Die Parker-Flinte
Die Weihnachtsfeiertage kamen und gingen vorüber, und das neue Jahr hielt Einzug. Es war Januar in Kalifornien und so schön, wie es in diesem Monat nur sein konnte: kühl, klar und grün, mit einem Himmel in der Farbe von Glyzinien und einer Meeresbrandung, die donnernd an die Küste rollte.
An jenem Montagmorgen saß ich in meinem Büro, hatte die Beine hochgelegt, und sann gerade darüber nach, was das Leben wohl noch zu bieten hatte, als eine Frau aufgeregt hereinstürmte und eine Fotografie auf meinen Schreibtisch schleuderte. Meine Bekanntschaft mit einem Schrotgewehr der Marke >Parker< begann also mit der fotografischen Darstellung seiner Wirkung. Im vorhegenden Fall war die Flinte offenbar aus nächster Nähe auf einen vormals recht gut aussehenden Mann abgefeuert worden. Das Gesicht des Opfers war fast unversehrt geblieben, doch für einen Kamm hatte er nun keine Verwendung mehr. Es fiel mir schwer, Gleichmut zu heucheln, als ich zu meiner Besucherin aufsah.
»Man hat meinen Mann umgebracht!«
»Das ist nicht zu übersehen«, erwiderte ich.
Die junge Witwe riß das Foto wieder an sich und starrte darauf, als wolle sie sich alle Einzelheiten genau einprägen. Ihr Gesicht war gerötet, und sie blinzelte vehement, um die Tränen zurückzuhalten. »Mein Gott, Rudd ist fünf Monate tot, und die Polizei produziert nur Scheiße. Ich habe es so satt, mit Floskeln abgespeist zu werden, daß ich schreien könnte.«
Sie sank abrupt auf einen Stuhl und preßte die Hand vor den Mund, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Sie mochte etwa Ende Zwanzig sein und war auffallend hübsch. Ihr Haar hatte die Farbe von Coca-Cola mit Kirschgeschmack und fiel glatt bis auf die Schultern. Mit ihren großen rehbraunen Augen und vollen Lippen sah sie aus wie Schneewittchen auf einem Vierfarbendruck, obwohl sie ganz offensichtlich nicht geschminkt war. Nach ihrer Figur zu schließen war sie im siebten Monat schwanger, also noch nicht unförmig, aber rundlich. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, stellte sie sich als Lisa Osterling vor.
»Das ist ein Polizeifoto«, stellte ich fest. »Wie sind Sie dazu gekommen?«
Lisa kramte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und putzte die Nase. »Ich habe da so meine Methoden«, murmelte sie düster. »Ich kenne den Fotografen und habe das Bild geklaut. Ich lasse es vergrößern und häng’s mir an die Wand, damit ich nichts vergesse. Die Polizei hofft noch immer, daß ich die Sache auf sich beruhen lasse, aber da haben sie sich getäuscht.« Ihre Lippen begannen erneut zu zucken, und Tränen tropften auf ihren Rock, als wäre die Decke in meinem Büro leck.
»Was ist denn eigentlich passiert?« wollte ich wissen. »Normalerweise arbeitet die Polizei in dieser Stadt doch sehr effizient.« Ich stand auf, füllte einen Pappbecher an meinem Wasserspender und reichte ihn ihr. Sie murmelte einen Dank, trank aus und starrte auf den Boden des Bechers, während sie antwortete: »Rudd hat bis einen Monat vor seinem Tod mit Kokain gedealt. Die Polizei hat’s zwar nicht deutlich gesagt, aber ich weiß, daß sie ihn als kleinen Ganoven, der einem Betriebsunfall zum Opfer gefallen ist, abgeschrieben haben. So was kümmert die doch nicht. Sie hätten’s gern so hingedreht, als wäre er bei einem betrügerischen Deal ums Leben gekommen. Aber das stimmt nicht. Rudd hatte das alles aufgegeben... wegen dem hier.«
Lisa sah auf ihren gewölbten Leib hinunter. Sie trug ein hellgrünes T-Shirt mit einem Pfeil auf der Vorderseite. Über der Brust prangte in maschinengestickten Buchstaben das Wort >Hoppla!<
»Was haben Sie denn für eine Theorie?« fragte ich. Insgeheim neigte ich bereits zur offiziellen Polizeiversion. Im Drogengeschäft ist nämlich noch niemand alt geworden. Dafür geht’s um zu viel Geld, und dafür haben zu viele Amateure ihre Finger im Spiel. Wir lebten in Santa Teresa... gut hundert Kilometer nördlich von Los Angeles, aber es gibt Regeln, die gelten überall. Und mit einer Schrotladung pflegt man in der Unterwelt schlechte Geschäftsberichte zu quittieren.
»Ich habe keine Theorie. Mir gefällt nur die von der Polizei nicht. Ich möchte, daß Sie den Fall untersuchen, damit ich Rudds Namen reinwaschen kann, bevor das Baby kommt.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich werde tun, was ich kann, aber ohne Garantie. Was ist, wenn die Polizei tatsächlich recht hat?«
Sie stand auf und sah mich unbewegt an. »Ich habe keine Ahnung, warum Rudd sterben mußte, aber mit Drogen hatte das nichts zu tun«, erklärte sie (und wie sich herausstellte, sollte sie im großen und ganzen recht behalten). Sie machte die Handtasche auf und nahm ein Bündel Geldscheine in der Größe eines Sockenknäuels heraus. »Wieviel kriegen Sie?«
»Dreißig Dollar pro Stunde plus Spesen.«
Lisa Osterling zog einige Hundertdollarscheine aus dem Bündel und legte sie auf den Schreibtisch.
Ich holte ein Vertragsformular aus der Schublade.
Den nächsten Hinweis auf die Parker-Schrotflinte erhielt ich in Form eines Gutachtens von einem Büchsenmacher und Waffenhändler, das ich ungefähr eine Stunde später im Heim der Osterlings entdeckte, als ich Rudds Habseligkeiten durchsuchte. Die Adresse, die Lisa Osterling mir angegeben hatte, lag in den Bluffs, einem Wohnviertel im Westen der Stadt, direkt oberhalb der Pazifikküste. Eigentlich hätte es eine vornehme Gegend sein können, doch dazu produzierte das Meer hier viel zuviel Nebel und korrodierende Salzluft. Die Anwesen waren klein und hatten Durchgangscharakter. Es sah überall so aus, als wollten die Bewohner gegen Monatsende bereits wieder die Koffer packen. Niemand schien hier je Zäune zu streichen, und die Gärten wirkten, als würden die Eigentümer den ganzen Tag am Strand verbringen. Ich war Lisa im Wagen gefolgt und hatte mir den Fall noch einmal durch den Kopf gehen lassen, während ich meinen altersschwachen VW-Käfer den Capilla Hill hinaufquälte und dann rechts in die Pesipio Mall einbog.
Der verstorbene Rudd Osterling hatte seit den sechziger Jahren in Santa Teresa gelebt, als er auf der Suche nach Sonne, guten Surfbedingungen, gutem Stoff und freiem Sex an die Westküste gekommen war. Er hatte in Campingbussen und Kommunen gewohnt, als Dachdecker, Baumpfleger, Bohnenpflücker, Koch und Gabelstaplerfahrer gearbeitet. Das alles jedoch ohne Ehrgeiz oder nachweisbaren Erfolg. Zwei Jahre vor seinem Tod hatte er begonnen, mit Kokain zu dealen. Und offenbar hatte er dabei unerwartet viel Geld verdient. Dann hatte er Lisa kennengelemt und geheiratet. Lisa wiederum war entschlossen gewesen, ihn zum Ausstieg aus dem Drogengeschäft zu bewegen. Und wenn man ihr glauben konnte, hatte Rudd sich tatsächlich gerade aus dem Kokaingeschäft zurückgezogen, als ihn die Schrotflinte ins Jenseits beförderte.
Ich bog hinter Lisas Wagen in die Einfahrt ein und betrachtete den Bungalow aus Holz und Stein, den ungepflegten Rasen und den windschiefen Gartenzaun. Hier sah es aus wie in einem jener Eigenheime, an denen ständig herumgebaut wird; und das vermutlich ohne Genehmigung und unter Mißachtung sämtlicher Bauvorschriften. In diesem Fall war neben der Garage ein neues Fundament angelegt worden, aber durch die Ritzen im Beton wuchs bereits das Gras. Ein hölzerner Schuppen war teilweise abgerissen und das alte Bauholz achtlos auf einen Haufen geworfen worden. Neben dem Haus lagen stapelweise billige Nut- und Federbretter, die von der Sonne gebleicht und stellenweise aufgeworfen waren. Es sah alles ziemlich trist und deprimierend aus, doch Lisa hatte keinen Blick dafür.
Ich folgte ihr ins Haus.
»Wir waren gerade dabei, den Bungalow zu renovieren, als er starb«, sagte sie.
»Wann haben Sie das Haus gekauft?« Ich redete einfach drauflos, um meinen Widerwillen beim Anblick des alten Linoleumbelags zu verbergen, über den eine Ameisenstraße an Toastkrümeln und Marmeladenresten entlang bis zur Hintertür führte.
»Eigentlich gar nicht«, klärte Lisa mich auf.
»Es hat meiner Mutter gehört. Sie und mein Stiefvater sind vergangenes Jahr wieder in den Mittleren Westen zurück.«
»Und Rudd? Hatte er hier Familie?«
»Nein. Ich glaube, die leben alle in Connecticut. Ein eingebildeter Haufen. Seine Eltern sind tot, und seine Schwestern sind nicht mal zur Beerdigung erschienen.«
»Hatte er viele Freunde?«
»Alle Kokain-Dealer haben Freunde.«
»Feinde?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Wer war sein Lieferant?«
»Keine Ahnung.«
»Und sonst? Hatte er Streit mit jemandem? Liefen Verfahren gegen ihn? Zank mit Nachbarn? Familienzwist wegen einer Erbschaft?«
Lisa verneinte.
Ich hatte ihr gesagt, daß ich mir Rudds Sachen ansehen wolle, daher führte sie mich in ein kleines Zimmer an der Rückfront des Hauses, wo er einen kleinen Tisch Akten aufgestellt hatte, wie ein richtiger kleiner Unternehmer. Ich begann mit der Suche, während Lisa mich gegen den Türrahmen gelehnt beobachtete.
»Erzählen Sie mir, was in der Woche passiert ist, als er starb«, bat ich sie. Ich sah Rechnungsquittungen in einem Schuhkarton durch. Sie stammten aus dem nächsten Supermarkt, vom Elektrizitäts- und Gaswerk und von der Telefongesellschaft.
Lisa ging zum Schreibtischstuhl und setzte sich. »Viel kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich da noch gearbeitet habe. Ich mache Änderungen und Reparaturen in einer Reinigung in der Pesipio Mall. Rudd kam gelegentlich dort vorbei, wenn er unterwegs war. Er hatte zwar schon ein paar Aufträge an Land gezogen, aber allein von der Gärtnerei konnten wir nicht leben. Er versuchte, aus seinen alten Geschäften auszusteigen. Irgendein Junge schuldete ihm Geld. Daran erinnere ich mich.«
»Hat er Kokain auf Kredit verkauft?«
Lisa zuckte mit den Schultern. »Möglicherweise waren’s auch Grass oder Pillen.«
»Buch hat er wohl nicht darüber geführt, was?«
»Himmel, nein. Das hatte er alles im Kopf. Er war viel zu ängstlich. Schriftliches hätte er nie hinterlassen.«
Die Aktenkisten quollen fast über vor alten Briefen, Steuererklärungen, Quittungen. Für mich unergiebig.
»Was war an dem Tag, an dem er erschossen wurde? Haben Sie da auch gearbeitet?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es war ein Samstag. Ich hatte zwar frei, war aber zum Einkäufen gefahren. Nach etwa eineinhalb Stunden bin ich zurückgekommen. Und da parkten Streifenwagen in der Einfahrt, und die Ambulanz war da. Auf der Straße standen Nachbarn.« Sie verstummte. Den Rest sollte ich mir wohl allein zusammenreimen.
»Hatte er jemanden erwartet?« wollte ich wissen.
»Mir hat er davon jedenfalls nichts gesagt. Er hat in der Garage rumgemacht. Chauncy von nebenan hat den Schuß gehört. Als er herkam, um nachzusehen, war der Mörder fort.«
Ich ging zur Tür. »Ist das Schlafzimmer auch hier hinten?«
»Ja. Ich habe seine Sachen noch gar nicht aussortiert. Irgendwann werd’ ich’s wohl tun müssen. In sein Büro kommt das Kinderzimmer.«
Ich betrat das eheliche Schlafzimmer und durchsuchte Rudds Garderobe im Schrank. »Hat die Polizei was gefunden?«
»Die hat doch gar nicht erst gesucht. Das heißt, ein Typ ist mal hier gewesen und hat rumgeschnüffelt... glatte fünf Minuten.«
Ich begann mit den Schubladen, die Rudds Habseligkeiten enthielten. Bemerkenswertes fiel mir dabei nicht in die Hände. Auf der Kommode stand eines jener, messingbeschlagenen Kästchen aus Walnußholz, in dem Rudd offenbar seine Uhr, seine Schlüssel und Kleingeld aufbewahrt hatte. In Gedanken versunken hob ich es hoch. Darunter lag ein gefaltetes Blatt Papier. Es handelte sich um das Gutachten eines Büchsenmachers in Colgate, einer kleinen Gemeinde nördlich von Santa Teresa. »Was ist eine Parker?« fragte ich Lisa, nachdem ich das Gutachten gelesen hatte. Sie sah mir über die Schulter.
»Oh! Das ist vermutlich das Gutachten über die Schrotflinte, die er bekommen hatte.«
»Über die, mit der er erschossen wurde?«
»Keine Ahnung. Die Tatwaffe ist nie gefunden worden. Der Mann von der Mordkommission hat allerdings behauptet, ballistische Untersuchungen könnten in diesem Fall sowieso nicht durchgeführt werden... oder so ähnlich.«
»Weshalb hat Rudd sie überhaupt schätzen lassen?«
»Er hat sie als Tilgung einer größeren Drogenschuld angenommen und mußte wissen, was sie wert war.«
»Drogenschuld? Die von dem Jungen, den Sie vorher erwähnt hatten? Oder war’s ein anderer?«
»Ich glaube, es war der Junge. Zuerst wollte Rudd die Waffe verkaufen. Aber dann kam raus, daß sie ein Sammlerstück ist. Und da hat er sie behalten. Der Waffenhändler hat nach Rudds Tod noch mehrmals angerufen, aber da war die Flinte schon verschwunden.«
»Haben Sie das der Polizei erzählt?«
»Natürlich. Es hat sie nicht die Bohne interessiert.«
In diesem Punkt hatte ich meine Zweifel. Trotzdem steckte ich das Blatt Papier ein. Ich wollte die Sache überprüfen und anschließend mit Dolan vom Morddezernat sprechen.
Das Waffengeschäft lag in einer Seitengasse der Hauptdurchgangsstraße von Colgate. Von hier aus wirkte Colgate wie eine Ansammlung von Eisenwarenhandlungen, Autovermietungen und Baumschulen; allesamt Unternehmen, die gut die Hälfte ihrer Waren im Freien hinter soliden Maschendrahtzäunen feilzubieten schienen. Das Waffengeschäft befand sich im vorderen Wohnraum eines schmalen Holzhauses. In einigen Vitrinen lag Waffenzubehör, von Schußwaffen war nichts zu sehen.
Aus dem Hinterzimmer trat ein Mann Anfang Fünfzig mit hagerem Gesicht, graumeliertem Haar und grauen Augen hinter randlosen Brillengläsern. Über Hose und dem Oberhemd mit aufgekrempelten Ärmeln trug er eine lange, graue Schürze. Auffallend war sein ebenmäßiges, blendendweißes Gebiß. Als er den Mund aufmachte, wurde der rosafarbene Rand seiner oberen Prothese sichtbar, was die Wirkung erheblich minderte. Trotzdem mußte man ihn als gutaussehend bezeichnen. Bei einer Zehn-Punkte-Skala jedenfalls würde ich ihm sieben zugestehen; für einen Mann seines Alters ein passables Ergebnis. »Ja, bitte?« wandte er sich an mich. Ich glaubte, einen Dialekt herauszuhören, und tippte prompt auf Virginia.
»Sind Sie Avery Lamb?«
»Ja, bin ich. Was kann ich für Sie tun?«
»Weiß ich noch nicht genau. Aber vielleicht sagen Sie mir erst mal mehr über ein Gutachten, das von Ihnen stammt.« Ich reichte ihm das Blatt Papier.
Er warf einen kurzen Blick darauf. Dann sah er mich an.
»Woher haben Sie das?«
»Von Rudd Osterlings Witwe«, erwiderte ich.
»Mir hat sie gesagt, daß sie die Flinte nicht hat.«
»Das stimmt auch.«
Er schien verwirrt zu sein, blieb jedoch vorsichtig. »Was haben Sie mit der Sache zu tun?«
Ich gab ihm meine Visitenkarte. »Lisa Osterling hat mich beauftragt, Rudds Tod näher zu untersuchen. Die Schrotflinte könnte wichtig sein. Immerhin ist er mit einer Schrotflinte erschossen worden.«
Avery Lamb schüttelte den Kopf. »Komische Geschichte. Das ist jetzt das zweite Mal, daß die Waffe verschwunden ist.«
»Was soll das heißen?«
»Im Juni hat eine Frau die Schrotflinte hergebracht und schätzen lassen. Ich habe ihr ein Kaufangebot gemacht. Aber bevor wir uns handelseinig werden konnten, hat sie behauptet, die Waffe wäre gestohlen worden.«
»Hört sich so an, als hätten Sie ihr nicht geglaubt.«
»Natürlich nicht. Ich vermute, sie hat den Diebstahl der Polizei gemeldet. Aber ich denke, sie wußte genau, wer die Waffe geklaut hatte. Und dann ist dieser Osterling mit derselben Schrotflinte bei mir aufgetaucht. Sie hatte eine englische Schäftung mit biberschwanzförmigem Vorderschaft. Kaum zu verwechseln.«
»Ist das nicht ein merkwürdiger Zufall? Ich meine, daß er die Waffe ausgerechnet zu Ihnen gebracht hat?«
»Eigentlich nicht. Ich bin einer der wenigen Büchsenmachermeister in der Gegend. Er brauchte sich praktisch nur umzuhören... genau wie die Frau vor ihm.«
»Haben Sie ihr erzählt, daß die Waffe wieder aufgetaucht ist?«
Er zog die Augenbrauchen hoch. »Bevor ich dazu kam, war er tot, und die Parker war wieder verschwunden.«
Ich überprüfte das Datum auf dem Gutachten. »War das im August?«
»Ganz richtig. Seither habe ich die Waffe nicht mehr zu Gesicht bekommen.«
»Hat er Ihnen verraten, woher er die Waffe hatte?«
»Angeblich hat es sich um ein Tauschgeschäft gehandelt. Ich habe ihm zwar gesagt, daß bereits eine Frau mit dieser Flinte bei mir gewesen sei, aber das schien ihn nicht zu kümmern.«
»Und wieviel ist diese Parker wert?«
Avery Lamb zögerte. Er schien sich die Antwort reiflich zu überlegen. »Ich habe ihm sechstausend geboten.«
»Gut. Aber mich interessiert, wie hoch der Marktwert der Waffe ist.«
»Das hängt davon ab, wieviel ein potentieller Käufer zu zahlen bereit ist.«
Ich versuchte, meine Ungeduld zu unterdrücken. Der Waffenhändler konnte mich nicht täuschen. Er redete um den heißen Brei herum, um sich nicht festlegen zu müssen für den Fall, daß die Waffe wieder auftauchte. »Hören Sie«, begann ich. »Es bleibt unter uns. Von mir erfährt niemand was. Es sei denn, die Polizei interessiert sich für die Sache. Und dann haben wir beide keine andere Wahl. Sowieso ist die Waffe im Moment verschwunden. Was soll’s?«
Lamb blieb skeptisch, war jedoch Realist. Er räusperte sich sichtlich verlegen. »Sechsundneunzig.«
Ich starrte ihn ungläubig an. »Tausend? Sechsundneunzigtausend?«
Er nickte.
»Donnerwetter! Verdammt viel für eine Flinte, was?«
Lamb senkte die Stimme. »Miss Millhone, die Waffe ist von unschätzbarem Wert. Es handelt sich um eine A-1-Special, Kaliber 28, mit Wechsellauf. Von diesem Typ sind nur zwei Exemplare angefertigt worden.«
»Aber soviel Geld? Warum?«
»Erst mal ist die Parker ein Meisterstück der Büchsenmacherkunst. Natürlich gibt es auch da Qualitätsunterschiede, aber diese Waffe ist einzigartig. Fein gemasertes Schaftholz. Eine der erstaunlichsten Gravuren, die ich je gesehen habe. Für Parker arbeitete ein Italiener, der manchmal allein 5000 Arbeitsstunden auf die Gravuren verwendete. Die Firma hat 1942 dichtgemacht. Es sind also nicht mehr viele dieser Waffen im Handel.«
»Sie haben doch von zwei Exemplaren gesprochen. Wo ist die andere Flinte? Wissen Sie das?«
»Nur vom Hörensagen. Ein Händler in Ohio hat sie vor einigen Jahren für sechsundneunzigtausend auf einer Auktion gekauft. Soviel ich weiß, befindet sie sich mittlerweile im Besitz eines Texaners mit einer ganzen Sammlung von Parkers. Die Flinte, die Osterling gebracht hat, galt seit Jahren als verschollen. Ich glaube nicht, daß er wußte, was er da hatte.«
»Und Sie haben’s ihm nicht gesagt?«
Lamb wich meinem Blick aus. »Gesagt habe ich ihm genug«, verteidigte er sich vorsichtig. »Ich kann nichts dafür, wenn er nichts damit anzufangen wußte.«
»Weshalb sind Sie so sicher, daß es die verschollene Parker war?«
»Die Seriennummer stimmte... und alles andere auch. Eine Fälschung war ausgeschlossen. Ich habe die Waffe mit einer Lupe untersucht. Sie wies weder Schweißnähte noch Spuren von herausgefeilten Markierungen auf. Nachdem ich die Waffe gründlich überprüft hatte, habe ich sie einem Freund und Waffenkenner gezeigt. Er hat sie sofort identifiziert.«
»Wer außer Ihnen und Ihrem Freund wußte davon?«
»Derjenige, von dem Rudd Osterling sie gekriegt hat, nehme ich an.«
»Ich brauche Namen und Adresse der Frau... wenn Sie die noch haben«, sagte ich. »Vielleicht weiß sie, wie Rudd zu der Flinte gekommen ist.«
Erneut zögerte der Waffenhändler. Dann zuckte er mit den Schultern. »Warum nicht?« Er schrieb etwas auf einen Zettel und schob ihn über die Ladentheke. »Ich würd’s gern wissen, wenn die Flinte wieder auftaucht.«
»Kein Problem. Vorausgesetzt, Mrs. Osterling hat nichts dagegen.«
Im Augenblick hatte ich keine weiteren Fragen. Ich ging zur Tür und sah mich noch einmal nach Lamb um. »Wenn die Flinte gestohlen war, wie hätte Rudd sie dann veräußern können? Hätte er dazu nicht einen Eigentumsnachweis gebraucht? Etwas, das ihn als den Eigentümer auswies?«
Avery Lamb verzog keine Miene. »Nicht unbedingt. Wenn ein fanatischer Sammler die Waffe zu fassen gekriegt hätte, wär’ sie endgültig aus dem Verkehr gezogen worden. Er hätte sie in seinem Keller versteckt und sie keiner Menschenseele je gezeigt. Es hätte ihm genügt, sie zu besitzen. Und dazu braucht man keinen Eigentumsnachweis.«
Ich setzte mich draußen in meinen Wagen und machte mir Notizen, solange die Erinnerung noch frisch war. Dann las ich den Zettel, den Lamb mir gegeben hatte. Mein Adrenalinpegel schnellte nach oben: Es war eine Adresse in der Nachbarschaft der Osterlings.
Der Name lautete Jackie Barnett. Ich fand das Haus zwei Straßenzüge vom Heim der Osterlings entfernt in einer Parallelstraße; ein großes Eckgrundstück mit Avokadobäumen, von Palmen gesäumt. Das Haus war gelb verputzt. Von den braunen Fensterläden blätterte Farbe. Die Rasenfläche mußte dringend gemäht werden. Am Briefkasten stand der Name >Squires<, doch die Hausnummer stimmte. Über dem Tor der Doppelgarage war ein Basketballkorb angebracht, und in der Einfahrt stand ein Motorrad mit abgebauter Verkleidung.
Ich parkte den VW und stieg aus. Als ich auf das Haus zuging, entdeckte ich im seitlichen Gartenteil einen Mann im Rollstuhl, der wie eine dekorative Gartenfigur auf dem Rasen stand. Er war leichenblaß, hatte seidiges, weißes Haar und rotgeränderte Augen. Die linke Gesichtshälfte war gelähmt, und sein rechter Arm lag leblos auf dem Schoß. Aus den Augenwinkeln sah ich kurz eine Frau hinter einem Fenster auftauchen. Sie war offenbar durch das Schlagen der Auto für auf mich aufmerksam geworden. Ich lief auf die Veranda vor dem Eingang zu. Sie öffnete die Tür, bevor ich überhaupt Anstalten machen konnte, zu klopfen.
»Sie müssen Kinsey Millhone sein. Ich habe gerade mit Avery telefoniert. Er hat gesagt, daß Sie kommen würden.«
»Das ging ja schnell. Ich hatte keine Ahnung, daß ich schon angemeldet bin. Aber es erspart mir lange Erklärungen. Dann sind Sie Jackie Barnett?«
»Ganz recht. Wenn Sie möchten, kommen Sie rein. Ich muß nur noch nach ihm sehen.« Sie deutete auf den Mann im Rollstuhl.
»Ihr Vater?«
Sie warf mir einen strengen Blick zu. »Mein Mann.« Ich sah ihr nach, wie sie über die Rasenfläche zum Rollstuhl ging, und war dankbar, mich auf diese Weise von meiner Verblüffung erholen zu können. Jetzt war klar, daß sie älter sein mußte, als ich zuerst angenommen hatte. Ich schätzte sie auf Anfang Fünfzig; ein Alter, in dem Frauen zu dick Make-up auflegen und blondes Haar einen Tick zu blond färben. Jackie Barnett war mollig, wenn nicht sogar dick, aber dabei durchaus attraktiv. Für die Maler des siebzehnten Jahrhunderts wäre sie das ideale Modell für das Genre >fülliges, weißes Fleisch in der Umarmung mit einem Faun< gewesen. Über so etwas wie >Fleischeslust< war der alte Mann im Rollstuhl längst erhaben. Die Laute allerdings, die er von sich gab — aufgrund der Lähmung konnte er nicht mehr artikulieren erinnerten beunruhigend an die Geräusche ekstatischer Leidenschaft.
Ich wandte den Blick von dem Alten und dachte statt dessen an Avery Lamb. Er hatte zwar nicht gerade behauptet, Jackie Barnett sei eine Fremde für ihn, aber zumindest getan hatte er so. Ich fragte mich mittlerweile, welcher Art ihre Beziehung wohl sein mochte.
Jackie sprach kurz mit dem alten Mann und zog die Reisedecke über seinem Schoß glatt. Dann kam sie zurück, und wir gingen ins Haus.
»Heißen Sie Barnett oder Squires?« erkundigte ich mich.
»Von Rechts wegen Squires. Aber meistens nenne ich mich noch Barnett.« Sie war ganz offensichtlich verärgert, und ich bezog das automatisch auf mich, bis sie sich entschuldigte. »Ich hab’ langsam die Nase voll von ihm. Haben Sie schon mal jemand gepflegt, der einen Schlaganfall hatte?«
»Nein, aber ich kann mir vorstellen, daß das schwierig ist.«
»Schwierig? Es ist die Hölle. Es mag hartherzig klingen... aber aufbrausend war er schon immer. Und jetzt ist er auch noch frustriert, egozentrisch und fordernd. Nichts paßt ihm. Überhaupt nichts. Manchmal stelle ich ihn einfach im Rollstuhl in den Garten, damit ich ihn los bin. Setzen Sie sich doch, Schätzchen.«
Ich setzte mich. »Seit wann ist er krank?«
»Den ersten Schlaganfall hatte er im Juni. Seitdem war er mehrmals im Krankenhaus.«
»Was ist eigentlich mit der Schrotflinte passiert, die Sie Avery angeboten hatten?«
»Ach die! Er hat mir erzählt, daß Sie einen Mordfall untersuchen. Das Opfer soll hier im Viertel gewohnt haben, stimmt’s?«
»Drüben in der Whitmore — «
»Eine schreckliche Geschichte. Ich hab’ in der Zeitung davon gelesen. Wie ist das eigentlich ausgegangen?«
»Einzelheiten weiß ich nicht«, wehrte ich ab. »Ich suche eigentlich eine Schrotflinte, die Rudd Osterling gehörte. Avery Lamb hat behauptet, es sei dieselbe gewesen, die Sie ihm kurz vorher angeboten hatten.«
Jackie Barnett hatte automatisch Unterteller und Tassen aus dem Schrank geholt, und ich mußte auf ihre Antwort warten, bis sie uns beiden Kaffee eingeschenkt hatte. Sie reichte mir eine Tasse, setzte sich und griff nach dem Milchkännchen. Schließlich sah sie mich verlegen an. »Ich hab’ die Flinte genommen, um’s ihm heimzuzahlen«, gestand sie mit einer Kopfbewegung in Richtung Garten. »Ich bin seit sechs Jahren mit Bill verheiratet, und ein Jahr war schlimmer als das andere. Aber das hab’ ich mir selbst eingebrockt. Ich war jahrelang geschieden, und es ging mir blendend. Dann mit fünfzig bekam ich plötzlich Torschlußpanik. Es war wohl die Angst, allein alt zu werden. Da ist mir Bill über den Weg gelaufen. Er schien eine blendende Partie zu sein. Zwar war er pensioniert, aber er hatte massenhaft Geld... so schien es wenigstens. Er hat mir das Blaue vom Himmel versprochen. Er sagte, wir würden reisen, er wollte mir Kleider, einen Wagen und sonst noch was kaufen. Und dann stellt sich heraus, daß er ein mieser Pfennigfuchser mit einem gemeinen Mundwerk und locker sitzender Faust ist. Aber damit wenigstens ist Schluß.« Sie hielt kopfschüttelnd inne und starrte in ihre Kaffeetasse.«
»Dann gehörte die Flinte also ihm?«
»Ja. Er hat eine ganze Sammlung von Schrotflinten. Und mit denen ist er liebevoller umgegangen als mit mir, glauben Sie. Ich wollte, daß er sie verkauft. Waffen sind mir unheimlich. Die Dinger machen mir Angst. Und als er krank wurde, stellte sich heraus, daß er zwar versichert ist, daß die Kasse aber nur achtzig Prozent bezahlt. Ich fürchte, daß seine ganzen Ersparnisse draufgehen werden. Das kann noch jahrelang so weitergehen. Und wenn er stirbt, habe ich vielleicht seine Schulden am Hals. Deshalb habe ich einfach wahllos eine Flinte genommen, um sie bei Avery zu verkaufen. Ich brauchte was Neues zum Anziehen.«
»Und weshalb haben Sie sich’s dann anders überlegt?«
»Ich war der Meinung, das Ding sei acht-, neunhundert Dollar wert. Avery hat mir gleich sechstausend geboten. Ich mußte also annehmen, daß sie mindestens das Doppelte wert war. Deshalb habe ich es mit der Angst zu tun gekriegt und sie wieder in den Schrank gestellt.«
»Aber kurz darauf war die Flinte verschwunden?«
»Keine Ahnung. Ich habe gar nicht mehr darauf geachtet. Bill hat gemerkt, daß sie verschwunden war... Als er von seinem zweiten Krankenhausaufenthalt nach Hause kam. Da war hier was los! Sie hätten ihn erleben sollen. Zwei Tage lang hat er hier rumgewütet, dann kam der nächste Schlaganfall, und er mußte wieder ins Krankenhaus. Recht geschieht’s ihm, wenn Sie mich fragen. Und ich hatte wenigstens ein verlängertes Wochenende ganz für mich. Ich hab’s dringend gebraucht.«
»Haben Sie einen Verdacht, wer die Flinte gestohlen haben könnte?«
Sie sah mich groß an. Ihre Augen waren sehr blau und sehr arglos. »Nicht den geringsten.«
Ich ließ ihr noch ein paar Sekunden Zeit, die Rolle der Naiven auszukosten, dann legte ich einen Köder aus, um zu sehen, wie sie reagierte. »Schade. Sie haben den Diebstahl sicher der Polizei gemeldet?«
Es war ihr anzusehen, wie sie mit sich rang, ob sie mit Ja oder Nein antworten sollte. »Natürlich«, entschied sie schließlich aufs Geratewohl.
Sie gehörte zu den ungeübten Lügnern, die rot werden.
»Und die Versicherung?« frage ich betont harmlos. »Haben Sie die Versicherung in Anspruch genommen?«
Jackie Barnett sah mich ausdruckslos an. Ich hatte das untrügliche Gefühl, sie wirklich überrumpelt zu haben. »Wissen Sie, daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, sagte sie schließlich. »Aber die Flinte war bestimmt versichert.«
»Sicher, eine so wertvolle Waffe. Bei welcher Gesellschaft sind Sie denn versichert?«
»Das kann ich so aus dem Stegreif gar nicht sagen. Ich müßte nachsehen.«
»An Ihrer Stelle würde ich das tun«, riet ich ihr. »Sie können jederzeit Ihren Versicherungsanspruch geltend machen. Dazu brauchen Sie nur die Aktennummer Ihrer Anzeige bei der Polizei anzugeben.«
»Die Aktennummer?«
»Ja, die steht im polizeilichen Protokoll.«
Jackie Barnett rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und sah auf die Uhr. »Herrje, ich muß ihm seine Tabletten geben. Wollten Sie sonst noch was wissen?« Nachdem sie mir eine oder zwei Lügen aufgetischt hatte, war sie ganz scharf darauf, mich loszuwerden. Vermutlich um die Lage zu peilen. Von Amery Lamb wußte ich, daß sie den Diebstahl nie angezeigt hatte. Hatte sie jetzt vor, ihn anzurufen, um sich mit ihm abzusprechen?
»Ich hätte mir die Sammlung Ihres Mannes noch gern angesehen. Geht das?« Ich stand auf.
»Warum nicht?« Jackie führte mich in ein kleines holzgetäfeltes Arbeitszimmer und stieg dabei über den Koffer neben der Tür.
Dort standen in einem Waffenschrank mit Glasfront sechs Schrotflinten. Jede reichverziert, das Schaftholz fein gemasert. Bei diesem Anblick war mir unverständlich, wie man die wertvolle Parker von den anderen Flinten unterscheiden konnte. Der Schrank und die einzelnen Gewehrständer waren abgeschlossen. Alle Fächer waren belegt. »Hat Ihr Mann die Parker hier in einem der Fächer aufbewahrt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Parker hatte ein eigenes Etui.« Damit holte sie einen wunderschön gearbeiteten Lederkasten hinter der Couch hervor und schlug ihn auf. Sie tat das, als vollführte sie eine Art Zaubertrick. Bis auf einen Wechsellauf war der Kasten leer.
Ich sah mich um. In einer Zimmerecke stand eine weitere Flinte. Ich griff danach und las den Hersteller auf der Schäftung: A. H. Fox. Schade. Einen Augenblick lang hatte ich gedacht, ich hätte die verschwundene Parker entdeckt. Ich bin immer für das Nächstliegende. Enttäuscht stellte ich die Fox wieder zurück.
»Tja, das wär’s dann wohl«, bemerkte ich. »Vielen Dank für den Kaffee.«
»Keine Ursache. Ich hätte Ihnen gern weitergeholfen.« Sie drängte mich sanft zur Tür.
Ich streckte die Hand aus. »War nett, Sie kennenzulernen. Und nochmals danke.«
Sie schüttelte mir hastig die Hand. »Schon gut. Tut mir leid, daß ich nicht mehr Zeit habe. Aber Sie wissen ja, wie das mit Kranken ist...«
Ehe ich mich versah, fiel die Haustür hinter mir zu. Ich ging auf meinen Wagen zu. Was hatte Jackie Barnett vor?
Ich hatte gerade die Auffahrt erreicht, als ein weißer Corvette die Straße entlang geröhrt kam und mit quietschenden Reifen vor der Einfahrt abbremste. Der Teenie hinter dem Steuer schaltete mit einer lässigen Bewegung die Zündung aus und zog sich am Überrollbügel auf die Rückenlehne hoch. »Tag. Ist meine Mutter da?«
»Wer? Jackie? Klar«, antwortete ich und schaltete blitzschnell. »Sie müssen Doug sein.«
Er schien perplex. »Nein, Eric. Kennen wir uns?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin eine Bekannte... auf der Durchreise.«
Er sprang aus dem Sportwagen. Ich öffnete meinen VW und beobachtete ihn dabei unauffällig. Er sah aus wie siebzehn: blond, blauäugig, mit hohen Backenknochen, einem sinnlichen Mund und dem schlanken, muskulösen Körper des Surfers. Ich stellte mir unwillkürlich vor, wie er in einigen Jahren aussehen mochte, wenn er in Hotels an der Küste auf Frauen Jagd machte, die dreimal so alt waren wie er. Es würde ihm gutgehen, und den Frauen auch.
Jackie hatte den Corvette offenbar gehört, denn sie kam Eric auf der Veranda entgegen. Mit einem bedeutungsvollen Blick in meine Richtung schnitt sie ihm das Wort ab. Arm in Arm verschwanden sie im Haus. Ich sah zu dem alten Mann im Rollstuhl hinüber. Er gab wieder jene seltsamen Laute von sich und zupfte mit seinen gesunden Fingern sinnlos an seiner gelähmten Hand. Die Erkenntnis traf mich wie ein Keulenschlag. Ich begann die Zusammenhänge zu begreifen.
Ich fuhr zwei Straßen weiter zu Lisa Osterling. Sie lag im Garten hinter dem Haus im Liegestuhl. Im Badeanzug sah ihr praller Bauch wie eine Wassermelone in einem Wäschesack aus. Gesicht und Arme waren gerötet, ihre braunen Beine glänzten ölig. Als ich über den Rasen auf sie zukam, hob sie die Hand schützend gegen die Wintersonne über die Augen. »So schnell hatte ich nicht mit Ihnen gerechnet.«
»Ich möchte Sie was fragen«, begann ich. »Und dann muß ich telefonieren. Kannte Rudd einen Teenager namens Eric Barnett?«
»Da bin ich nicht sicher. Wie sieht er aus?«
Ich beschrieb Eric und erwähnte den Corvette. Ihr Mienenspiel verriet, daß sie sofort Bescheid wußte. Sie richtete sich auf.
»Ach den meinen Sie? Natürlich kenne ich den. Er ist zwei-, dreimal in der Woche hier gewesen. Rudd sagte, er wohne in der Nähe und würde sich Werkzeug für sein Motorrad ausleihen. Ist er derjenige, der Rudd Geld geschuldet hat?«
»Hm... Ich weiß zwar nicht, wie wir’s beweisen sollen, aber ich habe den Verdacht, daß er’s ist.«
»Glauben Sie, er hat ihn umgebracht?«
»Die Frage kann ich noch nicht beantworten, aber ich arbeite dran. Ist das Telefon dort drin?« Ich ging zur Küchentür. Lisa Osterling stemmte sich aus dem Liegestuhl hoch und folgte mir ins Haus. Neben der Hintertür hing ein Wandtelefon. Ich klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr und zog das Waffengutachten aus der Tasche. Dann wählte ich die Nummer von Averys Waffengeschäft. Das Rufzeichen ertönte zweimal.
Jemand hob ab. »Lambs Waffengeschäft«, meldete sich eine Stimme.
»Mr. Lamb?«
»Hier spricht Orville Lamb. Wollten Sie mich oder meinen Bruder sprechen?«
»Eigentlich Avery. Ich habe eine Frage an ihn.«
»Er ist gerade nicht da, und ich weiß nicht, wann er zurückkommt. Kann ich irgendwie behilflich sein?«
»Vielleicht«, erwiderte ich. »Nehmen wir an, Sie besäßen eine Schrotflinte von unschätzbarem Wert... sagen wir eine Ithaca oder eine Parker, also eine der klassischen Jagdwaffen. Würden Sie mit einer solchen Flinte auch wirklich schießen?«
»Möglich wäre es natürlich«, antwortete Lamb skeptisch. »Aber es wäre kaum ratsam. Besonders dann nicht, wenn die Flinte praktisch neuwertig wäre. Man würde eine Wertminderung riskieren. Aber wenn sie kürzlich noch in Gebrauch gewesen ist, würde es vermutlich nicht viel ausmachen. Trotzdem würde ich’s nicht empfehlen. Handelt es sich um Ihre Waffe?«
Ich legte einfach auf. Lisa stand hinter mir. Sie sah mich ängstlich an. »Ich muß gleich wieder gehen«, erklärte ich. »Trotzdem sollen Sie wissen, wie ich die Sache sehe. Eric Barnetts Stiefvater besitzt eine Sammlung Schrotflinten. Eine davon, so stellte sich heraus, ist sehr wertvoll. Der alte Mann kam ins Krankenhaus, und Erics Mutter hat eine der Flinten entwendet, um sich mal was zu gönnen, bevor das ganze Geld für Arztrechnungen draufgehen würde. Sie hatte allerdings keine Ahnung, daß die Flinte, die sie sich ausgesucht hatte, so wertvoll war. Der Waffenhändler hat das Stück sofort als Fund seines Lebens erkannt. Ich weiß nicht, ob er ihr das auch gesagt hat, aber als ihr klarwurde, daß die Waffe wertvoller sein mußte, als sie gedacht hatte, hat sie es mit der Angst zu tun bekommen und die Flinte zurückgestellt.«
»War das die Waffe, die Rudd als Tauschware angenommen hatte?«
»Ja, genau die. Ich schätze, daß die Mutter ihrem Sohn davon erzählt hat. Und Eric sah eine Chance, seine Drogenschulden zu begleichen. Er hat Rudd die Flinte ange-boten. Rudd beschloß, die Waffe schätzen zu lassen, und brachte sie zu demselben Waffenhändler wie schon Erics Mutter. Der Waffenhändler hat sie sofort wiedererkannt.«
Sie sah mich starr an. »Rudd ist wegen dieser Flinte erschossen worden, stimmt’s?«
»Ja, das glaube ich. Möglicherweise war’s ein Unfall. Vielleicht kam es zum Kampf, und das Ding ging von selbst los.«
Die junge Witwe schloß die Augen und nickte. »In Ordnung. O Mann! Jetzt geht’s mir besser. Damit kann ich leben.« Sie schlug die Augen auf und lächelte gequält. »Und was jetzt?«
»Ich muß noch eine Sache überprüfen. Dann, schätze ich, wissen wir, was Sache ist.«
Sie drückte meinen Arm. »Danke.«
»Noch ist es nicht vorbei. Aber wir schaffen es.«
Als ich zu Jackie Barnett zurückkehrte, stand der weiße Corvette noch in der Einfahrt. Der alte Mann im Rollstuhl allerdings war offenbar ins Haus gebracht worden. Auf mein Klopfen öffnete Eric nach einer Weile die Tür. Seine Miene veränderte sich kaum, als er mich erkannte.
»Hallo. Da bin ich wieder. Kann ich mal mit Ihrer Mutter sprechen?«
»Nein, eigentlich nicht. Sie ist nicht da.«
»Ist sie mit Avery weggefahren?«
»Mit wem?«
Ich lächelte flüchtig. »Sparen Sie sich das Theater, Eric. Ich habe den Koffer im Flur gesehen, als ich vorhin hier war. Sind sie durchgebrannt, oder machen sie nur eine Spritztour?«
»Sie wollen am Wochenende wieder da sein«, murmelte er. Der Junge war längst nicht so gerissen, wie er aussah. Es tat mir schon beinahe leid.
»Kann ich mal mit Ihrem Stiefvater sprechen?«
Er wurde rot. »Mutter möchte nicht, daß er sich aufregt.«
»Ich rege ihn nicht auf.«
Eric wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte.
Ich beschloß, ein bißchen nachzuhelfen. »Darf ich mal einen Vorschlag machen? Nach kalifornischem Strafrecht gilt es als schwerer Diebstahl, wenn der Wert der entwendeten Sache zweihundert Dollar übersteigt. Das gilt auch für Hühner, Gänse, Enten, Avokados, Oliven, Zitrusfrüchte, Nüsse und Artischocken; ebenso für Schrotflinten; und es wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr bestraft. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie darauf scharf sind.«
Er trat prompt von der Tür zurück und ließ mich ein.
Der alte Mann saß zusammengesunken in seinem Rollstuhl im Arbeitszimmer. Seine rotumränderten Augen blickten in meine Richtung, aber es gab kein Anzeichen, daß er mich wiedererkannte. Vielleicht war es auch nur mangelndes Interesse. Ich kauerte neben dem Rollstuhl nieder. »Wie steht’s mit Ihrem Gehör? Alles noch in Ordnung?«
Der Alte begann ziellos mit seiner gesunden Hand an seinem gelähmten Bein herumzuzupfen. Er sah weg. Denselben Ausdruck hatte ich schon bei Hunden erlebt, die eine Pfütze auf den Teppich gemacht hatten und wußten, daß man hinter dem Rücken eine zusammengerollte Zeitung hält.
»Ich würde Ihnen gern meine Version der Geschichte erzählen«, fuhr ich fort. Die Kunstpause hätte ich mir sparen können. Seine mögliche Antwort hätte ich sowieso nicht verstanden. »Als Sie zum zweitenmal aus dem Krankenhaus entlassen wurden, stellten Sie fest, daß die Flinte weg war. Sie müssen sofort vermutet haben, daß Eric die Waffe entwendet hatte. Wahrscheinlich hatte er vorher auch schon geklaut. Kokain ist teuer. Und vermutlich haben Sie ihn so lange in die Zange genommen, bis er Ihnen verraten hat, wo die Flinte war. Dann sind Sie zu Rudd gegangen, um sich die Waffe zurückzuholen. Vielleicht hatten Sie die A. H. Fox gleich mitgenommen, vielleicht haben Sie sie auch erst geholt, nachdem Rudd die Parker nicht herausrücken wollte. Egal. Sie jedenfalls haben ihm die tödliche Schrotladung verpaßt und sind dann durch die Gärten nach Hause zurückgelaufen. Danach hatten Sie den nächsten Schlaganfall.«
Mein Blick fiel plötzlich auf Eric, der im Türrahmen stand. »Möchten Sie dazu was sagen?«
»Hat er Rudd umgebracht?«
»Ich glaube schon«, antwortete ich und sah den alten Mann an.
Seine Miene drückte eine eigensinnige Gerissenheit aus. Was sollte ich mit ihm machen? Ich mußte mit Lieutenant Dolan sprechen, aber die Polizei würde vermutlich nie Beweise finden. Und wenn doch, wie sollten sie ihn zur Rechenschaft ziehen? Selbst im günstigsten Fall würde er kaum dieses Jahr überleben.
»Rudd war ein prima Kerl«, sagte Eric.
»Mann, Eric! Ihr müßt doch alle geahnt haben, was passiert war!« fuhr ich ihn an.
Er hatte so viel Anstand, rot zu werden. Dann ging er hinaus. Ich stand auf. Zu meiner Entschuldigung muß ich gestehen, daß es mir einfach nicht gelang, irgendwelche Haßgefühle gegen diesen mitleiderregenden Überrest eines menschlichen Wesens im Rollstuhl zu entwickeln. Ich ging zum Waffenschrank.
Die Parker-Schrotflinte stand im dritten Ständer von rechts und sah genauso aus wie die anderen Schrotgewehre. Der alte Mann würde sterben, und Jackie würde seine Sammlung zusammen mit seinem übrigen Vermögen erben. Dann würde sie Avery heiraten, und die beiden hätten endlich, was sie wollten. Einen Moment stand ich vor der Glastür, dann begann ich die Schreibtischschubladen zu durchsuchen, bis ich den Schlüssel gefunden hatte. Ich schloß den Schrank und dann die Ständer auf. Ich tauschte die Parker gegen die A. H. Fox aus und machte alles sorgfältig wieder zu. Der alte Mann wimmerte, doch er sah mich kein einziges Mal an, und Eric war nirgends zu entdecken, als ich das Haus verließ.
Ich warf einen letzten Blick auf die Parker-Flinte, als Lisa Osterling sie etwas ungeschickt an ihre füllige Taille drückte. Natürlich würde ich Lieutenant Dolan informieren, doch ich hatte nicht die Absicht, ihm alles zu erzählen. Gelegentlich widerfährt jemandem Gerechtigkeit auf andere Art und Weise.