25
Ich sprach noch kurz mit dem Leiter der Wohnwagenstadt. Ich gab ihm meine Karte und bat ihn, mich anzurufen, wenn Lovella zurückkam. Ich traute Coral nicht so recht. Als ich ihn zum letzten Mal sah, klopfte er gerade an ihre Tür. Ich stieg in meinen Wagen und fuhr zum Revier. Am Schalter fragte ich nach Lieutenant Dolan, aber er und Feldman waren in einer Besprechung. Der Beamte rief Jonah für mich, und er kam bis zu der verschlossenen Tür und ließ mich in den Korridor dahinter treten. Wir verhielten uns beide unauffällig — freundlich, aber niemand, der uns beobachtet hätte, wäre darauf gekommen, daß wir uns nur wenige Stunden zuvor splitternackt auf meinem Bett gewälzt hatten.
»Was ist passiert, als du heimgekommen bist?« fragte ich.
»Nichts. Alle haben geschlafen«, antwortete er. »Wir haben etwas im Labor, das dich interessieren wird.« Er ging den Gang nach rechts hinunter, und ich folgte ihm. Er drehte sich zu mir um. »Feldman hat auf deinen Vorschlag hin die Abfallkörbe untersuchen lassen. Wir glauben, daß wir den Schalldämpfer gefunden haben.«
»Wirklich?« Ich war überrascht.
Er öffnete die Tür ins Labor und hielt sie für mich, als ich vor ihm eintrat. Der Laborant war nicht da, aber ich konnte Billys blutiges Hemd auf einem Tisch liegen sehen, zusammen mit einem Gegenstand, den ich zuerst nicht identifizieren konnte.
»Was ist das?« fragte ich. »Das ist er?« Was vor mir lag, war eine große Plastiksaftflasche, schwarz gestrichen. Sie lag auf der Seite und hatte ein Loch im Boden.
»Ein Wegwerf-Schalldämpfer. Selbstgemacht. Tatsächlich unterdrückt er den Lärm. Fingerabdrücke sind abgewischt worden«, erklärte Jonah.
»Ich begreife nicht, wie der funktioniert.«
»Ich mußte es mir auch von Krüger erklären lassen. Die Flasche ist mit Stoff gefüllt. Sieh’s dir an. Normalerweise wird der Lauf der Waffe mit Klebestreifen umwickelt, und die Flasche wird mit einem Schlauchbinder daran befestigt. Die Sodaflasche hat einen verstärkten Boden, ist aber nur für ein paar Schuß wirksam, weil der Geräuschpegel mit jedem Schuß steigt, da das Loch größer wird. Das Ganze funktioniert natürlich am besten aus geringer Entfernung.«
»Großer Gott, Jonah. Woher wissen die Leute über solche Sachen Bescheid? Ich hab noch nie davon gehört.«
Er nahm ein dünnes Büchlein von dem Tisch hinter mir, blätterte darin, so daß ich es sehen konnte. Jede Seite war angefüllt mit Diagrammen und Fotos, die zeigten, wie man aus alltäglichen Haushaltsgegenständen Schalldämpfer basteln konnte. »Das stammt aus einem Waffengeschäft in Los Angeles«, berichtete er. »Du müßtest mal sehen, was du mit einem Haufen Kapselverschlüssen anfangen kannst.«
»Jesus.«
Lieutenant Becker steckte den Kopf durch die Tür. »Leitung eins für dich«, sagte er zu Jonah und verschwand dann wieder. Jonah warf einen Blick auf den Apparat im Labor, aber der Anruf war nicht durchgestellt worden.
»Ich nehme den an und bin gleich wieder da. Warte hier.«
»Okay«, murmelte ich. Ich beugte mich näher zu dem Schalldämpfer, versuchte mich zu erinnern, wo ich etwas Ähnliches gesehen hatte. Durch das Loch im Boden erhaschte ich einen Blick auf den blauen Frotteestoff im Innern. Als ich begriff, was es war, setzte der geistige Prozeß bei mir ein, die Maschinerie klickte, ich wußte Bescheid.
Ich richtete mich auf, lief zur Tür, überprüfte den Gang, der leer war. Ich hastete zum Auto. Ich konnte noch Ramona Westfall die Kellertreppe heraufkommen sehen, den Arm voll blauer Badehandtücher, die sie auf den Stuhl fallen ließ. Die Plastikflasche war mit Saft gefüllt gewesen, sie hatte sie fast fallen lassen, als sie sie Tony gab, der sie in den Kühlschrank stellen sollte.
Ich hielt gerade lange genug beim Büro, um bei den Westfalls anzurufen. Das Telefon klingelte viermal, dann sprang der Anrufbeantworter an.
»Hallo. Hier spricht Ramona Westfall. Weder Ferrin noch ich können im Augenblick an den Apparat kommen, aber wenn Sie Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und eine kurze Nachricht hinterlassen, rufen wir Sie so bald wie möglich zurück. Danke.« Ich legte auf, als der Ton erklang.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war Viertel vor fünf. Ich hatte keine Ahnung, wo Ramona war, aber Tony hatte um fünf Uhr eine Verabredung, nicht weit von hier. Wenn ich ihn abfangen konnte, konnte ich ihn wegen ihres Alibis befragen, denn er war der einzige Zeuge, den sie hatte. Wie war ihr das gelungen? Er mußte wegen seiner Migräne starke Medikamente bekommen. Vielleicht hatte sie sich davongestohlen, während er schlief, hatte die Küchentür verstellt, als sie zurückkam, so daß sie für die Zeit von Daggetts Tod gedeckt war. Als sie wieder daheim war, war Tony aufgewacht — wahrscheinlich hatte sie dafür gesorgt, damit sie jemanden hatte, der die Zeit und ihre Aussage bestätigte. Sie hatte die Sandwiches zubereitet, hatte sich freundlich mit ihm unterhalten, während er aß, und sobald er wieder zu Bett gegangen war, hatte sie die Uhr erneut verstellt. Oder vielleicht war es gar nicht so kompliziert. Vielleicht war die Uhr, die Daggett trug, auf 2 Uhr 37 gestellt und dann untergetaucht worden. Sie hätte ihn schon früher umbringen und um zwei Uhr daheim sein können. Tony hatte vielleicht begriffen, was sie getan hatte, und versucht, sie zu decken, als er sah, wie nah meine Nachforschungen mich schon gebracht hatten. Es war auch möglich, daß er mit ihr unter einer Decke steckte, aber ich hoffte, das wäre nicht der Fall.
Ich schloß mein Büro ab und ging über die Vordertreppe nach unten, lief die State Street zu Fuß entlang. Das Granger Building war nicht weit entfernt, und so war ich schneller, als wenn ich in meinen Wagen gesprungen und damit bis zu dem Parkplatz hinter dem Haus gefahren wäre. Tony befand sich vielleicht immer noch in dem Spielsalon auf der anderen Straßenseite. Ich mußte ihn sprechen, ehe sie eine Chance hatte, einzugreifen. Ich wollte nicht, daß er heimfuhr. Sie mußte begriffen haben, daß die Sache heiß wurde, vor allem, nachdem ich mit dem Rock und den Schuhen in ihrem Haus aufgetaucht war. Alles, was ich von ihm brauchte, war ein Hinweis, daß ich auf dem richtigen Weg war. Dann würde ich Feldman anrufen. Ich dachte an The Close, das jetzt im Dämmerlicht noch düsterer wirken würde, wie ich wußte. Ich wollte nicht noch einmal dorthin fahren, wenn es nicht nötig war.
Ich warf einen Blick in den Salon. Tony war hinten, auf der rechten Seite, spielte ein Video-Spiel. Er konzentrierte sich, und ich glaube, er bemerkte mich nicht einmal. Ich wartete, beobachtete, wie kleine Kreaturen vom Bildschirm gepustet wurden. Er traf nicht sehr gut, und ich hätte Lust gehabt, selbst einen Versuch zu unternehmen. Die Geschöpfe erstarrten plötzlich, Waffen gingen hier und da los, ungeachtet seiner Manipulationen. Er schaute auf. »Oh, hallo.«
»Ich muß mit dir reden«, sagte ich.
Sein Blick wanderte zur Uhr. »Ich habe in fünf Minuten eine Verabredung. Hat es Zeit?«
»Ich bringe dich hin. Wir können uns unterwegs unterhalten.«
Er nahm sein Päckchen, und wir traten auf die Straße hinaus. Die blasse Nachmittagssonne schien nach der Dunkelheit im Spielsalon hell. Aber Nebel senkte sich, zusammen mit dem Zwielicht des Novembers. Ich drückte bei der Ampel auf den Knopf, und wir warteten auf grünes Licht. »Letzten Freitag, an dem Abend, als Daggett starb, erinnerst du dich, wo dein Onkel war?«
»Klar. In Milwaukee, auf Geschäftsreise.«
»Bekommst du wegen deiner Migräne Tabletten?«
»Ah, ja. Tylenol mit Codein, Compazine, wenn ich erbrechen muß. Wieso?«
»Ist es möglich, daß deine Tante fortgegangen ist, während du geschlafen hast?«
»Nein. Ich weiß nicht. Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen«, sagte er.
Ich dachte, er wollte mir ausweichen, sagte aber nichts. Wir hatten das Granger Building erreicht, und Tony betrat vor mir die Eingangshalle.
Der Fahrstuhl, der außer Betrieb gewesen war, ging jetzt wieder, aber der andere stand still, die Türen offen, zwei Sägeböcke mit einem Warnschild vor der Öffnung.
Tony beobachtete mich wachsam. »Hat sie gesagt, daß sie ausgegangen wäre?«
»Sie behauptet, sie wäre mit dir daheim gewesen.«
»Also?«
»Komm schon, Tony. Du bist das einzige Alibi, das sie hat. Wenn du unter Medikamenteneinfluß gestanden hast, woher willst du dann wissen, wo sie war?«
Er drückte auf den Fahrstuhlknopf.
Die Türen öffneten sich, und wir stiegen ein. Die Türen schlossen sich ohne weiteren Zwischenfall, und wir fuhren in den sechsten Stock hinauf. Ich musterte sein Gesicht, als wir in den Flur traten. Er trug eindeutig einen Konflikt aus, aber ich wollte noch nicht drängen. Wir eilten den Gang entlang auf die Räume zu, die offensichtlich zu seinem Psychiater gehörten.
»Möchtest du über irgend etwas reden?« erkundigte ich mich.
»Nein.« Seine Stimme brach vor Empörung. »Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, daß sie irgend etwas damit zu tun hat.«
»Vielleicht kannst du das Feldman erklären. Er ist für den Fall zuständig.«
»Ich rede nicht mit den Bullen über sie.« Tony wollte die Praxistür öffnen, stellte aber fest, daß sie verschlossen war. »Mist, er ist nicht da.«
Eine Nachricht hing an der Tür. Er streckte die Hand aus, um das Papier abzureißen, verwandelte diese Bewegung dann in einen abrupten Stoß. Dann weiß ich nur noch, daß ich auf Händen und Knien lag und er fortgelaufen war. Er hämmerte auf den Fahrstuhlknopf und bog dann nach rechts ab. Ich war auf den Beinen und lief, als ich hörte, wie die Tür zum Treppenhaus gegen die Wand schlug. Ich rannte, erreichte das Treppenhaus nur Sekunden nach ihm. Er lief bereits nach oben.
»Tony! Laß das. Tu das nicht!«
Er bewegte sich schnell, seine Schuhe kratzten über die Betonstufen. Sein angestrengter Atem hallte von den Wänden wider, als er hinauflief. Ich halte mich nicht umsonst fit, Leute. Er hatte mir die Jugend voraus, aber ich war gut in Form. Ich warf meine Tasche fort und umklammerte das Geländer, jagte hinter ihm hinauf, nahm immer zwei Stufen auf einmal. Im Laufen schaute ich nach oben, versuchte, ihn zu sehen. Er hatte den siebten Stock erreicht und lief weiter. Wie viele Stockwerke hatte dieses Haus?
»Tony! Verdammt! Warte! Was hast du vor?«
Ich hörte da oben eine weitere Tür schlagen. Ich wurde noch schneller.
Ich erreichte den obersten Treppenabsatz. Der Mann, der den Fahrstuhl repariert hatte, hatte offensichtlich die Tür zum Speicher unverschlossen gelassen, und Tony war durch die Öffnung gestürzt und hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Ich packte den Griff, erwartete fast, die Tür versperrt zu finden. Aber sie flog auf, ich zwängte mich hindurch, blieb auf der Schwelle stehen. Der Raum war dunkel und heiß und trocken, größtenteils leer, abgesehen von einer kleinen Tür zu meiner Rechten, hinter der die Bremsen und Antriebsmotoren der Fahrstühle untergebracht waren. Ich schob kurz den Kopf in den vollgestopften Raum, aber er schien leer. Ich zog den Kopf zurück und sah mich um. Das Dach ging etwa sechs Meter hoch, die Balken steil angeordnet, die Ziegel formten dort, wo sie aufeinanderstießen, einen 90-Grad-Winkel.
Stille. Ich konnte einen rechteckigen Lichtfleck auf dem Boden sehen und blickte auf. Eine Holzleiter lehnte an der Wand zu meiner Rechten. Oben stand eine Falltür offen, schwindendes Tageslicht fiel hindurch. Ich überflog den Speicher. Auf ein paar Kisten lag eine Schalttafel. Es sah aus wie ein Lichtpult aus dem Kino im Erdgeschoß. Aus einem unerfindlichen Grund stand ein massiver Vogel aus Pappmache auf einer Seite — ein Blauhäher in einem aufgemalten Anzug. Holzstühle stapelten sich zu meiner Linken.
»Tony?«
Ich legte eine Hand auf die Leiterstufen. Er konnte sich gut irgendwo verstecken, wartete vielleicht nur darauf, daß ich zum Dach hinaufkletterte, so daß er sich davonstehlen und die Treppe wieder hinablaufen konnte. Ich machte mich an den Aufstieg, kletterte vielleicht drei Meter hoch, so daß ich den Speicher von einem besseren Aussichtspunkt überblicken konnte. Nichts regte sich, kein Atem war zu hören. Ich schaute wieder nach oben und fing an, vorsichtig hinaufzuklettern. Ich habe keine Angst vor Höhe, aber ich mag sie auch nicht gerade gern. Immerhin wirkte die Leiter sicher, und ich konnte mir nicht denken, wo er sonst sein sollte.
Als ich oben ankam, zog ich mich hoch, bis ich sitzen konnte, und sah mich dann um. Ich war in einem kleinen Alkoven gelandet, der hinter einem Ziergiebel verborgen war, ein ebenso langer befand sich an der halben Länge des Daches. Von der Straße aus hatten die beiden wie reine Verzierung gewirkt, aber jetzt konnte ich sehen, daß der eine Belüftungsrohre verbarg. Es gab nur einen sehr schmalen Gang am Dach entlang, der von einer niedrigen Brüstung gesichert wurde. Die steile Neigung des Daches würde das Laufen riskant machen.
Ich spähte in den Speicher hinunter, hoffte, Tony aus seinem Versteck und ins Treppenhaus rennen zu sehen. Hier oben war keine Spur von Tony, es sei denn, er hatte sich auf die andere Seite gewagt. Vorsichtig stand ich auf, befand mich jetzt zwischen dem fast senkrechten Dach zu meiner Linken und der knöchelhohen Brüstung zu meiner Rechten. Tatsächlich ging ich in einer Regenrinne aus Metall, die unter meinem Gewicht knarrte. Das Geräusch gefiel mir gar nicht. Es legte nahe, daß das Metall jeden Augenblick nachgeben und ich auf einer Seite hinabstürzen würde.
Ich schaute acht Stockwerke tief auf die Straße, die nicht so weit entfernt schien. Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren zwei Stockwerke hoch und erweckten die tröstliche Illusion von Nähe, aber die Fußgänger wirkten durch die Höhe noch immer wie Zwerge. Die Straßenlampen waren angegangen, und der Verkehr unten nahm ab. Zu meiner Rechten, einen halben Block weit entfernt, wurde der Glockenturm des Axminster-Theaters von innen beleuchtet, die Bögen waren in bräunliches Gold und warmes Blau gehüllt. Der Sturz würde ungefähr fünfundzwanzig Meter ausmachen. Ich versuchte mich an die Geschwindigkeit eines fallenden Objektes zu erinnern. Irgend etwas mit Meter per Sekunde war alles, was mir dazu einfiel, aber ich wußte, das Endergebnis wäre ein unglaublicher Fleck. Ich blieb stehen, wo ich war, und hob die Stimme. »Tony!«
Aus dem Augenwinkel erhaschte ich eine blitzschnelle Bewegung, und mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Die Plastiktüte, die er bei sich gehabt hatte, flog nach unten, schwebte gemütlich dahin. Woher kam sie? Ich spähte über die Brüstung. Ich konnte eine der Nischen sehen, die in die Wand geschlagen worden waren, direkt unter dem Sims. Der Fries, der das Gebäude umlief, hatte von der Straße aus immer ausgesehen, als wäre er aus Marmor, aber jetzt erkannte ich, daß es sich um Gips handelte. Die Nische selbst befand sich ungefähr vier Fuß weiter unten und links von mir. Eine Halbmuschel ragte vielleicht dreißig Zentimeter weit an der Unter kante vor, hielt etwas mit einer Fackel, das wahrscheinlich eine Lampe sein sollte, alles aus Gips gegossen wie der Fries. Tony saß da unten, das Gesicht mir zugewandt. Er war über den Rand geklettert und hockte jetzt in der flachen Ziernische, einen Arm um die Fackel geschlungen, mit baumelnden Beinen. Aus der Tüte, die er bei sich gehabt hatte, hatte er eine Perücke gezogen, hatte sie aufgesetzt und blickte jetzt mit einem sonderbaren Funkeln in den Augen zu mir empor.
Ich starrte auf die Blondine, die Daggett getötet hatte.
Einen Moment lang schauten wir uns an, sagten nichts. Er hatte den anmaßenden Blick eines Zehnjährigen, der seiner Mutter trotzt, aber unter diesem Wagemut spürte ich ein Kind, das hoffte, jemand würde eingreifen und es vor sich selbst retten.
Ich legte eine Hand auf den Vorsprung, um mich zu stützen. »Kommst du hinauf, oder soll ich hinunterkommen?« Ich bemühte mich um einen sachlichen Ton, aber mein Mund war trocken.
»Ich gehe in einer Minute nach unten.«
»Darüber sollten wir vielleicht reden«, schlug ich vor.
»Dazu ist es zu spät«, erklärte er mit dümmlichem Lächeln. »Ich bin entschlossen zu fliegen.«
»Wartest du da, bis ich bei dir bin?«
»Kein Festhalten«, warnte er.
»Ich werde dich nicht festhalten.«
Meine Handflächen waren feucht, und ich wischte sie an meiner Jeans ab.
Ich hockte mich hin, das Gesicht zum Dach, streckte vorsichtig einen Fuß am Fries entlang. Ich schaute nach unten, versuchte Halt zu finden. Girlanden aus Ananas, Trauben und Feigenblättern bildeten ein Basrelief, das sich um das Haus herumzog. »Wie hast du das geschafft?« wollte ich wissen.
»Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich hab es einfach gemacht. Sie brauchen nicht runterzukommen. Das ändert nichts.«
»Ich will einfach nicht mit dir reden und dabei über den Rand hängen«, log ich verzweifelt. Ich hoffte, nahe genug zu kommen, um ihn zu packen, ignorierte die Visionen von ihm und mir im Kampf in dieser Höhe. Ich hielt mich fest, schob eine Zehe in eine flache Vertiefung, die von einer Weinranke gebildet wurde. Die Nische war nur einen Meter entfernt. Auf ebener Erde hätte ich keinen Gedanken daran verschwendet.
Ich spürte, daß er mich beobachtete, aber ich wagte nicht, zu ihm zu sehen. Ich klammerte mich an der Brüstung fest, ließ den linken Fuß herab.
»Sie werden mich nicht davon abbringen«, erklärte er.
»Ich will nur deine Seite von der ganzen Sache hören«, sagte ich.
»Also schön.«
»Du wirst doch nicht versuchen, mich umzubringen, oder?«
»Warum sollte ich? Sie haben mir nie was getan.«
»Ich bin froh, daß dir das klar ist. Jetzt bin ich wirklich ganz zuversichtlich.« Ich hörte, wie er über meinen Ton lachte.
Ich habe Zeitungsbilder von einem Mann gesehen, der in Tennisschuhen eine senkrechte Felswand hinaufklettert und sich dabei mit den Fingerspitzen in kleinen Sprüngen festhält, die er beim Aufstieg entdeckt. Mir war das immer lächerlich vorgekommen, und ich hatte für gewöhnlich weitergeblättert bis zu einem Artikel, der mir sinnvoller erschien. Der Anblick der Fotos rief schon Schweißausbrüche bei mir hervor, vor allem, wenn sie von einem Standpunkt aus aufgenommen waren, wenn er in einen gähnenden Abgrund blickte. Vielleicht habe ich mehr Angst vor der Höhe, als ich eingestehen will.
Ich ließ zu, daß mein rechter Fuß sich bis zum Rand der Nische senkte. Ich fand einen Halt für meine Hand, weiter unten und rechts von mir. Fühlte sich an wie eine Ananas, aber ich war nicht sicher. Da vertraute ich meine Sicherheit also einem falschen Stück Obst an. Ich mußte verrückt sein.
Das Schlimmste war, tatsächlich loszulassen, als mein Fuß sicher in der Vertiefung stand. Ich mußte in die Knie gehen, mich leicht nach rechts drehen, mich Stück für Stück herablassen, bis ich endlich sitzen konnte. Tony, wie immer höflich, reichte mir tatsächlich die Hand, hielt mich, bis ich neben ihm saß. Ich bin nicht tapfer. Wirklich nicht. Ich wollte bloß nicht, daß er von diesem Gebäude flog, während ich zuschaute. Ich legte meinen linken Arm um die Fackel, gleich unter seinem, hielt mich mit der rechten Hand am Handgelenk fest. Ich konnte fühlen, wie mir der Schweiß am Körper herablief.
»Ich hasse das«, erklärte ich. Ich war gereizt und fertig, nicht von der Anstrengung, sondern aus Angst.
»So schlimm ist es nicht. Sie dürfen nur nicht nach unten schauen.«
Natürlich tat ich das. Kaum hatte er das gesagt, da packte mich der unwiderstehliche Wunsch zu blinzeln. Ich hoffte, daß uns jemand sehen würde, wie es im Fernsehen immer ist. Dann würden die Cops mit ihren Netzen kommen, und die Wagen der Feuerwehr, und jemand würde ihn überreden, es nicht zu tun. Ich bin ein Erdzeichen, ein Stier. Ich war nie ein Mensch der Luft, des Wassers oder des Feuers. Ich bin ein Geschöpf der Schwerkraft, und ich konnte fuhren, wie der Boden flüsterte. Dasselbe passiert mir, wenn ich in alten Hotels im zweiundzwanzigsten Stock wohne. Ich öffne ein Fenster und will mich hinausschwingen.
»Ach je, das ist so eine schlechte Idee«, meinte ich.
»Für Sie vielleicht, für mich nicht.«
Ich versuchte an mein kurzes Leben als Cop zurückzudenken, an das Standardvorgehen im Umgang mit potentiellen Selbstmördern. Zeitschinden war die erste Regel. Ich konnte mich nicht erinnern, daß davon die Rede war, daß man seinen Arsch über den Rand eines Hauses hängen sollte, aber genau das tat ich gerade. »Worum geht’s, Baby? Willst du mir das nicht erzählen?« fing ich an.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Daggett rief Montag bei uns an. Tante Ramona hat die Nummer notiert, und ich rief ihn zurück. Ich habe davon geträumt, ihn umzubringen. Ich konnte es nicht abwarten. Seit Monaten hatte ich diese Phantasien, jede Nacht, ehe ich einschlief. Ich wollte ihn erwischen, mit einem Draht um den Hals, und langsam zudrehen, bis er in seine Luftröhre schnitt und seine Zunge aus dem Mund kam. Das dauert nicht sehr lange. Ich hab vergessen, wie man das nennt...«
»Strangulieren«, half ich.
»Ja, das hätte mir gefallen, aber dann dachte ich mir, es wäre besser, wenn es wie ein Unfall aussehen würde, weil — so würde ich nicht erwischt werden.«
»Warum hat er angerufen?«
»Ich weiß nicht. Er war betrunken und brabbelte, sagte, es täte ihm leid und er wollte an mir wiedergutmachen, was er getan hatte. Ich sagte: >Schön. Warum treffen wir uns nicht und reden miteinander?< Und er: >Das würde mir so viel bedeuten, mein Sohn.<« Tony spielte die Rollen, verwendete eine bebende Falsettstimme für Daggett. »Also hab ich ihm gesagt, ich würde ihn am nächsten Abend in dieser Bar treffen, von der aus er angerufen hat, im Hub. Dadurch blieb mir nicht mehr viel Zeit, diese Aufmachung zusammenzustellen.«
»War das Ramonas Rock?«
»Nee, den hab ich für ‘nen Dollar im Laden von der Heilsarmee gekauft. Das Sweatshirt hat noch mal fünfzig Cent gekostet und die Schuhe zwei Dollar.«
»Wo ist das Sweatshirt?«
»Das hab ich in einen anderen Abfallkorb geworfen, eine Straße von dem ersten entfernt. Ich dachte, so würden sie alle auf der Müllhalde enden.«
»Was ist mit der Perücke?«
»Die gehört Tante Ramona, ist schon Jahre alt. Sie hat nicht einmal gemerkt, daß sie fort war.«
»Warum hast du die behalten?«
»Ich weiß nicht. Ich wollte sie in den Schrank zurücklegen, wo ich sie rausgenommen hatte, für den Fall, daß ich sie noch mal benötigen würde. Ich hatte sie am Strand auf, aber dann fiel mir ein, daß Billy bereits Bescheid wußte.« Er brach ab, offensichtlich verwirrt. »Ich hätte vielleicht meinem Therapeuten von all dem erzählt, wenn er dagewesen wäre. Na ja, die Perücke ist jedenfalls teuer. Das ist echtes Haar.«
»Die Farbe ist auch hübsch«, sagte ich. Ich meine, was hätte ich sonst machen können? Sogar Tony begriff, wie absurd das war, und warf mir einen wütenden Blick zu.
»Sie wollen mich bei Laune halten, stimmt’s?«
»Natürlich!« fuhr ich ihn an. »Ich bin nicht hierhergekommen, um mit dir zu streiten.«
Er zuckte leicht mit den Achseln und lächelte verlegen.
»Hast du ihn dann wirklich Dienstagabend dort getroffen?« erkundigte ich mich.
»Nein. Ich war dort. Da hatte ich schon alles geplant, bloß, als ich reinkam, saß er mit ‘nem Kerl an einem Tisch. Stellte sich raus, daß das Billy Polo war, aber das wußte ich da noch nicht. Billy saß in der Nische, mit dem Rücken zur Tür. Ich sah Daggett, merkte aber nicht, daß er Gesellschaft hatte, bis ich direkt vor ihm stand. In der Minute, als ich Billy entdeckt hab, bin ich abgehauen, aber da hatte er mich schon gesehen. Ich hab mir keine Sorgen gemacht. Dachte mir, ich würde den ohnehin nie wiedersehen. Ich hab mich noch ‘ne Weile da rumgetrieben, aber die waren wirklich vertieft in ihr Gespräch. Ich hab gemerkt, daß Billy ihn bearbeitet hat, und es war unwahrscheinlich, daß er das so bald unterlassen würde. Also hab ich einen Wagen angehalten und bin heim.«
»War das eine der Nächte, in denen du Migräne hattest?«
»Ja. Ich meine, manche sind echt, und manche sind falsch, aber ich mußte etwas haben, verstehen Sie? Damit ich kommen und gehen kann, wie es mir gefällt.«
»Wie bist du zum Hub gekommen, mit dem Taxi?«
»Mit dem Rad. In der Nacht, als ich ihn umgebracht hab, bin ich runtergefahren und hab es im Hafen gelassen, und dann habe ich von einer Telefonzelle ein Taxi gerufen und bin damit zum Hub gefahren.«
»Woher wußtest du, daß er auftauchen würde?«
»Weil er wieder angerufen und gesagt hat, er würde dort sein.«
»Ist ihm nie in den Sinn gekommen, du wärest schon mal dagewesen?«
»Woher sollte er das wissen? Er hatte mich seit vor der Verhandlung nicht mehr gesehen. Ich war damals zwölf, dreizehn, ein dicker Junge. Ich glaube, selbst wenn er es erraten hätte, hätte ich es trotzdem getan, ihn umgebracht... und wenn er erst einmal tot gewesen wäre, wer hätte dann noch etwas gewußt?«
»Was ist schiefgegangen?«
Er runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Das heißt, doch. Der Plan war in Ordnung. Es war etwas anderes.« Sein Blick traf meinen, und er sah jetzt genauso aus wie fünfzehn, die blonde Perücke verlieh seinem Gesicht, das durch Jugend noch ungeprägt war, Weichheit und Tiefe. Ich konnte sehen, wie leicht er als Frau durchgehen würde, schlank, mit reiner Haut, einem süßen Lächeln auf dem breiten Mund. Er schaute auf die Straße hinab, und einen Moment lang fürchtete ich, er würde sich hinabstürzen.
»Als ich acht war, hatte ich diese kleinen Mäuse«, erzählte er. »Die waren wirklich süß. Ich habe sie in einem Käfig gehabt, mit einem Rad und einer Wasserflasche, die mit dem Kopf nach unten hing. Mom hat nicht geglaubt, daß ich für sie sorgen würde, aber ich hab’s getan. Ich hab Papierstreifen auf den Käfigboden gelegt, damit sie sich ein Nest bauen konnte. Jedenfalls hatte das Mausmädchen dann Babys. Die waren nicht länger als so.« Er zeigte das Ende eines kleinen Fingers. »Kahl«, fuhr er fort. »Ganz winzige, komische Dinger. An einem Wochenende mußten wir aus der Stadt fort, und als wir wiederkamen, hatte die Katze versucht, in den Käfig zu kommen. Hatte ihn vom Tisch gestoßen und alles. Die Mäuse waren fort. Wahrscheinlich hat die Katze sie erwischt, bis auf das eine, das in all den Papierschnipseln gelegen hatte. Nun ja, das Wasser war verschüttet, das Papier war naß, und das kleine Ding muß Lungenentzündung oder so gehabt haben, weil es so keuchte, als könnte es nicht richtig atmen. Ich hab versucht, es warm zu halten. Ich hab es stundenlang beobachtet, und es wurde immer schlimmer und schlimmer, und da hab ich beschlossen, daß ich es besser... Sie wissen schon, töten sollte. Damit es nicht länger leiden mußte.«
Er beugte sich vor, seine Füße schwangen hin und her.
»Mach das nicht«, murmelte ich besorgt. »Erzähl die Geschichte weiter. Ich will wissen, was dann passiert ist.«
Da sah er mich an, seine Stimme klang ganz mild. »Ich hab es in die Toilette geworfen. Das war die einzige Art, es zu töten, dir mir einfiel. Ich konnte es nicht zertreten, also hab ich mir gesagt, ich spül es einfach fort. Das kleine Ding war ohnehin schon halb tot, und ich dachte, ich würde ihm einen Gefallen tun, es von seinem Elend befreien. Aber ehe ich das tun konnte, fing dieses winzige, haarlose Baby an zu kämpfen. Man konnte sehen, daß es panische Angst hatte, versuchte, da herauszukommen, als wüßte es, was geschehen würde...« Er brach ab, fuhr sich an die Augen. »Daggett hat das auch gemacht, und jetzt kann ich diesen Ausdruck auf seinem Gesicht nicht vergessen, verstehen Sie? Ich sehe ihn den ganzen Tag vor mir. Er wußte es. Das war mir nur recht. Ich wollte das. Ich wollte, daß er wußte, daß ich es war, daß sein Leben keinen roten Heller mehr wert war. Ich dachte einfach, ihm hätte das nichts ausgemacht. Er war betrunken, ein Säufer, und er hatte all diese Menschen umgebracht. Er hätte sterben sollen. Er hätte sogar froh darüber sein sollen. Ich befreite ihn von seinem Elend, verstehen Sie? Warum also mußte er es so schwermachen?«
Er verstummte, und dann atmete er laut aus. »Na ja, so ist das jedenfalls gelaufen. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich träume von dem Zeug. Macht mich krank.«
»Was ist mit Billy? Ich nehme an, er hat es begriffen, als er dich bei der Beerdigung sah.«
»Ja. Das war komisch. Ihm war Daggett völlig egal, aber er glaubte, er müßte einen Teil des Geldes haben, wenn er den Mund halten würde. Ich hätte ihm ja alles gegeben, aber ich hab ihm nicht geglaubt. Sie hätten ihn sehen müssen. Prahlte da rum, stieß all diese Drohungen aus. Ich stellte mir vor, wie er eines Nachts ausplappern würde, was er wußte, und dann würde ich in der Patsche sitzen.«
Der Rand der Nische schnitt langsam in mein Hinterteil. Ich hielt mich so fest, daß mein Arm schon taub wurde, aber ich wagte nicht, loszulassen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich uns beide hier herausbringen sollte, aber ich wußte, daß ich besser bald damit anfing.
»Ich habe auch mal einen Mann getötet«, sagte ich. Ich wollte mehr sagen, aber das ist alles, was ich rausbrachte. Ich biß die Zähne zusammen, versuchte, die Gefühle wieder hinabzuzwingen, wo ich sie unter Verschluß gehalten hatte. Es überraschte mich, daß es nach all dieser Zeit noch immer schmerzte, daran zu denken.
»Vorsätzlich?«
Ich schüttelte den Kopf. »Notwehr, aber tot ist tot.«
Sein Lächeln war süß. »Sie können ja mit mir kommen.«
»Sag das nicht. Ich werde nicht springen, und ich möchte auch nicht, daß du springst. Du bist fünfzehn Jahre alt. Es gibt eine Menge anderer Auswege.«
»Ich glaube nicht.«
»Deine Eltern haben Geld. Sie könnten Melvin Belli engagieren, wenn sie wollten.«
»Meine Eltern sind tot.«
»Nun, die Westfalls. Du weißt schon, was ich meine.«
»Aber Kinsey, ich habe zwei Menschen umgebracht, und ich habe es geplant. Wie soll ich damit durchkommen?«
»Auf dieselbe Art, wie es die Hälfte der Killer in diesem Land tut«, erklärte ich energisch. »Zum Teufel, Ted Bundy lebt auch noch, warum solltest du da nicht überleben?«
»Wer ist das?«
»Unwichtig. Jemand, der viel Schlimmeres getan hat als du.«
Er dachte einen Moment lang nach. »Ich glaube nicht, daß das klappen würde. Ich fühle mich zu schlecht, und ich sehe kein Ziel.«
»Es gibt keines. Das ist der Teil, den du erfinden mußt.«
»Könnten Sie mir einen Gefallen tun?«
»Sicher. Was?«
»Könnten Sie meiner Tante ausrichten, ich hätte Lebwohl gesagt? Ich wollte ihr einen Brief schreiben, aber ich hatte keine Gelegenheit mehr.«
»Verdammt noch mal, Tony! Tu’s nicht! Sie hat schon genug leiden müssen.«
»Ich weiß, aber sie hat meinen Onkel Ferrin, und sie werden das schon schaffen. Sie haben sowieso nie so recht gewußt, was sie mit mir anfangen sollten.«
»Aha, verstehe. Du hast dir schon alles überlegt.«
»Ja, hab ich. Ich habe über all das gelesen. Keine große Sache. Ständig bringen sich irgendwelche Kinder um.«
Ich ließ den Kopf hängen, unfähig, mir eine Antwort auszudenken. »Tony, hör zu«, sagte ich schließlich. »Es ist dumm, was du da sagst, und es ergibt keinen Sinn. Hast du eine Ahnung, wie schlimm das Leben für mich schien, als ich in deinem Alter war? Ich hab die ganze Zeit geweint und fühlte mich beschissen. Ich war häßlich. Ich war dürr. Ich war einsam, ich war verrückt. Ich hätte nie gedacht, daß ich da durchkommen würde, aber ich habe es geschafft. Das Leben ist hart. Das Leben schmerzt. Na und? Du stehst es durch. Du bringst es hinter dich, und dann fühlst du dich wieder besser. Das schwöre ich bei Gott.«
Er legte den Kopf schief, musterte mich aufmerksam. »Ich glaube nicht. Ich stecke zu tief drin. Ich kann nicht noch mehr ertragen. Es ist zuviel.«
»Tony, es gibt Tage, da kann keiner von uns es ertragen, aber das Gute kommt wieder. Glück ist nicht von Dauer, wie alles andere auch nicht. Warte ab. Es gibt Menschen, die dich lieben. Menschen, die dir helfen können.«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Es ist ungefähr so, als hätte ich einen Handel mit mir selbst abgeschlossen, das hinter mich zu bringen. Sie wird es verstehen.«
Ich konnte fühlen, wie meine Laune umsprang. »Soll ich ihr das erzählen? Daß du einen Sprung in die Tiefe gemacht hast, weil du einen verdammten Handel mit dir selbst abgeschlossen hast?« Auf seinem Gesicht zeigte sich Unsicherheit. In sanfterem Ton fuhr ich fort: »Soll ich ihr erzählen, wir hätten so hier oben gesessen, und ich hätte dich nicht davon abbringen können? Ich kann dich das nicht tun lassen. Du brichst ihr das Herz.«
Er starrte in seinen Schoß hinab, sein Blick nach innen gerichtet. Sein Gesicht wurde rot, wie es bei Jungs ist, wenn sie nicht weinen wollen. »Es hat nichts mit ihr zu tun. Sagen Sie ihr, es lag nur an mir, und sie hat sich einfach prima verhalten. Ich liebe sie wirklich, aber es geht hier um mein Leben, verstehen Sie?«
Ich schwieg einen Augenblick, versuchte herauszufinden, welchen Weg ich als nächstes einschlagen sollte.
Sein Gesicht erhellte sich, und er hielt einen Zeigefinger hoch. »Das hätte ich fast vergessen. Ich habe ein Geschenk für Sie.« Er rückte herum, ließ die Fackel los, was mich instinktiv nach ihm packen ließ. Darüber mußte er lachen. »Ganz ruhig. Ich greife nur in meinen Hosenbund.«
Ich schaute hin, was er hervorgezogen hatte. Meine .3 2er lag in seiner Hand. Er streckte sie aus, damit ich sie nehmen konnte, begriff zu spät, daß ich keine Hand frei hatte, um sie entgegenzunehmen.
»Macht nichts. Ich lege sie dorthin«, erklärte er freundlich. Er schob sie in die Nische, hinter die Fackel, an der ich mich festklammerte.
»Wie hast du die bekommen?« Zeit schinden, Zeit.
»Genau wie alles andere. Ich hab meinen Kopf benutzt. Sie haben Ihre Privatadresse auf die Karte geschrieben, die Sie Tante Ramona gegeben haben. Also bin ich mit dem Fahrrad hingefahren und habe gewartet, bis Sie heimgekommen sind. Ich wollte mich Ihnen vorstellen, wissen Sie, den höflichen Knaben spielen, mit guten Manieren und anständigem Haarschnitt und allem. Richtig schön unschuldig. Ich war nicht sicher, wieviel Sie wußten, und ich dachte, ich könnte Sie vielleicht von der Spur abbringen. Ich sah den Wagen, und Sie hätten fast gehalten, sind dann aber wieder losgefahren. Ich mußte wahnsinnig in die Pedale treten, um mit Ihnen mitzuhalten, und dann haben Sie am Strand geparkt, und ich sah meine Chance, Ihr Zeug durchzuwühlen.«
»Damit hast du dann Billy umgebracht?«
»Ja. Die war da, und ich brauchte etwas, was schnell ging.«
»Woher wußtest du über selbstgemachte Schalldämpfer Bescheid?«
»Ein Typ in der Schule. Ich kann auch eine Rohrbombe basteln«, erklärte er stolz. Dann seufzte er. »Ich muß jetzt bald gehen. Die Zeit ist fast um.«
Ich warf einen Blick nach unten auf die Straße. Es wurde hier wirklich langsam dunkel, aber der Fußweg war hell, der Spielsalon auf der anderen Straßenseite beleuchtet wie ein Kino. Zwei Leute auf der anderen Straßenseite hatten uns entdeckt, aber ich begriff, daß ihnen nicht klar war, was hier vorging. Ein Stunt? Dreharbeiten? Ich sah Tony an, aber er schien es nicht zu merken. Mein Herz hämmerte wieder und ließ meine Brust eng und heiß erscheinen.
»Ich werde langsam müde«, bemerkte ich. »Ich würde gern hinaufgehen, aber ich brauche Hilfe. Stützt du mich mit der Hand?«
»Klar«, sagte er. Dann stockte er, sein ganzer Körper spannte sich wachsam. »Das ist doch kein Trick, oder?«
»Nein.« Aber ich konnte hören, wie meine Stimme zitterte, und die Lüge schnitt in meine Zunge wie eine Rasierklinge. Ich habe immer mit Leichtigkeit und geschickt gelogen, voller Erfindungsreichtum und Überzeugung, aber diese Lüge brachte ich nicht heraus. Ich sah, wie er eine Bewegung machte. Ich packte nach ihm, klammerte mich um des lieben Lebens willen an ihn, aber er mußte nur einmal kurz und schnell den Arm drehen, und meine Hand löste sich. Ich streckte sie erneut aus, aber zu spät. Ich sah, wie er sich abstieß. Einen Augenblick lang schien er zu schweben wie ein Blatt, dann verschwand er aus meinem Blick. Danach schaute ich nicht wieder nach unten.
Ich dachte, ich würde eine Sirene heulen hören, aber der Ton kam von mir.
Ich berechnete Barbara Daggett $ 1040,00, die sie umgehend bezahlte. Wir haben jetzt fast Weihnachten, und ich habe seit sechs Wochen nicht mehr gut geschlafen. Ich habe viel über Daggett nachgedacht und meine Meinung in einer Hinsicht geändert. Ich glaube, er wußte, was los war. Aus der Ferne hatte man Tony vielleicht für eine Frau halten können, aber aus der Nähe sah er genau nach dem aus, was er war... ein Kind, das sich verkleidet hatte, für sein Alter überaus schlau, aber auch nicht annähernd schlau genug. Ich glaube nicht, daß Daggett darauf hereingefallen war. Warum er das Spiel mitspielte, weiß ich nicht. Wenn er geglaubt hatte, was Billy ihm erzählte, dann mußte er sich gesagt haben, daß er ohnehin ein toter Mann war. Vielleicht hatte er das Gefühl gehabt, er schuldete Tony dieses letzte Opfer. Ich werde es nie wissen, aber so ergibt es für mich mehr Sinn. Es gibt Schulden der menschlichen Seele, die so enorm sind, daß nur das Leben selbst eine ausreichende Buße darstellt. Vielleicht sind in diesem Fall jetzt alle Rechnungen voll bezahlt... bis auf meine.
Hochachtungsvoll,
Kinsey Millhone