Ein Gift, das keine Spuren hinterläßt

Die Frau wartete am Morgen auf mich vor meinem Büro. Sie war klein und ziemlich korpulent und hatte Jeans in einer Übergröße an, wie sie nur in Spezialgeschäften zu haben sind. Die Bluse fiel locker über ihre Hüften, vermutlich, um ihr stattliches Hinterteil zu kaschieren. Jemand mußte ihr erzählt haben, daß Querstreifen dick machen, denn ihr Oberteil war diagonal gestreift, mit leuchtendroten und blauen Balken, was beim Betrachter leichte Schwindelgefühle auslöste. Dazu trug sie eine große rote Leinentasche und passende Leinenschuhe mit Keilabsatz. Ihr Gesicht war rund, weich und faltenlos, ihr Haar so gleichmäßig dunkel, daß die Farbe kaum natürlich sein konnte. Ihr Alter? Zwischen vierzig und sechzig tippte ich. »Sie sind nicht etwa Kinsey Millhone fragte sie.

»Die bin ich. Möchten Sie reinkommen Ich schloß die Tür auf und trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Sie musterte mich eingehend von Kopf bis Fuß, als ob ich für sie einen ebenso erstaunlichen Anblick böte wie sie für mich. Dann setzte sie sich und hielt ihre Einkaufstasche quer auf dem Schoß. Ich öffnete die Balkontür und nahm hinter meinem Schreibtisch Platz. »Was kann ich für Sie tun

Sie starrte mich unverhohlen an. »Tja, ich weiß nicht. Ich dachte, daß Sie ein Mann wären. Was ist das für ein Name, Kinsey? Hab ich noch nie gehört

»Es ist der Mädchenname meiner Mutter. Ich vermute, Sie suchen einen Privatdetektiv

»Sieht so aus. Ich bin übrigens Shirese Dunaway. Aber alle nennen mich Sis. Wie lange sind Sie schon im Geschäft Skepsis und Mißtrauen waren nicht zu überhören.

»Im Mai sechs Jahre. Davor war ich zwei Jahre im Polizeidienst. Falls es Sie stört, daß ich eine Frau bin, empfehle ich Ihnen gern eine andere Detektei. Ich bin nicht so empfindlich

»Hm... Wenn ich schon mal hier bin, kann ich genausogut mit Ihnen reden. Schließlich bin ich deswegen den ganzen Weg von Orange County hergekommen. Für eine kurze Beratung verlangen Sie doch wohl nichts, oder

»Nein. Normalerweise kriege ich dreißig Dollar die Stunde plus Spesen... Das aber auch nur, wenn ich überzeugt bin, was ausrichten zu können. Worum geht’s denn

»Dreißig Dollar die Stunde! Oje! Mit soviel habe ich nicht gerechnet

»Beim Anwalt zahlen Sie hundertzwanzig«, entgegnete ich achselzuckend.

»Weiß ich. Aber nur wenn es vor Gericht geht. Mann! Dreißig Dollar die Stunde...!«

Ich hielt den Mund und wartete ab. Ich hatte nicht vor, gleich bei der ersten Begegnung Streit anzufangen. Während sie überlegte, schaltete ich einfach ab.

»Es geht um meine Schwester«, sagte sie schließlich. »Hier, lesen Sie das Sie reichte mir einen kleinen Ausschnitt aus einer Tageszeitung von Santa Teresa. Es war eine Todesanzeige: >CRISPIN, MARGERY — die geliebte Mutter von Justine, ist am 10. Dezember von uns gegangen. Die Bestattung findet in aller Stille auf dem Wynington-Blake-Friedhof statt.<

»Das war vor fast zwei Monaten«, bemerkte ich.

»Man hat mir noch nicht einmal mitgeteilt, daß sie krank war. Das ist es ja«, fuhr Sis Dunaway auf. »Ich wäre bis heute völlig ahnungslos, wenn nicht eine ehemalige Nachbarin dies hier entdeckt und für mich ausgeschnitten hätte Sie schien mehr empört als traurig zu sein.

»Und die Anzeige haben Sie gerade erst erhalten

»Nein, das war im Januar. Aber ich konnte schließlich nicht einfach alles stehen- und liegenlassen. Ich hab mich erst jetzt aufraffen können. Das müssen Sie verstehen, ich war fix und fertig

»Natürlich«, sagte ich. »Wann haben Sie denn das letzte Mal mit Margery gesprochen

»Das genaue Datum weiß ich nicht mehr. Es muß vor acht oder zehn Jahren gewesen sein. Sie können sich vorstellen, was das für ein Schock gewesen ist. Aus heiterem Himmel zu erfahren, daß sie tot ist

Ich schüttelte den Kopf. »Schrecklich«, murmelte ich. »Haben Sie schon mit Ihrer Nichte gesprochen

Sis Dunaway machte eine wegwerfende Handbewegung. »Diese Justine ist eine Katastrophe! Marge war nicht zu beneiden. Ich habe mal kurz bei ihr vorbeigeschaut. Das hat mir genügt. Ich habe gesagt: >Justine, woran zum Teufel ist Margery gestorben?< Wissen Sie, was sie geantwortet hat? >Tante Sis, an Herzversagen<. Sie hatte ’s noch nicht ganz ausgesprochen, da wußte ich, daß das blanker Unsinn war. An Herzversagen ist in unserer Familie noch nie jemand gestorben...«

Und sie verbreitete sich ausführlich darüber, woran alle wirklich gestorben waren; Mutter, Vater, Onkel Buster, Rita Sue. Da war von Krebs, Lungenkrankheiten und ein oder zwei Gehirnschlägen die Rede, aber von schwachen Herzen keine Spur. Ich gab mich verständnisvoll, um ihren Redeschwall nicht zu unterbrechen, bevor sie zum Wesentlichen kam, und machte sogar ein paar Notizen. »Sie haben also das Gefühl, daß mit dem Tod Ihrer Schwester was nicht stimmt faßte ich schließlich zusammen.

Sis spitzte die Lippen und senkte den Blick. »Drücken wir’s mal so aus: Ich rieche, wenn’s stinkt. Und ich möchte wetten, daß Justine die Finger im Spiel hat

»Weshalb hätte sie so etwas tun sollen

»Marge hatte eine gute Lebensversicherung. Harley hatte sie 1966 abgeschlossen: Wenn das kein Motiv ist Nachdem sie ihren Standpunkt deutlich gemacht hatte, lehnte sie sich selbstzufrieden auf dem Stuhl zurück.

»Harley?«

»Ihr Mann. Er ist längst tot. Sie waren auf Gegenseitigkeit versichert. Nach seinem Tod hat Marge ihre Versicherung beibehalten. Die Nutznießerin ist Justine. Da Marge nie wieder geheiratet hat, kriegt Justine vermutlich alles und macht wer weiß was damit. Das ist doch nicht richtig, oder? Sie hat gelogen und betrogen, seit sie auf der Welt ist. Eine richtige Hochstaplerin. Viermal war sie schon im Knast. Meine Schwester hat sich den Mund fusselig geredet, aber bei Justine hat das nichts genützt

»Um welchen Betrag geht es denn eigentlich

»Hunderttausend Dollar«, erwiderte Sis Dunaway. »Im übrigen haben die zwei sich nie verstanden. Sie waren von jeher wie Hund und Katze. Haben immer versucht, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Das war bei denen so eine Art Familiensport. Justine hat mir ziemlich deutlich gesagt, daß sie sich zwei Monate vor Marges Tod endgültig verkracht hatten. Seit Marges Auszug haben die beiden kein Wort mehr miteinander geredet

»Sie haben zusammen gewohnt

»Ja... bis zu dem großen Krach. Und dann war Marge plötzlich tot. Da ist doch was faul, oder

»Sind Sie schon bei der Polizei gewesen

»Wieso denn? Ich habe doch keine Beweise

»Was ist mit der Versicherungsgesellschaft? Wenn es Anlaß zu Zweifeln an einem natürlichen Tod Ihrer Schwester gegeben hätte, hätte sich doch bestimmt der Versicherungsdetektiv eingeschaltet

»O Schatz, Sie wissen doch auch, wie’s im Leben so geht. Wenn die Versicherungssumme mal ausbezahlt wurde, will die Versicherung mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Sollen die vielleicht zugeben, daß sie einen Fehler gemacht haben? Nein, danke. Viel zuviel Arbeit, den ganzen Papierkram wieder aufzurollen. Außerdem hätte Justine denen doch umgehend ein Verfahren an den Hals gehängt. Da stellen die sich doch lieber taub und schreiben das Geld in den Schornstein

»Wann ist die Versicherungssumme ausbezahlt worden

»Angeblich vor einer Woche.«

Ich starrte sie einen Moment nachdenklich an. »Ich weiß nicht, was ich da sagen soll, Mrs. Dunaway...«

»Nennen Sie mich ruhig Sis. Ich hab nichts am Hut mit diesen Förmlichkeiten

»Also gut, Sis. Wenn Sie wirklich überzeugt sind, daß Justine etwas mit dem Tod ihrer Mutter zu tun hat, dann will ich selbstverständlich helfen. Ich möchte Ihre Zeit nur nicht nutzlos verschwenden

»Das verstehe ich«, sagte sie.

Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. »Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie bezahlen mich für zwei Stunden. Wenn ich danach keine konkreten Hinweise gefunden habe, unterhalten wir uns noch mal, und Sie entscheiden, ob ich weitermachen soll

»Sechzig Dollar«, stellte sie fest.

»Ganz richtig. Zwei Stunden.«

»Also gut. Ich schätze, das kann ich riskieren Sie machte ihre Einkaufstasche auf und zog sechs Zehndollarscheine aus einer mit einem Gummiband zusammengehaltenen Rolle. Ich setzte eine verkürzte Version meines Standardvertrags auf. Sis Dunaway wollte über Nacht in der Stadt bleiben und gab mir die Telefonnummer ihres Motels. Dann überließ sie mir die Todesanzeige. Ich notierte mir den vollständigen Namen und das Todesdatum ihrer Schwester und versprach, sie anzurufen.

Mein erster Gang führte mich zum Amtsgericht von Santa Teresa, zweieinhalb Blocks weiter. Dort füllte ich einen Antrag aus, bezahlte sieben Dollar und hielt eine Stunde später die beglaubigte Kopie von Margery Crispins Totenschein in der Hand. Als Todesursache war darauf >Herzinfarkt< angegeben. Unterschrieben hatte ein gewisser Dr. Yee, einer der amtlichen Gerichtsmediziner. Falls Marge Crispin Opfer eines Mordanschlags geworden war, hätte Dr. Yee das eigentlich merken müssen.

Ich holte meinen Wagen und fuhr zur Leichenhalle von Wynington-Blake, die in der Todesanzeige angegeben war. Dort fragte ich nach Mr. Sharonson. Sharonson kannte ich bereits von einem anderen Fall her. Er trug einen anthrazitfarbenen Anzug und befleißigte sich des ernsten, wohlmodulierten Tonfalls seiner Berufssparte. Als der Name Marge Crispin fiel, verdüsterte sich seine Miene.

»Erinnern Sie sich an die Frau

»O ja«, erwiderte er und schwieg dann. Sein Blick allerdings war beredt.

Ich fragte mich, ob auch die Angestellten von Leichenschauhäusern einer beruflichen Schweigepflicht unterliegen. Trotzdem beschloß ich, ihm auf den Zahn zu fühlen. Männer sind in der Regel größere Klatschmäuler als Frauen, wenn sie erst mal in Fahrt kommen. »Mrs. Crispins Schwester hat mich mit Nachforschungen beauftragt. Sie scheint der Meinung zu sein, daß... nun, daß mit dem Tod ihrer Schwester etwas nicht stimmt

Es war Mr. Sharonson anzusehen, wie er nach den richtigen Worten suchte. »Ich würde nicht gerade behaupten, daß >was nicht gestimmt hat<. Aber die Umstände waren doch etwas... unappetitlich

»Ach ja?«

Er senkte die Stimme und sah sich flüchtig um, um sich zu vergewissern, daß uns niemand hören konnte. »Mutter und Tochter hatten sich zerstritten. Soviel ich weiß, hatten sie seit Monaten keinen Kontakt mehr. Die Frau ist mutterseelenallein in einem verkommenen Hotel an der unteren State Street gestorben. Sie hat getrunken

»Nein«, murmelte ich mißbilligend und ungläubig zugleich.

»Tja, so war es«, fuhr Mr. Sharonson fort. »Die Polizei hat die Leiche gefunden, aber sie konnte wochenlang nicht identifiziert werden. Ohne den Zeitungsartikel hätte es vermutlich nicht mal ihre Tochter erfahren

»Welcher Zeitungsartikel?«

»Na, Sie wissen doch... Diese Kolumne im Lokalteil über die vielen Obdachlosen. Der Autor hat auch über die arme Frau geschrieben. Unter der Überschrift >Ein einsamer Tod« Als Miss Crispin den Artikel las, hatte sie wohl gleich den Verdacht, daß es sich um ihre Mutter handeln könnte. Sie ist dann hierhergekommen, um die Tote anzusehen

»Muß ja ein Schock für sie gewesen sein«, bemerkte ich. »Ist die Frau denn eines natürlichen Todes gestorben

»O ja.«

»Keinerlei Hinweise auf Fremdeinwirkung?«

»Nein, nein. Ich habe mich persönlich um sie gekümmert und weiß, daß man toxikologische Tests durchgeführt hat. Zuerst haben sie auf Alkoholvergiftung getippt... aber dann stellte sich heraus, daß es das Herz war

Ich fragte ihn noch eine ganze Liste weiterer Möglichkeiten ab, konnte aber keine Ungereimtheiten entdecken. Schließlich bedankte ich mich für seine Mühe, stieg in den Wagen und fuhr zu dem Campingplatz, wo Justine Crispin wohnte.

Der Caravan hatte schon bessere Zeiten gesehen. Er stand auf einem morastigen Geviert. Eine umgekippte Holzkiste diente als Treppe. Ich klopfte. Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Dahinter wurde ausschnittsweise ein rundes Gesicht sichtbar. »Ja, was gibt’s

»Sind Sie Justine Crispin

»Ja.«

»Hoffentlich störe ich nicht. Mein Name ist Kinsey Mill-hone. Ich bin eine alte Bekannte Ihrer Mutter und habe gerade erfahren, daß sie verstorben ist

Vorsichtig abwartendes Schweigen. »Wie haben Sie das erfahren fragte sie schließlich.

Ich zeigte ihr den Zeitungsausschnitt. »Das kam mit der Post. Ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können. Schließlich wußte ich nicht mal, daß sie krank war

Justines Augen wurden schmal. »Wann haben Sie sie zuletzt gesehen

Ich tat mein bestes, Sis Dunaways flapsigen Ton zu imitieren. »O Mann! Das muß letzten Sommer gewesen sein. Ich bin im Juni fortgezogen. Um die Zeit herum war’s wohl, denn ich habe ihr noch meine Adresse gegeben. Es kam ganz plötzlich, oder

»Herzversagen.«

»Armes Mädchen. Sie war solch ein Schatz Ich hatte schon Angst, zu dick aufzutragen. Justine starrte mich an, als sei ich an der falschen Adresse. »Wissen Sie zufällig, ob sie meinen letzten Brief gekriegt hat fragte ich.

»Nein, davon weiß ich überhaupt nichts

»Ich hatte nämlich keine Ahnung, wie ich das mit dem Geld machen soll

»Hat sie Ihnen Geld geschuldet

»Nein, nein. Ich ihr... deshalb habe ich auch geschrieben

Justine zögerte. »Wieviel

»Nicht sehr viel«, antwortete ich verlegen. »Sechshundert Dollar. Aber es war so lieb von ihr, mir das Geld zu leihen. Deshalb war’s mir auch peinlich, daß ich’s nicht gleich zurückzahlen konnte. Ich hatte sie gebeten, mir bis diesen Monat Zeit zu lassen, und dann habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich hatte ja keine Ahnung. Was soll ich jetzt nur machen

Ihre Haltung hatte sich merklich verändert. Habgier bewirkt dergleichen in Rekordzeit. »Sie können es mir geben. Ich sorge dafür, daß es zu ihrem Nachlaß kommt«, sagte sie hilfsbereit.

»Aber ich möchte nicht, daß Sie unnötig Laufereien haben

»Das macht mir nichts aus. Wollen Sie nicht reinkommen

»Ich möchte nicht aufdringlich sein. Sie haben sicher zu tun...«

»Ein paar Minuten kann ich erübrigen

»Also gut. Wenn Sie meinen«, erwiderte ich.

Justine hielt die Tür weit auf. Ich betrat den Wohnwagen und hatte sie jetzt erstmals ganz im Blick. Das Mädchen hatte mindestens dreißig Pfund Übergewicht, ihr glanzloses braunes Haar war zu einem fettigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug Bluejeans wie Sis und ein wallendes T-Shirt, das ihr fast bis zu den Knien reichte. Fette Hinterteile schienen ein Familienerbteil zu sein. Sie schob hastig einigen Krimskrams beiseite, damit ich auf der Sitzbank Platz nehmen konnte, eine euphemistische Bezeichnung für das zerschlissene Plastikding in der Küchenecke.

»Hat sie sehr gelitten erkundigte ich mich.

»Der Arzt sagt nein. Er meint, es müsse sehr schnell gegangen sein. Ihr Herz setzte offenbar aus, und sie war tot, bevor sie noch einmal Luft holen konnte

»Muß schrecklich für Sie gewesen sein

Sie wurde schuldbewußt rot. »Wir waren verkracht, wissen Sie

»Ach? Das tut mir leid. Ihre Mutter hat allerdings oft davon gesprochen, daß Sie beide Meinungsverschiedenheiten hätten. Hoffentlich war’s nichts Ernstes

»Sie hat getrunken. Immer wieder habe ich sie angefleht, aufzuhören, aber es war zwecklos

»Ist sie hier zu Hause gestorben wollte ich wissen.

Sie schüttelte den Kopf. »In einem Hotel für Obdachlose. Der Alkohol hatte sie geschafft. Wenn ich nur gewußt hätte... wenn sie nur zu mir gekommen wäre...«

Ich glaubte schon, sie würde weinen, aber es gelang ihr offenbar nicht recht. Ich drückte ihr die Hand. »Sie war zu stolz«, murmelte ich.

»Ja, da haben Sie vermutlich recht. Ich habe schon daran gedacht, die Anonymen Alkoholiker zu unterstützen oder so was, in ihrem Namen, wissen Sie

»Eine >Marge Crispin Stiftung<«, half ich nach.

»Ja, so was. Das Geld von Ihnen könnte ein Anfang sein

»Ein guter Gedanke. Ich hole nur mein Scheckheft aus dem Wagen, um Ihnen einen Scheck auszuschreiben

Draußen an der frischen Luft atmete ich erleichtert auf. Die Dame hatte reichlich dick aufgetragen. Allerdings bewies das noch lange nicht, daß sie auch eine Mörderin war.

Ich fuhr mit dem Wagen auf der Suche nach der nächsten Telefonzelle durch die Gegend und fand sie an einer Tankstelle, einen Block entfernt vom Campingplatz. Dort grub ich in meiner Handtasche nach Kleingeld und wählte dann die Nummer von Sis Dunaways Motelzimmer. Sie war nicht besonders glücklich über das, was ich zu berichten hatte.

»Sie haben nichts entdeckt fragte sie. »Sind Sie sicher

»Moment mal. Ich habe nur gesagt, daß es keinen Beweis dafür gibt, daß was faul ist. Wenn Justine am Tod ihrer Mutter schuld ist, muß sie’s verdammt geschickt angestellt haben. Jedenfalls scheint bei der Autopsie nichts rausgekommen zu sein

»Vielleicht hat sie ihr Gift gegeben, das nicht nachweisbar ist

»Sis, ich bitte Sie! Tut mir leid, daß ich das sagen muß, aber ein solches Gift gibt’s überhaupt nicht. Das ist ein Märchen, das zwar in vielen Köpfen herumspukt, aber es ist ein Märchen

Sie war störrisch. »Es wäre immerhin möglich. Das müssen Sie doch zugeben. Es könnte ein solches Gift geben. Vielleicht aus Südamerika... oder Afrika...«

Die Sache begann abstrus zu werden. Ich starrte auf den Hörer in meiner Hand. »Und wie sollte Justine an das Zeug rangekommen sein

»Woher soll ich das wissen? Das herauszufinden, ist Ihr Job. Erwarten Sie nicht, daß ich Ihre verdammte Arbeit tue! Schließlich sind Sie es, die dreißig Dollar pro Stunde kassiert

»Soll ich weitermachen

»Nicht, wenn Sie mich ausnehmen wie eine Weihnachtsgans sagte sie. »Also gut. Ich zahle noch mal sechzig Dollar. Aber dann will ich Ergebnisse sehen. Sonst verlange ich mein Geld zurück

Sie hatte aufgelegt, bevor ich protestieren konnte. Wie konnte Sis ihr Geld zurückfordern, wenn sie die zweiten sechzig Dollar noch gar nicht bezahlt hatte? Ich stand in der Telefonzelle und dachte nach. Dabei mußte ich mir eingestehen, daß meine Neugier geweckt war. Sis Dunaway mochte reichlich schrullig sein, aber ihre Überzeugung war beeindruckend. Hinzu kam, daß Justine ganz offensichtlich ein falsches Spiel spielte. Und einer solchen Herausforderung kann ich einfach nicht widerstehen.

Ich fuhr zum Campingplatz zurück, hielt an einem geschützten Plätzchen auf der gegenüberliegenden Straßenseite und wartete. Schon wenige Augenblicke später tauchte Justine hinter dem Steuer eines verbeulten weißen Pinto auf, aus dessen Auspuff dunkler Qualm entwich. Es war nicht schwer, ihr zu folgen. Ich brauchte nur die Nase aus dem Fenster zu strecken; die Rauchwolken wiesen den Weg. Justines Ziel war die Filiale einer Sparkasse in der Milagro Street. Ich fand ein paar Meter weiter eine Parklücke und ging in diskretem Abstand hinter ihr her. In der Sparkasse verhandelte Justine mit dem Filialleiter, bis dieser sie zu einer Kasse begleitete, wo er offenbar die Auszahlung eines Schecks veranlaßte. Nach der Menge der Banknoten zu schließen, die der Kassierer abzählte, mußte es sich um einen stattlichen Betrag handeln.

Kurz darauf verließ Justine, ihre Handtasche fest an sich gepreßt, die Sparkasse. Ich hätte wetten mögen, daß sie den Versicherungsscheck eingelöst hatte. Sie fuhr zum Campingplatz zurück und verschwand in ihrem Wohnwagen; vermutlich um das Geld zu deponieren.

Dann kam sie wieder heraus, und weiter ging’s in Richtung Stadtmitte. Ich folgte ihr wie ein Schatten. Sie fuhr auf einen öffentlichen Parkplatz. Ich stellte meinen VW in einiger Entfernung unauffällig ab. Bis jetzt hatte sie offenbar noch nicht gemerkt, daß sie beschattet wurde. Ich hielt mich weiterhin sorgsam im Hintergrund, als sie zur State Street hinüber und dort einen Block weit bis zum Santa-Teresa-Reisebüro marschierte. Ich tat so, als betrachtete ich interessiert die Urlaubsplakate im Schaufenster, während ich Justine nicht aus den Augen ließ. Sie verhandelte mit einer Angestellten des Reisebüros, deren Schreibtisch gleich am Eingang stand, so daß ich sah, wie ihr schließlich offenbar bereits vorbereitete Tickets übergeben wurden. Justine schrieb einen Scheck aus. Ich konzentrierte mich auf den Zeitschriftenständer und griff nach einer Illustrierten, als Justine wieder herauskam. Sie ging die Straße ein Stück hinunter bis zu einem Bastelladen, wo sie einen ausnehmend häßlichen Blumenkranz aus Plastik erstand. Die Dame hatte ein volles Programm, das mußte man ihr lassen.

Schließlich kam sie aus dem Laden wieder heraus und bog in eine Seitenstraße ein, wo sie im Eingang eines Friseur- und Kosmetiksalons verschwand. Ein verstohlener Blick durchs Schaufenster zeigte Justine mit einem grünen Plastikumhang bekleidet im Gespräch mit einer Friseuse vertieft. Offenbar wurde ein neuer Haarschnitt diskutiert. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast halb eins. Ich hastete zum Reisebüro zurück, wartete, bis die Angestellte, die Justine bedient hatte, zur Mittagspause die Agentur verließ. Als sie außer Sichtweite war, ging ich hinein und las das Namensschild auf ihrem Schreibtisch an der Tür.

Die blonde Reisebüroangestellte auf der gegenüberliegenden Seite sah mich lächelnd an.

»Ist Kathleen nicht da fragte ich.

»Sie ist zu Tisch. Sie haben sie knapp verpaßt. Kann ich irgendwie helfen?»

»Das hoffe ich. Ich habe gerade meine Tickets abgeholt, kann aber den Reiseplan nicht finden, den sie mir in den Umschlag gesteckt hatte. Würden Sie mir vielleicht eine Kopie machen? Ich hab’s eilig

»Natürlich. Kein Problem. Wie ist Ihr Name

»Justine Crispin«, erwiderte ich.

Ich ging in die nächste Telefonzelle und rief Sis im Motel an. »Hören Sie gut zu«, begann ich. »Um vier Uhr fliegt Justine nach Los Angeles. Und von dort nach Mexiko City.«

»Dieses Biest!«

»Es kommt noch schlimmer. Sie hat nur einfach gebucht

»Hab ich’s doch geahnt. Ich wußte, daß sie was im Schilde führt. Wo ist sie jetzt

»Beim Friseur. Vorher war sie bei der Sparkasse und hat sich einen Scheck auszahlen lassen...«

»Wetten, daß das die Versicherungssumme war?«

»Das denke ich auch

»Soll das heißen, daß sie das ganze Geld mit sich rumschleppt

»Nein, nein. Sie ist erst zum Wohnwagen zurückgefahren. Dann hat sie die Tickets abgeholt. Ich glaube, sie will auch noch zum Friedhof und einen Kranz auf Margerys Grab legen...«

»Das ist ja nicht zum Aushalten. Mit dem schönen Geld verduften und sich auch noch lustig machen über die tote Margery

»Sis, ich bitte Sie! Wenn Justine die Versicherungssumme ordnungsgemäß ausgezahlt wurde, können Sie gar nichts tun

»Das glauben Sie! Ich werde dafür sorgen, daß sie dafür zahlt. Das schwöre ich, bei Gott Damit warf sie den Hörer auf die Gabel.

Mir wurde ziemlich mulmig. Ich versuchte mich zu erinnern, ob ich den Namen des Friseurs erwähnt hatte. Ich sah Sis bereits vor mir, wie sie Justine mit einer MP über den Haufen schoß. Nervös drückte ich mich vor dem Friseursalon herum und beobachtete den Verkehr in beiden Richtungen. Von Sis keine Spur. Möglicherweise wartete sie auf dem Friedhof auf die Chance, mit Justine abzurechnen.

Um Viertel nach zwei kam Justine heraus und ging an mir vorbei. Sie war kaum wiederzuerkennen. Ihr Haar war kürzer geschnitten, Dauerwellen umrahmten ihr Gesicht, das mit Lidschatten und Rouge von der Kosmetikerin geschickt modelliert worden war. Mit anderen Klamotten hätte man sie in dieser Aufmachung durchaus auf eine Million oder wenigstens hunderttausend schätzen können. Sie wirkte beschwingt und achtete eher auf ihr Spiegelbild in den Schaufenstern als auf mich. Ich folgte ihr in sicherem Abstand.

Justine kehrte zum Parkplatz zurück und reihte sich mit ihrem Pinto in den Verkehrsstrom auf der Bundesstraße ein. Ich fuhr im Abstand einiger Wagenlängen hinterher und hielt nach Sis Ausschau. Zwar hatte ich keine Ahnung, was Sis vorhatte, aber so verrückt wie sie war, mußte ich damit rechnen, daß sie etwas im Schilde führte.

Eine Viertelstunde später kamen wir am Campingplatz an, Justine voraus, ich in weitem Abstand hinterher. Das Honorar, das Sis für meine Arbeit veranschlagt hatte, war aufgebraucht, doch mittlerweile hatte mich die Geschichte gepackt. Nach allem, was passiert war, würde ich Justine vielleicht vor einem Mordanschlag schützen müssen. Justine war nur zurückgekommen, um ihr Gepäck im Auto zu verstauen. Dann fuhr sie weiter zum Santa Teresa Memorial Park, dem Friedhof, der in der Nähe des Flugplatzes lag.

Der Friedhof lag einsam und verlassen da, eine sonnige Rasenfläche mit Grabsteinen und Blütensträuchern. An einer Weggabelung bog Justine rechts ab, und ich fuhr links weiter, behielt ihren Wagen über eine weite Rasenfläche hinweg jedoch ständig im Auge. Schließlich hielt sie an und trug den Plastikkranz zu einer viereckigen Vertiefung mit einem provisorischen Holzkreuz; der Grabstein war anscheinend noch nicht aufgestellt worden. Sie lehnte den Kranz gegen das Kreuz und verharrte davor mit gesenktem Kopf. In dieser Pose gab sie eine gute Zielscheibe ab, und ich wünschte mir unwillkürlich, sie möge niederknien in ihrer Trauer. Vermutlich lauerte Sis irgendwo mit einem Messer zwischen den Zähnen, jederzeit bereit, aus ihrem Versteck hervorzuspringen und Justine die Klinge in den Rücken zu stoßen.

Nach der Gedenkminute setzte Justine sich wieder hinters Steuer und fuhr zum Flughafen, wo sie für den Flug nach Los Angeles eincheckte. Bis zum Abflug hatte sie noch eine knappe Stunde Zeit. Und von Sis war noch immer nichts zu sehen. Falls es zu einer Abrechnung zwischen Tante und Nichte kommen sollte, mußte das bald passieren. Ich schlenderte zu einem Zeitschriften- und Andenkenladen und postierte mich zwischen Buchständer und Wand, um Justine zwischen den Santa-Teresa-T-Shirts, die im Schaufenster hingen, hindurch zu beobachten. Sie saß auf einer Bank und las seelenruhig in einem Taschenbuch.

Was wurde hier eigentlich gespielt?

Sis Dunaway war schließlich ganz wild darauf gewesen, Margerys Tod zu rächen. Und wo blieb sie jetzt? Hatte sie sich an die Polizei gewandt? Ich behielt gleichzeitig Justine und die Uhr im Auge. Was Sis auch vorhatte, allzu lange durfte sie nicht mehr warten. Minuten bevor Justines Flug aufgerufen wurde, verließ ich endlich den Zeitschriftenladen, durchquerte die Abflughalle und setzte mich neben Justine. »Tag«, sagte ich. »Hübsche Dauerwelle. Steht Ihnen gut

Sie starrte mich an. Dann erwies sie sich als der klassische Fall des Schnellspanners: »Was machen Sie denn hier fragte sie.

»Ich passe auf Sie auf

»Wozu?«

»Ich bin der Meinung, daß Sie ein Kindermädchen brauchen. Ihre Tante Sis ist höchstwahrscheinlich auf dem Kriegspfad. Ich leiste Ihnen Gesellschaft, bis sie auftaucht

»Tante Sis fragte sie ungläubig.

»Ich muß Sie ernsthaft warnen. Vom Herzinfarkt-Tod Ihrer Mutter ist die Dame keineswegs überzeugt

»Wovon reden Sie überhaupt? Tante Sis ist tot

Ich konnte mir ein verächtliches Grinsen nicht verkneifen.

»Was Sie nicht sagen? Und seit wann?«

»Seit fünf Jahren.«

»Blödsinn!«

»Das ist kein Blödsinn! Es war ein Gehirnschlag. Sie war auf der Stelle tot

»Faszinierende Geschichte«, entgegnete ich.

»Es ist die Wahrheit behauptete sie mit Nachdruck. Mittlerweile hatte sie sich von ihrem Schreck erholt und ging zum Angriff über. »Wo ist mein Geld? Ich sollte doch einen Scheck über sechshundert Dollar kriegen

»Mausetot, sagen Sie

In diesem Augenblick kam die Ansage über den Lautsprecher. »Erster Aufruf für die Passagiere des Fluges der United Airlines nach Los Angeles. Bitte zu Flugsteig 5. Halten Sie Ihre Bordkarten bereit, und kommen Sie zur Sicherheitskontrolle

Justine raffte ihre Sachen zusammen. Schon die ganze Zeit über hatte ich mich gefragt, wie sie die große Summe Bargeld durch die Sicherheitskontrolle bringen wolle. Ein Blick auf ihre füllige Taille verriet mir jetzt, daß sie sicher einen Geldgürtel trug. Auf spitzen, klappernden Absätzen stolzierte sie zur Schlange der wartenden Passagiere hinüber.

Ich folgte ihr verwirrt, während ich noch einmal die Ereignisse des Tages Revue passieren ließ. Alles war innerhalb weniger Stunden passiert. Ich hatte weder einen Dachschaden noch litt ich an Gedächtnisschwund. Und Gespenster hatte ich auch nicht gesehen. Sis war leibhaftig in meinem Büro gewesen, hatte mir die ganze Geschichte von Marge und Justine erzählt: ailes über das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, über Justines Vergangenheit als Betrügerin, über die Art und Weise, wie die Frauen sich stets gegenseitig zu übervorteilen versucht hatten, über die Versicherung und Marges Tod. Wie hatte Dr. Yee übersehen können, daß es sich um ein Verbrechen handelte? Darauf gab es nur eine Antwort: Weil die Frau überhaupt nicht ermordet worden war!

Endlich ging mir ein Licht auf.

Justine reihte sich hinter einem jungen Mann mit Seesack und einer Frau mit einem quengelnden Kind auf dem Arm ein. Die Schlange geriet kurz ins Stocken, während der Kontrolleur Platz nahm. Dann ging es weiter. Justine rückte einen Schritt vor. Ich blieb an ihrer Seite.

»Ihre Mutter und Sie sollen so ’ne Art Konkurrenzverhältnis zueinander gehabt haben

»Was geht Sie das an?« entgegnete sie und hielt den Blick stur geradeaus gerichtet, während sie sicher sehnlichst wünschte, es würde schneller vorwärts gehen, und sie könnte mir entkommen.

»Sie sollen beide ständig versucht haben, sich gegenseitig zu übervorteilen«, fuhr ich fort.

»Was soll der Quatsch fragte sie ärgerlich.

Ich zuckte mit den Schultern. »Wie ich die Sache sehe, haben Sie den Artikel über die Tote in der Obdachlosenunterkunft gelesen, die niemand identifizieren konnte. Daraufhin sind Sie zum Leichenschauhaus gefahren und haben behauptet, die Frau sei Ihre Mutter. Ihr beide habt euch dann darauf geeinigt, euch die Versicherungssumme zu teilen. Aber Ihre Mutter hatte den Verdacht, daß Sie sie reinlegen wollten... womit sie auch recht hatte... Wie man sieht

»Reden Sie kein Blech

Die Schlange rückte weiter. Ich wich Justine nicht von der Seite. »Sie hat mich engagiert, damit ich Sie beschatte. Als ich dahinterkam, daß Sie die Stadt verlassen wollen, habe ich Ihre Mutter angerufen. Ich habe ihr gesagt, was los ist. Sie ist fast explodiert! Ich dachte, sie würde sofort losschlagen, aber bisher ist sie noch nicht aufgekreuzt...«

Justine reichte dem Beamten ihre Flugkarte. Der Mann winkte sie durch. Sie passierte anstandslos die Kontrolle mit dem Metalldetektor. Ich schenkte dem Kontrolleur ein Lächeln. »Möchte nur schnell einer Freundin >Wiedersehn< sagen«, log ich und ging hinter Justine durch die Sperre. Justine beschleunigte ihren Schritt. Offenbar konnte sie es kaum erwarten, endlich die Maschine nach Los Angeles zu erreichen.

Ich hielt im Lauftempo mit ihr Schritt und redete währenddessen ungeniert weiter. »Ich habe nicht begriffen, weshalb Sie keinen Versuch gemacht hat, Sie aufzuhalten. Aber dann ist es mir klargeworden...«

»Lassen Sie mich in Ruhe. Ich lege keinen Wert auf Ihre Gesellschaft

»Sie hat das Geld genommen, Justine. In Ihrer Bauchbinde steckt vermutlich nur altes Zeitungspapier. Immerhin hatte sie reichlich Zeit für diesen Tausch... während Sie beim Friseur saßen

»Guter Witz«, bemerkte Justine sarkastisch. »Haben Sie noch mehr auf Lager

Ich blieb stehen. »Na, gut. Mehr sage ich nicht. Ich wollte Ihnen nur ersparen, in Mexiko City feststellen zu müssen, daß Sie völlig abgebrannt sind

»Sie können mich mal zischte Justine. Sie reichte der Stewardess am Flugsteig ihre Bordkarte und ging ins Freie. Draußen verklang allmählich das Stakkato ihrer Absätze.

Ich ging zurück zur Aussichtsterrasse mit den Panoramascheiben. Draußen auf dem Flugfeld lief Justine mit trotzigen Schritten auf die wartende Maschine zu. Offenbar hatte sie mir gar nicht zugehört. Plötzlich sah ich, wie ihre Hand zur Taille glitt. Sie ging noch ein paar Schritte weiter, blieb dann stehen und ließ ihr Gepäck fallen. Im nächsten Moment zog sie ihr T-Shirt hoch und griff in den Gürtel. Aus dieser Entfernung sah ich nur, wie sich ihr Mund weit öffnete. Es dauerte eine volle Sekunde, bis ihr Wutschrei zu mir herüberhallte.

Schicksal, dachte ich. Manchmal wirkt Mutterliebe wie ein Gift, das keine Spuren hinterläßt. Man taumelt so durchs Leben, und wenn man denkt, man hätte es endlich geschafft, ist plötzlich alles aus.