2. Intermezzo in Wellington
2. Februar 2008
Die neuseeländische Premierministerin, kurz PM, betritt den »Bienenstock«, wie das Parlamentsgebäude in Wellington im Volksmund genannt wird. Der »Beehive« am Rande des Stadtzentrums von Wellington hat seinen Spitznamen, so hört man, nicht erhalten, weil dort so fleißig gearbeitet wird, sondern weil die runde und außen stark gegliederte Architektur diesen Ausdruck nahe legt.
Noch bevor die PM in der Lage ist, ihre tägliche Routinearbeiten zu erledigen, stürmt ihr persönlicher Assistent ins Zimmer und berichtet von den Nachrichten über den »großen Unfall«, wie er später von allen Zeitungen genannt werden wird.
Das Ausmaß der Katastrophe wird wenige Stunden später klar, als Militäreineinheiten den ersten fundierten Lagebericht senden. Man rechnet mit hunderten Toten: Nach realistischen Einschätzungen scheint es kaum eine Chance auf Überlebende zu geben. Unter den Firmen, die ihre Hilfe anbieten, ist auch eine erst seit kurzem aktive kleine Organisation, eine »SR-Inc.« aus Auckland. Obwohl dieses »Salvage and Rescue«-Unternehmen bisher erst bei einigen kleineren Anlässen wie bei Autounfällen, Notsituation auf hoher See oder bei Bränden erfolgreich im Einsatz war (wie die Web-Seiten erläutern), lässt sich die Regierung keine Möglichkeit entgehen, SR-Inc. wird also in das große Rettungsunternehmen eingegliedert. Die geballten Maßnahmen zeigen Wirkung: Allen Vorhersagen zum Trotz gelingt die Rettung von 83 Personen.
Neuseeland, die Regierung und die PM atmen auf. Der vorläufige Bericht über den »großen Unfall« und die dann eingeleiteten Aktionen stimmen die PM allerdings nachdenklich. Wie ist es möglich, dass sich die Militärberater so bei der Einschätzung der Katastrophe irrten und zunächst von keinen Überlebenden ausgingen? Und wie wurden die 83 Personen eigentlich aus ihrer unmöglichen Lage gerettet? Der Bericht ist so vage, dass die PM eine genauere Untersuchung anfordert. Dabei stellt sich zu ihrer Verblüffung heraus, dass die SR-Inc., die in den Medien nie als wichtige Kraft genannt worden war, offenbar bei allen Rettungen irgendwie die Hand im Spiel hatte, aber den Erfolg dann immer anderen Organisationen überließ. Auch auf den Web-Seiten der Firma findet man später nur lapidar »Einsatz im Zusammenhang mit dem großen Unfall«, ohne mit den offenkundigen Leistungen potenzielle zukünftige Kunden beeindrucken zu wollen.
Sehr viel früher, als das Maria und Marcus wissen und wollen, sind sie damit bereits in Wellington aufgefallen. Die PM beauftragt eine Recherche über die Geschichte der SR-Inc. und das Leben der Eigentümer, Maria und Marcus.
Das Ergebnis macht manches noch geheimnisvoller: Maria und Marcus tauchten vor etwa fünf Jahren wie aus dem Nichts in Auckland auf. Nach ihren Dokumenten sind sie neuseeländische Staatsbürger. Marcus wanderte im Alter von 18 Jahren aus Europa ein und suchte bald um Staatsbürgerschaft an. Dass die Einwanderungsbehörde den Akt nicht auffinden kann, ist lästig, aber nicht zu überraschend. Die Misswirtschaft in dieser Behörde sind der PM seit langem ein Dorn im Auge: sie wird hier wohl durchgreifen müssen. Marcus heiratete Maria einige Jahre später in Europa und Maria erhielt dadurch die neuseeländische Staatsbürgerschaft. Bevor sich Maria und Marcus in Auckland und auf der vorgelagerten Insel Great Barrier Island niederließen, wohnten sie offenbar in Wellington, wie man von einigen ihrer Aucklander Freunde erfährt. In Wellington scheint sich fast niemand an sie zu erinnern. Allerdings berichtet die Leiterin des großen Nationalmuseums in Wellington auf Grund der Mitgliederdatenbank1, dass Marcus seit mehr als acht Jahren Mitglied des Vereins der Freunde des Museums »De Papa Tongarewa« ist, also schon in »seiner Wellingtoner Zeit«. Und die Übersiedlung nach Auckland stand im Zusammenhang mit einer großen Erbschaft, doch sind auch hier Details offenbar nicht leicht festzustellen. Die PM beschließt, mehr aus Neugier denn aus anderen Gründen auch weiterhin die SR-Inc. im Auge zu behalten. Sie beauftragt in diesem Sinne einen ihrer Assistenten und vergisst dann die Angelegenheit.
Als bei einem Großbrand in Hamilton, nur 100 km südlich von Auckland, Monate später vom erfolgreichen Einsatz der SR-Inc. sogar im nationalen Fernsehen berichtet wird, erinnert sich die PM wieder an die Angelegenheit und erkundigt sich bei ihrem zuständigen Assistenten, ob es in der Zwischenzeit etwas zusätzliches Berichtenswertes über die SR-Inc. gibt. Was sie erfährt, ist so verblüffend, dass sie sich ärgert, nicht früher darüber einen Bericht erhalten zu haben: Die SR-Inc. war in der Zwischenzeit nicht nur fast zwanzig Mal im Einsatz, sondern sorgte immer wieder durch die Lösung aussichtsloser Fälle für lokales Aufsehen; die Firma verbessert andauernd ein Einsatzfahrzeug, das nur Maria und Marcus verwenden und das offenbar durch überlegene Elektronik eine wertvolle Hilfe bei Rettungs- und Bergungsunternehmungen bietet, das es aber auch offenbar erforderlich macht, dass SR-Inc. eine große Elektronik-, Mechatronik- und Computerabteilung aufgebaut hat. Besonders überraschend ist die Tatsache, dass viele der Mitarbeiter der SR-Inc. und auch einiges Personal auf dem Anwesen von Maria und Marcus auf Great Barrier Island zu jenen gehören, die beim »großen Unfall« gerettet worden sind. Während die PM noch grübelt, was das vielleicht zu bedeuten hat, erzählt ihr Assistent weiter: »Die Mitarbeiter von SR-Inc. sind ein eingeschworenes und den Firmeninhabern gegenüber völlig loyales Team. Wir versuchten von den Geretteten des ,großen Unfalls‘ zu erfahren, welche Rolle Maria und Marcus da spielten, doch wir wurden mit nichts sagenden Auskünften abgespeist. Aus Gründen, die unverständlich sind, wollen sie darüber nicht reden. SR-Inc. wächst und wächst, doch offenbar nicht so sehr durch die Einnahmen von Rettungseinsätzen, sondern weil sie die herkömmlichen HENCI (Kombination aus Handy mit Computern und Computernetznutzungen) so weit verbessert haben, dass ihre ,e-Helper‘2 sogar ein Exportschlager geworden sind. Die Firma und ihre Besitzer scheinen unbegrenzte Geldreserven zu besitzen. Das Anwesen der Besitzer (Maria und Marcus) auf Great Barrier Island ist fast eine ganze Siedlung und verfügt, so weit wir bisher feststellen können, über hochmoderne und teure Ausrüstung in jeder Hinsicht.«
1 SR-Inc. hatte vom Anfang an eine kleine, aber gute Computerabteilung. Nach einigen Zwischenfällen sah sich Marcus gezwungen, die erfundene Vergangenheit in Wellington, siehe »XPERTEN - 1: Der Telekinet« [3], durch einige Tricks zu untermauern. Der »Einbruch« in die Datenbank des Wellingtoner Museums mit Hilfe eines Hackers war nur ein Mosaiksteinchen, um bei etwaigen Recherchen Ermittler auf eine falsche Spur zu führen.
2 Der Name e-Helper ist markenrechtlich geschützt: © SR-Inc. Ähnliche Geräte werden oft WEX (Walking Experts) genannt, Sony nennt seine WEX-Entwicklung XMAN. Bill Gates jun. wird mit dem Ausspruch zitiert: »Ein Terrabyte ist das meiste, was je ein WEX benötigen wird.« Ein Bild des e-Helpers mit Kommunikationsbrille findet sich im Anhang.
»Kann es sein, dass die Geheimnistuerei und der Reichtum der SR-Inc. irgendwas mit dem von uns auf Great Barrier geduldeten Haschischanbau zu tun hat?« »Nein, das haben wir geprüft. Es gibt da überhaupt keine Verbindungen.« Nachdenklich fragt die PM: »Wer kümmert sich denn eigentlich um die Aktivitäten von SR-Inc. und von seinen Eigentümern?« »Es sind dies zwei Agenten aus dem Geheimdienst, die Sie sogar persönlich kennen, Ken und Dick. Wir haben sie stundenweise dafür abgestellt.« Nach kurzem Zögern meint die PM: »Das ist nicht genug. Lassen Sie unter der Führung von Ken und Dick eine ,Maria und Marcus Supervisory Group‘3 zusammenstellen, die alle Aktionen der SR-Inc. und von deren Eigentümern ab sofort genau überwacht. Und ich möchte jeden Monat einen kurzen Bericht.«
Die nun monatlich eingehenden Berichte dokumentieren nicht mehr und nicht weniger als eine Erfolgsstory von SR-Inc., was Bergungs- und Rettungsleistungen anbelangt und wachsende Erfolge beim e-Helper und anderen elektronischen Geräten. Zu ihrer Verwunderung beobachtet die PM über Monate hinweg eine Gruppe, die anscheinend selbstlos, aber äußerst erfolgreich immer wieder auch das Leben riskiert, um anderen Menschen zu helfen. Die PM kann es nicht glauben, dass nicht mehr dahinter steckt, aber sie ist bereit eine Zeit lang mitzuspielen. Als Marcus die Fluggenehmigung für einen Moller600 beantragt, befürwortet durch Gutachten der Fliegerlegende Gordon Vette [1], sorgt sie dafür, dass Marcus sie erhält. Auch bei der Aucklander Zulassungsbehörde für ungewöhnliche Fahrzeuge macht sie klar, dass man SR-Inc. bei der Zulassung neuer Einrichtungen in ihren Einsatzfahrzeugen, vor allem im Hauptfahrzeug, entgegenkommen soll, obwohl man Marcus schon jetzt in Militärkreisen um sein Einsatzfahrzeug zu beneiden beginnt.
SR-Inc. verfügt offenbar über Technologien für Bergungs- und Rettungseinsätze, die auch ein exportierbares Gut wären. »Warum exportiert dann SR-Inc. nicht?«, überlegt die PM. Schließlich, teils aus Neugier, teils, weil jeder Export für Neuseeland wichtig ist, lässt sie über Wirtschaftsminister Patrick Fisher den für die Exportwirtschaft zuständigen Abgeordneten mit Marcus Kontakt aufnehmen. Die Botschaft der Regierung ist für Marcus und Maria eindeutig: Ein Export des Wissens und aller Erfindungen und Entwicklungen der SR-Inc. sind für Neuseelands Wirtschaft wichtig und SR-Inc. könnte mit massiver finanzieller und anderer Unterstützung bei einer Vermarktung im Ausland rechnen.
3 »Maria und Marcus Supervisory Group« = »Maria und Marcus Überwachungsgruppe«.
Maria und Marcus beraten lange. Einerseits können sie nicht die Wahrheit sagen, dass die Bergungsfahrzeuge nämlich ohne die speziellen Fähigkeiten von Maria und Marcus nur mäßig wertvoll sind und dass ihre Forschungsabteilung sich mehrheitlich mit ganz anderen Problemen beschäftigt, nämlich neben der Entwicklung neuer Varianten von mobilen Computern vor allem der Erforschung parapsychischer Phänomene. Andererseits wollen sie keinen Verdacht erwecken. Die Tatsache, dass sie weder Stephan (inzwischen fünf Jahre alt) noch Lena (nun zwei), jedenfalls nicht in jungen Jahren, in eine öffentliche Schule schicken wollen, sondern bereits für Privatlehrer vorgesorgt haben, wird sicher ohnehin für Aufmerksamkeit sorgen. So lehnen sie die Hilfe nicht ab, sondern akzeptieren Finanzmittel, die sie in Wahrheit nicht brauchen, und erklären, dass man in etwa zwei bis drei Jahren mit dem Export der dann auch ausgereiften Produkte im Bereich Bergung und Rettung in großem Stil beginnen wird.
Da Maria und Marcus, ohne es zu wissen, ständig beobachtet werden, wird jede auch noch so kleine Abweichung von normalen Lebenseigenschaften sofort genau verfolgt und darüber berichtet, was sich auch immer wieder auf ihr privates Leben auswirkt:
Mike, der beste Freund von Marcus, ist Mathematikprofessor an der Universität Auckland. Er erzählt immer wieder von seiner Traumtour: zum Ursprung des Beansburn-Flusses4 mit einem Hubschrauber oder dem Moller600 fliegen; sich dort absetzen lassen; den den Pass überragenden Gipfel besteigen; schließlich in zwei bis drei Tagen dem größer werdenden Beansburn folgend sich bis zum Dart-River hinunterkämpfen; dort von einem vorher hinbestellten Jetboot abholen und zurück nach Queenstown bringen lassen.
Marcus ist begeistert: »Prima, Mike, dann machen wir doch die Tour, Maria würde auch gerne mitkommen. Lena und Stephan sind groß genug, dass sie eine Woche alleine bei Inge und Rolf bleiben können!« Mike lächelt verschmitzt: »Geht leider nicht. Der Platz, wohin wir gebracht werden müssen, liegt noch im Nationalpark, da darf ein Hubschrauber nur in Notfällen hin; und du mit deinem Moller darfst ja ohnehin nur einige sehr genau definierte Strecken fliegen.«
4 Der Beansburn ist einer der wilden rechtsseitigen Zuflüsse des Dart-Rivers. Letzterer ist vom Touristenzentrum Queenstown auf der Südinsel von Neuseeland leicht zu erreichen, da er der Hauptzufluss des Lake Wakatipu ist, an dem die Stadt liegt.
Marcus will nicht aufgeben. Er schreibt ein Ansuchen an die Nationalparkverwaltung,5 um eine Ausnahmegenehmigung für eine Hubschrauberlandung zu erhalten. Er ahnt nicht, dass dieser Brief beim Geheimdienst von Ken gelesen wird und dieser eine Kopie an die PM weiterleitet. Die PM sieht eine Chance, das Schöne mit dem Nützlichen zu verbinden, denn sie hat schon lange die Einladung, von Queenstown aus einen Kontrollflug entlang der Grenzen des Nationalparks zu machen. Sie wird »zufällig« diesen Flug mit dem Ansuchen von Marcus verbinden können. Sie erhofft durch das Kennenlernen von Marcus und Maria vielleicht etwas zu erfahren, was ihre Mitarbeiter übersehen haben. Und außerdem, vielleicht ist der Ausflug zum Beansburn mehr als nur ein harmloses Bergunternehmen? Zutrauen kann man der SR-Inc. wohl alles, denkt sie. Und eine gute persönliche Beziehung zu Maria und Marcus kann auch nicht schaden.
So kommt es, dass Marcus zu seiner Überraschung die Mitteilung bekommt, dass er mit einem Regierungshelikopter, der ohnehin eine Inspektionsreise in die Gegend des oberen Beansburn machen muss, mit seiner Frau und dem Freund Mike mitfliegen kann und sie beim Ursprung des Beansburn aussteigen können. Der Abflug wird in wenigen Tagen von Queenstown, dem Touristenzentrum auf der Südinsel, sein.
Mike, ein waschechter »Kiwi«6, organisiert alles Notwendige. Bald stellt sich heraus, dass es unmöglich sein wird, neben Kletterausrüstung, Essen, Kochausrüstung, Kleidung und Schlafsack auch noch ein Zelt mitzunehmen, da dann die Rucksäcke zu schwer werden würden. Während sich Maria und Marcus nicht vorstellen können, wie man in den Bergen nur mit einem Schlafsack und einer ganz dünnen Plastikplane übernachten kann, ist Mike unbesorgt. Es werde schon ein bisschen kühl werden, meint er, aber die Schlafsäcke seien gut und es sei erst Frühherbst, sodass es nicht »richtig« kalt werden wird.
5 Nationalparkverwaltung = Department of Conservation.
6 Der Begriff Kiwi hatte in Neuseeland ursprünglich drei Bedeutungen: Er bezeichnete die Einheimischen, den flugunfähigen Nationalvogel Neuseelands und die Kiwifrucht. Inzwischen werden die Kiwifrüchte in Neuseeland allerdings nicht mehr Kiwi, sondern Zespri genannt, weil sie wegen internationaler Konkurrenz nur mehr unter einem neuen Namen vermarktbar sind.
Es ist ein trüber Samstagmorgen, als Maria, Marcus und Mike von Auckland mit einmal Umsteigen in Wellington nach Queenstown fliegen. Dort werden sie gleich zu einem 8-sitzigen Militärhelikopter gebracht. Obwohl hier das Wetter besser ist, sehen sie mit Sorgen eine dunkle Wolkenwand in den Bergen hängen. Während sie noch darüber diskutieren, ob bei einem solchen Wetter eine Bergtour möglich ist, wird ihnen mitgeteilt, dass sie noch auf eine wichtige Person warten. Als sich diese als die PM herausstellt, sind die drei begreiflicherweise verdutzt. Die PM lacht laut: »Kleine Überraschung. Aber wenn ich nicht ohnehin einen solchen Kontrollflug auf meinem Programm gehabt hätte, hätte es für euch keine Möglichkeit gegeben zum Ursprung des Beansburn zu kommen. Also müsst ihr schon mit mir vorlieb nehmen.«
Marcus ist während des Fluges ganz in das Gespräch mit der PM vertieft, die ihn sehr genau nach den Rettungsmethoden der SR-Inc. fragt, aber auch Details aus seinem Leben wissen will. Marcus erzählt zurückhaltend, weil er versuchen muss, mit den Bruchstücken, die öffentlich bekannt sind, eine konsistente Geschichte zu erzählen. Denn dass Maria und er wegen ihren Para-Begabungen aus Europa flüchten mussten, darf niemand wissen. Maria ist schweigsam und beobachtet die PM, wie sie intensiv mit Marcus redet. Sie wird später Marcus berichten, dass die PM wohl mehr vermutet, als ihnen recht sein kann.
Mike unterhält sich mit dem Piloten, verfolgt aber genau ihren Flug, wie die Gegend unter ihnen aussieht, bittet später den Piloten den Beansburn entlangzufliegen (dort werden sie in zwei bis drei Tagen heruntergehen) und runzelt an einigen Stellen die Stirn. Es werden mehrere Wasserfälle zu umklettern sein und das Wetter bereitet ihm (der das nie zugeben würde) doch zunehmend Sorgen. Regen klatscht gegen die gewölbten Fenster, Windstöße packen den Helikopter, die Sicht wird immer schlechter, der Flug unruhiger. Allmählich spricht keiner mehr. Alle halten sich irgendwo an, es ist nicht nur die Beleuchtung, die einige der Gesichter zunehmend bleich einfärbt.
Der Pilot erkundigt sich bei der PM, ob er umkehren soll. »Ich glaube, ich werde nicht den gesamten geplanten Kontrollflug machen können, das wird mein Magen nicht aushalten. Aber wenn die drei auch bei diesem Wetter auf den Pass hinaufwollen, dann fliegen wir bis dahin, aber dann zurück.« Der Wind verstärkt sich zusehends, der Regen vermischt sich mit Schnee. Als die drei nach einer unsanften Landung aussteigen, schlägt ihnen ein unfreundlicher Schneesturm entgegen. Sie und ihre Ausrüstung landen in 30 cm Neuschnee. »Seid ihr sicher, dass ihr hier hinauswollt? Letzte Chance zum Umdrehen!« Mike zögert; er weiß, dass sie überleben werden, aber es wird unangenehm werden. Soll er das seinen Freunden Maria und Marcus antun? Bevor er eine Antwort geben kann, mischen sich Maria und Marcus ein: »Wir bleiben hier. Wir schaffen das schon. Guten Rückflug und danke fürs Mitnehmen!« Nicht nur Mike ist verblüfft, auch der Pilot und vor allem die PM, denn weder Marcus noch Maria sehen aus, als hätten sie viel Wildniserfahrung. Und der Einzige, der sie hat, Mike, der hatte gezögert, weil er die Situation als Grenzfall einstufte. »Woher beziehen Maria und Marcus die Überzeugung, dass ihnen nichts passieren kann, ganz so, wie das bei einigen Rettungseinsätzen von ihnen berichtet wird?«, überlegt die PM, »sind sie einfach so bergunerfahren oder haben sie andere Gründe oder unbekannte Kräfte?«
Die PM wird an diese Überlegungen in wenigen Tagen denken müssen. Und ohne dass sie es explizit weiß, hat sie doch viel über Maria und Marcus dazugelernt. Noch ist ihr nicht bewusst, wie nahe sie an die Wahrheit mit den »versteckten Kräften« gekommen ist ...
Der Pilot zögert nicht lange, die Windböen sind so heftig, dass der Hubschrauber wild schaukelt. Als er unruhig startet und an Höhe gewinnt, schauen Maria, Marcus und Mike einige Sekunden lang nach. Vielleicht bereuen sie es ein wenig, geblieben zu sein. Mike übernimmt das Kommando: »Wir sind beim Herauffliegen ganz am Ende bei einem Felsbrocken, der hier in Passnähe liegt, vorbeigekommen. Dort müssen wir jetzt einmal hin, um aus dem Wind zu kommen. Dann beratschlagen wir, wie es weitergeht.« Die Sicht reicht durch den treibenden Schneefall nicht weiter, als man die Hand ausstrecken kann, die Augen brennen, bei jedem Schritt bricht man durch den feuchten Schnee durch auf einen alm-ähnlichen, aber unebenen Untergrund. Sie sind hier einige hundert Meter über der Baumgrenze, aber große Grasbüschel und niedriges Gestrüpp sind unter dem Schnee versteckt. Mike geht mit schlafwandlerischer Sicherheit voran. Wie er weiß, in welche Richtung er gehen muss, verstehen Maria und Marcus nicht. Aber Maria nickt Marcus zu: Mike ist auf dem richtigen Weg, sie kann mit ihren Para-Fähigkeiten durch das Schneegestöber sehen und sieht einen großen Felsen, lange bevor Mike sie nicht ganz ohne Stolz dorthin bringt: »So, das wäre es einmal«, meint er, nachdem sie sich im Windschatten des Felsens und unter einem kleinen Überhang zusammenstellen. Hier ist es vergleichsweise »gemütlich«. Andere würden sich jetzt ratlos fragen, wie es weitergehen würde. Aber nicht Mike, der hat schon im Schneetreiben genau überlegt, was zu machen ist. »Wir trinken jetzt einmal einen heißen Tee«, er schenkt ihn aus einer Thermosflasche ein (kein Wunder, dass Mikes Rucksack noch größer und schwerer ist als die anderen!), »und warten, bis das Schneegestöber nachgelassen hat. Nach der Vorhersage gibt es auch in den Bergen heute nur Schauer und nach der Schneemenge am Boden zu urteilen, dauert dieser ohnehin schon viel zu lange.« »Und wenn der Schnee nicht aufhört?« »Na, ein oder zwei Nächte werden wir aneinander gelehnt doch auch im Stehen aushalten, oder?«, antwortet Mike in seiner trockenen Art, fährt aber dann fort, als er die etwas besorgten Gesichter sieht.
»Unseren Plan den Gipfel zu erklettern müssen wir aufgeben. Die Tour ist bei diesem Neuschnee viel zu gefährlich. Talabwärts, dort, wo die allerersten Bäume oder Baumruinen zu finden sind, gibt es laut Karte einige große Felsspalten und Überhänge, wo wir einen trockenen Platz finden werden. Wir müssen, Schneetreiben oder nicht, so eine Stelle finden. Das werden wir, auch wenn wir nicht viel sehen. Wir haben noch genug Tageslicht; jetzt ist es sinnvoll einmal abzuwarten, bis Schnee oder Wind nachlassen. Ich glaube aber, wir sollten alles anziehen, was wir haben; beim Stehen wird es uns sonst zu kalt.«
Mike erzählt von früheren Erlebnissen. Auch von einer Bergtour mit seiner damaligen Freundin Jennifer, bei der sie durch und durch nass wurden und wegen Dunkelheit nicht mehr weiterkonnten. Nur das Innere der Schlafsäcke war noch trocken, sodass sie nackt in getrennte Schlafsäcke schlüpften. »Aber«, lacht er, »ich habe damals Jennifer nicht lange überreden müssen. Es war alleine bald so kalt, dass es nicht viel benötigte, dass sie zu mir kroch. Und es wurde dann nicht nur schön warm im Schlafsack, sondern auch sonst recht bemerkenswert. Also ihr werdet bestimmt heute Nacht nicht frieren«, resümiert er.
Nach einer Stunde schneit es noch immer ungebrochen, aber der Wind ist abgeflaut. »Es wird Zeit zu gehen.« Mike übernimmt die Führung. Er bricht bei jedem Schritt im Schnee ein, legt aber so eine Spur, sodass Maria und Marcus es hinter ihm leichter haben. »Jeder von uns geht zumindest einmal kurz vorne«, meint Marcus nach einiger Zeit. Mike will protestieren, aber Marcus bleibt unerbittlich. Er weiß, dass Mike stärker ist, aber er weiß auch, dass an der kritischen Stelle am besten Maria vorausgehen muss. Nur sie kann mit ihrer Para-Fähigkeit auch bei diesen Bedingungen einigermaßen gut sehen. Und wenn sie bei den Felsen sind, wird er mit seinen tastenden Pseudohänden geeignete Stellen sehr viel leichter finden können als selbst der berggeübte Mike ...
Als Maria die Überreste eines abgestorbenen Baumes sieht (die beiden anderen bemerken sie gar nicht), übernimmt sie die Führung. Bald erkennt sie die von Mike beschriebenen Felsformationen. Mit Mikes Informationen, Marcus‘ Pseudohänden und ihren Para-Augen finden sie rasch einen idealen Platz. Im Windschatten eines großen Felsens ist ein Überhang, der fast eine Höhle bildet, die gesamte Fläche darunter ist schneefrei und trocken. Hier werden sie Abend und Nacht verbringen.
»Glaubst du, Mike, dass wir hier etwas Holz finden können? Mir kommt vor, ich habe schemenhaft ein paar dürre Bäume gesehen ... Dann könnten wir ein Feuer machen«, meint Maria. Mike schaut zweifelnd: »Probieren wir es, aber bitte, nicht zu weit von hier weggehen und sich genau die Richtung merken!« »Ich gehe mit dir, Mike. Ich zeige dir die zwei Bäume, die ich meinte.« Mike und Maria verschwinden im Schneegestöber.
Marcus ist zufrieden: Maria wird, wenn es irgendwo Holz gibt, dieses finden und Mike wird mit seiner kleinen Axt und seinen Kräften das Holz zerkleinern und herbringen. Marcus setzt sich auf seinen zusammengerollten Schlafsack und beginnt mit seinen telekinetischen Fähigkeiten, seinen Pseudohänden, die Gegend abzutasten. Zu seiner Überraschung findet er mehrere niedere Bäume, die sich im Schutz von zwei Felsen angesiedelt haben, und diese Bäume haben viele verdorrte Äste. Er bricht sie mit seinen Pseudohänden ab und lässt sie, ohne sich selbst zu bewegen, zu sich durch die Luft schweben, bis er einen beachtlichen Stoß gesammelt hat. Als Mike und Maria nach 15 Minuten mit einer ersten Ladung Holz kommen, genießt er den ungläubigen Blick von Mike und das wissende Lächeln von Maria. »Wo hast du all das Holz her?«, wundert sich Mike. »Ach, es liegt überall herum«, gibt sich Marcus geheimnisvoll.
Das Holz wird trotzdem eine Enttäuschung: Es ist so nass, dass es mehr raucht als brennt und der Rauch kann nicht genügend abziehen. Sie husten, die Augen brennen und schließlich müssen sie resigniert das Feuer auslöschen. Maria klagt inzwischen über Schmerzen in den Füßen. Marcus zieht ihr die Schuhe aus, die Füße sind eiskalt. Er massiert sie, steckt sie unter seinen Pullover und überzeugt schließlich Maria, dass sie alles anzieht, was sie hat, und sich in den Schlafsack legt. Beim Schein von Taschenlampen kocht Mike mit seinem kleinen Gaskocher Suppe und erhitzt ein »Astronautenessen«, das sie wärmt und ihnen in ihrer Situation schmeckt wie das Menü in einem Drei-Hauben-Restaurant. Dann verkriechen sie sich in die Schlafsäcke, die sie sehr eng legen, und decken sich mit der dünnen Plastikplane zu. Es wird eine stockdunkle und sehr kalte Nacht. Marcus denkt mehrmals an die Geschichte von Mike und ob er nicht zu Maria kriechen soll (mit allem, was er anhat!), aber allein die Vorstellung, aus dem Sack in die Kälte hinaus und dann vielleicht gar nicht genug Platz zu haben, ist zu unangenehm. Alle schlafen unruhig.
Als der Tee Wirkung zeigt und Marcus aufstehen muss, ist es eine Tortur. Im Unterbewussten registriert er, dass es nicht mehr schneit und der weiche Schnee sehr hart geworden ist. Irgendwann donnert es furchtbar, fast scheint die Erde zu zittern. Die drei schrecken auf, aber es rührt sich nichts mehr und es ist noch immer so finster, dass sie weiterschlafen.
Es bleibt finster. Es ist wärmer geworden, die Luft fast stickig, aber immer noch ist es stockdunkel! Da weckt Mike Marcus: »Wir haben ein Problem. Der Krach in der Nacht, das war eine vermutlich durch ein schwaches Erdbeben ausgelöste Lawine und sie scheint alles verschüttet zu haben!« Marcus ist plötzlich hellwach. Im Schein der Taschenlampen sehen sie sich die Bescherung an: Der Eingang ihre Fast-Höhle ist zur Gänze von fest gepresstem Schnee verschüttet, weder Licht noch Luft kommen durch. Maria ist nun auch wach: »Guten Morgen ihr zwei. Drei Meter.« Das ist der seltsamste Morgengruß, den Mike je gehört, den Marcus aber offenbar verstanden hat. Ja, Maria hat durch die Schneewand hindurchgesehen und ihre Dicke festgestellt ... genau wie vorher das Marcus mit seinen Pseudohänden ertastet hat.
Er steht nun vor einem Problem: Er kann mit seinen telekinetischen Kräften, seiner T-Kraft, ohne weiteres den Ausgang frei machen, nur wollten sie Mike nie damit belasten, dass seine Freunde »Ungeheuer« sind, Menschen mit Para-Fähigkeiten. Außerdem, wenn sie ihm jetzt dies sagen würden, würde er es verstehen, dass sie es so lange nicht sagten? Nein, sie werden es weiter versteckt halten müssen. Aber wie dann herauskommen?
Marcus beginnt mit seinen Pseudohänden, die die Schneewand durchdringen, von außen an einer Stelle den Schnee abzutragen. Maria interpretiert das schabende Geräusch richtig und beginnt, ganz atypisch für sie, Mike in ein fast hysterisches Gespräch zu verwickeln, damit er die Geräusche nicht hören kann. Allmählich wird auch von innen gesehen eine Stelle der Wand etwas lichter. Maria weist darauf hin: »Die Verschüttung ist nicht überall gleich dick«, ruft sie und stürzt sich mit voller Kraft auf die hellere Stelle. Marcus hilft mit seiner T-Kraft massiv nach: Die Schneewand gibt an dieser Stelle nach und Maria purzelt fast hinaus.
Auch Mike und Marcus kriechen hinaus. Das Wetter hat sich vollständig geändert. Es ist frisch, aber herrlich sonnig und atemberaubend schön: strahlend blauer Himmel, die Berge übergossen mit Neuschnee, die schroffen Felswände in der Morgenpracht, tiefer unten dichte Wälder, ein kleiner Bach (den sie als immer größeren Beansburn noch achten lernen werden!), die Nacht war kalt genug, dass der am Vortag nasse Schnee nun so gefroren ist, dass man nicht einbricht. Aber die Sonne ist schon angenehm stark! Mike übernimmt wieder das Kommando: »Wir brechen sofort auf, solange die Schneedecke uns trägt. Wir frühstücken, sobald wir beginnen, durch den Schnee einzubrechen. Wir müssen in drei Tagen beim Dart-River sein. Und wie einfach das sein wird, hängt davon ab, wie tief herunter es geschneit hat, und wie schnell wir vorwärtskommen.« Sie packen rasch ein. Aber Mike hat noch genug Zeit die Lawine, die sie verschüttet hat, von außen anzusehen und er versteht vieles nicht. Warum gibt es da eine Stelle, wo es aussieht, als hätte jemand von außen hineingegraben? Wieso konnte Maria durch eine noch immer massive Schneeschicht durchbrechen? Er wird sich das noch sehr genau durch den Kopf gehen lassen müssen, aber irgendwas scheint hier nicht zu stimmen.
Der Tag aber stimmt. Es ist windstill und wunderbar. Sie machen rasche Fortschritte. Die Sonne wird so stark, dass sie immer mehr Kleidung ablegen. Als schließlich der Schnee so weich wird, dass man durchbricht, ist der Schnee nur mehr ganz wenig tief. Unter einem Baum findet Mike eine großen schneefreien Fleck und erklärt, dass hier der Coffee-Shop sei. Er zaubert ein Frühstück, beginnend mit Müsli, gefolgt von Ham-and-Eggs, erstaunlich gutem Instantkaffee, Käse, Wurst und akzeptablem Brot ...
Der
weitere Weg ist schön wie ein Traum. Keine Wolke trübt den blauen
Himmel, bald unterschreiten sie die Schneegrenze, folgen dem immer
mächtiger werdenden Beansburn, umgehen durch dichten Regenurwald,
der immer mehr mit Farnbäumen durchsetzt ist, einige Wasserfälle,
wobei Mike einen unglaublichen Sinn für den richtigen Weg hat. Es
folgen die ersten Überquerungen des Beansburn, die immer
schwieriger werden. In typischer Kiwi-Manier quert man mit
Bergschuhen (ohne Schuhe wäre man zu wenig trittsicher und zu
verletzlich) in einer Dreierreihe, die flussabwärts zeigt, sodass
der obere immer die stärkste Strömung hat, sich aber auf die
anderen stützen kann. Dort, wo die Überquerungen unmöglich sind,
müssen sie oft großräumig ausweichen, durch fast undurchdringliches
Dickicht. Aber der neuseeländische Dschungel ist ein guter
Dschungel, wenn man ein paar Primitivregeln kennt: Man darf sich
nicht vor den bis zu 8 cm großen Wetas fürchten, die auf den Armen
oder am Kopf landen: wunderschöne Insekten, die nur Blätter
fressen, die man aber nicht einfach »wegwischen« kann, weil sie
sich dann festkrallen und Verletzungen verursachen. Und wenn man
fester wischt, zerbrechen sie und vergießen ein grünliches Blut,
das aus Science-Fiction-Alpträumen kommen könnte. Man muss auch das
scharfe »Spaniard«-Gras kennen, das giftige Ränder hat. Wenn man zu
oft von ihnen geritzt wird, stirbt man ... wie es den Spaniern
zugestoßen ist, die den Maoris einen Weg abschneiden wollten, die
eine Wiese mit Spaniards umrundeten. Näher beim Meer (aber da sind
Maria, Marcus und Mike noch nicht) gibt es dann auch äußerst
lästige Moskitos und Sandflöhe, aber insgesamt ist Neuseeland ein
friedliches Land - friedlich wie seine (heutigen)
Einwohner.
Am späten Nachmittag erreichen Maria, Marcus und Mike einen breiten Talboden, der zum Übernachten einlädt. Das Gras ist hier einen Meter hoch; vereinzelte Bäume stehen da und dort. Auf beiden Seiten donnern Wasserfälle von den Bergen herunter, der Beansburn ist inzwischen ein mächtiges »Tier« geworden, das durch Stromschnellen schießt oder weit durchs Tal mäandriert, wie hier. Neben einem ausladenden Baum errichten Maria, Marcus und Mike ihr Nachtlager. Sie entfernen trockenes Gras, entzünden ein großes Feuer, spannen die Plastikplane so, dass man bei Regen notfalls darunter Zuflucht nehmen kann, und holen einige frische Fische aus dem Beansburn. Mike, der alle Tricks kennt, ist überrascht, dass Maria und Marcus mit so reicher Beute zurückkommen. Aber für die beiden war das wie schon bei einigen ihrer Versuche zu fischen, wo sie mit vereinten Para-Kräften beliebig viele Fische fingen. Der Abend mit Lagerfeuerromantik, mit dem Rauschen der Wasser, dem glasklaren Himmel mit dem Kreuz des Südens, der Abend, kühl, aber nicht kalt, gehört zu einem der Erlebnisse, die aus Neuseeland für Maria und Marcus eine neue Heimat machen. Die drei reden noch lange, über Tiefes und Belangloses. Mike wird es wieder einmal klar: Die beiden sind etwas Besonderes. Und den beiden wird es klar: Mike ist Mike, jemand, den man nie vergessen kann, der alles Gute in Neuseeland irgendwie in sich kombiniert. Eine Frage taucht in Maria und Marcus auf: »Ist Mike auch para-begabt?« Oft scheint er es zu sein, vor allem dann, wenn er mit schlafwandlerischer Sicherheit einen möglichen Weg aufspürt. Wie sehr würden sie einen Späher wie seinerzeit Klaus Baumgartner benötigen! Noch dauert es ein Jahr, bis sie entdecken werden, dass sie einen Späher und eine schwache Emotiopathin in der Familie haben, ihre zurzeit zweijährige Tochter Lena ...
Maria, Marcus und Mike folgen in den nächsten Tagen dem Beansburn, so weit das geht, mit Abstechern zu zahlreichen herrlichen Wasserfällen, weil sie (durch das Auslassen der Klettertour) zeitlich gut unterwegs sind. Sie genießen eine ungewöhnliche Schönwetterperiode, gehen immer wieder »skinny dipping«, d. h. ohne Badeausrüstung, ins eiskalte Wasser. Mike, der die nackte Maria immer wieder gerne so »in Natur sieht« und Marcus ein bisschen um sie beneidet, ist ein echter Gentleman: So viel er fotografiert, bei diesen Gelegenheiten, wo es ihn sehr reizen würde, drückt er nicht ab und überlässt Maria und Marcus ihrem offenbar noch immer andauernden Glück.
Während sich Maria, Marcus und Mike dem Treffpunkt mit dem Jetboot am Dart-River nähern, sitzt die PM mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission in Wellington bei verschiedenen Treffen und Dinners. Sie hat ihn, Dirkman, der unbedingt Neuseeland besuchen wollte, von Anfang an nicht als sympathisch empfunden. Er machte ihr gleich klar, dass zwar Interesse bestünde, Neuseeland in den Euro-Kreis aufzunehmen, aber andererseits Neuseeland so unbedeutend sei, dass es der EU darauf nicht ankommt, sondern dies nur für Neuseeland wichtig ist. Sicher, es gibt seit 2006 eigentlich nur mehr drei Währungen: Dollar, Euro und Yen. Nach den anfangs noch fehlenden europäischen Ländern wie England, Schweiz und Norwegen schlossen sich später auch die Türkei, Russland, Ägypten, Algerien, Argentinien und zuletzt Indien dem Euro an. Die De-facto-Entscheidung Chinas für den Yen hat dann drei riesige Währungsblöcke etabliert, an denen kaum mehr herumzukommen ist.
Aber die PM wird mit dem Vertreter der EU auch nach vielen Gläsern eines exzellenten Hawks-Bay-Chardonnays gefolgt von erstklassigem Eiswein nicht richtig »warm«. Er warnt die PM in düsteren Worten vor para-begabten Personen, mit denen die Kommission schon konfrontiert gewesen ist. Da war insbesondere ein hochbegabter Telekinet (Namen vergessen), der eine große Bedrohung für die EU dargestellt hatte. Er war später, soweit man wusste, in einem Flugzeug abgestürzt, aber sicher ist man noch immer nicht. Er wird ihr die Fingerabdrücke aller verdächtigen Para-Begabungen senden. Und die EU hat inzwischen ein großes Para-Forschungslabor (PPU) eingerichtet, an dem vor allem die Franzosen intensiv mitarbeiten, das große Fortschritte macht. Wenn die PM je Hilfe braucht, könnte man darüber verhandeln ...
Die PM denkt an Marcus und Maria. Sind sie Para-Begabte? Sie würde es prüfen und sie würde dem EU-Kommissar eine entsprechende Nachricht übermitteln.
Als Maria, Marcus und Mike den Dart-River nach herrlichen Tagen erreichen, wartet ein Jetboot auf sie. Sie freuen sich, in Queenstown nach mehreren Tagen wieder ein heißes Bad im Motel nehmen zu können, und gratulieren sich in einem erstklassigen Restaurant gegenseitig. Sie merken nicht, dass ihre Weingläser einmal gewechselt werden und verschwinden, weil die Fingerabdrücke überprüft werden sollen ...
Zwei Tage später hat die PM die Gutachten: Marcus ist DER gesuchte und für tot erklärte Telekinet, Maria eine mit Para-Sicht (was immer das heißt) begabte Person. Die PM überlegt viele Stunden. Die SR-Inc. unter Marcus und Maria hat bisher für Neuseeland nur Positives geleistet. Sie kann die negativen Anschuldigungen des EU-Präsidenten und der EU-Kommission nicht glauben. Sie versteht vielmehr eine Nuance von Maria und Marcus und der SR-Inc.: Man kann mit Para-Begabungen nicht in die Öffentlichkeit treten, weil man dann als »Ungeheuer« verfolgt werden würde. Aber muss man nicht positive Ungeheuer unterstützen? Sie wird weiterhin SR-Inc. und die Besitzer genau beobachten. Aber in ihrem offiziellen Schreiben an den Vorsitzenden der EU-Kommission steht: die Fingerabdrücke stimmen mit keiner uns bekannten Person in Neuseeland überein.
SR-Inc., Maria und Marcus haben also ohne es
zu wissen eine Verbündete: die PM von Neuseeland. Und nur sie weiß
davon; sie hat sorgfältigst alle entsprechenden Informationen von
anderen Regierungskollegen ferngehalten. Sie wird sich noch genau
überlegen müssen, wie sie ihr Wissen und das darin steckende bisher
politisch nicht benutzte Potenzial verwenden kann.