15
Als ich Tony schließlich heimfuhr, war er ruhig, verschlossen, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert. Ich hielt vor dem Haus. Er stieg aus, warf die Tür zu und lief wortlos den Weg entlang. Ich war ziemlich sicher, daß er den Ausbruch seiner Tante und seinem Onkel gegenüber nicht erwähnen würde, was ein Glück war, denn schließlich hatte ich geschworen, ich würde mich mit ihm unterhalten, ohne ihn aufzuregen. Allerdings war ich immer noch im Besitz von Daggetts Scheck, fragte mich, ob ich ihn bis an mein Lebensende herumschleppen würde, immer vergeblich auf der Suche nach jemandem, der ihn mir abnahm.
Als ich zu meiner Wohnung zurückkam, verbrachte ich zwanzig Minuten damit, meinen Wagen zu entladen. Ich neige zwar dazu, meine Wohnung bewundernswert ordentlich zu halten, aber meine organisatorischen Fähigkeiten haben sich nie auf meinen Wagen erstreckt. Der Rücksitz ist für gewöhnlich übersät mit Akten, Büchern, meinem Aktenkoffer, Stapeln von Kleidungsstücken — Schuhen, Strumpfhosen, Jacken, Hüten — , von denen ich einiges als »Verkleidung« benötige.
Ich packte alles in einen Pappkarton und begab mich dann in den Hinterhof, wo sich der Eingang zu meiner Wohnung befindet. Ich öffnete das Vorhängeschloß der Vorratskiste, die sich an die Veranda anschließt, und verstaute den Karton, ließ dann das Schloß wieder einschnap-pen.
Als ich meine Tür erreichte, tauchte eine dunkle Gestalt aus dem Schatten auf. »Kinsey?«
Ich machte einen Satz, erkannte zu spät, daß es Billy Polo war. Im Dunkeln konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber die Stimme war eindeutig seine.
»Himmelherrgott, was machen Sie denn hier?«
»Mensch, tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich wollte mit Ihnen reden.«
Ich versuchte noch immer, mich von dem Schrecken zu erholen, den er mir eingejagt hatte, und mit einiger Verspätung wurde ich wütend. »Woher wußten Sie, wo Sie mich finden?«
»Ich habe im Telefonbuch nachgeschaut.«
»Meine Privatadresse steht nicht im Buch.«
»Ich weiß. Ich habe es zuerst im Büro versucht. Sie waren nicht da, also hab ich es nebenan bei der Versicherung probiert.«
»California Fidelity hat meine Privatadresse herausgegeben? Mit wem haben Sie gesprochen?« Ich glaubte auch nicht eine Minute lang, daß CF diese Art von Information weitergeben würde.
»Ich weiß ihren Namen nicht. Ich habe ihr erzählt, ich wäre ein Kunde und es wäre dringend.«
»Quatsch.«
»Nein, das ist die Wahrheit. Sie hat mir nur geholfen, weil ich sie so bedrängt habe.«
Ich sah schon, daß er es mir nicht sagen würde, also ließ ich das Thema fallen. »Na schön, was gibt es?« Ich wußte, daß ich unfreundlich klang, aber es gefiel mir nicht, daß er zu meiner Wohnung gekommen war, und seine Geschichte, wie er meine Adresse herausgefunden haben wollte, glaubte ich schon gar nicht.
»Wollen wir hier draußen stehen bleiben?«
»Genau, Billy. Also, nun reden Sie schon.«
»Seien Sie doch nicht gleich so gereizt.«
»Gereizt! Wovon zum Teufel reden Sie? Sie tauchen hier aus dem Dunkel auf und erschrecken mich fast zu Tode! Ich weiß nicht mal, ob Sie nicht Jack the Ripper sind — warum sollte ich Sie da hereinbitten?«
»Okay, okay.«
»Sagen Sie einfach, was Sie zu sagen haben. Ich bin fertig.«
Er zögerte noch — der besseren Wirkung wegen, dachte ich. Schließlich sagte er: »Ich habe mit meiner Schwester Coral gesprochen, und sie hat mir geraten, ich sollte offen mit Ihnen sein.«
»Ach Gott, wie rührend. Offen worüber?«
»Daggett«, murmelte er. »Er hat sich wirklich bei mir gemeldet.«
»Wann war das?«
»Letzten Montag, als er in die Stadt gekommen ist.«
»Hat er Sie angerufen?«
»Ja, richtig.«
»Woher wußte er, wo Sie waren?«
»Er hat es bei meiner Mom versucht und mit ihr gesprochen. Ich war zu der Zeit nicht daheim, aber sie hat sich seine Nummer geben lassen, und dann hab ich ihn zurückgerufen.«
»Von wo hat er angerufen?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher. Irgendeine Kaschemme. Da war ‘ne Menge Lärm im Hintergrund. Er war betrunken, und ich schätze, er hatte sich in die erstbeste Kneipe gestürzt, die er fand.«
»Um welche Tageszeit war das?«
»So gegen acht Uhr abends. Ungefähr.«
»Weiter.«
»Er erzählte, er hätte Angst und bräuchte Hilfe. Irgend jemand hatte ihn unten in Los Angeles angerufen und ihm erklärt, er wäre ein toter Mann wegen irgendeinem Ding, was er im Gefängnis gedreht hat, kurz ehe er entlassen worden ist.«
»Was war das?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich hab nur gehört, daß sein Zellengenosse ins Gras gebissen hat, und Daggett hat ‘ne große Summe Geld an sich gebracht, die der andere Knabe in seiner Pritsche versteckt hatte.«
»Wieviel?«
»Fast dreißig Riesen. Da hat irgendwas beim Drogenhandel nicht hingehau’n, und deshalb ist der Kerl erst mal umgebracht worden. Dann ist Daggett mit dem ganzen Zeug abmarschiert, und jemand wollte es zurückhaben. Sie waren hinter ihm her. Jedenfalls haben sie ihm das erzählt.«
»Wer?«
»Ich will keine Namen nennen. Ich hab ‘ne ziemlich gute Vorstellung, und ich könnte es mit Sicherheit herausfinden, wenn ich wollte, aber ich hab keine Lust, den Kopf in ‘ne Schlinge zu stecken, wenn es nicht unbedingt sein muß. Jedenfalls hab ich ihn hängen lassen. Ich dachte gar nicht daran, dem alten Knaben zu helfen. Auf keinen Fall. Er hatte sich selbst die Grube gegraben, sollte er doch sehen, wie er da rauskam. Ich wollte nichts damit zu tun haben. Nicht mit den Kerlen, die hinter ihm her waren. Dazu ist mir meine Gesundheit zu wichtig.«
»Was ist dann passiert? Sie haben telefoniert und das war alles?«
»Nun ja, nein. Ich hab ihn auf ‘nen Drink getroffen. Coral hat gesagt, ich sollte Ihnen das erzählen.«
»Tatsächlich — weshalb denn?«
»Für den Fall, daß später etwas aufkommen würde. Sie wollte nicht, daß es so aussah, als würde ich Sie hinhalten.«
»Sie glauben also, die anderen hätten ihn erwischt?«
»Er ist doch tot, oder?«
»Was beweist das?«
»Fragen Sie nicht mich. Ich meine, ich weiß nur, was Daggett gesagt hat. Er war auf der Flucht und dachte, ich würde helfen.«
»Wie?«
»Ihn verstecken.«
»Wann haben Sie ihn getroffen?«
»Erst Donnerstag. Ich hatte zuviel zu tun.«
»Zweifellos dringende gesellschaftliche Verpflichtungen.«
»Mensch, ich hab Arbeit gesucht. Ich bin auf Bewährung raus und hab Verpflichtungen zu erfüllen.«
»Sie haben ihn nicht zufällig Freitag gesehen?«
»Hm-hm, Ich hab ihn nur einmal getroffen, und das war Donnerstag abend.«
»Was hat er in der Zwischenzeit gemacht?«
»Ich weiß nicht. Hat er mir nicht erzählt.«
»Wo haben Sie ihn getroffen?«
»In der Bar, wo Coral arbeitet.«
»Aha, jetzt verstehe ich. Sie hatte Angst, ich könnte herumfragen und jemand würde erzählen, er hätte Sie mit ihm gesehen.«
»Nun ja, Coral will nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten, schon gar nicht, wo ich gerade auf Bewährung raus bin.«
»Wie kommt’s, daß die bösen Buben so lange gebraucht haben, um ihn zu finden? Er ist seit sechs Wochen auf freiem Fuß gewesen.«
»Vielleicht sind sie zuerst nicht draufgekommen, daß er es war. Daggett war nicht gerade der Schlaueste, verstehen Sie. Hat in seinem ganzen Leben noch nie was richtig gemacht. Wahrscheinlich haben sie geglaubt, er wäre zu blöd, um die Hand in eine Matratze zu stecken und mit dem Geld abzuhauen.«
»Hatte Daggett das Geld bei sich, als Sie mit ihm gesprochen haben?«
»Sie machen wohl Witze! Er hat versucht, sich zehn Dollar von mir zu leihen.«
»Worum ging es? Sollten Sie ihn von der Angel lassen, wenn er das Geld zurückgeben würde?«
»Das bezweifle ich.«
»Ich auch. Und was glauben Sie, wie paßt Lovella da rein?«
»Überhaupt nicht. Das hat nichts mit ihr zu tun.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Jemand hat Daggett letzten Freitag am Jachthafen gesehen, stockbesoffen, in Begleitung einer auffallenden Blondine.«
Selbst im Dunkeln entging es mir nicht, daß Billy Polo mich anstarrte.
»Einer Blondine?«
»Genau. Nach allem, was man mir erzählt hat, war sie ziemlich jung. Er taumelte, und sie hatte schwer damit zu tun, ihn auf den Beinen zu halten.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Ich auch nicht, aber es hört sich doch sehr nach Lovella an.«
»Dann fragen Sie sie doch.«
»Das habe ich auch vor. Was ist als nächstes passiert?«
»Wie?«
»Mit den dreißigtausend Dollar, zum Beispiel. Nachdem Daggett tot ist, geht das Geld da an die Knaben zurück, die hinter ihm her waren?«
»Wenn sie es finden, schätze ich schon.« Er schien sich nicht sehr wohl zu fühlen.
»Und wenn sie es nicht finden?«
Billy zögerte. »Nun, ich schätze, er hat es irgendwo versteckt, und jetzt gehört es dann wohl seiner Witwe, oder? Als Teil seines Besitzes?«
Ich begriff allmählich, wohin das führen würde. Aber tat er es auch? »Sie meinen Essie?«
»Wer?«
»Daggetts Witwe, Essie.«
»Von der ist er geschieden«, erklärte Billy.
»Das glaube ich nicht. Zumindest nicht, was das Gesetz angeht.«
»Er ist mit Lovella verheiratet.«
»Nicht legal.«
»Sie wollen mich wohl verscheißern.«
»Kommen Sie morgen zum Begräbnis, dann sehen Sie ja selbst.«
»Hat diese Essie das Geld?«
»Nein, aber ich weiß, wo es ist. Wenigstens fünfundzwanzigtausend davon.«
»Wo?« erkundigte er sich ungläubig.
»In meiner Tasche, Süßer, in Form eines Kassenschecks, ausgestellt auf Tony Gahan. Sie erinnern sich doch an Tony, oder?«
Totenstille.
Ich senkte die Stimme. »Wollen Sie mir nicht erzählen, wer Doug Polokowski ist?«
Billy Polo drehte sich um und ging davon. Ich blieb noch kurz stehen und folgte ihm dann zögernd, grübelte noch immer darüber nach, woher er meine Privatadresse hatte. Als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, hatte er mir nicht einmal geglaubt, daß ich Privatdetektiv war. Jetzt suchte er mich plötzlich auf, um vertraulich mit mir über Daggett zu plaudern. Das paßte nicht zusammen.
Ich hörte seine Autotür zufallen, als ich die Straße erreichte. Ich hielt mich im Schatten, sah zu, wie sein Chevrolet aus einem Parkplatz vier Häuser weiter ausscherte. Er gab Gas, raste auf den Strand zu. Ich überlegte, ob ich ihm folgen sollte, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, wieder vor Corals Wohnwagen herumzulungern. Davon hatte ich genug. Ich machte kehrt und ging in meine Wohnung. Ich dachte immer wieder darüber nach, daß mein Wagen aufgebrochen worden war, man mir die Handtasche gestohlen hatte, mit meinen ganzen persönlichen Unterlagen. Hatte Billy Polo das getan? War er so an meine Privatadresse gekommen? Ich konnte mir nicht denken, wie er mich am Strand gefunden hatte, aber das würde zumindest erklären, woher er wußte, wie er mich jetzt finden konnte.
Ich war sicher, daß er eine Taktik verfolgte, aber ich konnte mir nicht denken, was er wollte. Warum diese Geschichte von Daggett und den bösen Buben aus dem Gefängnis? Es paßte zwar zu ein paar Tatsachen, aber der angenehme unordentliche Beiklang der Wahrheit fehlte.
Ich zog einen Stapel Karteikarten heraus und schrieb trotzdem alles auf. Vielleicht würde es später einen Sinn ergeben, wenn andere Informationen ans Licht kamen. Es war zehn Uhr, als ich fertig war. Ich holte den Weißwein aus dem Kühlschrank und schenkte mir ein Glas ein. Dann zog ich mich aus, drehte das Licht ab und trug den Wein ins Badezimmer, wo ich das Glas aufs Fensterbrett über der Badewanne stellte und auf die dunkle Straße hinausstarrte. Da draußen gibt es eine Straßenlampe, die in den Zweigen eines Jacaranda-Baumes begraben ist, der jetzt vom Regen fast kahl war. Das Fenster stand halb offen, und ein feuchter Nachtwind drang herein, kühl und verstohlen. Ich konnte hören, wie Regen auf mein Dach prasselte. Ich war unruhig. Als ich ein kleines Mädchen war, vielleicht zwölf oder so, wanderte ich in Nächten wie dieser durch die Straßen, barfuß, im Regenmantel, und es gab mir ein seltsames, fremdartiges Gefühl. Ich glaube nicht, daß meine Tante etwas von meinen nächtlichen Ausflügen wußte, aber vielleicht tat sie es doch. Sie hatte selbst einen rastlosen Zug an sich und hat meinen deshalb vielleicht respektiert. Ich dachte in letzter Zeit viel an sie, vielleicht wegen Tony. Seine Familie war bei einem Autounfall ausgelöscht worden, genau wie meine, und er wurde jetzt von einer Tante aufgezogen. Manchmal mußte ich mir eingestehen — vor allem in Nächten wie dieser — , daß der Tod meiner Eltern vielleicht nicht so tragisch gewesen war, wie es den Anschein gehabt hatte. Meine Tante war, trotz all ihrer Fehler, der perfekte Vormund für mich gewesen — tapfer, exzentrisch, unabhängig. Hätten meine Eltern gelebt, hätte mein Leben einen ganz anderen Verlauf genommen. Darüber gab es für mich keinen Zweifel. Meine Geschichte, so, wie sie ist, gefällt mir, aber es gab da auch noch etwas anderes.
Wenn ich über den Abend nachdachte, begriff ich, wie sehr ich mich mit Tony identifiziert hatte, als er mein Wagenfenster herausschlug. Seine Wut, sein Trotz wirkten hypnotisch und weckten Gefühle tief in meinem Innern. Daggett sollte am kommenden Nachmittag beerdigt werden, und das wühlte etwas anderes auf... alte Trauer, gute Freunde, die bereits unter der Erde waren. Manchmal stelle ich mir den Tod wie eine breite Steintreppe vor, mit einer stummen Prozession all jener, die fortgeführt werden. Ich werde zu oft mit dem Tod konfrontiert, um große Angst davor zu haben, aber ich vermisse die Toten und frage mich, ob ich ruhig sein werde, wenn die Reihe an mich kommt.
Ich trank meinen Wein aus und ging zu Bett, glitt nackt zwischen die warmen Falten meiner Steppdecke.