesagt, ihr habt ähnliche Tricks wie ich verwendet, um zu Geld zu kommen. Wisst ihr, wie ich es gemacht habe?«
»Nein, nicht genau«, gesteht Marcus, »aber es ist klar, dass es irgendwie mit deinem Doppelgänger und dass dieser leicht verschwinden kann zusammenhängt.«
Barry muss sich zurückhalten, um nicht loszulachen. »So haben die sich das zusammengereimt!«, denkt er insgeheim.
»Bevor wir weiterreden, Marcus. Ich versichere dir, dass niemand von dieser Unterhaltung erfahren wird. Aber ich möchte mich auch darauf verlassen können, dass alles, was ich gemacht habe und noch machen werde, außerhalb eurer kleinen Gruppe niemand erfährt, egal wie wir uns einigen oder nicht einigen.«
»Du hast mein Wort, Barry.«
»Danke, Marcus, ich vertraue euch. Ihr seid mehr Idealisten, als ich es je gewesen bin. Ich habe hier etwas zusammengeschrieben«, sagt Barry, »wirf einen Blick hinein. Dann wirst du einiges besser verstehen. Und mich entschuldige einen Augenblick.« Barry verschwindet im Nebenzimmer, Marcus öffnet den Briefumschlag und liest:
Lieber Marcus, ich weiß nicht genau, was wir besprochen haben, bevor du dies liest. Was immer es war: Halte du dich bitte daran, was du mir versprochen hast. Du kannst dich andererseits darauf verlassen, dass ich nie einem Menschen ohne dein Wissen von unserer Unterredung erzählen werde. Ich bin ziemlich sicher, dass du mich in irgendwelche Vorhaben von euch hineinziehen willst ... Ich glaube sogar, dass ihr »noble« Ziele verfolgt. Aber ich glaube auch, dass ihr ein gefährliches Spiel treibt. Und damit will ich nichts zu tun haben. Ich liebe dafür mein gegenwärtiges Leben zu sehr, ich liebe (viele) Frauen und die Freiheit zu sehr, um mich irgendwelchen anderen Zielen unterzuordnen. Es tut mir Leid, dass ich euch nur bei einigen Reisen helfen konnte. Bei eurem größeren Vorhaben will ich aber nicht helfen, ich will weiterhin allein für mich handeln können. Vielleicht verachtest du mich jetzt, verstehst mich nicht. Das täte mir Leid. Aber mein Entschluss steht fest: Alles Gute für die Zukunft, aber ein Wiedersehen wird es kaum geben. Grüß mir Maria und die Kinder. In Bewunderung, Barry
PS: Halte mir die Daumen, wie ich das für euch tue. Wir sind eine verschwindende Minderheit und brauchen viel Glück, um ein schönes Leben führen zu können. Einige Vorgänger von uns wurden auf Scheiterhaufen verbrannt, vergiss das nie!
Marcus liest dies mit wachsenden Befürchtungen. Er eilt ins Nebenzimmer. Was er dort sieht, überrascht ihn nicht mehr: Es ist leer. Barry hat sein Wort nicht gebrochen, er war um 10 Uhr auf ein Gespräch hier, aber er hat sich gegen eine Zusammenarbeit entschieden und ist gerade (oder war es nur sein Doppelgänger?) verschwunden. Barrys Wohnung wurde gleichfalls beobachtet und Marcus wird den Bericht anfordern, doch er erwartet nicht viel davon.
So ist es denn auch: Barry war den ganzen Abend und die ganze Nacht in der Wohnung und niemand hat sie bisher verlassen ... Mit wem immer Marcus vorher sprach, entweder ist die Wohnung leer und Barry ist dort unerkannt entkommen oder die Person, mit der er sprach, war nicht Barry! Als man zwei Tage später die Wohnung von Barry auf Intervention von Marcus aufbricht, ist sie, fast wie Marcus erwartet hat, leer. Barry und Doppelgänger scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben. Und unter allen Personen, die nach dem Gespräch zwischen Barry (?) und Marcus legal aus Neuseeland ausreisten, war weder Barry noch Barry mit dem gefälschten Pass.
»Diese Runde geht eindeutig an Barry. Werden wir uns jemals wieder treffen?« Irgendwas in Marcus, der immer mehr seiner Intuition traut, sagt ihm Ja und er freut sich auf dieses potenzielle Zusammentreffen. Er betrachtet Barry nicht als Feind, sondern als einen, der zu ihnen gehört, dies aber sich selbst noch nicht eingestehen will.
Freilich sieht Barry die Situation anders. Als Marcus ihn mit den Tatsachen konfrontierte, dass seine Rolle bei der Aufklärung des Banküberfalls durchschaut ist, war es für Barry klar, dass er sofort fliehen musste. Über seinen »Doppelgänger«, um diese amüsante Definition von Marcus zu übernehmen, führte er dann die Bewacher seiner Wohnung und Marcus am nächsten Vormittag um 10 Uhr an der Nase herum: Der wirkliche Barry war da schon unterwegs im Flugzeug nach Rio. Zur Verblüffung der Flugbegleiter hatte er sofort nach dem Einsteigen um 9.45 Uhr seinen Sitz in der ersten Klasse waagrecht gestellt, mitgeteilt, dass er sich nicht wohlfühle, um eine Decke gebeten und war in einen offenbar tiefen Schlaf versunken. Die Verwunderung des Flugbegleitpersonals wuchs noch, als Barry nach nur 45 Minuten offenbar völlig gesund, ausgerastet und in bester Laune den Rest des Flugs nach Rio verbrachte, ja so heftig und amüsant mit der Stewardess Viktoria flirtete, dass sie sich zu einem gemeinsamen Abend am Tag nach der Ankunft überreden ließ.
Schon vom Flugzeug aus lässt sich Barry ein schönes Apartment in einem guten Hotel, dem Meridien, das er von früheren Reisen kennt, im Stadtteil Leme reservieren. Das Hotel ist nur ein kurzes Stück vom Strand entfernt, gerade so weit, dass der Strand vom Balkon seiner Wohnung noch sichtbar ist, aber der Lärm des Morgenmarktes nicht mehr wirklich stört. Leme liegt an einem nicht übertouristischen Teil des Strandes. Er grenzt direkt an den Abhang des Zuckerhuts auf der einen Seite und die Copacabana auf der anderen Seite. Trotz des internationalen Rufs der Copacabana hat diese, vor allem wegen der Verschmutzung des Wassers, viel an Attraktivität eingebüßt. Geht man von Leme aus den Copacabana Strand entlang, dann sieht man noch immer viele brasilianische Schönheiten in ihren Minitangas oder Bikinis, aber erst wenn man die Felsen beim Forte Copacabana (eine Militärzone) und den kleinen Strand Arpocador zu Ipanema umrundet, ist man heute in der wahren »In«-Zone. Das »Girl von Ipanema« wurde mit Recht schon vor Jahren ein berühmter Hit, obwohl (oder gerade weil) auch hier die Qualität des Strandlebens weit über der Wasserqualität liegt.
Barry fährt vom Flughafen direkt ins Hotel, trinkt auf dem Balkon noch zwei Caipirinhas, jene Getränke aus Cachaca (lokaler Rum) und Limonen mit viel Rohrzucker, die man nur in Brasilien »richtig« bekommt. Sie schmecken verführerisch wenig nach Alkohol, aber zwei davon sind für die meisten - auch geeichten - Feinschmecker schon die Grenze. Nach dem langen Flug fällt Barry ins Bett, durchaus mit dem Gefühl der Vorfreude auf den morgigen Tag in Rio und den Abend mit Viktoria. Und dann hat er vor, seinen früheren Freund João, mit dem er allerdings seit drei Jahren keinen Kontakt mehr hatte, zu kontaktieren. Barry hat genug Geld und weiß, dass man damit in Brasilien gut leben kann. Wo und wie, das muss er sich noch genauer überlegen ...
Der nächste Tag beginnt mit einem Frühstück, das viele Erinnerungen weckt: gesüßtes Avocadomus, frische Früchte, köstliche Beeren, aber so weich, dass man sie noch immer nicht vernünftig weit transportieren kann, herrlicher starker brasilianischer Kaffee, von dem man (mit genug Zucker ... sonst gilt man als krank oder Schwächling!) beliebig viel trinken kann.
Barry kauft sich gute Strandkleidung, nimmt 50 Dollar Bargeld, aber sonst keine Wertgegenstände1 mit und geht gemächlich den Strand von Leme Richtung Ipanema entlang. Es ist wie immer ein Vergnügen. Der Zuckerhut im Hintergrund als Kulisse, der schöne Strand, das (täuschend) schöne Wasser der Guanabarabucht, einige Strandverkäufer und überdurchschnittlich viele attraktive Körper. Barry kennt die verschiedenen Kategorien. Es wäre nicht Barry, wenn er sich nicht hauptsächlich für hübsche junge Frauen interessieren würde. Da heute ein Wochentagvormittag ist, gibt es wenige Frauen, die gute Kurzzeitpartnerinnen für ihn wären. Die meisten attraktiven weiblichen Körper gehören entweder jungen Müttern oder Kindermädchen mit ihrem Baby oder Kleinkind. Junge Mütter (als vorwiegend europäisch erkennbar) sind nicht ideal, weiß Barry. Oft sind sie doch noch ein bisschen in ihren Mann verliebt und auch wenn nicht, gibt es so viele Komplikationen durch zeitliche Einschränkungen, Angst vor dem Entdecktwerden usw. Die Kindermädchen (in allen Hautschattierungen und nicht selten sehr verführerisch aussehend) sind gleichfalls nicht Barrys Fall. Sie sind lustig, leicht zu haben (vor allem, wenn man ein wenig großzügig ist), aber sie haben meist nur einen Tag in der Woche frei und, erschwerend, sie sprechen meist nicht Englisch. Barry weiß, dass er, wenn er nette weibliche Gesellschaft haben will, eher an Lehrerinnen, Frauen in internationalen Firmen oder Organisationen usw. denken muss. Er lächelt in sich hinein: »Wird sich alles ergeben.« Er quittiert manchen herausfordernden Blick mit einer Geste. Er ist stolz darauf, dass er noch immer so auf Frauen wirkt wie damals in Rotorua als Lifeguard.
1 Vor freundlichen Raubüberfällen ist man in Rio nie sicher: Freundlich sind die Überfälle insofern, als man höflich gebeten wird, Geld oder Wertgegenstände zu übergeben. Dies geschieht auch am helllichten Tag durch eine nett wirkende Umarmung, die den Druck einer Messerspitze beinhaltet. Und wenn man alles übergibt, dann gibt es noch ein herzliches »Danke« und eine Verabschiedung mit netten Wünschen. Nur wenn man zu wenig Geld hat oder sich gar wehrt, dann verlaufen solche Szenen weniger angenehm.
In einem Restaurant in Ipanema, wo er die erste richtige Feijoada nach langer Zeit isst, lädt er an seinen Tisch zwei deutsche Touristinnen ein, die leidlich Englisch reden und sichtlich erfreut sind, eine interessante Entdeckung gemacht zu haben. Sie sind eher enttäuscht, als sie erfahren, dass Barry am Abend schon vergeben ist und sich auch den nächsten Abend freihält; er weiß, dass die Stewardess Viktoria zwei Tage in Rio ist. Als sie sich trennen und die Mädchen darauf bestehen, trotz Schmuck und teurer Fotoausrüstung zum Hotel zurückzugehen, ist Barry besorgt. Er fühlt sich ein wenig für die beiden verantwortlich. Er beeilt sich in sein Hotel zu kommen, hängt das Schild »Bitte nicht stören« an die Tür und legt sich aufs Bett. Er weiß, wohin Grete und Hannelore gehen. So kann er seinen Doppelgänger (noch immer amüsiert ihn dieser Ausdruck) aktivieren, der die beiden Mädchen verfolgt. Tatsächlich werden die beiden Deutschen in einer stilleren Straße von drei jungen Männern »freundlich« angesprochen. Aber Barry, so scheint es für die Touristinnen, steht auf einmal wie aus dem Boden gewachsen hinter den drei Männern, räuspert sich und sagt in leidlichem Portugiesisch:
»Diese beiden hier nicht.«
Den drei Männern, die niemand in der Nähe gesehen hatten, ist das urplötzliche Auftauchen eines Mannes so unheimlich, dass sie sich schnell zurückziehen. Grete und Hannelore steckt noch der Schreck in den Gliedern. Sie sind überschwänglich dankbar, aber auch verwirrt, wo Barry so unvermittelt herkam.
»Ich hatte Angst um euch ... ich habe euch ja gewarnt. Dies ist eine Stadt, wo man Geld und Gold nicht ungeschützt zeigt und wo man in der Nacht bei Kreuzungen nicht einmal bei Rot stehen bleibt, denn zu leicht kann man dann überfallen werden.«
Er bringt die beiden die verbleibende Strecke ins Hotel, aber besteht zuerst darauf, dass er ihnen alle sichtbaren Schmuckstücke abnimmt und in ihre Handtäschchen legt. Er lässt sich das Vergnügen nicht entgehen, den Anhänger, den die hübsche Hannelore tief in ihrem Ausschnitt trägt, selbst abzunehmen. Er berührt dabei ihren Busen und die eine Brustspitze vorsätzlich, merkt mit Amüsement das Zusammenzucken, den Blick, den sie ihm zuwirft, und dass sie nichts dagegen hat, dass er mehr herumfummelt, als notwendig ist.
»Wenn Viktoria nicht wäre, dann ...«, denkt Barry. Sie verabschieden sich mit einem recht vertrauten Kuss. Beide geben Barry ihre Adresse in Deutschland mit der Aufforderung, sie doch einmal zu besuchen.
Als Barry alleine ist, schaut er lange die beiden Adressen an. Er ist im Begriff sie wegzuwerfen, doch dann reißt er den Zettel in die Hälfte und bewahrt Hannelores Adresse auf.
Die Stewardess Viktoria verdient ihren Namen. Als sie zusammen auf der Dachterrasse des Restaurants Othon Palace im strandnächsten Hochhaus an der Copacabana sitzen, die Stadt sich allmählich in ein Lichtermeer verwandelt, die beleuchtete Bergstation des Pao de Azucar wie ein Stern am Himmel steht und nur der Corcovado, der große Christus, durch einen größeren hellen Fleck angedeutet ist, die Tische und Menschen im Lokal in das milde Licht von Sturmkerzen getaucht sind, der Abendwind die Löwenmähne der blonden Haare Viktorias bewegt, ohne die einfach-kunstvolle Frisur zerstören zu können, da ist Barry froh, dass er noch einige Zeit auf sein eigenes Aussehen verwendet hat. Sein weißes Smokingjackett über einem Seidenhemd und das weinrote Tuch anstelle eines Mascherls, dazu eine Smokinghose und sein hochgehobenes selbstbewusstes Gesicht passen zu der einfach-stolzen Haltung Viktorias.
»Wie schafft sie diese Kombination?«, rätselt Barry im Stillen. Viktoria trägt ein langes schwarzes Abendkleid, das ihre schlanke Figur betont und die makellosen gebräunten Schultern bis zum Ansatz ihrer Brust freilässt. Ihre Schuhe sind einfach »frech«, empfindet Barry. Hochhackige Stöckelschuhe, aber auf den Seiten mit Löchern, wie er das noch nie gesehen hat. Viktoria weiß auch, wie man sich schminkt: Als Flugbegleiterin war sie auf »Stewardess professional« hergerichtet und sah gut aus, heute ist sie »verführerisch«, und in beiden Fällen wirkt sie immer natürlich. Der Abend wird für beide ein Genuss. Je mehr sie über sich, Vorlieben, Probleme, Erziehung, Ziele reden, umso mehr rücken sie (wörtlich und im übertragenen Sinn) zusammen. Barry, der nach fünfzig Frauen den Überblick über seine Affären verloren hat, ist sich bewusst, dass hier etwas entstehen kann, das er gar nicht WILL. Er kann es sich nicht leisten, einem normalen Menschen zu nahe zu kommen: Da steht sein »Doppelgänger« im Weg! Aber irgendwas geschieht an dem Abend, ihre Hände berühren sich wie ihre Worte. Schließlich versinkt auch die ungewöhnliche Umgebung angesichts des starken Gefühls der Zusammengehörigkeit, das sich entwickelt. Viktoria und Barry merken gar nicht mehr, dass alle im Restaurant, Bedienung und Gäste, sie immer wieder verstohlen ansehen, bewundern und beneiden.
»Willst du mich denn nicht wenigstens vorstellen, wenn du schon nicht merkst, dass dein bester Freund in Rio am selben Abend im selben Restaurant sitzt?«, sagt auf einmal eine bekannte Stimme neben Barry. Er blickt verwirrt auf: Da steht João! Barry ist einen Moment sprachlos bevor er aufspringt, in die offenen Arme seines Freundes João fällt und dann dessen Frau Angela herzlich umarmt.
»Kommt, setzt euch zu uns her«, schlägt Barry vor.
»Nein, heute nicht. Ihr sitzt gut zu zweit, wie ihr sitzt«, antwortet João, »wir sind auch im Begriff zu gehen. Aber du musst viel tun, dass ich dir verzeihe, dass du dich nicht sofort bei mir gemeldet hast, als du nach Rio gekommen bist ... Wie lange bist du eigentlich schon hier? Wir erwarten euch beide jedenfalls morgen Abend bei uns um 20.00 Uhr. Da gilt keine Entschuldigung!«
Barry wirft einen Blick auf Viktoria. Sie schaut ihn nur neugierig an.
»Wir kommen beide gerne. Und, João, ich bin erst seit gestern hier. Viktoria ist nur zwei Tage in Rio ... Also wollte ich dich erst nachher anrufen.«
João lacht. »Ich finde es zwar nicht nett, dass du uns Viktoria« - er verneigt sich - »vorenthalten wolltest, aber ich glaube, wir können es verstehen, wenn ihr nur zwei Tage habt, oder, Angela? Trotzdem, auch wenn wir euch den zweiten Abend verderben, ihr müsst morgen zu uns kommen.«
Als sie wieder alleine sind, erzählt Barry über João. Er ist einer der großen Kunsthändler und Kunstsammler Brasiliens, den er über einen Freund, João Portinari (den Sohn des berühmtesten brasilianischen Künstlers des 20. Jahrhunderts), kennen lernte.
Viktoria ist nach diesem Abend noch verwirrter als Barry. Ja, er war ein sympathischer und interessanter Passagier und sie hatte sich auch schon früher manchmal in solchen Fällen (ohne jede Konsequenzen) ausführen lassen. Die Lay-Overs von zwei Tagen waren oft todlangweilig, die Stadt kannte man schon und für ein richtige Kennenlernen der Umgebung und der Menschen war doch nie Zeit. Dazu kam, dass Personen aus anderen Branchen Stewardessen immer mit einer eigentümlichen Mischung von Verehrung und Schüchternheit (»Hat ja einen Freund in jeder Stadt«) begegneten. Also verbrachte man üblicherweise die Zeit mit Kollegen von Fluglinien. Das war okay, aber meist nicht aufregend. Und da ist Barry, mit dem sie sich so gut versteht, der nicht vor ihr, sondern eher sie vor ihm »Respekt« hatte und der gerade so nonchalant, als wäre es selbstverständlich, erwähnt, dass es nun wohl Zeit wäre, in sein Hotel zu fahren. Eine Ablehnung steht gar nicht zur Debatte.
Die Suite im Barrys Hotel gefällt Viktoria. Es ist alles ganz einfach und unkompliziert, das weitere Reden und weitere Kennenlernen, »safe Sex« und ein »Sich-gerne-Haben«, ein genüssliches Schmusen, keine Extratouren oder Akrobatikeinlagen. Und da sie (auch wegen der Kollegen, sie schämte sich fast dafür) im eigenen Hotel aufwachen will, bringt sie Barry noch im Taxi dorthin. Er besteht darauf mitzufahren, um »sicher zu sein, dass nichts passiert«.
Viktoria hat keine Ahnung, was Barry für den nächsten Tag geplant hat. Sie weiß nur, dass er um 9 Uhr bei ihr sein wird und dass sie gute Wanderschuhe, aber auch Badezeug mitnehmen soll.
»Was für eine Kombination!«, wundert sich Viktoria.
Am nächsten Tag geht es nach Petrópolis. Diese Stadt wurde 1845 von deutschen und schweizerischen Einwanderern gegründet und nach dem brasilianischen Kaiser Peter II., der sich hier eine Sommerresidenz errichten ließ, Petrópolis benannt. Da sie über 800 m hoch liegt, ist es im Sommer deutlich kühler als in Rio. Petrópolis ist über eine Autobahn leicht erreichbar.
Die Fahrt im Mietwagen von Rio über eine gewundene Autobahn (die talaufwärts und -abwärts führenden Spuren liegen oft kilometerweit auseinander!) durch Bestände von weißen und roten »Weihnachtssternbäumen« ist ein Erlebnis, die Einfahrt in die zirka eine Viertelmillion große Stadt eine Überraschung. An einem See liegt das Grandhotel, wo Viktoria und Barry ein zweites Frühstück (anstelle eines Mittagessens) im Garten beim See in herrlicher Sonne genießen. Die Stadt selbst liegt so zerstreut zwischen steilen Felskegeln in engen Tälern, dass man trotz prachtvoller Villen und einiger schöner Kirchen mit vorgelagerten Plätzen eher den Eindruck einer Ansammlung von nostalgischen alten Dörfern bekommt.
Nach dem »zweiten Frühstück« fällt es beiden schwer aufzubrechen, so gemütlich sitzen sie hier an dieser malerischen Stelle. Schließlich ist es die zunehmende Hitze, die es ihnen leichter macht, ihren Tisch zu verlassen. Barry fährt mit dem Mietauto zielstrebig das Haupttal der Serra dos Orgãos weiter, bis er schließlich anhält. »Hier geht unsere Wanderung hinauf«, zeigt er auf eine der fast unersteigbar erscheinenden zirka 1.200 m hohen Felskuppen. Obwohl es hier nicht ganz so heiß ist wie in Rio, ist Viktoria unsicher, ob sie bei fast 30 Grad wirklich eine anscheinend mehrstündige, nicht einfache Bergtour machen will. Barry ahnt ihre Zweifel.
»Vertrau mir«, sagt er.
Der Weg führt zunächst gemütlich durch ein schattiges Tal bergauf, dann wird er steiler, bleibt leicht zu gehen, liegt aber in praller Sonne. Beiden wird sehr warm, doch Barry lächelt nur, als Viktoria das kommentiert. Urplötzlich liegt, nur zwei Meter vor und unter ihnen ein glasklarer See. »Zeit zum Abkühlen«, meint Barry. Da sie alleine sind erweisen sich die Badesachen als überflüssig. Das Wasser (etwa 25 Grad) fühlt sich herrlich an.
Als Viktoria am Rücken treibt, das Ziel nun schon viel näher sieht und Barry sie liebevoll berührt und küsst, versteht sie die Welt fast nicht mehr: »Wieso ist nicht ganz Rio hier im Wasser?«, denkt sie.
Und als dann Barry sagt: »Ich persönlich habe nie verstanden, warum sich die Menschen im mäßig sauberen Wasser von Ipanema tummeln, wenn es hier dies gibt. Aber ich freue mich darüber und wir sagen es besser nicht zu vielen weiter2«, da kann Viktoria nur voll zustimmen.
»Müssen wir weitergehen?«, fragt sie, »es ist so schön hier.«
»Wir kommen hierher bald zurück und bleiben dann, solange du willst. Aber ich würde gerne noch ein Stück weitergehen, es gibt noch eine zweite Überraschung. Aber trockne dich ab und zieh deinen Bikini an, das ist für den Rest der Wanderung genug.«
Abgekühlt gehen sie zügig weiter bergauf, nähern sich dem Gipfel auf einem Weg, der den Felskegel einmal ganz umrundet und daher herrliche Aussichten bietet. Fast vor dem Ziel ragt über den Weg ein Felsüberhang, über den der kleine Bach, der den See speist, direkt auf den Weg herunterfällt: ein natürliches Duschbad, das in der Sonne eine Reihe von Regenbogen entwickelt. Barry zieht die Schuhe aus, lässt seine Ausrüstung liegen und steigt unter das fallende Wasser. Viktoria folgt ihm. Sie umarmen sich im Wasserfall stehend, küssen sich und laufen dann barfuß auf sandigem Boden die letzten Meter bis zum Gipfel. Die von hier sichtbaren Teile von Petrópolis, in der Ferne das Meer, in der anderen Richtung dichte Wälder, in der Umgebung viele steile Felskegel und Schluchten sind ein gewaltiger Anblick. Aber das Ungewöhnlichste ist ein Loch, weniger als ein Meter unterhalb des Gipfels, aus dem eine massive Menge Wasser herausströmt, fast - so scheint es - allen Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz. Intuitiv ist die Erklärung, dass die Verwerfung von Erdschichten dieses Phänomen auslöst, keine befriedigende Antwort auf die Tatsache, dass hier, fast am höchsten Punkt in der Umgebung, eine mächtige Quelle entspringt.
Am Rückweg bleiben sie noch lange beim See. Wie jungverliebte Teenager steigen sie händchenhaltend ab und fahren gemütlich nach Rio zurück. Nur bei der Einfahrt in die Stadt wird der Verkehr dicht und unangenehm. Dennoch bleibt noch genug Zeit zur Vorbereitung auf den Besuch bei João und Angela. Die Fahrt dorthin ist ein Erlebnis, weil sie in einen der schönsten Teile der Stadt fahren, aber dabei auch die Problematik Arm-Reich deutlich sichtbar wird: Die Villa Joãos ist zusammen mit anderen von zwei Ringen stacheldrahtbesetzter Mauern umgeben, wobei die Tore von mit Maschinengewehren bewaffneten Privatwächtern kontrolliert werden.
Die Villa Joãos ist Wohnhaus, Privatmuseum durch die vielen Kunstwerke und Galerie in einem, eine Galerie, die nur wenige Auserwählte zu sehen bekommen und in der eine Auswahl schöner und teurer Bilder hängt, die nur zum Teil käuflich erhältlich sind. Der Abend, teils im Freien, teils im Haus, mit einer Dienerschaft, die mit Getränken und Leckerbissen herumeilt, in sehr gemischter und interessanter Gesellschaft ist so ungewöhnlich, dass Viktoria Barry beneidet, der ja länger in Rio bleiben und wohl nicht das letzte Mal hier sein wird.
2 Der Autor dieses Buches hat sich an Barrys Vorschlag gehalten: Es gibt diesen Weg, aber er wird nach der gegebenen Beschreibung nicht zu finden sein, sorry! Seite 78
Zu den großen Gesprächsthemen gehört an diesem Abend auch der noch immer nicht geklärte Großraub in der Zentrale von Stern, jener internationalen Juwelierkette, die in Rio ihr Hauptquartier hat und sich unter anderem auf brasilianische Edelsteine spezialisiert hat. Dabei werden diese nicht nur zu üblichen Schmuckstücken verarbeitet, sondern einige von Künstlern ihres Faches zu bewundernswerten Gebilden und Skulpturen. Obwohl bei dem Einbruch auch viele dieser einmaligen Stücke gestohlen wurden, die kaum wiederverkäuflich sind, hat man nach zwei Wochen Nachforschungen noch immer keinen Hinweis, wer hinter dem Coup steckt. Die Versicherung hat inzwischen die Belohnung für die Lösung des Falls von einer auf zwanzig Millionen Dollar erhöht.
Barry kann sich eines Déjà-vu-Gefühls nicht erwehren, so ähnlich war es doch damals in Neuseeland. Er ist ziemlich sicher, dass er auch hier den »Fall« lösen könnte, aber er würde damit sehr auffallen. Auch hat er genug Geld, um die ausgesetzte Summe nicht zu benötigen. Dennoch, vielleicht sollte er doch eingreifen?
Viktoria lässt Barry diesen Abend kaum aus den Augen, denn zu viele attraktive Frauen scheinen sich für ihn zu interessieren. Aber einmal steht er dann doch allein in einem der Zimmer der Galerie vor dem Bild einer ungewöhnlich hübschen Brasilianerin: herausfordernde Augen, schwarze Haare, eine kurze halb offene weiße Bluse, die zwischen dem unteren Ende und der tief getragenen Hose viel zimtfarbene verlockende Haut zeigt, nackte, schöne Füße. Er ist von dem Bild begeistert und merkt nicht, dass sich leise jemand knapp hinter ihn stellt.
»Gefällt Ihnen mein Bild?«, hört er plötzlich eine herausfordernde Stimme. Er blickt sich um. Da steht das Mädchen, dessen Bild er angestarrt hat! Einen Augenblick ist Barry sprachlos. Dann hat er sich gefangen und antwortet mit entwaffnender Offenheit: »Das Bild ist großartig. Aber so gut der Maler auch sein mag, Sie sind noch schöner als Ihr Bild ... und das ist kein bloßes Kompliment. Aber Sie wissen ja selbst, wie Sie wirken. Es muss ein Genuss sein, Sie zu malen oder zu fotografieren.«
»Sie sind Fotograf?«, erkundigt sich Julia neugierig. »Nein, ich bin kein professioneller Fotograf, aber ein leidlicher Amateur. Ich bin sicher, dass es nicht schwer wäre, eine tolle Serie von Bildern von Ihnen in so ziemlich jeder Umgebung zu schießen.« Julia schaut Barry amüsiert an. »Wie risikobereit sind Sie? Sie können mich bei Gelegenheit, wie Sie wollen, fotografieren. Ich lasse dann die Filme entwickeln, damit Sie nicht auf schlechte Gedanken kommen. Wenn mir die Bilder nicht gefallen, vernichte ich Filme und Bilder und Sie zahlen dann das Fünffache, das ich sonst für Modeaufnahmen bekomme. Wenn mir die Bilder gefallen, zahlen Sie nichts. Ich behalte die Filme und Sie behalten eine Garnitur der Bilder, aber nur für persönliche Zwecke.«
»Und vielleicht sind Bilder dabei, bei denen ich Ihnen nicht gestatte, sie irgendjemandem zu zeigen«, fügt sie aufreizend hinzu.
Barry sagt, zu seinem Ärger fast ein bisschen heiser: »Ja, klingt interessant. Wenn ich lange genug in Rio bin, würde ich Sie gerne beim Wort nehmen.«
»Aber Sie haben gar nicht gefragt, was ich für Modeaufnahmen bekomme: Ich bin nicht billig.«
Nun fühlt sich Barry obenauf: »Die Bilder werden Ihnen gefallen. Und wenn nicht, es wird nicht mein finanzieller Ruin sein.« Nachdenklich schaut Julia Barry an. Ahnt er nicht, dass sie 3.000 Dollar für Modeaufnahmen erhält und ihm die Aufnahmen teuer zu stehen kommen könnten, noch dazu, weil sie - verwöhnt durch professionelle Aufnahmen - recht hohe Ansprüche stellen würde? Oder ist er so sicher, dass ihr die Bilder gefallen werden? Oder hat er so viel Geld, dass er solche Beträge einfach ausgeben kann?
Sie möchte gern noch ein wenig mit ihm reden, aber da kommt ihr Freund, legt recht besitzergreifend seinen Arm um sie, indem er Julia nicht nur umarmt, sondern auch mit seiner Hand in die hintere Hosentasche direkt auf der Seite ihres runden Pos hineinfährt.
»Und, was gefällt Ihnen besser: das Bild oder das Original?«, fragt er spöttisch.
Barry schaut den jungen Mann an, der ihm »zu schön« vorkommt und der ihm irgendwie unsympathisch ist (oder ist es nur, weil er ihm jetzt Julia »wegnimmt«?), und sagt dann leichthin: »Das Original ist wohl nicht zu übertreffen, noch dazu ist es dreidimensional und lebendig. Aber es ist nicht zu kaufen. Das Bild aber ist zu kaufen und das werde ich tun.«
»Haben Sie den Preis gesehen?«
»Ja, natürlich«, nickt Barry. »Schön, Sie kennen gelernt zu haben, Julia«, sagt Barry und macht sich auf die Suche nach João. Er wird das Bild kaufen, bevor jemand anderer auf die Idee kommt. João will an diesem Abend nicht mit Geschäften gestört werden, aber er verspricht Barry das Bild für ihn zu reservieren.
»Barry, du bist noch immer der Alte. Immer umgibst du dich mit hübschen Frauen und wenn du sie nicht anders kriegen kannst, dann kaufst du ihre Bilder«, kommentiert er.
Sobald den meisten Anwesenden klar wird, dass Barry nicht nur vorübergehender Gast ist, sondern eine unbestimmte Zeit lang in Rio bleiben wird und über offenbar beträchtliche Mittel verfügt, da er in einer vornehmen Suite in einem Hotel in Leme wohnt, und dass Viktoria nur die »Begleiterin des Abends« ist, werden sie beide nicht nur bewundert wie vorhin, sondern wird Barry von einigen der anwesenden jungen Frauen schon fast aufdringlich umschwärmt, wie Viktoria mit einem starken Anflug von (wodurch gerechtfertigter?) Eifersucht feststellt. Auch Barry entgeht nicht, dass er als interessanter und gut situierter Junggeselle eingestuft wird. Um Viktoria nicht zu verletzen, bleibt er aber bei allen folgenden Flirtversuchen höflich, charmant, aber auch zurückhaltend. Freilich hat er vor, in den nächsten Tagen João anzurufen und um die Telefonnummern bzw. Adressen von Julia und zwei anderen jungen Frauen zu bitten. Und Barry stellt sich vor, dass João lachend am Telefon sagen wird: »Habe ich mir doch gedacht, dass du, wenn Viktoria weg ist, wieder auf Ausschau gehen wirst.«
Barry bringt Viktoria zurück in ihr Hotel und diesmal sind sie gemeinsam in ihrem Zimmer. Der Tag endet mit einem unvergesslich schönen, aber auch traurigen Abschied in Viktorias Bett. Beiden tut es Leid, dass sie am nächsten Tag schon weg muss. Sie versprechen einander, in Kontakt zu bleiben. Viktoria ist unsicher, was das heißt, wenn sie nur die Adresse des Hotels hat, in dem Barry jetzt wohnt und, ja, auch eine Handynummer. Und Barry weiß, dass die Flugpläne so kurzfristig umgeworfen werden, dass es nicht klar ist, wann sie sich wiedersehen werden. Er sagt nicht dazu, dass die Heimatbasis von Viktoria, Auckland, wohl lange Zeit oder für immer für ihn tabu sein wird müssen.
Nachdenklich fährt Barry in sein Hotel zurück. Hat er sich in so kurzer Zeit je mit irgendjemandem so gut verstanden wie mit Viktoria? Vermutlich nicht. Aber Viktoria weiß nichts von seiner Sonderbegabung und wird davon auch nie etwas ahnen.
Barry irrt.
Er ist im Begriff einzuschlafen, als (zwei Uhr früh!?) das Telefon läutet. Am anderen Ende ist eine vor Aufregung fast nicht verständliche Viktoria.
»Barry, bitte hilf, ruf die Polizei, bei mir im Hotel wird gerade eingebrochen, sie kommen schon herein und ...« Das Gespräch bricht ab, jemand hat das Telefon oder die Leitung ausgeschaltet. Barry zögert nicht lange. Er legt sich auf sein Bett, konzentriert sich auf Viktorias Hotelzimmer und insbesondere auf das Bad.
Vorsichtig öffnet Barrys Para-Projektion, die Marcus immer als Doppelgänger interpretiert hat, die Tür des Bades von Viktorias Hotelzimmer. Zwei Männer stehen im Zimmer: Der eine bedroht Viktoria mit einem Messer, das er an ihrer Kehle angesetzt hat, der andere, auch ein großes Messer in der Hand, durchstöbert das Zimmer. Er nimmt Geld und Schmuck. Entsetzt ist Barry, dass die Männer keine Masken tragen und dass sie auch Viktorias Kreditkarten nehmen.
Er ahnt, was kommen wird: »Du sagst uns jetzt, hübsche Dame, die Geheimnummern der Kreditkarten oder wir müssen böse werden.«
Barry hat davon gehört, nun erlebt er es: Wenn Räuber die Geheimnummern von Kreditkarten erfahren wollen, müssen sie die Besitzer der Karten auf einige Zeit so verschwinden lassen, dass man nicht glaubt, dass sie tot sind, sonst würden die Kreditkarten gesperrt. Irgendwer weiß sehr viel über Viktoria und die beiden letzten Tage und nützt dies aus. Wenn Viktoria spurlos verschwindet, wird die Fluglinie nachforschen, wird informiert werden, dass sie wahrscheinlich mit einem Mann, mit dem sie viel und eng zusammen war, beschlossen hat zu verschwinden ... und man wird nicht weiter nachforschen. Wenn Viktoria Glück hat, wird sie nach Wochen, nachdem ihre Konten geplündert wurden, wieder freigelassen. Aber da die Männer nicht einmal Masken tragen, ist es wohl beschlossene Sache, sie zu töten.
Er muss dies verhindern. Barry (d. h. in Wahrheit sein »Doppelgänger«) springt hinter den Mann, der Viktoria mit dem Messer bedroht, reißt dem Überraschten dieses aus der Hand und schleudert es durch das Fenster. Der Wutschrei macht seinen Kumpel aufmerksam. Mit Überraschung sieht er einen Mann im Zimmer, der vorher nicht da war. Viktoria nützt das Zögern aus.
Auf Barrys Zuruf: »Versperr dich im Bad«, läuft sie dorthin und registriert dabei (wie Barry vorher), dass die Einbrecher die Hotelzimmertür von innen verriegelt haben und damit ein rasches Entkommen nach draußen unmöglich ist.
Da stürzt der zweite Mann mit seinem Messer auf Barry. Während Viktoria im Bad verschwindet, sieht sie mit Entsetzen, wie das große Messer tief in Barrys Bauch eindringt und ihn von unten hoch hinauf aufschlitzt. Barry schreit laut auf und fällt zu Boden. Viktoria stolpert sich übergebend und schluchzend ins Bad, das sie zitternd verriegelt.
Kurioserweise rettet der Messerangriff Barry. In seiner Aufregung hat Barry nicht logisch genug überlegt. Er hat übersehen, dass man bei Viktorias Verschwinden mit einem Mann diesen suchen und diesen, nämlich Barry, leicht finden würde. Um das zu verhindern, würde es notwendig sein, auch Barry auszuschalten!
Während sich also die beschriebenen Kampfszenen in Viktorias Hotelzimmer abspielen, brechen zwei Verbündete der Einbrecher in Barrys Hotelapartment ein. Sie finden Barry dort in einem Tiefschlaf am Bett liegen: Er dirigiert ja gerade seinen »Doppelgänger« bei Viktoria. Für die Einbrecher erscheint es besonders einfach, Barry zu betäuben und aus dem Hotel ohne Spuren zu entfernen. Er muss dabei am Leben bleiben, denn nach allen vorliegenden Informationen verfügt er über sehr viel mehr Geld als Viktoria, an das man noch herankommen will, bevor man auch ihn endgültig beseitigt.
Durch die schwere Verletzung des Doppelgängers, seiner Para-Projektion, geschehen zwei Dinge gleichzeitig: Der verletzte Doppelgänger verschwindet spurlos, zum Erstaunen und Entsetzen der Einbrecher bei Viktoria. Gleichzeitig »wacht« Barry in seinem Hotel auf. Er sieht die Eindringlinge und durchschaut jetzt den ganzen Plan. Zur Überraschung der Einbrecher sinkt Barry wieder »schlafend« auf sein Bett zurück: Er benötigt volle Konzentration, um seinen Doppelgänger als Para-Projektion hinter den Einbrechern erscheinen zu lassen.
Von dieser Position aus ruft der Doppelgänger: »Was wollt ihr eigentlich? Hier bin ich doch!«
Die beiden Räuber drehen sich um und sehen Barry, der doch gerade noch am Bett lag, einige Meter hinter sich bei der Tür stehen und durch diese verschwinden. Die beiden Männer laufen nach, sehen Barry die Stiegen hinuntereilen und hetzen hinterher. Der am Bett liegende wirkliche Barry informiert durch den Doppelgänger die privaten Wachposten beim Hoteleingang, dass Einbrecher im Hotel sind. Der Para-Doppelgänger verschwindet ohne Aufsehen. Er hängt noch ein »Bitte nicht stören«-Schild an die Tür von Barrys Zimmer und verriegelt die Tür von innen.
Nun lässt Barry seine Para-Projektion beim Fenster in Viktorias Zimmer erscheinen. Die beiden Eindringlinge dort versuchen gerade, die Badezimmertür aufzubrechen, hinter der die entsetzte Viktoria hilflos steht. Barry, der die Kamera von Viktoria aufnahmebereit gemacht hat, ruft vom Fenster her:
»Ihr habt verloren!«
Die beiden Männer drehen sich um und sehen etwas Unmögliches: Der Mann, den sie erstochen haben, der dann unbegreiflicherweise verschwand, steht jetzt unversehrt im Zimmer und, knips, blitzt gerade ein Bild von ihnen, während sie ihn wie einen Geist anstarren! Hier geschehen Dinge, die über ihren Verstand gehen. Sie eilen zur Tür, haben Probleme, diese aufzukriegen, weil sie sie so fest verriegelt haben, und fliehen dann in Panik. Barry hofft, dass das Foto gut genug wird, um sie zu identifizieren.
Nun kümmert er sich um Viktoria. Durch die Badezimmertür ruft er: »Viktoria, ich habe die Einbrecher vertrieben und die Eingangstür ist wieder von innen verriegelt. Du bist sicher und kannst herauskommen.« Viktoria traut ihren Ohren nicht: Ist das wirklich Barry, den sie tödlich verletzt zu Boden sinken sah? Sie kann es nicht glauben.
»Bist du das wirklich, Barry?«
Erst nachdem er ihr einige Details von ihrem Ausflug nach Petrópolis erzählt, beginnt Viktoria Barry zu glauben. Sie öffnet vorsichtig die Tür in der Erwartung, einen blutüberströmten Barry zu sehen. Aber da steht er, lächelnd, unverletzt. Sie kann es nicht begreifen, lässt sich aber dankbar in die Arme nehmen. Barry hält sie, bis sie sich allmählich beruhigt hat.
Barry mixt Orangensaft mit mehreren Wodkas aus der Minibar und drückt Viktoria einen Drink in die Hand. Er prostet ihr zu: »Viktoria, das war kein schöner Abschluss eines wunderbaren Tages. Aber wir haben es hinter uns, alles ist nun okay, wir müssen versuchen, es möglichst schnell zu vergessen.«
Barry legt seinen Arm um Viktoria. Allmählich wird sie ruhiger, ihr Atem geht gleichmäßiger und sie lächelt Barry an.
»Du hast mich gerettet, Barry. Aber ich verstehe nicht, wie: Ich war schon fast eingeschlafen, als ich Geräusche an der Tür hörte. Trotz panischer Angst habe ich das Telefon erwischt, wo ich zum Glück deine Nummer einprogrammiert hatte. Aber kaum hatte ich begonnen, dich in deinem Hotel um Hilfe zu rufen, standen die zwei Männer schon im Zimmer, drehten das Licht an, rissen das Telefon heraus und während der eine mich mit dem Messer bedrohte, durchsuchte der andere Koffer und Laden. Aber nur wenig später warst du dann schon hier und bist vom Bad wie durch Zauberei plötzlich hinter dem Mann erschienen, der mich bedroht hat. Dann habe ich, bevor ich im Bad verschwinden konnte, noch gesehen, wie dich die Gangster erstochen haben, richtig aufgeschlitzt, es sah furchtbar aus. Dann haben sie von dir ungestört versucht, ins Badezimmer zu kommen. Auf einmal warst du wieder in Aktion und hast sie unbewaffnet vertrieben. Wie gibt es das alles?«
Für Barry kommen die Fragen nicht unerwartet. Es tut ihm Leid, dass er Viktoria belügen muss, aber er will nicht, dass noch jemand von seiner Para-Begabung erfährt.
»Viktoria, als du mich im Hotel angerufen hast, da war ich gar nicht dort. Das war der Anrufbeantworter und du hast das in der Aufregung gar nicht bemerkt. Als ich mit dem Taxi von dir in mein Hotel fahren wollte, habe ich zwei verdächtige Gestalten gesehen, denen ich nachgegangen bin. Als sie in dein Zimmer einbrachen, habe ich mich nachgeschlichen und im Bad versteckt. Ich musste mir überlegen, wie ich meine Tricks einsetzen konnte, um dir zu helfen.«
Barry weiß, dass gerade der Teil, dass er sich mit den Einbrechern ins Zimmer schleichen konnte, besonders wenig glaubwürdig klingt. Aber, immerhin, es war ja in dem Augenblick noch dunkel, wie Viktoria gerade selbst sagte. Viktoria ist durch die Erwähnung von »Tricks« abgelenkt.
»Was meinst du mit ‚Tricks‘, Barry?«
»Ich habe bei einem der großen ,Zauberer‘ Europas vor Jahren einige Tricks gelernt, vor allem, wie man Dinge und sich selbst anscheinend zum Verschwinden und Wiederauftauchen bringen kann. Erinnerst du dich noch an die große Vorstellung von David Copperfield vor zwei Jahren, als er einen Jumbojet auf dem Flughafen in Auckland verschwinden ließ?« Viktoria nickt.
»Ich bin kein David Copperfield, aber in kleinerem Maßstab kann ich das auch, es ist übrigens körperlich anstrengend. Ich hatte vor dem Abflug in Auckland in einer Firma anlässlich einer Geburtstagsfeier noch einen Auftritt, als Morgenbegrüßung und war dann ganz erschöpft, sodass ich mich im Flugzeug unbedingt ausrasten musste. Erinnerst du dich noch, dass ich mich schon vor dem Abflug im Flugzeug hingelegt habe und ihr mir das (obwohl es den Bestimmungen beim Starten widerspricht) als Erste-Klasse-Passagier durchgehen habt lassen?« Wieder nickt Viktoria und Barry beglückwünscht sich innerlich zu seiner Fantasie, mit der er einige Dinge hoffentlich einigermaßen plausibel verknüpft.
»Also, ich kann es mit etwas Vorbereitung so erscheinen lassen, als würde ich verschwinden und woanders wieder auftauchen. Aber darum konnte ich aus dem Bad nicht sofort eingreifen, weil ich mich vorbereiten musste. Du musst furchtbare Minuten durchlebt haben, Viktoria. Bitte, bitte entschuldige, dass ich nicht schneller war.«
»Barry, du bist verrückt dich zu entschuldigen, du warst wunderbar. Aber wie war das, als du erstochen wurdest? Ich habe es doch gesehen!«
Barry winkt ab: »Das ist ein relativ einfacher Trick. Du kennst doch diese Zaubervorführungen, wo jemand mit einem Säbel durchstochen wird und so. Der Trick ist bei Überfällen, das war mir immer bewusst, besonders wirkungsvoll, weil die Gegner dann glauben, man sei kampfunfähig. Das Pech dieses Mal war, dass mich der Gangster nicht nur mit dem Messer angriff, mit dem hatte ich gerechnet, aber er schlug mir auch mit der Faust dorthin, wo es besonders schmerzhaft ist. Drum schrie ich so laut und bin zu Boden gegangen. Ich habe dann leider einige Zeit gebraucht, bis ich mich wieder einigermaßen rühren konnte. Aber dann, als ich vorsichtig deine Kamera nahm, plötzlich unverletzt mit der Kamera aufstand und den beiden zurief: Ihr habt verloren, da starrten sie mich ungläubig an. Ich habe sie in dieser Stellung dann sogar mit Blitzlicht fotografiert. Das war ihnen alles zu viel und zu unheimlich, so dass sie flohen. Ich musste da gar nichts dazu tun.«
»Dieser Teil stimmt wenigstens«, denkt Barry.
»Du hast sie fotografiert?«, staunt Viktoria.
»Ja, das Bild ist in deiner Kamera. Ich möchte gerne den Film herausnehmen und entwickeln lassen. Damit kann die Polizei sie vielleicht finden. Wenn andere Bilder auf dem Film sind, schicke ich sie dir mit dem Film nach Auckland. Ich verspreche, dass ich sie nicht ansehen werde.«
Viktoria lacht: »Also so intime Fotos sind da schon nicht drauf.« ‚Und wenn Barry ein bisschen eifersüchtig ist, wenn er mich mit meinem Lieblingskollegen in enger Umarmung sieht, dann ist mir das ganz recht, denkt sie dazu.
»Übrigens, Viktoria, du bekommst nicht nur die Bilder, sondern auch eine vernünftige Digitalkamera, ich habe sie schon gestern über das Internet bestellt, müsste in Auckland liegen, wenn du zurückkommst. Es ist ja wirklich eine Schande, dass du noch immer chemisch fotografierst.« Dieser Versuch eines Ablenkmanövers schlägt fehl, Viktoria kehrt doch wieder zum Hauptthema zurück.
»Und du kannst machen, dass es aussieht, als würdest du verschwinden und dann woanders auftauchen? Kannst du mir erklären, wie das geht?«
Barry weiß, dass er diese wohl entscheidende Hürde sehr direkt angehen muss: »Wenn man von einem Großmagier einen wichtigen ‚Trick‘ erfährt, dann muss man manchmal schwören, dass man ihn niemandem weitergibt. Man nimmt ihn sozusagen mit ins Grab. Das ist auch der Grund, warum man zum Beispiel heute noch immer nicht weiß, wie Houdini einige seiner Entfesselungen zustande brachte. Also erklären darf ich dir die Methode nicht. Aber wenn du unbedingt willst, kann ich sie dir vorführen.«
»Barry, lieber Barry, du hast gesagt, es erschöpft dich sehr. Wenn du nicht mehr willst, ist das schon okay. Aber eigentlich würde ich es schon sehr gerne sehen. Weißt du, alles klingt so unmöglich für mich.«
Barry macht also mit und bereitet eine richtige Show vor.
»Viktoria, gut, du musst aber dafür ins Bad gehen, weil ich mich vorbereiten muss. Und bitte sei fair, komm erst, wenn ich dich rufe.«
Viktoria geht ins Bad, Barry wartet einige Zeit, natürlich ohne jede Vorbereitung, dann steht er auf und ruft Viktoria zu, dass sie kommen kann. Sie tritt neugierig aus dem Bad heraus. Barry steht aufrecht in Fensternähe.
»Viktoria, kannst du mich gut sehen? Komm ein bisschen näher, du darfst mich auch berühren. Gut so. Und nun geh bitte zwei Schritte zurück. Erschrick jetzt nicht. Ich werde nun hier verschwinden, aber du kannst mich dann im Badezimmer wiederfinden.«
Der richtige Barry, in seinem Hotelzimmer in Leme, lässt die Para-Projektion seiner Person verschwinden und im Bad wieder materialisieren. Viktoria steht verblüfft in einem leeren Zimmer. Sie geht hin, wo Barry vorher stand, aber da ist niemand. Vorsichtig und ungläubig geht sie ins Bad: Da sitzt Barry lächelnd auf der Kante der Badewanne.
»Siehst du, es geht ganz gut«, sagt er. »Hast du mitgekriegt, wie ich es gemacht habe? Ich hoffe nicht!«
»Ich habe keine Ahnung, wie du das machst ... Kannst du noch andere Tricks?«
»Ja, einige. Und alle sind verblüffend, bis man die Erklärung kennt. Dann staunt man, wie einfach sie funktionieren.« »Kannst du mir einen zeigen, den du mir erklären kannst?«
Barry denkt kurz nach: »Hast du zufällig eine Schnur, dann zeig ich dir was.« Viktoria hat in ihrem Gepäck immer eine Schnur zum Wäschetrocknen. Barry schneidet drei ungleich lange Stücke. Er stellt sich vor Viktoria hin und erklärt, dass er sie nun gleich lang machen wird. Er führt einige einfache Handbewegungen aus und da sind die Teile gleich lang! Viktoria kann es kaum fassen. Barry wirft die Stücke in die Luft und sie sind wieder verschieden lang. Er führt es noch einmal vor, Viktoria beobachtet, so genau sie kann. Trotzdem durchschaut sie nicht, wie der Trick funktioniert. Als ihr Barry zeigt, wie er geht, stellt sich bei ihr der typische Aha-Effekt ein und sie kann das Zauberkunststück3 ohne Probleme selbst vorführen.
Barry ist zufrieden. Durch das letzte Kunststück hat er Viktoria endgültig überzeugt, dass die unverständlichen Vorgänge vorher auch Tricks waren. Zusammen überprüfen sie nun, ob irgendetwas von Viktorias Eigentum von den Einbrechern mitgenommen wurde. Aber nichts fehlt, sie ließen bei ihrer Flucht alles zurück. Inzwischen ist es vier Uhr früh geworden. Viktoria muss um längstens 10 Uhr aufstehen, um zu ihrem Flugzeug zu kommen.
»Barry, bleibst du heute Nacht bei mir?«
»Du, ich hätte mich heute nicht wegschicken lassen«, ist seine Antwort. Er dreht die Klimaanlage auf höchste Kühlstufe. Auf den fragenden Blick Viktorias sagt er: »Heute halte ich dich warm.« Nackt kuscheln sie sich aneinander. Sie sind so müde, dass sie trotz aller Aufregung gleich einschlafen.
Am Morgen wird die Zeit knapp. Barry bringt Viktoria noch vom Hotel zum Flughafen. Die Verabschiedung ist für beide zu kurz.
»Vergiss mich nicht, Barry«, ruft Viktoria noch einmal. Barry winkt und reibt sich das Ohrläppchen, ein Geheimzeichen für »Ich liebe dich«, das sie am Vortag vereinbart haben.
Wenig später lässt Barry seinen Doppelgänger verschwinden und wird dadurch in seinem Zimmer in Leme selbst wieder aktiv. Noch vor dem Frühstück bringt er den Film aus Viktorias Kamera zur Schnellentwicklung und kann so die Bilder eine Stunde später schon abholen. Der Schnappschuss der Einbrecher ist gut gelungen: Daraus müssen sich gute Fahndungsfotos machen lassen.
Es ist Barry klar, dass sowohl Viktoria als auch er der Polizei sofort über die Vorfälle hätten berichten müssen. Er ist froh, dass Viktoria ihm dies überließ, denn er wird die Polizei nicht einschalten. Es war schwer genug, Viktoria die Sache mit den zwei Barrys zu erklären! Aber Barry ist sehr nachdenklich, was die beiden Einbrüche in der letzten Nacht betrifft. Es kann kein Zufall sein, dass bei Viktoria und ihm fast gleichzeitig eingebrochen wurde; irgendwer wusste, dass sie zusammengehören, und wusste auch, dass bei beiden, vor allem auch bei Barry, viel Geld zu holen war. Wer konnte dieses Wissen haben? Eigentlich nur jemand, der bei der Party von João war.
Barry ruft daher João an und vereinbart einen Termin. João, der glaubt, es gehe um das Bild von Julia, bringt dieses (unaufgefordert und mit Julias Adresse und Telefonnummer) zum Treffen mit und teilt Barry freudestrahlend mit, dass er ihm das Bild um 20 % billiger geben kann. Barry ist erfreut und bedankt sich. Dann erzählt er João von dem Einbruch bei Viktoria und bei ihm und von seiner Schlussfolgerung.
»João, wer war gestern bei deinem Fest, den du nicht gut kennst, dem du nicht vertraust?«
3 Dieser Seiltrick ist eines der schönsten »Zauberkunststücke« und spielend leicht erlernbar. Er kann (mit den Seilstücken) in jedem besseren Zaubergeschäft erworben werden.
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João ist fast beleidigt: »Barry, du bist mein Freund. Aber alle Gäste gestern sind auch meine Freunde. Du beleidigst sie durch deinen Verdacht und damit indirekt auch mich ...«, er kommt ins Stocken.
»Moment, ich muss doch ein bisschen vorsichtiger sein, entschuldige. Das erste Mal waren gestern mein deutscher Nachbar dabei - du erinnerst dich an ihn? - und Julias neuer Freund Alfredo.« Barry erstarrt: Alfredo! Durch die Frage nach dem Preis des Bildes von Julia ist er derjenige (zusammen mit Julia!), der am ehesten das beachtliche Vermögen von Barry einschätzen kann.
»Was macht Alfredo eigentlich beruflich?« »Er ist der Sohn des großen Antiquitätenhändlers hinterm Marktplatz von Ipanema, dort arbeitet er als Juniorchef mit. Du weißt, welches Lokal ich meine?«
Barry nickt. Er wird dort nachforschen, das scheint die heißeste Spur zu sein.
»Danke, João, für Bild und Informationen. Ich halte dich auf dem Laufenden.«
»Barry, du bist immer gerne bei uns gesehen. Du kannst jederzeit kommen. Wenn ich und Angela grade nicht daheim sein sollten, fühle dich wie zu Hause. Du kannst jederzeit eines der Gästezimmer benutzen, das weißt du, oder den Pool. Unsere Mitarbeiter sind informiert, verfüge jederzeit über sie und alles, wie du willst.«
Barry ist gerührt. Diese Art von Gastfreundschaft ist für ihn ungewohnt. Aber hat nicht die Deutsche Hannelore, die er vor zwei Tagen traf (es wirkt wie eine Ewigkeit!), erwähnt, dass ihre Mutter, Baronin So-und-So ein »offenes Haus« führt? Vielleicht wird er doch Hannelore besuchen »müssen«?
Aber jetzt gibt es für ihn Wichtigeres. Er ruft das Büro des Antiquitätenhändlers an und gibt vor, dass er sich für alte brasilianische Skulpturen interessiert. Wie erwartet, wird er nach kurzem Warten von einer Limousine abgeholt. Man bringt ihn nicht vor das große Geschäft, sondern als ein potenziell zahlungskräftiger Kunde wird er zu seinem Schutz in den Innenhof gefahren, vorbei an bewaffneter Privatpolizei.4 Als er von Alfredo begrüßt wird, ist die beiderseitige Überraschung groß, die beiderseitige Freude scheint sich in Grenzen zu halten.
»Alfredo, ich habe inzwischen das Bild von Julia, wirklich ein Gedicht«, eröffnet Barry, »und nun würde ich noch gerne ein oder zwei wertvolle echte brasilianische Skulpturen oder Schnitzereien für mein Haus in Auckland kaufen.«
Barry lügt wie gedruckt. Er wird als reicher, aber eher einfältiger Kunde aus Neuseeland eingestuft. Nachdem er ohne zu handeln ein viel zu teures Stück für eine Tante, wie er sagt, gekauft hat, wird er noch wichtiger genommen. Alfredo zeigt ihm viele Objekte, aber für keines scheint sich Barry entschließen zu können. Schließlich geht Alfredo die Geduld aus und er übergibt Barry einem anderen Mitarbeiter, der ihn geduldig durch die vielen Räume mit Kunstobjekten und Antiquitäten führt. Mit etwas Trinkgeld wird der Mitarbeiter immer freundlicher, sperrt auch einige sonst »verbotene« Räumlichkeiten auf, seufzt aber innerlich über die Unentschlossenheit seines Kunden. Dieser Kunde wird etwas kaufen, das muss er erreichen, und er wird dafür eine gute Provision erhalten.
Barry erkundigt sich nach der Geschichte des »traditionsreichen Antiquitätengeschäftes«, erfährt, dass es erst 20 Jahre alt ist, Andeutungen, dass nicht immer alles ganz mit rechten Dingen zuging, dutzende Geschichtchen, für die Barry Interesse heuchelt, während er in Wahrheit sehr genau die Räumlichkeiten ansieht, sich diese und diverse Sicherheitsvorkehrungen einprägt. Besonders verdächtig erscheint ihm die »Halle 4«. Der Verkäufer schließt sie nur sehr zögernd auf, weil sich hier, wie er sagt, ohnehin nur wenige unverpackte Objekte befinden. Tatsächlich stehen in der ebenerdig gelegenen, fensterlosen Halle zwar viele Kisten und nur wenige große Schnitzereien. Barry merkt, dass dem Verkäufer nicht wohl ist, hier mit ihm herumzugehen. Er schaut sich daher nur ein bisschen um, kommentiert, dass die Schnitzereien, die sie vorher sahen, die schöneren seien, und lässt sich wieder aus der Halle 4 hinausbegleiten. Er kauft schließlich eine große, aus herrlichem Holz geschnitzte Figur, die er vorhat, João zu schenken. Sie wird gut in den unteren Teil des Gartens passen. Während die Schnitzerei verpackt und seine Kreditkarte geprüft wird, serviert man ihm Cafezinho und verabschiedet ihn dann mit überschwänglicher Dankbarkeit und Freundlichkeit.
Barry verspricht: »Ich komme sicher noch einmal«, und das meint er auch, allerdings in einem anderen Sinn. Die Limousine bringt ihn ins Hotel zurück, sein Kauf wird vorsichtig in sein Apartment getragen.
4 Jeder, der dies einmal erleben will, braucht nur von seinem Hotel aus den Juwelier Stern anzurufen. Spätestens wenn er dort etwas gekauft hat, wird er auf Schleichwegen ins Hotel zurückgebracht, damit er nicht überfallen werden kann.
Barry wartet ungeduldig auf die Nacht. Er weiß, dass sein Verdacht weit hergeholt ist. Aber dennoch: Wenn Alfredo und damit vermutlich sein Vater in den Überfall auf Viktoria und ihn verstrickt sind und damit in einen geplanten Doppelmord, dann ist ihnen auch sonst einiges zuzutrauen ...
Kurz nach Mitternacht schickt Barry seinen Para-Doppelgänger in die Halle 4. Diese hat auch deshalb Barrys besondere Aufmerksamkeit erregt, weil dort sichtlich in den letzten Wochen Umlagerungen stattgefunden haben, wie fehlender Staub einerseits und Schleifspuren andererseits beweisen. Der Para-Barry hat nur eine kleine Taschenlampe, das Mitnehmen von Objekten bei der Para-Projektion ist für Barry nämlich noch immer schwierig.
Vorsichtig bewegt sich Para-Barry von Kiste zu Kiste, öffnet sie vorsichtig, um den Inhalt zu untersuchen. Unvermutet rasch wird er fündig: In einer Kiste, die nur mit einem einfachen Schloss gesichert ist, das Para-Barry ohne Probleme öffnen kann, findet er mehrere Kästchen mit Edelsteinen mit der Aufschrift »Stern« und in einem sogar den berühmen »Diamanten-Wal«, von dem er Abbildungen gesehen hat. Kein Zweifel: Hier liegt das Raubgut vom Überfall auf den Juwelier Stern! Para-Barry nimmt den Diamanten-Wal an sich und schließt die Kiste. Er muss die Taschenlampe abdrehen und verstecken (er kann nicht zwei Objekte mitnehmen). Dann holt Barry den Para-Barry zurück, »wacht auf« und hält den Diamanten-Wal so in der Hand, wie ihn zuletzt Para-Barry gehalten hat: ein Phänomen, das Barry noch immer überrascht. Nun gilt es rasch zu handeln. Barry ruft einen verlässlichen Limousinen-Dienst und lässt sich zu João bringen. Er hat Glück: Dieser ist zu Hause und wartet schon mit Spannung auf Barry, der sich über Handy angekündigt hat.
»João, wie gut ist deine Beziehung zur Polizei?«
»Recht gut, ich zahle ihr genug Bestechungsgelder. Warum fragst du?«
»Ich habe den Überfall bei Stern geklärt. Ich weiß, wo das Raubgut ist.« Zum Beweis zieht Barry den Diamanten-Wal heraus. João ist vor Staunen sprachlos.
»Wie bist du dazu gekommen?«
»Entschuldige, aber ich kann das jetzt nicht sagen. Schaffst du es, dass eine größere Polizeieinheit zusammengestellt wird und ein Gebäude durchsucht, wobei der Ort vorsichtshalber erst in letzter Minute bekannt gegeben wird? Du hast mein 100%iges Versprechen, dass damit der Stern-Überfall geklärt ist. Um deine Freunde bei der Polizei zu überzeugen, kannst du den Diamanten-Wal verwenden. Hier hast du übrigens das Bild von den zwei Einbrechern bei Viktoria: Sie sind sicher Mitarbeiter der Bande und vielleicht kann man auch sie fassen und zu Aussagen bewegen. Wir verdienen durch die Aufklärung des Raubs 20 Millionen Dollar. Ich schlage vor, wir überlassen alle Ehre der Polizei, die Belohnung teilen wir uns brüderlich 50 zu 50.«
»Du bist ein großzügiger Freund. Komm, fahren wir ins Polizeihauptquartier. Du kommst mit und führst den Einsatztrupp zum richtigen Ort.« Barry ist einverstanden, aber er warnt João in einem Punkt:
»Der Ort, den wir durchsuchen werden, gehört einer mächtigen Gruppe. Sie hat eine private Wachmannschaft und sicher auch einige Polizisten auf ihrer Seite. Die Einsatztruppe muss absolut verlässlich sein, sonst werden wir Probleme haben.«
»Klingt wie eine interessante Nacht«, meint João trocken. Er nimmt einen Revolver aus einem Schrank, bietet auch Barry einen an, der aber ablehnt.
Sie fahren los. Barry besteht aus für João unerfindlichen Gründen darauf, dass sie noch an seinem Hotel vorbeifahren.
»Ich bin gleich wieder da«, sagt Barry.
Er geht in sein Zimmer, verriegelt es von innen, draußen hat er das übliche »Nicht stören!«-Schild aufgehängt. Der Barry, der wieder ins Auto zu João steigt, ist jetzt der Para-Barry. Damit ist Barry sehr viel flexibler und, wie ja auch der Zwischenfall letzte Nacht zeigte, weitgehend unverletzlich.
Die Besprechung zwischen João und dem Polizeipräsidenten, zu der Para-Barry nicht eingeladen wird, dauert lange. Barry hat Angst, dass die Nachricht einer großen Polizeiaktion irgendwie zu Alfredo und seinem Vater durchsickern könnte. Zuletzt geht aber alles dann verblüffend schnell und professionell. Ein Team von acht Einsatzfahrzeugen mit je zwölf schwer bewaffneten Polizisten (»die verlässlichsten, die wir haben«) fährt hinter dem Haupteinsatzwagen nach, in dem der Polizeipräsident mit einigen Mitarbeitern sowie João und Barry sitzen.
Barry steuert den Konvoi zunächst so, dass er sich zwar Ipanema nähert, aber nicht direkt darauf hinzielt. Im letzten Moment lässt er dann die Richtung adjustieren. Und als sie fünf Kreuzungen von dem Antiquitätenlager entfernt sind, legt Barry die Karten auf den Tisch: der gesamte Gebäudekomplex der Antiquitätenhandlung ist zu umstellen, jeder, der dort gefunden wird, ist festzunehmen. Und zwei Einsatzeinheiten sollen sich die Halle 4 vornehmen, in der der Hauptteil der Beute gefunden werden wird. Als es damit klar wird, wo die Durchsuchung ohne richterliche Anweisung stattfinden wird, werden João und der Polizeipräsident blass. Sie schauen Barry durchdringend an: Wenn diese Aktion ein Schlag ins Wasser wird, dann werden sie sehr große Probleme bekommen. Barry registriert das Zögern: »Ich weiß, dass hier um 0.30 Uhr noch die Beute war. Ich habe sie gesehen. Sie kann nicht in den letzten zwei Stunden verschwunden sein.«
»Hoffen wir das«, meint João. »Fangen wir an.«
Die Einsatzbefehle werden erteilt, die Autos fahren die letzten Straßen ohne Licht und parken vor Erreichen des Komplexes. Die fast 100 Polizisten schwärmen aus, João und der Polizeipräsident bleiben im Haupteinsatzwagen, der als Einsatzzentrale dient. Para-Barry entschuldigt sich: Er steigt zur Überraschung der beiden aus und verschwindet um die Ecke.
Para-Barry will seine Fähigkeiten verwenden, um notfalls zu verhindern, dass etwas schief geht. Er materialisiert in der Halle 4 und versteckt sich hinter einem Stapel von Kisten, von wo er durch einen Spalt beide Eingangstüren beobachten kann: Es wird ja nicht lange dauern, dass bei einer Tür die Polizei hereinstürmt, und dann wird er verschwinden.
Para-Barry merkt im Vergleich zu seinem Besuch nach Mitternacht keine Veränderungen. Aber plötzlich hört er von einer Seite der Halle, an der sich gar keine Tür befindet, eigentümliche Geräusche. Der Boden schiebt sich zur Seite und eine Stiege, die offenbar in einen Kellerraum führt, wird sichtbar. Über diese stürmen, geführt von Alfredo, gut 20 bewaffnete Männer.
»Unser Gebäude ist von der Polizisten umstellt und sie beginnen es zu durchsuchen. Sie dürfen die Kisten, die rot markiert sind, nicht finden«, ruft Alfredo.
»Zuerst die mit anderen Farben markierten Kisten, die auf rollbaren Paletten stehen, vor der Eingangstür da drüben aufstapeln: Dort wird die Polizei hereinkommen und wir wollen es ihr schwer machen! Los! Und dann die rot markierten Kisten nach unten tragen.«
Zügig, aber gut koordiniert wird nun zuerst die eine Tür verbarrikadiert. Para-Barry hat nicht mehr viel Zeit: Es scheint, als wäre jetzt niemand im Kellerraum, in den bald die rot markierten Kisten hinuntergetragen werden. Er muss es riskieren, er materialisiert im Keller. Dieser ist tatsächlich menschenleer und hat nur einen Ausgang, einen erstaunlich langen, schlecht beleuchteten Gang. Schließlich gehen Stiegen nach oben, dann ist der Gang wieder eben und endet bei einer Tür. Als Barry diese öffnet, steht er in einem Schuhgeschäft!
Der Ausgang ist versperrt, aber der Schlüssel steckt im Schloss. Als Barry auf die Straße tritt, weiß er einen Augenblick lang nicht, wo er sich befindet. Da sieht er in nur hundert Meter Entfernung das Haupteinsatzauto und weiter dahinter das inzwischen hell beleuchtete Gebäude, das durchsucht wird. Der unterirdische Gang geht demnach fast zwei Häuserblöcke weit, registriert Barry.
Er eilt zum Haupteinsatzwagen. Als João ihm sagen will, dass man bisher nichts gefunden hat, aber die Polizei Schwierigkeiten hat, in die Halle 4 einzudringen, winkt Barry energisch ab.
»Unter der Halle 4 ist ein Keller mit einem Geheimausgang, der da hinten in dem Schuhgeschäft endet«, gestikuliert er, »dort muss sofort eine größere Gruppe von Polizisten hin.« Der Polizeipräsident reagiert überrascht, aber ohne zu zögern. Minuten später führt Barry eine über Funk angeforderte dreißig Mann starke Gruppe von Polizisten in das Schuhgeschäft und zeigt den Gang:
»Den Rest überlasse ich den Spezialisten«, meint er, »aber bitte Vorsicht: Die Leute sind sicher bewaffnet. Die wichtigsten Kisten sind übrigens rot markiert. Viel Erfolg.«
Die Polizisten bewegen sich rasch, aber leise in den Gang hinein. Barry geht zum Haupteinsatzwagen zurück und verfolgt von hier die weitere Entwicklung. Alles geht jetzt schnell und problemlos: Alfredo und seine Leute sind so überrascht, als Polizisten durch den Fluchtgang in den Kellerraum stürzen, während sie noch immer Kisten herunterschleppen, dass sie keinen Widerstand leisten. Eine flüchtige Untersuchung zeigt, dass hier jedenfalls ein Großteil der Beute aus dem Raub bei Stern liegt. Unter den Leuten Alfredos sind auch die beiden, die bei Viktoria einbrachen: Sie werden sofort isoliert.
Alfredos Vater wird verhaftet, die ersten Aussagen reichen dafür. Die Geschäftsleitung von Stern wird beigezogen: Mit ihnen und mit den Listen der geraubten Objekte wird noch in der Nacht festgestellt, dass man die gesamte Beute gefunden hat - mit einer pikanten Ausnahme: Es fehlt ein mit teuren Edelsteinen besetzter Damen-Slip.
Am nächsten Tag wird die Polizei für die Aufklärung des Falles in den Medien überschwänglich gelobt. Es wird erwähnt, dass alle gestohlenen Objekte bis auf eines sichergestellt werden konnten. Auf eine Beschreibung des fehlenden Objektes wird auf Vorschlag des Hauses Stern verzichtet, weil es sich doch um ein nicht »ganz seriöses Kunstwerk handelt, das wir nicht unbedingt in Zusammenhang mit unserem Hause erwähnt haben wollen«.
Die 20 Millionen Dollar Belohnung werden der Polizei für die »anonymen Informanten« übergeben. João und Barry erhalten je die Hälfte, aber ihre Namen werden nie erwähnt. Die Verhöre und Untersuchungen dauern länger, da vermutet wird, dass nicht nur die Familie um Alfredo und die in der Nacht Festgenommenen an dem Einbruch bei Stern beteiligt waren und dass man vielleicht auch andere Straftaten aufdecken würde können. Tatsächlich weitet sich der Kreis der Angeklagten und der von ihnen ausgeführten Verbrechen noch stark aus. Selbst Mitarbeiter bei Stern und der Polizei werden belastet.
Am Rande erfährt Barry, dass sogar er zwischendurch verdächtigt wurde, weil er so erstaunlich genaue Informationen hatte; dass man Julia (Alfredos letzte Freundin) genau verhörte, aber sie nichts mit den Verbrechen zu tun hatte. Aber erst als sich herausstellt, dass das Antiquitätenhaus durch dramatische Fehlspekulationen vor dem finanziellen Ruin stand, wird Barry klar, warum selbst so »kleine Fische« wie Viktoria und er Ziel von Überfällen wurden.
All das interessiert Barry eigentlich wenig, denn nur zwei Tage nach der denkwürdigen Nacht, zwei Tage, die kaum genug Zeit zum Ausschlafen, Ausrasten und für ein großes Fest bei João bieten, geschieht gerade während des Festes etwas, das Barrys Leben langfristig viel mehr beeinflussen wird, als er zunächst ahnt. Während es nämlich bei João hoch zugeht und sich Barry entspannt und gut unterhält, ziehen ein Gewitter und ein Sturm auf.
Das Fest wird vom Garten in die Villa verlegt. Barry sieht João mit ernstem Gesicht beim Fenster stehen und das aufziehende Unwetter beobachten.
»João, du scheinst dir Sorgen wegen des Gewitters zu machen? Warum? Sind wir denn hier nicht so sicher, wie wir uns fühlen?« João dreht sich nachdenklich zu Barry.
»Barry, wir sind hier ganz sicher. Aber während draußen der Sturm toben wird und wir hier weiterlachen und weiterfeiern werden, wird es in den großen Favelas5 um Leben und Tod gehen. Ich liebe dieses Land und unser schönes Leben. Aber in solchen Situationen wie heute, und grade sind wir beide wieder um vieles reicher geworden, da kann ich dann doch mein eigentlich schlechtes Gewissen nicht ganz unterdrücken. Angela hat heute unseren Hund operieren lassen, eine teure Sache, denn wir haben keine Krankenversicherung für ihn abgeschlossen«, lächelt João.
»Aber sag mir, wieso machen wir das für unseren Hund und helfen nicht oder nur sehr bescheiden den armen Menschen in unserer schönen Stadt?«
Natürlich weiß Barry das alles - welcher Mensch weiß das nicht? -, aber er hat es immer verdrängt, er besonders, er, der eigentlich immer nur an sich gedacht hat. Er will sich auch jetzt nicht beunruhigen lassen.
»João, der Sturm wird doch auch nicht so einen Unterschied machen!«
»Hast du eine Ahnung, Barry. Der Sturm wird nicht nur viele Wellblechhütten zerstören. Die Blechstücke werden mit großer Geschwindigkeit durch die Luft fliegen, Menschen verletzen, Gliedmaßen wie mit einer Axt amputieren und kein Arzt wird sich darum kümmern. Und nichts wird in den Medien morgen berichtet werden, außer ein großer Baum stürzt auf die Villa einer reichen Familie oder so was.«
Die Mischung von Zorn und Verzweiflung seines Freundes trifft Barry.
»Also gut, dann lass uns hier nicht weiterfeiern, sondern helfen. Organisiere du auf unsere Kosten eine Reihe von Rettungsfahrzeugen und fahr mit ihnen zum unteren Ende der Favela oberhalb des Sees. Du weißt, welche ich meine?« João nickt.
5 Favelas sind die Armenviertel von Brasilien, in denen Kisten und mit Wellblech verstärkte Kartons schon als komfortable Unterkunft gelten.
»Ich werde versuchen, den Leuten in der Favela ein bisschen zu helfen und Verletzte zu den Rettungsfahrzeugen zu bringen.«
»Barry, du begibst dich selbst in Lebensgefahr, wenn du das machst.«
»Ich versichere dir, mein Freund, mir kann nichts passieren.« Das ‚kann‘ berührt João eigentümlich und er schaut Barry sehr nachdenklich an. Dieser aber geht schon zur Tür:
»Fangen wir an.«
Barry fährt, so schnell er kann, in sein Hotel, das Para-Barry Minuten später verlässt. Durch wachsende Sturmböen rast er zu der besprochenen Favela. Als er dort ankommt, hat der Sturm Orkanstärke angenommen und es schüttet in Strömen. Para-Barry läuft geduckt durch das aus Kistenbrettern, Blechkanistern, Wellblech, Palmwedeln und anderen Baumaterialien errichtete Elendsquartier bergauf zu den allerärmsten Teilen. Eine erste Hütte, die kaum diesen Namen verdient, schräg unter ihm, beginnt sich aufzulösen. Para-Barry materialisiert direkt vor ihr, blickt hinein: Ein paar Erwachsene sitzen am hinteren Ende, wo die Hütte in die Erde reicht, halten kleine Kinder beschützend in den Armen. Sie scheinen relativ sicher zu sein. Aber weiter vorne, wo das Dach schon eingebrochen ist, sitzen zwei Kinder, vielleicht vier und sechs Jahre alt, halten ihre Hände schützend über sich, während Holz- und Metallstücke durch die Luft sausen. Alle starren Para-Barry verblüfft an. Er ergreift ohne Zögern die beiden Kinder an den Händen, legt eine schäbige Deck zum Schutz über ihre Rücken, ruft den anderen noch beruhigend einige der wenigen Brocken Portugiesisch, die er kann, zu, dann läuft er mit den Kindern, er selber als Windschutz, hinunter, wo die Lichter der Rettungsauto schon zu sehen sind. Ein Blechteil trifft Para-Barry zwischen den Schultern, Blut sickert durch sein Hemd. Weiter! Dann ist er bei dem ersten Rettungswagen und übergibt die Kinder den Sanitätern. João hat ganze Arbeit geleistet: Hier sind Ärzte, Decken, heiße Getränke und Essen, mehrere schwere Lastautos, die als Notunterstand dienen. Para-Barry dreht sich um und, kaum aus der Sichtweite der Sanitäter, materialisiert er an einer Stelle, wo es auch besonders übel aussieht.
Ein einzelner Mann gegen das Unwetter! Para-Barry leistet Unglaubliches, bringt Menschen in etwas bessere Unterkünfte, viele zu den Rettungsteams. Und dort löst sich die Steifheit in einer Welle von Hilfsbereitschaft: Andere Männer folgen Para-Barry, schleppen Decken, Medikamente, Zeltplanen und Seile zum Festzurren, Werkzeug und Heringe zum Verankern von Seilen und vieles mehr in die Favela und verletzte oder gefährdete Menschen hinunter zu den Rettungsautos. João ruft per Handy nach weiterer Unterstützung.
Es wird die größte spontane Initiative, die Rio je gesehen hat. Als das Gewitter so plötzlich vorüber ist, wie es kam, ist die Bilanz eine schreckliche: Viele Behausungen sind zerstört, hunderte Menschen, auch Helfer, sind verletzt und doch: Viele wurden gerettet, tausenden wurde geholfen, nur einige wenige mussten in das nächste Spital gebracht werden. Die noch immer anrollenden Hilfsmittel werden an die staunenden Bewohner der Favela verteilt, Para-Barry, der wie durch ein Wunder an hunderten Stellen während des Sturmes auftauchte und half, wird bestaunt (es waren Drillinge, geht bald das Gerücht), da und dort umarmen sich Helfer und Bewohner der Favela, es gibt feuchte Augen auf beiden Seiten. Niemand versteht so recht, was hier eigentlich geschah. Wohlhabende Bürger Rios haben persönlich in Favelas geholfen, in die sie sich sonst überhaupt nicht hineinwagen würden? Der völlig verschmutzte Para-Barry und João schütteln sich die Hand. Sie sind glücklich. João hat vorher einen an mehreren Stellen blutenden und verletzten Barry gesehen. Der Barry, der jetzt vor ihm steht, ist schmutzig und erschöpft, aber unverletzt.
João schaut Para-Barry fragend an: »Du bist nicht verletzt, wie ist das möglich?«
Para-Barry schüttelt den Kopf: »Frag nicht, João, lass es sein.« Barry ist über sich selbst verwundert: Was hat ihn dazu bewogen, sich für andere Menschen so stark zu engagieren? War es João, der ihn dazu bewegt hatte? Oder war es jene Nuance schlechten Gewissens, die er seit Jahren mit sich herumträgt, weil er immer nur für sich lebt? Und dann ist da noch etwas, was Barry besonders verblüfft: Das Helfen hat ihm echte Freude und Befriedigung gegeben ... Ist es wirklich so, dass Helfen schöner ist als Hilfe anzunehmen?
Para-Barry fährt in das Hotel zurück. Barry beendet die Projektion: Er hat wie immer alles miterlebt, auch den Schmerz, als Para-Barry mehrmals verletzt wurde. Ja, er hat zweimal den Para-Barry durch einen anderen Para-Barry ersetzen müssen, als er zu schwer verletzt wurde. Aber er versteht seine Para-Fähigkeit noch immer nicht wirklich. Wie ist es möglich, dass er den Schmerz spürt, wenn sein Para-Barry verletzt wird, aber er selbst bleibt unverletzt? Wie ist es möglich, dass ein Para-Barry beim Auflösen der Projektion manche Gegenstände mitbringen kann (wie etwa den Diamanten-Wal), aber die schmutzige Kleidung an Para-Barry nicht mitkommt? Ist das eine Frage des Wollens? Hat Marcus in Neuseeland vielleicht doch Recht, dass sich Para-Begabungen zusammenschließen sollten, weil sie nur mit ihresgleichen frei reden und sich beraten können? Weil man dann den Phänomenen gemeinsam nachgehen kann?
Ein anderer Aspekt beschäftigt Barry noch mehr: In den wenigen Tagen, seit er in Rio ist, hat er durch seine Fähigkeiten erstmals nicht nur sich selbst geholfen, sondern anderen Menschen: den deutschen Touristinnen, dann der Stewardess Viktoria, aber vor allem heute Abend. Und war dies heute nicht in einer Weise befriedigend, wie er es vorher nie erlebt hat? Wieder muss er an Marcus denken, der sehr deutlich sagte, dass Para-Begabungen ihre Fähigkeiten auch für das Wohl anderer einsetzen sollten. Eines weiß Barry: Er wird die zehn Millionen Dollar Belohung nicht selbst verwenden, sondern versuchen, dieses Geld sinnvoll in den Armenvierteln einzusetzen. Und er hat eine Idee, wie. Er wird diese morgen mit João besprechen und hofft, ihn davon überzeugen zu können, mitzumachen und das Nötige zu organisieren.
Die Medien berichten am nächsten Tag erstaunlich ausführlich über den spontanen Hilfseinsatz während des Sturms. Die verschiedenen karitativen Einrichtungen, die sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Ärmsten einsetzen, erhalten einen Spendenregen wie kaum je zuvor. João wird als großes Vorbild genannt.
João und Barry sitzen in seiner Villa beisammen. Barry hat zur Überraschung Joãos mehrere Säcke mit leeren Getränkedosen mitgebracht und einen Kübel mit Schnellkleber.
»Ich möchte dir etwas zeigen, João.« Barry nimmt zehn leere Dosen, die er stehend aneinander klebt. Das macht er ein zweites Mal und klebt schließlich die beiden Reihen von Dosen übereinander. Das Ganze hat keine drei Minuten gedauert. João weiß noch immer nicht, worauf Barry hinauswill.
»Was wir hier haben, João, ist der ideale Baustein, sozusagen ein ,Dosenziegel‘ für ein einfaches Haus. Er kostet fast nichts, nur den Klebstoff und ein paar Minuten Arbeit, beseitigt sogar die überall herumliegenden leeren Dosen, ist sehr leicht und durch die Luft in den Dosen gut isolierend. Indem man solche und um 50 Prozent längere ‘Bausteine’ klebt, kann man einfach eine primitive Hütte mit Tür und Festeröffnungen bauen, wobei man bei Bedarf zum Beispiel eine Fensteröffnung im Handumdrehen durch das vorübergehende Einsetzen von weiteren Bausteinen schließen kann. Im Vergleich zu den Hütten, wie wir gestern viele in den Favelas gesehen haben, sind die aus ,Dosenziegeln‘ gebauten Unterkünfte stabil. Wenn ein Sturm sie wirklich zerstört, sind die dann herumfliegenden Dosen viel ungefährlicher als etwa Wellblechstücke. Machen wir doch einen Versuch: Kannst du zwei deiner Mitarbeiter beauftragen, aus den mitgebrachten Dosen Dosenziegel und daraus eine Wand mit einer Türöffnung zu bauen?«
João ist interessiert. Während sich zwei seiner Mitarbeiter an die Arbeit machen, erklärt Barry weiter: »Ich möchte die zehn Millionen Dollar Belohnung aus der Stern-Geschichte, mit der ich ja nie gerechnet habe und die mir mehr oder minder zufällig in den Schoß fiel, einer Organisation spenden, die den Armenvierteln hilft. Diese Summe ist zu gering, um wirklich etwas zu bewirken. Aber sie ist groß genug, die Mittel für Dosenhütten - nämlich Klebstoff und Unterricht, wie man aus den Dosenziegeln Hütten baut - für fast ganz Brasilien zu finanzieren. Wenn dann andere dafür sorgen, dass die primitivste Wasser- und Abwasserversorgung auch noch sichergestellt ist, hätten wir einen großen Schritt vorwärts gemacht. Übrigens lassen sich die Dosenziegel auch sehr gut als Stützwände für ebene Terrassen, auf denen man Gemüse pflanzen kann, verwenden. Du bist doch gestern schlagartig als Wohltäter bekannt geworden und wirst sicher mehrere Radio- und Fernsehauftritte haben. Nütze sie aus für die Werbung für die Dosenhütten und für Spenden an eine Stiftung für eine Verbesserung der Verhältnisse in den Favelas.«
João ist von Barrys Vorschlag fasziniert. »Aber du musst mitmachen. Du musst die Stiftung leiten«, meint João.
Während ihre Ideen immer konkreter werden, sind zwei Wände einer recht netten Dosenhütte fertig, die eine Wand mit Türöffnung, die andere mit Fenster. Und Barry zeigt, wie man aus Dosenziegeln auch ein schräges Dach aufsetzen kann. Als der Gärtner mit einem Schlauch das Dach massiv bespritzt und es darunter trocken bleibt, ist João endgültig überzeugt.
»Ich glaube, das könnte gehen. Es ist jedenfalls einen Versuch wert.«
Wie Barry vorausgesagt hat, wird João zu mehreren Fernsehauftritten gebeten, die ideale Gelegenheit zum Versuch mit Dosenhütten und zu Spenden für Wasser und Abwasserinfrastruktur aufzurufen. Barry spendet zehn Millionen Dollar für das Hüttenprojekt, João dieselbe Summe für Wasser. Weitere Spenden fließen zu, die Regierung beschließt eine Verdoppelung.
Viele Freiwillige helfen beim Hüttenbau, bei der Verlegung von Wasserleitungen oder engagieren sich in der Ausbildung. Die nächsten Wochen vergehen für João und Barry wie im Flug: Nicht alles geht so glatt wie geplant, immer wieder sind sie mit neuen Problemen konfrontiert, nicht zuletzt mit dem Misstrauen der Bewohner der großen Favela, deren Umbau sie als »Pilotversuch« sehen. Obwohl sie, um die Zustimmung der Bewohner zu erreichen, diesen sogar Geld und Nahrungsmittel zur Verfügung stellen, gibt es eine endlose Kette von fast unlösbaren Streitereien, vor allem auch um Fragen wie: Eine wie große Hütte mit wie großer Gemüseterrasse kann jeder bekommen usw.
Dennoch, der Fortschritt ist unübersehbar, das Pilotprojekt wird erfolgreich abgeschlossen. Die ehemals armselige Favela ist einer sehr viel bewohnbareren und hygienischeren Einfachstsiedlung gewichen. Die offizielle Eröffnung, mit genügend Caipirinhas, Batidas und einer Feijoada für alle, wird ein großer Erfolg. Barry und João werden in ihrem Hotel bzw. in der Villa von allen Fernsehstationen Rios interviewt und gefeiert. Barry hat das erste Mal in seinem Leben das Gefühl, etwas wirklich Vernünftiges getan zu haben.
Aber genau zu diesem Zeitpunkt schlägt die allgemeine Stimmung um:
»Während wir in Dosenhütten und noch immer arbeitslos wohnen, lassen sich die ‚Wohltäter‘ in ihren Prachtwohnungen feiern und klopfen sich gegenseitig bewundernd auf die Schultern für ihre Mildtätigkeit. Die könnten sich doch sicher auch leisten, etwas Besseres für uns zu bauen. Mehr Steuern auf die Einkommen der Reichen! Sie beuten uns ja doch nur aus. Mit dieser Aktion wollten sie uns nicht helfen, sondern nur ruhig stellen. Da spielen wir aber nicht mit. Wir werden es ihnen zeigen, uns mit Almosen abzuspeisen.«
Die Stimmung wird immer aggressiver. Als schließlich Protestzüge das Hotel angreifen, in dem Barry wohnt, flieht dieser in die gute, geschützte Villa von João. Polizei und Militär stellen die Ruhe wieder her, aber Barry ist tief verletzt: Hat er nicht einen riesigen Betrag hergeschenkt, und das ist der Dank? Marcus hatte nicht Recht, ER hatte Recht: Man darf nur an sich denken, alles andere ist zwecklos.
João sieht es gelassener: »Barry, beruhige dich. Was wir gemacht haben, war gut. Es gibt sicher viele, die uns danken, und eben auch viele, die es nicht tun. Ich werde wieder weniger sichtbar werden, aber weiter im Stillen für einen stärkeren sozialen Ausgleich in unserem Land arbeiten. Das sind wir jenen Menschen, denen es oft noch schlechter geht als hungernden Tieren, einfach schuldig. Wir müssen auch in diesem Land so weit kommen, wie ihr das in Neuseeland geschafft habt, dass auch die Ärmsten noch einigermaßen menschenwürdig leben können. Mehr ist kaum zu erreichen und damit ist für immer ein gewisses Spannungsverhältnis vorprogrammiert.«
»Du bist schon okay, João. Aber ich mache nicht weiter mit. Ich fliege morgen nach Brasilia. Ich habe dort einen guten Freund, dort kennt mein Gesicht niemand, so hoffe ich jedenfalls. Und dort werde ich so leben, wie ich immer gelebt habe: für mich, gewürzt mit den Freuden des Lebens!«
»Du meinst damit wohl wieder mit unzähligen Weibergeschichten, oder?«, fragt João spöttisch.
Barry liegt eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber zum Glück hält er sich zurück und sagt nur: »Na ja, ein hübsches Mädchen könnte ich schon wieder gebrauchen. Jetzt habe ich einige Wochen ja nur für diesen Traum wie ein Mönch gelebt.«
João ruft für den Abend zum Abschied von Barry noch einige Freunde zusammen. Auch Julia (die ehemalige Freundin von Alfredo, der einem Gefängnisstrafe sicher nicht entgehen können wird) kommt schon mit einem neuen »Beschützer«. Barry ist von dieser schönen Frau noch immer fasziniert, aber sie hat eine lange Schlange von Verehrern, das ist klar. Auf Alfredo angesprochen, reagiert sie kühl.
»Er war großzügig«, zuckt sie die Schultern, »aber auch ein ziemliches Schwein. Geliebt habe ich ihn nie. Dass er so ein Gangster ist, hat mich aber doch überrascht. Aber wirklich miteinander geredet haben wir ja nie, ich war halt immer hübsch zum Vorzeigen. Übrigens«, schießt sie ein bisschen zurück, »mit deinem Interesse an schönen Fotos scheint es nicht gar so weit her zu sein.«
»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, jedenfalls gilt das für mich. Wenn‘s bei dir auch so ist - ich werde sicher noch öfter nach Rio kommen.« Julia nickt mäßig interessiert.
Als die Gruppe kleiner wird, setzt sich Angela zu Barry.
»Barry, ich wollte dir nur sagen, wie sehr ich dich schätze. Ich kenn dich ja schon einige Zeit und immer bist du mir nett, aber sehr oberflächlich vorgekommen, nur auf neue Mädchen aus, sonst nichts. Es tut mir Leid, dass ich dich so falsch eingeschätzt habe. Du hast mit deinem Engagement für die Favelas gezeigt, dass du nicht nur ein guter Liebhaber bist - das bist du nach all den Erfolgen, von den ich ab und zu höre, sicher -, sondern dass du auch ein guter Mensch bist. Jetzt bist du zwar enttäuscht und reagierst wieder wie der alte Barry, den ich kenne. Aber ich weiß, du wirst früher zu dir finden, als du glaubst. Du bist in diesem Hause immer gerne gesehen, nicht nur von João, wie du immer glaubst, sondern auch von mir. Komm oft wieder. Und, weil du das für dein Ego zu brauchen scheinst. Ich hätte dich auch gerne einmal als Liebhaber in den Armen gehalten, wäre sicher interessant gewesen, aber ich weiß, wie man die Prioritäten setzen muss ... Du schaust so verblüfft, Barry. Ich bin keine Hellseherin, aber ich bin sicher, dass sich deine Prioritäten schneller ändern werden, als du es heute für möglich hältst.« Angela gibt Barry einen Kuss auf den Mund, João sieht es lächelnd.
Er umarmt Barry: »Ich freue mich, dass ihr euch versteht. Manchmal war ich traurig, dass eure Distanz so groß war.«
Barry ist verwirrt und beschämt, weil er nicht immer positiv über Angela gedacht hat. Es wird wirklich Zeit, dass er Rio verlässt ... Er scheint hier mehr Lektionen zu erhalten, als er sich wünscht.
Als Barry in Brasilia ankommt, lässt er sich in das erstbeste große Hotel beim unterirdischen Busbahnhof der Stadt fahren. Von hier kommt man leicht aus der Stadt hinaus, ist aber auch nahe bei den Prachtstraßen zum »Palast der Morgenröte«, dem Sitz des brasilianischen Präsidenten, den Regierungsgebäuden, dem »Platz der drei Gewalten«, den beiden »Schalen«, in denen Unterhaus bzw. Oberhaus des Parlaments tagen, mit dem Hochhaus dazwischen, ja nahe bei fast allen Sehenswürdigkeiten der Stadt, wenn man von der blauen Kirche, der Universität und dem See absieht. Barry ruft seinen Freund Carlos an.
Drei Jahre haben sie nichts voneinander gehört, aber Carlos reagiert, als wären sie erst gestern zusammen gewesen.
»Hallo Barry, ist ja irre, dass du in der Stadt bist. Hast du schon gegessen? Sonst komm doch zu uns rüber. Meine Freundin Gina, du erinnerst dich sicher an sie, kocht gerade was für uns und sie kocht immer zu viel.«
Dann hört Barry, wie Carlos mit Gina redet: »Stell dir vor, Barry ist grade in die Stadt gekommen.«
»Kommt er zu uns essen? Wäre nett«, hört Barry, wie Gina Carlos fragt, dann ist wieder Carlos direkt in der Leitung:
»Also Barry, egal ob du willst oder nicht, das ist ein demokratisches Land und du bist überstimmt. Du musst kommen. Komm mit dem Taxi, wir haben das Wiedersehen zu begießen.«
Barry ist froh, dass er am Flughafen zwei Flaschen guten chilenischen Rotwein gekauft hat. In der Hotellobby besorgt er noch Blumen für Gina und dirigiert dann das Taxi zu dem »Superquadro«, in dem Carlos seine schöne Wohnung hat. Er wird fröhlich und herzlich begrüßt. Während des Abendessens tauschen sie aus, was sie erlebt haben, seit Barry vor drei Jahren hier war, damals noch mit seiner hübschen blonden Freundin Ulla aus Schweden.
»Wie lange bist du diesmal hier?«, erkundigt sich schließlich Carlos.
»Ich weiß nicht genau, aber vermutlich einige Zeit, einige Monate oder länger sogar. Das Erste, was ich machen werde, ist, mir eine nette Wohnung so wie deine zu suchen.«
Carlos kann sich nicht halten vor Lachen. »Was ist das für ein verrückter Zufall! Ich gehe übermorgen auf mindestens zwei Jahre nach Europa und habe noch keinen Mieter für die Wohnung. Du kannst mich übermorgen auf den Flughafen bringen und dann direkt hier einziehen. Ich lasse alles hier, Möbel, Geschirr usw. Nur wenn du die Wohnung nicht mehr brauchst, dann schau bitte, dass du sie vermietest. Aber da kann dir dann ja auch Gina helfen.«
»Moment ... wenn ich zwei Tage später gekommen wäre, hätte ich dich gar nicht mehr getroffen?« Carlos nickt.
»Und ich kann die voll eingerichtete Wohnung übernehmen?« Carlos nickt wieder.
»Und verstehe ich das richtig, dass Gina nicht mit dir kommt?«
Carlos sagt langsam: »Gina wohnt schon einige Zeit nicht mehr bei mir, die Einliegerwohnung ist auch frei, da suchst du dir am besten ein Mädchen, das für dich die Hausarbeit macht. Meines habe ich schon entlassen und es ist zurück nach Salvador. Was Gina und mich anbelangt: Wir sind sehr gute Freunde, aber wir gehen jetzt einmal getrennte Wege. Ich würde mich freuen, wenn du dich um Gina ein bisschen kümmern würdest.«
Carlos betont das so, dass klar ist, was er meint, und Gina ein wenig errötet.
»Gina, bist du traurig, dass Carlos weggeht?«
»Schon ein bisschen. Aber wir haben das sehr lange besprochen. Wir sind nicht mehr so verliebt, wie wir es einmal waren, und haben beide beschlossen, dass wir einmal ohne einander leben sollten. Und was dich und mich anbelangt: Ich hoffe, wir werden so gute Freunde bleiben, wie wir es seinerzeit waren. Es ist schön, dass du da bist. Wenn du willst, helfe ich dir auch ein Mädchen für deine Einliegerwohnung zu finden ... Ich kenn eines, Gabriela, du kannst sie morgen treffen und dann entscheiden, ob du es mit ihr probieren willst. Übrigens, Carlos will auch sein Auto verkaufen. Ich werde das übernehmen, vielleicht willst du es dir ansehen.«
Barry ist über die Entwicklung einigermaßen überrascht: Da sitzt er bei seinen besten Freunden in Brasilia, erfährt gerade, dass sein Freund weggeht und ihm alles übergibt, sozusagen inklusive Freundin.
Sein Erstaunen entgeht Carlos nicht: »Wir Brasilianer nehmen manche Dinge nicht ganz so ernst wie ihr. Wir haben das Sprichwort: Vier Dinge muss man gut können, nämlich Essen, Trinken, Lieben und Vergessen.«
Die drei sitzen noch lange zusammen, es wird ein sehr schöner harmonischer Abend. Es ist so, als würde Carlos‘ Abreise nicht bevorstehen. Am Rückweg zum Hotel bringt Barry Gina zu ihrer Wohnung. Als sie aussteigt und ihn flüchtig auf die Wange küsst, sagt sie noch:
»Es ist schön, dass du gerade jetzt gekommen bist. Und vergiss nicht, morgen um 11 Uhr bei mir, damit du Gabriela kennen lernen kannst.« Barry schaut ihr mit Vergnügen nach, wie sie sich aus dem Taxi schwingt, ihre langen Beine blitzen kurz durch den Schlitz ihres Kleides, sie schüttelt ihre langen braunen Haare, geht schwungvoll zur Haustür und dreht sich noch einmal mit einem Winken zu Barry um.
Als er am nächsten Tag kurz nach 11 Uhr in Ginas Wohnung kommt, sind dort noch drei weitere junge Frauen: Carola und Anna, die mit Gina zusammenwohnen, und Gabriela. Noch bevor Gina die Kochkünste und anderen Fähigkeiten von Gabriela gelobt hat, hat sich Barry schon für sie entschieden: Sie ist freundlich und gut aufgelegt, unauffällig hübsch, eine zarte, junge Brasilianerin, braune Haut, schwarze Haare, weiße Zähne, verspricht Barry, dass sie sich um alles in der Wohnung - von der Wäsche bis zum Kochen - kümmern und ihre Zeiten ganz seinen Vorstellungen anpassen wird. Neben Wohnung und Essen verlangt sie einen so lächerlichen Betrag, dass Barry das nicht akzeptiert und ihr mehr zusagt. Gina wird ihm dafür später Vorwürfe machen:
»Du verpatzt mit dem, was du zahlst, die Mädchen. Sag ja niemandem, wie viel du Gabriela zahlst. Und sie darf es auch nicht weitersagen, sonst machst du dir gleich Feinde. Alle genießen es, dass man im Haus lebende Hilfskräfte praktisch für nichts bekommt.«
Gabriela wird am nächsten Tag, wenn Barry die Wohnung bezieht, auch ihre »Einliegerwohnung« beziehen. Diese besteht, wie in Brasilien üblich, aus einem kleinen Wohn-Schlafzimmer mit winziger Kochnische und einer eigenen »Nasszelle«. Für Barry wird es ein ungewöhnliches Leben werden: Er wird umsorgt werden, als wäre Gabriela seine eigene, aber noch überhaupt nicht emanzipierte Frau, eine Frau, der er aber zu nichts verpflichtet ist. Obwohl ihm sehr bewusst ist, dass diese Situation nur um Nuancen von Sklaverei verschieden ist, ist es für ihn wie für alle, die es sich leisten können, ein sehr angenehmes Arrangement. Mit Schmunzeln denkt er daran, dass es in Neuseeland oder in Europa eigentlich nur katholische Priester mit Haushälterinnen ähnlich gut haben!
Barry kauft auch das Auto von Carlos. Es ist ein großer, ehrwürdiger Veteran aus der Anfangszeit der mit Alkohol (Methylester aus Zuckerrohr) betriebenen Motoren. Das Programm der Regierung, Erdöl durch Biosprit zu ersetzen, war nicht so schnell erfolgreich, wie 1975 nach der Ölkrise gehofft wurde. Nach einigen Aufs und Abs gehört aber, wie Barry weiß, Brasilien zu den wenigen Ländern, wo Neuautos vorwiegend »Alkoholiker« sind.
Am Abend gibt es ein typisches brasilianisches Fest zur Verabschiedung von Carlos. Besucher kommen und gehen, wann sie wollen, jeder bringt was mit, es gibt laute Musik, die Nachbarn beschweren sich nicht, sondern kommen einfach dazu, es wird sehr spät. Barry bringt Carlos am nächsten Tag zum Flughafen. Als sich Carlos verabschiedet, lacht er Barry zu: »Lass von dir hören, wie du mit deinen diversen Frauen fertig wirst.« Barry versteht einen Moment nicht, was Carlos meint, bis er mitkriegt, dass dieser von Gina und Gabriela spricht. Aber Carlos hat auch an Carola und Anna gedacht und die vielen Sekretärinnen in den Botschaften, für die Brasilia viel zu wenige ungebundene und interessante Männer zu bieten hat.
Das Leben in Brasilia fängt gut an für Barry. Gabriela ist so erfreulich, wie er es gehofft hatte. Stets gut aufgelegt nimmt sie Barry jeden Handgriff ab. Sie lässt ihn aber sonst sofort allein und zieht sich zurück, wenn sie nichts zu tun hat und er ihr nicht ausdrücklich sagt, dass sie bleiben kann, um ihre Tätigkeiten - vom Blumengießen bis zum Fensterputzen oder Abstauben - ruhig fortsetzen kann. Ihr dabei zuzusehen macht Barry oft Spaß: Sie läuft in der Wohnung immer barfuß herum, trägt stets eine Bluse, bei der immer Knöpfe offen stehen, und kurze Röckchen, die bei manchen Bewegungen ihre bunten kleinen Slips (Farbe immer mit der Bluse abgestimmt) nicht ganz verbergen. Vom ersten Tag an ist es klar, dass sie Barry für »alles jederzeit zur Verfügung steht«, wie sie ihm schon bei der Vorstellung scheinbar unschuldig gesagt hat.
Barry macht sich an den ersten Tagen wieder mit Brasilia vertraut und geht ganz systematisch vor, einen längeren Aufenthalt vorzubereiten. Er eröffnet zunächst ein großes Bankkonto; damit wird ihm der Zugang zu einem der besten Clubs am Lago do Paranoá, dem künstlichen See, an dem Brasilia liegt, zugänglich. Nach zwei Besuchen hat er einige Freundschaften geschlossen, hat die Adressen eines guten Arztes und eines Rechtsanwaltes, bei denen er sich (für den Notfall) vorstellt, und er hat ohne sich zu bemühen die Telefonnummern von einigen Frauen, die sich offenbar für ein intensiveres Zusammensein interessieren. Die Mitgliedschaft im Club verschafft ihm auch ein eigenes Zimmer, wo er manchmal ein Mittagsschläfchen macht. Er weiß vor allem, dass er für Aktivitäten, bei denen er vielleicht seine Para-Fähigkeit einsetzen wird, einen Raum braucht, wo der »schlafende« Barry liegt, während er alles über den Para-Barry erlebt.
Nachdem er Gina zwei Tage nicht gesehen
hat, ruft er sie an und fragt, ob sie mit ihm nicht zum Oberlauf
des Itiquira auf ein Picknick und zum Schwimmen fahren möchte. Sie
kennt die Stelle nicht, die er beschreibt.6
Gerne sagt sie zu, aber sie schlägt vor, dass auch Carola und Anna mitfahren, er soll das Benzin übernehmen, sie werden Proviant und Getränke besorgen.
Also fahren sie zu viert am nächsten Vormittag aus der Stadt hinaus nach Norden. Sobald sie die Stadt verlassen, wo Rasenflächen zumindest teilweise gepflegt und gegossen werden, zeigt die Landschaft ihr wahres Gesicht. Jetzt, obwohl erst in der Mitte der Trockenzeit, ist die Landschaft schon trostlos braun, der Boden aus rotem Staub. Dazwischen überall die bis zu zwei Meter hohen pyramidenförmigen Termitenhügel. Die Stimmung ist lustig: Die Mädchen sprechen alle gut Englisch, doch manchmal wechseln sie auf rasches Portugiesisch, bei dem Barry keine Chance hat, es zu verstehen, und sie schauen sich dann gegenseitig und Barry kichernd an. Sie scheinen irgendeinen Streich auszuhecken, ist Barry ziemlich sicher. Er beginnt sich auf die Straße zu konzentrieren, den die Abzweigung nach Westen auf eine Staubstraße ist ganz leicht zu übersehen und er war nun doch schon lange nicht hier. Er erkennt die Stelle jedoch rechtzeitig und folgt zielstrebig über die karge Hochfläche einem schlechten Fahrweg, bis es nicht mehr weitergeht.
»Da sind wir«, verkündet er mit ein bisschen Stolz. Er stößt auf totalen Unglauben der Mädchen:
»Aber da ist doch weit und breit kein Wasser!«
»Lasst euch überraschen«, sagt Barry. Er nimmt Gina die Kühltasche ab, Carola und Anna tragen zwei Körbe mit dem Essen, Gina nimmt einige Badetücher, noch immer ungläubig, über den Arm. Barry führt sie ein Stückchen bergab: Da stehen auf einmal grüne Büsche und dahinter ist ein fast kreisrundes Loch, etwa drei Meter im Durchmesser: die Quelle des Itiquira! Hier kommt kühles Wasser in einem unaufhörlichem Schwall senkrecht aus der Erde und beginnt sich, ungefähr nach Norden fließend, immer tiefer, in vielen Wasserfällen, in das Hochplateau einzugraben.
Barry erklärt dieses Phänomen und dass sie nicht direkt dem Fluss entlanggehen können, sondern einen kleinen Umweg gehen müssen, um an einen der schönsten kleinen Wasserfälle mit herrlichem Schwimmloch zu gelangen.
»Ihr kennt euch ja vielleicht besser aus in Brasilien als ich. Beachtet aber trotzdem: Erstens - dieses Wasser ist beschwimmbar, es ist nicht wie der See in Brasilia durch Schistosoma7 verseucht. Zweitens - der Boden wird sumpfig und dort gibt es Skorpione, deren Stich nicht tödlich, aber sehr schmerzhaft ist. Und drittens - so trocken es hier ist, entlang des sich immer tiefer einschneidenden Flusses ist die Vegetation dicht und tropisch und es gibt tödliche Baumschlangen. Bitte daher nicht dicht unter den Zweigen gehen, am besten direkt hinter mir.«
Die Erklärungen Barrys genügen, dass die drei jungen Frauen nun sorgfältig achten, wo sie hinsteigen, vor allem, als es sumpfig wird. Kurz danach geht es weglos steil in die inzwischen beachtliche Schlucht hinunter und am unteren Ende durch sehr dichten Dschungel. Bevor der Ausflug zu unheimlich wird, haben sie das Ziel erreicht. Sie kommen aus dem dichten Wald heraus in eine Szene wie aus einem Film: vor ihnen ein herrlicher Tümpel, am Ausfluss, wo sie jetzt stehen, körniger Sand und flache Granitplatten. Im Hintergrund rauscht ein mehrere Meter hoher Wasserfall in das Becken, das von Felsen und dahinter dichtem Wald umgeben ist.
»Unglaublich«, jubeln sie, »was uns ein Ausländer zeigen muss, weil wir es nicht kennen!«
6 Die Quelle des Itiquira war jahrelang so wie der weiter flussabwärts liegende sehr hohe Wasserfall, der Cachiero do Itiquira, ein Geheimtipp, den auch Einheimische nicht kannten. Heute ist der große Wasserfall leider in einen kommerziellen Vergnügungspark umgewandelt, der Wasserfall und der durch ihn entstandene See sind aber noch immer sehens- und beschwimmenswert. Seite 110
Carola taucht ihre Hand ins Wasser: »Angenehm zum Schwimmen, mir ist schon richtig heiß geworden«, kommentiert sie. Sie beginnt sich auszuziehen, lacht über Barrys neugierigen Blick, macht aber keine Anstalten ihren Bikini anzuziehen: »Hier brauchen wir nichts, außer Sonnenöl.«8 Die anderen folgen ihrem Beispiel, Barry eingeschlossen.
Als Carola beginnt sich mit Ginas Hilfe einzuölen, unterbricht sie Barry.
»Also das Vergnügen müsst ihr schon mir überlassen.« Er reibt zunächst sorgfältig Carola ein. Die anderen schauen amüsiert zu, als er ihren hellen Busen (»besonders sonnengefährdet«) so lange genüsslich einschmiert, bis die Nippel steil stehen, und er dann das Dreieck zwischen ihren Beinen (»Haare genügen hier gegen die starke Sonne nicht«) gleichfalls liebevoll behandelt. Dann sind Anna und Gina dran.
Als sich dann die drei Mädchen an Barry revanchieren, ist es klar, dass dieser mehr als angeregt ist. Aber Carola lässt nicht locker: »Der beste Teil darf keinen Sonnenbrand kriegen.«
Barry genießt es und fühlt sich zurückversetzt in seine Kindheit, als sie ähnliche Spielchen versteckt und mit schlechtem Gewissen ausprobiert haben.
»Ich glaube, es wird Zeit für das Wasser«, meint Anna. Sie schwimmen gemeinsam zum Wasserfall, hinter dem man bequem sitzen kann, tauchen durch das prasselnde Wasser, spritzen, grapschen, turnen, tragen sich gegenseitig und lachen wie Kinder.
7 Bilharziose, Gruppe von Wurmerkrankungen bei Menschen und Tieren, durch verschiedene Arten der zu den Saugwürmern gehörenden Gattung der Pärchenegel (Schistosoma) ausgelöst. Die Gabelschwanzlarven (Zerkarien) können sich durch die Haut (bzw. beim Trinken verseuchten Wassers durch die Schleimhaut) bohren. Mit dem Blutstrom gelangen sie in die Leber, wo sie heranreifen, um sich paarweise in den Blutgefäßen des Unterleibs anzusiedeln. Die Bilharziose verläuft nach einem akuten, fieberhaften Anfangsstadium chronisch. Komplikationen können dadurch entstehen, dass die Ablagerung von Eiern oder Begleitentzündungen Schäden in anderen Organen hervorrufen, die unbehandelt bei schweren Infektionen zum Tod führen können. Die Bilharziose ist nach der Malaria die verbreitetste Tropenkrankheit, von der nach Schätzungen mehr als 300 Mio. Menschen auf der Erde befallen sind. Die Prognose ist im Frühstadium günstig. Wirksamster individueller Schutz ist die Vermeidung jeglichen Hautkontakts mit Binnengewässern in Verbreitungsgebieten. Bilharziose ist nach dem deutschen Arzt Bilharz benannt, der als Erster eine Therapie dagegen entwickelte. Ausgangspunkt waren ägyptische Bauern am Nil.
Schließlich stürzen sie sich auf das Essen und die Getränke. Auch dabei geht es fröhlich zu. Da hält zum Beispiel Gina Carolas Augen zu, während die beiden anderen ihr kleine Essensbissen in den Mund schieben. Carola muss erraten, was es ist. Und immer, wenn sie es nicht schafft, bekommt sie einen Klaps auf ihren Po. Das geht reihum und wird recht aufregend.
Dann muss man sich wieder gegenseitig einölen. Plötzlich werden die Mädchen ruhiger.
Dann meint Carola: »Und, seid ihr jetzt bereit?« Die beiden anderen nicken. Carola erklärt Barry, was sie ausgeheckt haben.
»Wir dachten, dass dir beim Schwimmen mit und Eincremen von drei nackten Mädchen nicht nur Appetit auf Essen und Trinken kommen wird - wenn ich so schaue, scheint das zu stimmen -, und daher haben wir ein Opfer« - sie lächelt - »für dich beschlossen. Wir haben gewürfelt. Eine von uns, wir wissen wer, du weißt es nicht, ist ausgewählt. Du darfst nun raten: Wenn du die richtige erwischst, dann darfst du Sex mit ihr haben, die anderen dürfen zuschauen. Wenn du daneben rätst, dann hast du Pech gehabt.«
»Eine Chance in drei«, kommentiert Barry. Er schaut sich die jungen hübschen Frauen an, wie sie jetzt erwartungsvoll auf ihren Badetüchern liegen und sich verführerisch bewegen. Er weiß, wen er wählen muss, damit er sie nicht zu sehr beleidigt. Er lächelt lange vor sich hin, dann sagt er »Gina«. Gina freut sich darüber, kommt es Barry vor, aber Carola sagt trocken:
»Pech gehabt, lieber Barry. Ich wär‘s gewesen. Also muss ich mich doch nicht für dich opfern.«
Barry durchbricht lachend das folgende Schweigen: »Ihr seid ganz schön gemein. Zuerst macht ihr mich ganz heiß und dann blitze ich ab. Ich glaube, ich muss mich abkühlen.« Er stürzt sich ins Wasser und spielt die nächste halbe Stunde den Beleidigten. Er legt sich ein Stück von den dreien entfernt mit dem Bauch auf sein Handtuch. Die Mädchen bekommen vielleicht ein schlechtes Gewissen oder es gibt andere Gründe dafür, jedenfalls kommen sie zu Barry mit »Sei nicht sauer, das waren eben die Spielregeln«, und beginnen ihn zu dritt liebevoll zu massieren. Sie hören auch nicht auf, als er sich auf den Rücken dreht.
8 Es ist gut, dass es der chemischen Industrie 2004 gelang, ein für Wasser und Wasserlebewesen unschädliches Sonnenöl zu entwickeln, das in Wahrheit ölfrei (fettfrei) ist.
Es ist ein sehr schöner Tag, empfinden sie alle, als sie nach einigen weiteren Stunden aufbrechen. Carola ist besonders aufgekratzt, eilt am Rückweg voraus und versäumt den Aufstieg aus der Schlucht.
»Nicht weiterlaufen, Carola!«, warnt Barry, »dort ist noch ein Wasserfall und sehr enge Bäume.«
»Ich möchte den nächsten Wasserfall sehen«, ruft sie und läuft weiter.
»Carola, gib Acht«, ruft Barry nun schon wirklich besorgt. Aber es ist zu spät. Carola streift von einem Zweig eine kleine grünliche Schlange, die sie in den Mittelfinger der linken Hand beißt. Carola schreit entsetzt auf. Die anderen eilen hin.
Anna sieht die Schlange gerade noch verschwinden und sagt erschreckt: »Sehr giftig.« Sie wendet sich sofort Carola zu und bindet ihr - als Krankenschwester an Notsituationen gewöhnt - mit einem Tuch den linken Oberarm energisch ab.
Leise sagt sie zu Barry: »Das hilft alles nicht. Wenn wir nicht innerhalb von 15 Minuten ein Schlangenserum bekommen, ist Carola tot. Wie sollen wir das machen?«
»Genügt das neue Bras-Uni-Serum? Es könnte sein, dass ich das zufällig im Auto habe«, lügt Barry.
»Ja, das würde gehen.«
»Gut, ihr beide bleibt bei Carola, gebt ihr zu trinken, tut was ihr könnt, und haltet die Daumen, dass ich zufällig das Serum mithabe.«
Barry läuft Richtung Auto, weicht vom Weg ab, geht in den fast undurchdringlichen Dschungel und legt sich vorsichtig hin. Dann konzentriert er sich auf das Stiegenhaus des Arztes in Brasilia, wo er Para-Barry materialisieren lässt. Para-Barry stürmt in die Ordination, ruft »Notfall«, lässt sich nicht aufhalten, bis er beim Arzt ist. Dieser untersucht gerade ein Kind, ist empört über die Unterbrechung. Doch jetzt erweist es sich als riesiger Vorteil, dass sich Barry vor wenigen Tagen persönlich vorgestellt hat. Als er dem Arzt erzählt, dass seine Frau, von einer hochgiftigen Schlange gebissen, unten im Auto sitzt und er sofort ein Bras-Uni-Serum und eine Injektionsnadel benötigt, zögert der Arzt nicht. Als er, während er das Serum sucht, fragt, wie es denn mitten in der Stadt zu diesem Biss kam, antwortet Barry nur:
»Danke für die Hilfe. Morgen im Club erzähle und bezahle ich alles.« Er lässt einen kopfschüttelnden Arzt zurück, der aus dem Fenster nach einem parkenden Ausschau hält, das er aber nicht sehen kann. Etwas verwirrt kehrt er zu dem Kind zurück: Barry wird morgen einiges erklären müssen!
Para-Barry füllt noch im Stiegenhaus die Injektionsspritze und wirft die Serumampulle weg. Er kann nicht beides mitnehmen! Er entmaterialisiert, der richtige Barry hält die Injektionsnadel in der Hand und läuft zu den drei Frauen hinunter:
»Hier, Anna, da ist die Nadel mit dem Serum.«
Anna ist sowohl erleichtert als auch verärgert: Wieso bringt ihr Barry nicht die geschlossene Ampulle und die Nadel, wie es sein sollte? Sie gibt aber Carola ganz schnell die Spritze, öffnet die Abbindung des Oberarms, der jetzt schon die roten Linien einer Blutvergiftung zeigt. Sie träufelt Carola Wasser auf das Gesicht, Carola atmet flach und schwer.
»Carola, alles ist okay, wir haben dir das Gegengift gespritzt, du bist in Kürze wieder gesund.« Fast ungläubig öffnet Carola die Augen. Anna zeigt ihr die Spritze.
»Wo ... hast ... du ... die ... her«, ist Carola schwach zu vernehmen. »Barry hatte sie im Auto.«
Innerhalb von 30 Minuten geht es Carola so gut, dass sie aus eigener Kraft zum Auto gehen kann. Diese modernen Gegengifte sind wirklich Wundermittel, denken alle vier. Die Fahrt zurück verläuft allmählich immer fröhlicher, die erlebte Aufregung hat viel Adrenalin freigesetzt, das sich jetzt bemerkbar macht. Carola besteht darauf, dass sie noch gemeinsam essen gehen.
Als sich Barry am Schluss entschuldigt, dass er sie in Gefahr gebracht hat, fällt ihm Carola ins Wort: »Jetzt hör aber mit diesem Blödsinn auf. Du hast uns gewarnt, mir nachgerufen. Ich war ein übermütiger Trottel. Du warst super und dann hast du mir wie ein Zauberer noch das Leben gerettet. Du hast bei uns allen und vor allem bei mir so viele Gutpunkte, wie du sie schwer aufbrauchen kannst. Wenn du irgendwas von mir willst, du kannst es sicher haben.«
Barry bewundert Carola, denn wie sie dies sagt, bricht schon wieder ihre Lebensfreude und das brasilianische »Fang mich, du kannst mich ja haben, probier‘s nur« durch.
Ein Tag, den ich nie vergessen werde, denkt Barry, als er alleine in seiner Wohnung ist. Er hat Gabriela für heute frei gegeben und sie ist bei ihrer Mutter in Cristalina. Er trinkt einen vorgefertigten Batida Limao, als es läutet. Wer ist das? Vorsichtig schaut er durch das Guckloch. Draußen steht Gina! Einer kurzen Überlegung folgend verschwindet er im Zimmer Gabrielas. Ein Para-Barry öffnet die Tür und begrüßt Gina mit einer Mischung aus Freude und Überraschung.
»Es war so ein verrückter Tag«, entschuldigt sich Gina, »ich wollte dich nochmals sehen und mich bei dir bedanken.«
»Bedanken?«, fragt Barry. »Komm setz dich und lass mich dir was aus der Küche holen.« Er bringt Gina etwas zum Trinken und stellt einen Teller mit Kleinigkeiten auf den Tisch, den Gabriela vorsorglich im Kühlschrank mit einer Folie abgedeckt und mit der Notiz »Für etwaige späte Gäste« vorbereitet hat.
Sie sprechen über den Tag, wie lustig er doch war, und allmählich kommt Gina auch zum Hauptthema:
»Das mit dem Sexspielchen, das war eine Idee von Carola, die ist immer die Verrückteste von uns. Und das war ein Unsinn. Aber«, sie wird verlegen, »danke, dass du mich ausgewählt hast. Beim Würfeln habe ich gehofft, dass es auf mich fällt und mir hätte es Spaß gemacht - Carola übrigens auch, das weißt du, oder? -, aber vielleicht ist es doch ohne Zuschauer lustiger.«
Barry staunt über diese offene Einladung: Er wird sich erst auf Brasilien einstellen müssen. Er umarmt Gina liebevoll. Bald sind sie beide nicht mehr zu bremsen. Als er keine Anstalten macht sich zu schützen, sondern Gina fragt, ob sie die Pille nimmt, ist sie erstaunt.
»Du bist okay?«, fragt sie.
»Ja, du kannst mir vertrauen.« Es freut Barry, dass sie dies gegen jede Vernunft tut. Er weiß ja, dass er sicher ist. Nicht umsonst ist es immer der Para-Barry, der in solchen Situationen aktiv ist - kein Unterschied für Barry, aber eine garantierte Sicherheit.
Später ruft er für Gina ein Taxi. Sie ist erstaunt, dass er sie nicht über Nacht bei sich haben will.
»Gabriela kommt morgen sehr früh, ich will nicht, dass sie dich bei mir sieht.«
»Aber mir ist das ganz egal, warum stört es dich? Hast du etwas mit Gabriela?« Para-Barry schüttelt den Kopf und Gina verlässt ihn leicht verwundert. Als er ihr aus dem Fenster noch einen Strauß Blumen hinunterwirft, gerade als sie ins Taxi einsteigt, ist wieder alles in Ordnung, auch wenn sie Barry nicht ganz versteht. Aber wie kann sie auch wissen, dass der »wirkliche« Barry im Nebenzimmer liegt und seine Para-Projektion beenden möchte?
Nicht alle Tage verlaufen für Barry so schön und glatt wie dieser. Schon am nächsten Tag kommt er ziemlich ins Schwitzen, als er dem Arzt eine »plausible« Geschichte auftischt, aber beim fehlenden parkenden Auto ziemlich ins Schleudern gerät. Daran hatte er nicht gedacht!
Gina und er werden sehr gute Freunde. Carlos gratuliert ihm dazu, als sie ausführliche E-Mails austauschen. Barry lernt durch Gina viel über das Land, über die Menschen und schließt durch sie unzählige Freundschaften. Trotz vieler intimer Nächte bemühen sich beide, irgendwo unabhängig zu bleiben. Barry hängt auch sehr an Gabriela, die immer für ihn denkt, nicht für sich.
Als Para-Barry eines Tages die letzten Barrieren zwischen ihnen einreißt, ist sie hingebungsvoll, eine herrliche Frau, aber stellt dennoch keine weiteren Ansprüche. Brasilia ist ein Paradies für interessante Männer. Vor allem die Empfänge und Feste in den Botschaften sind so gute »Jagdreviere«, dass der Jäger schon eher zum Gejagten wird. Barry erlebt schöne Stunden, als er durch seine Para-Begabung einen Mann daran hindert, in selbstmörderischer Absicht von einem Hochhaus hinunterzuspringen. Er vertieft sich dann in die Probleme des Mannes und stellt fest, dass er mit ein bisschen Geld, von dem der Betroffene nie etwas erfährt, alles zurechtrücken kann.
Sein größtes Tief erlebt Barry, als er bei der Versammlung für einen der wenigen Politikern, die er schätzt, versagt. Obwohl er den Attentäter erkennt und ihn durch seine Para-Begabung ausschalten könnte, überlegt er so lange, wie er das anstellen kann, ohne seine Fähigkeiten preiszugeben, dass es zu spät ist. Er kämpft lange mit Selbstvorwürfen, dass er nicht eingegriffen hat und so zum Mittäter geworden ist. Dies ist eines der Mosaiksteinchen, die allmählich bewirken, dass Barry beginnt, manchmal den Ideen von Marcus beizupflichten: Man kann als Para-Begabter vielleicht wirklich nicht alleine bleiben.
Zuerst beginnt Barry sein Leben in Brasilia zu lieben, dann jedoch allmählich langweilig zu finden. Schließlich fliegt er einmal spontan zu João und Angela nach Rio und wohnt bei ihnen. Sie verbringen schöne Feste und stille Abende miteinander. Als João und Angela einmal für zwei Tage nach Porto Allegre müssen, gibt Barry allen Bediensteten frei und lädt Julia auf einen Fototermin in die Villa ein.
»Und bring interessante Sachen zum Aus- und Anziehen mit«, sagt er.
»Keine Sorge«, meint Julia. Das Shooting wird für Barry ein Vergnügen: Julia weiß, wie man sich schminkt und vor der Kamera benimmt, und ist ohne jede Schüchternheit. Sie zieht sich mit sichtlichem Vergnügen vor Barry aus, an, um, posiert, wie immer er will, kommentiert da und dort - »oh, schau an, eine ganz freche Pose« -, auch bei Bildern zusammen mit Barry mit Körperberührung. Barry hat sich vorgenommen, keinen Verführungsversuchen nachzugeben oder gar selbst aktiv zu werden, sondern nur den schönen Körper von Julia voll einzufangen. Nach einigen Versuchen versteht Julia, dass es heute eine ganz klare Grenzlinie gibt und sie ist nur noch Profi.
Nach sieben Stunden und mehren tausend (!) Aufnahmen sind beide so erschöpft, dass Julia sagt: »Jetzt zeige ich dir noch was Besonderes, aber dann machen wir Schluss.«
Barry ist einverstanden. Julia zieht sich diesmal in einem anderen Raum um. Als sie kommt, trägt sie einen seidenen weißen Bademantel, einen mit Diamanten besetzten Reif um den Hals, mit Diamanten oder Bleikristall besetzte hochhackige Sandalen. Als sie allmählich ihren Mantel fallen lässt, gibt dieser zuerst die schönen Brüste frei, die Barry inzwischen gut kennt, fällt dann zu Boden: Sie trägt jetzt nur den Reif am Hals, die Sandalen an den Füßen und, Barry schwindelt es, einen mit Diamanten besetzten kleinen Slip. DEN Slip, wird Barry sofort klar, jenen Slip aus dem Überfall auf Stern, der als einziges Stück nie gefunden wurde. Barry fotografiert wie gelähmt ohne Unterbrechung.
»Weiß du, was du da trägst?«, fragt er schließlich atemlos. »Du meinst den herzigen Slip?«
»Ja, den herzigen Slip, das einzige Stück von dem Überfall auf Stern, das nie gefunden wurde. Du trägst Diebesgut und kannst dafür eingesperrt werden.«
»Ich glaube nicht«, entgegnet Julia kühl, »Alfredo hat mir das geschenkt. Wie soll ich wissen, dass es gestohlen wurde? In den Zeitungen wurde zwar ein nicht gefundenes Stück aus der Kollektion Stern erwähnt, aber es wurde nie gesagt, was es war. Und ein so solides Haus wie Stern wird doch nicht einen sehr kleinen und sehr durchsichtigen Damenslip in der Kollektion haben. Da, schau ihn dir genau an: Du wirst ihn niemals mehr sehen.« Sie tritt nahe an Barry heran, und nimmt seine Hand.
»Schau, wie weich sich das innen anfühlt und wie hart außen ... Es ist lustig, das zu tragen, sage ich dir. Bei jeder Bewegung spüre ich, dass ich was Besonderes anhabe. Und ich ziehe es nur vor jemandem aus, wenn ich den sehr liebe. Du gehörst leider nicht dazu, Barry.«
Barry lacht. »Okay, gewonnen, Julia. Was du anhast, ist aus einer Kollektion von Swarovsky aus Tirol, ich habe schon einige solcher Slips gesehen ... und gekauft. Aber du hast Recht: Immer, wenn ich ihn jemandem geschenkt habe, wurde das sehr geschätzt. Es gibt auch passende BHs dazu, solltest du dir auch besorgen oder schenken lassen. Jedenfalls, es passt dir, wie auf den Leib geschneidert. Komm, wir sind hier fertig, zieh dich für ein Abendessen hübsch an, wir haben uns was Gutes verdient.« Julia schaut verunsichert.
Über das Abendessen verliert sich die Schärfe ihrer letzten Wortwechsel. Barry fühlt sich mit der extravagant und sexy gekleideten Julia beim Abendessen fast wie auf einer Bühne, so werden sie immer wieder angesehen.
»Ja«, denkt er, »ich kann schon verstehen, dass man vielleicht stolz ist, mit so einer Frau zusammen gesehen zu werden. Aber wer hat gesagt: ,Sie erinnert mich an einen Elefanten - ich sehe ihn gerne, aber haben möchte ich keinen.‘?«
Julia erfährt nichts von diesem nicht so schmeichelhaften Vergleich. Sie nimmt die Filme von Barry und sie verabschieden sich wie Freunde. Einige Tage später bekommt Barry in Brasilia ein Paket: Es sind über 2.000 Fotos von Julia, zum Teil hinreißend schön, und eine kurze Notiz:
»Nicht alles, was du aufgenommen hast, ist brauchbar, aber es sind so viele einfach superbe Fotos dabei, dass du mir nichts schuldest, sondern eher ich dir. Trotzdem, halte dich an dein Versprechen: Kommerziell verwerten darfst du die Fotos nur mit meiner Zustimmung, zeigen darfst du sie aber deinen Freunden und Freundinnen, wenn du willst. Ich fühle mich fast geehrt, wenn du mit mir angibst. Nur die mit einem roten Kreuz hinten darfst du niemandem zeigen.«
Barry schaut sich die freizügigsten und frechsten Bilder an, nirgends ist ein rotes Kreuz darauf. Allmählich dämmert es ihm: Ein rotes Kreuz ist nur auf den Bildern, auf denen Julia den diamantenbesetzten Slip trägt!
Zu den größten Überraschungen, die Barry erlebt, zählt ein Anruf von Hannelore aus Deutschland, jener Touristin, der er in Rio geholfen hat. Sie redet lange mit ihm, richtig verlockend und herzlich und sagt mehrmals, er solle sie doch einmal in Deutschland besuchen. Schließlich sagt Barry ohne konkreten Termin zu. Wie häufig im Leben spielen Zufälle eine größere Rolle, als man wahrhaben will. Der geplante Besuch bei Hannelore wird für Barry bedeutende Folgen haben.
Eine andere sehr schöne Überraschung ist es, dass eines Tages die Stewardess Viktoria vor der Tür steht, die Flugbegleiterin aus Neuseeland! Sie hat sich ein paar Tage frei genommen und beschlossen, Barry zu besuchen. Obwohl sie bald versteht, dass sie hier nur die dritte im Bunde ist (neben Gabriela und Gina), akzeptiert sie das wie die beiden anderen und genießt die Tage mit Barry, wie er es genießt, Viktoria die Schönheiten und Eigenheiten von Brasilia zu zeigen: die architektonisch interessanten Regierungsgebäude, von denen viele der Architekt Niemeyer entwarf, ja den Entwurf der ganzen Stadt, die auf dieser trockenen und meist heißen Hochebene am Reißbrett des brasilianischen Architekten Lucia Costa entstand, dessen Besessenheit von der Hitze und dem fehlenden Wasser durch den künstlichen See zum Ausdruck kommt (der allerdings durch Schistosoma verseucht und daher zum Schwimmen ungeeignet ist) - eine Besessenheit, die von Niemeyer übernommen wurde, indem alle Regierungsgebäude im Wasser stehen oder Wasserfälle besitzen.
Niemeyer baute ja auch den Palácio da Alvorada (den Sitz des Präsidenten, den Palast der Morgenröte) direkt am künstlichen See. Auch der Oberste Gerichtshof mit den herrlichen Skulpturen davor, die bewegende Kathedrale mit ihren tonnenschweren, aber wie schwerelos schwebenden drei Engeln, der Platz der drei Gewalten mit Regierungs-, Kongress- und Justizgebäude mit ihren eigenwilligen Formen sind ihm zu verdanken. Er konzipierte nach Costa das kreuzungs- und ampelfreie Verkehrssystem9 durch eine Verknüpfung von Kreisverkehren, Einbahnsystemen und Straßenzügen in denen man links statt rechts (!) fahren muss.
Barry zeigt Viktoria auch die blaue Kirche, einen quadratischen Bau, bei dem alle vier Seiten fast ohne Unterstützungselemente aus blauem Glas bestehen; die ungewöhnliche Universität, wo der gesamte Verkehr unter dem Boden verläuft und deren Hauptgebäude ein zwei Kilometer langer Doppelbogen ist, mit einem Park zwischen den Bögen. Er erklärte Viktoria die Idee der Superquadros, der großen »Vierkantbauten« mit den Sport-, Spiel- und Parkanlagen im Zentrum, mit denen versucht wurde, innerhalb einer Stadt ein Zusammengehörigkeitsgefühl wie in einem Dorf zu schaffen.10 Die fehlende Kriminalität in Brasilia im Vergleich zu Rio verblüfft Viktoria, die Erklärung dafür schockiert sie: Um Brasilia herum wurden Satellitenstädte gebaut, aus denen die Bewohner zum Arbeiten täglich mit Bussen und LKWs buchstäblich zur Arbeit gekarrt und um 17 Uhr pünktlich wieder aus der Stadt entfernt werden.
Sie besuchen gemeinsam bei Freunden Feste, die sich über das ganze Wochenende erstrecken, bei denen man schläft, wo grade ein Bett oder eine Hängematte frei ist, und sie besuchen mit Gina und Gabriela am letzten Abend eine Macumba, bei der Gabriela auf einmal mitmacht und im immer rascher werdenden Trommelwirbel Bewegungen und Zuckungen vollführt, wie sie eigentlich ein menschlicher Körper gar nicht machen kann.
In dieser Nacht sind alle vier - Barry, Gina, Gabriela und Viktoria - so aufgewühlt, dass sie noch in der Wohnung tanzen und schließlich gemeinsam auf dem großen Bett müde zusammenbrechen. Am Morgen, als Viktoria weg muss, sind alle so müde, dass sie erst nach und nach die Ungewöhnlichkeit der letzten Nacht verstehen.
Barry bringt Viktoria zum Flughafen. Alles ist auf einmal wieder normal, kühl, rational. Aber als sie sich zum Abschied in den Armen liegen, glauben beide innerlich fest daran, dass sie sich wiedersehen werden.
9 Mit zunehmendem Verkehrsaufkommen wurde das System allmählich durchbrochen. Heute gibt es auch in Brasilia schon einige »wirkliche« Kreuzungen und Verkehrsampeln.
Gabriela hat Barry so oft von den Halbedelstein-, Geoden- und Amethyststeinbrüchen in Cristalina, etwa 150 km südlich von Brasilia, erzählt, dass er sie einmal dort zu ihrer Familie bringt und sich die Steinbrüche ansieht.
Er lernt rasch durch das Gewicht von Steinen zu erkennen, ob sie innen hohl (Geoden) sind, also eine »Höhle« mit Amethystkristallen beinhalten.
Die Familie von Gabriela besteht darauf, dass er zu einem Fest bei ihnen kommt, auf ihre kleine Ananasplantage, wo Menschen mit Tieren und Pflanzen in ungewöhnlicher Eintracht leben, aber dann das Hausferkel für ein Fest mit vielen Entschuldigungen trotzdem geschlachtet wird.
In fortschreitender Abenddämmerung führt Gabriela ihren Herren Barry zu einem kleinen Quarzsteinbruch auf dem Grundstück ihrer Eltern. Plötzlich dreht sich ihr Verhältnis um: Hier ist sie die stolze Herrin. Sie zeigt ihm prächtige Quarzkristalle und gibt ihm dann einen faustgroßen, in dem schwarze Fäden im Inneren verlaufen. Barry merkt Besonderes in diesem Stein. Er spürt eigentümliche Kräfte, die ihn und seine Para-Fähigkeit verstärken, während Gabriela ihn genau beobachtet.
»Du bist einer von denen«, sagt sie.
Barry wird sehr lange nicht erfahren, was sie damit meint. »Was sind das für Fäden?«
»Die geraden sind Kohlenstofffäden. Die gebogenen Fäden und Flecken außen bestehen aus Silatraviat, was immer das sein mag, und scheinen ungewöhnliche Fähigkeiten zu verstärken. Behalte den Stein, Barry, er gehört zu dir. Ich habe es gewusst, als ich dich das erste Mal sah.«
Barry steckt den Stein ein. Sie gehen zurück zu Gabrielas Familie, wo das Ferkel am Spieß gedreht wird und viele freundliche Gesichter sie erwarten. Gabriela ist hier wieder seine Dienerin, er eine Respektsperson. Barry fühlt sich stärker als je zuvor:
»Es ist der Stein«, spürt er. Und da ist auch plötzlich das Wissen, dass er nicht auf immer in Brasilia bleiben kann. Er schaut Gabriela an. Sie hat Tränen in den Augen, als wüsste sie mehr als er.
10 Die Idee der »Superquadras« ist in etwa der Hälfte der Fälle gelungen, in der anderen Hälfte dominieren Feindschaften statt Freundschaften.