Der gute Samariter
Der Unfall lief im Zeitlupentempo ab, wie eine jener Filmsequenzen, die endlos scheinen, obwohl in Wirklichkeit nur wenige Sekunden vergangen sind. Es war Freitag nachmittag, Rush-hour. In Santa Teresa herrschte der übliche dichte Verkehr, in dem sich mein kleiner VW-Käfer nicht schlecht behauptete, obwohl das Modell schon seit längerem zu den Oldies gehörte. Ich hatte gerade einen Fall abgeschlossen und einen Scheck über viertausend Dollar in der Handtasche; eine nette Summe, wenn man bedenkt, daß ich als selbständige Privatdetektivin in Kalifornien dem >Friß oder stirb< aller Freiberufler ausgeliefert bin.
Das Mädchen fuhr einen weißen Citycar, vermutlich einen Toyota. Allerdings registrierte ich die Marke nur beiläufig, als sie mich beim Überholen schnitt und ein hellroter Porsche an uns vorbeischoß. Dann tauchte rechts neben mir auf gleicher Höhe ein marineblauer Lieferwagen auf, und jeder kämpfte um Terrain, während die spätnachmittägliche Sonne vom wolkenlosen Frühlingshimmel schien. Ich beobachtete den Verkehr hinter mir durch den Rückspiegel, als irgendwo mit einem lauten >BUM< ein Reifen platzte. Sofort konzentrierte ich mich wieder auf die Fahrbahn vor mir. Der weiße Citycar schleuderte auf die Überholspur, schoß wie ein Pfeil vor dem roten Porsche vorbei. Ich trat mit voller Kraft auf die Bremse, und Adrenalin pulsierte durch meine Adern, während ich versuchte, das ausbrechende Heck meines VW auszusteuern. Der weiße Citycar prallte gegen die Leitplanke am Mittelstreifen und von dort zurück auf meine Spur, wo er mich nur um Millimeter verfehlte. Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich ein dunkelgrüner Mercedes auf, erfaßte den Wagen des Mädchens breitseits und ließ ihn mit dem spektakulären Timing eines Filmstunts durch die Luft wirbeln. Um mich herum quietschten Bremsen wie eine Schar kreischender Vögel, und ich hörte hinter mir das Krachen der in schneller Folge kollidierenden Autos, die sich wie mit einem zerstörerischen Trommelwirbel ineinanderschoben. Die Stille, die folgte, war perfekt. In Sekundenschnelle war alles vorbei. Eine Staubwolke stieg vom Straßenbankett auf, dort, wo der Wagen des Mädchens schließlich mit der linken Seite nach oben, halb vom Gebüsch verdeckt, liegengeblieben war. Das Auto hatte den Pfosten eines Verkehrsschilds glatt durchschlagen, das jetzt zerbeult auf dem Dach lag. Ich fuhr rechts ran, stieg aus und hechtete, dicht gefolgt von dem Typ aus dem marineblauen Lieferwagen, zum Straßenrand. Wir mußten zu fünft auf das Autowrack zugerannt sein, getrieben von der alptraumhaften Vorstellung, der Tank des Unfallwagens könnte explodieren, was zum Glück ausblieb.
Das weiße Auto war wie eine Ziehharmonika zusammengeschoben, die Tür auf der Fahrerseite hoffnungslos verklemmt. Unter der Motorhaube entwich Dampf mit beängstigendem Zischen. Durch den Aufprall war das Mädchen mit dem Kopf voran gegen die Windschutzscheibe katapultiert worden, die spinnennetzartig geborsten war. Sie war bewußtlos, ihr Gesicht eine rote Masse. Ich zwang mich, den Anblick auszuhalten, obwohl ich instinktiv vor Entsetzen am liebsten davongelaufen wäre. Der Bursche aus dem marineblauen Lieferwagen riß mit einer Kraft, die nur die Not hervorbringt und unter normalen Umständen nicht wiederholbar ist, die Tür des Citycars beinahe aus den Angeln. Gemeinsam hoben wir das Mädchen aus dem Wagen und legten sie auf einen geschützten Platz an der Böschung. Ich deckte sie mit meiner Jacke zu und kauerte neben ihr. Der andere versuchte den Blutstrom aus den tiefsten Schnittwunden mit einem Tuch zu stillen. Er war Mitte Zwanzig, hatte dunkles lockiges Haar und schwarze Augen, in denen die Angst stand. Hinter mir fragte jemand, ob ich Erste Hilfe leisten könne, und in diesem Moment erst wurde mir klar, daß es noch weitere Verletzte gab. Ich drehte mich um zu dem Burschen aus dem Lieferwagen, der am Hals des Mädchens ihren Puls fühlte.
»Lebt sie?« fragte ich.
»Ja, alles in Ordnung.«
»Dann sehe ich mal, was ich da hinten machen kann«, erklärte ich. »Schreien Sie, wenn Sie mich brauchen.« Er nickte.
Ich ließ ihn allein bei dem Mädchen zurück, ging die Böschung entlang und zu einem sich windenden Mann, dessen Bein offenbar gebrochen war. Irgendwo ganz nah schluchzte eine Frau hysterisch, und ihre Schreie bildeten eine gespenstische Hintergrundkulisse zu dem Stöhnen der Verletzten. Der Fahrer des roten Porsche stand einfach da wie gelähmt unter dem Schock.
Mittlerweile kam der Verkehr auf der 101 nur noch im Kriechtempo voran, und die Leute in den Fahrzeugen reckten die Hälse, als ob eine Massenkarambolage eine Art Sportveranstaltung wäre und das hier das Entscheidungsspiel. Sirenen kamen näher. Die folgende Stunde verging in einem Durcheinander von Polizei- und Krankenwagen. Ich entdeckte in der Menge meinen Freund John Birkett, Fotoreporter einer Lokalzeitung, der nur Sekunden nach den Ambulanzen den Unfallort erreicht hatte. Und ich erinnere mich noch, daß ich staunte über die Geschwindigkeit, mit der sich die Nachricht von der Massenkarambolage offenbar verbreitet hatte. Ich sah zu, wie man das Mädchen in einen Krankenwagen schob. Die Blaulichter wurden ausgeschaltet, einige von uns machten vor den Beamten der Verkehrspolizei ihre Aussage, und untereinander besprachen wir den Hergang immer wieder, als könnte uns die ständige Wiederholung beruhigen und erleichtern. Ich kam erst gegen sieben Uhr abends nach Hause, und meine Hände zitterten noch immer. Das Chaos der erlebten Bilder machte den Schlaf zur Qual. Ständig schreckte ich auf, von Traumsequenzen gequält, in denen meine Füße wild zuckten, während ich wieder und wieder auf die Bremse trat.
Als ich in der Morgenzeitung vom Tod des Mädchens las, wurde mir fast übel vor Trauer. Caroline Spurrier war gerade zweiundzwanzig, sie kam aus Denver Colorado, wo ihre Familie lebte. Sie hatte Englisch am College in Santa Barbara studiert und hätte in zwei Monaten Examen gemacht. Das Foto zeigte schulterlanges, blondes Haar, helle Augen und ein spitzbübisches Lächeln. Dem Zeitungsbericht zufolge waren sechs weitere Personen verletzt worden, jedoch niemand lebensgefährlich. Der Tod des Mädchens legte sich wie ein kalter Hauch auf meine Brust, den ich nicht abschütteln konnte.
Mein Büro in der Stadt wurde frisch gestrichen, so daß ich die nächste Woche zu Hause Akten aufarbeitete. Am Donnerstag wollte ich gerade Mittagspause machen, als es klopfte. Ich öffnete die Tür. Im ersten Augenblick glaubte ich an die wundersame Wiederauferstehung des toten Mädchens, das gesund und mit dem feierlichen Ernst eines Gespensts vor mir stünde. Die Illusion schwand jedoch abrupt: Beim näheren Hinsehen erkannte ich eine blonde Frau Mitte Vierzig, deren Gesicht von Müdigkeit und Erschöpfung gezeichnet war.
»Ich bin Michelle Spurrier«, stellte sie sich vor. »Man hat mir gesagt, daß Sie Zeugin des Unfalls meiner Tochter gewesen sind.«
Ich trat einen Schritt zurück. »Bitte, kommen Sie doch rein. Es tut mir so leid, Mrs. Spurrier. Sie war ein so schönes Mädchen.«
Mrs. Spurrier ging wie eine Schlafwandlerin an mir vorbei.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«
Sie schüttelte den Kopf und sah sich verwirrt um, als ob sie sich nicht recht erinnern konnte, weshalb sie hergekommen war. Dann sank sie auf meine Couch, verbarg das Gesicht in den Händen und begann wie zu sich selbst zu sprechen. Ich mußte mich Vorbeugen, um sie überhaupt zu verstehen.
»Ich habe gerade den Autopsiebefund erfahren. Caroline ist erschossen worden. Die Polizei hat im Fenster auf der Beifahrerseite des Wagens einen Einschuß gefunden. Mein Gott! Wer tut denn so was?« Sie brach in Tränen aus. Ich saß eine Stunde lang neben ihr, während Trauer, Wut und Verzweiflung aus ihr herausbrachen. Schließlich brachte ich ihr ein Glas Wasser und eine Packung Papiertaschentücher. Ein kleiner Trost, vielleicht, aber im Augenblick konnte ich nicht mehr tun.
»Was hat die Polizei Ihnen gesagt?« erkundigte ich mich, als sie sich wieder gefaßt hatte.
Mrs. Spurrier putzte die Nase und holte tief Luft. »Der Beamte, mit dem ich heute vormittag gesprochen habe, meinte, es sähe ganz so aus, als ob jemand in der Gegend herumgeschossen und die Kugel sie zufällig getroffen habe. Aber das kann ich mir einfach nicht vorstellen.«
»So was ist in Los Angeles, weiß Gott, schon oft genug passiert«, erklärte ich.
»Ich will das nicht akzeptieren. Ein paar Tage vor ihrem Tod habe ich mit Caroline telefoniert. Sie hat mir dabei erzählt, daß sie mit einem jungen Mann Schluß gemacht habe, der sie mit seiner Eifersucht fast wahnsinnig gemacht hat. Er muß ihr seit Wochen, seit der Trennung, übel zugesetzt haben. Ich habe ihr geraten, zur Polizei zu gehen, aber sie scheint das nicht ernst genug genommen zu haben.«
»Und Sie wissen nicht, wer der junge Mann ist?«
»Seinen Namen hat sie nie erwähnt. Ich habe dem Polizeibeamten davon erzählt. Er hat sich alles notiert, aber das war’s auch schon. Ich habe keine Ahnung, ob sie dieser Spur überhaupt nachgehen.«
»Mrs. Spurrier, die Polizei hier arbeitet sehr effektiv. Ich bin sicher, die Polizei tut alles, was in ihrer Macht steht.«
»Sparen Sie sich diese Floskeln«, entgegnete sie bitter. »Lieutenant Dolan hat Sie mir als Privatdetektivin empfohlen. Ich möchte, daß Sie den Fall übernehmen. Vielleicht finden Sie ja was. Bitte!«
Normalerweise gehe ich Lieutenant Dolan geflissentlich aus dem Weg, obwohl ich gelegentlich den Verdacht habe, daß er mich erträglicher findet als die meisten anderen Privatdetektive. Vielleicht war das der Grund, weshalb er Mrs. Spurrier meinen Namen genannt hatte. Ich erklärte mich selbstvertändlich bereit, ihr zu helfen. Wie hätte ich das ausschlagen können? Von meiner Neugier mal ganz abgesehen, ließ mein Mitgefühl für die Mutter und ihre tote Tochter keine andere Wahl. Mrs. Spurrier wollte noch am Abend nach Denver zurückfliegen. Ich notierte mir ihre Adresse und Telefonnummer. Dann füllte ich den üblichen Normvertrag aus, verzichtete jedoch auf eine Anzahlung. Die Rechnung würde sie später bekommen.
Sobald Mrs. Spurrier gegangen war, schnappte ich mir Jacke und Handtasche und fuhr zum Polizeirevier, wo ich sechs Dollar für eine Kopie des Polizeiberichts investierte. Lieutenant Dolan war nicht da, doch ich plauderte zehn Minuten mit Emerald, der schwarzen Beamtin vom Erkennungsdienst. Emerald, eine schwergewichtige Frau Mitte Fünfzig, ist meiner Wißbegierde gegenüber normalerweise ziemlich zugeknöpft, jedoch eine leidenschaftliche Klatschtante. Da ich bei meiner Arbeit eine Menge aufschnappe, spare ich mir ein paar Leckerbissen für Gelegenheiten wie diese auf. Ich ließ mich daher über innerbehördliche Gerüchte aus und versuchte sie dann ganz offen über den Unfall auszuhorchen, da ich annahm, daß sie gut informiert war.
»Habt ihr schon eine heiße Spur?« wollte ich wissen. »Hat jemand gesehen, woher der Schuß kam?«
»Nein, Madam.«
Ich dachte plötzlich an den Burschen aus dem marineblauen Lieferwagen. Er war nur wenige Meter vor mir auf der rechten Spur gefahren, als der Unfall passierte. Und der Fahrer des roten Porsche? »Was ist mit den Zeugen? Es müssen mindestens ein halbes Dutzend am Unfallort gewesen sein. Wer ist vernommen worden?«
Emerald bedachte mich mit einem Blick der Entrüstung. »Sie wissen doch genau, daß Zeugennamen tabu sind.«
»Was ist mit den Freunden des Mädchens an der Uni? Hat Dolan mit ihnen gesprochen?«
»Ich kriege Schwierigkeiten, wenn ich aus der Schule plaudere. Versuchen Sie’s selbst rauszukriegen, wenn Sie’s so brennend interessiert.«
»Kommen Sie, Emerald. Dolan weiß, daß ich an dem Fall arbeite. Schließlich hat er Mrs. Spurrier meine Adresse gegeben. Ich mach’s Ihnen leicht. Nur einen Namen, bitte.«
»Und welcher soll das sein?« fragte sie mißtrauisch.
Ich beschrieb ihr den Mann aus dem Lieferwagen, da ich annahm, daß sie ihn auf ihrer Zeugenliste schon durch die Altersangabe herausfinden könnte.
Widerwillig sah sie die Liste durch. Ihre Miene veränderte sich schlagartig.
»Ach der«, seufzte sie. »Hätte mir denken können, daß Sie sich ausgerechnet den rauspicken würden. Der Bursche aus dem Lieferwagen hat ’ne falsche Adresse angegeben. Benno Secco sollte er angeblich heißen, aber das war auch erfunden. Die Telefonnummer gab’s ebenfalls nicht. Sieht so aus, als sei er spurlos verschwunden.«
»Das ist ja komisch. Glauben Sie, er hatte was mit der Sache zu tun?«
»Wer weiß? Vielleicht steht er irgendwo auf der Fahndungsliste, oder so«, vermutete Emerald.
Hinter mir ertönte eine Stimme. »Sieh mal einer an. Kin-sey Millhone. Und eifrig bei der Arbeit, wie ich sehe.«
Emerald machte sich augenblicklich dünn. Ich drehte mich um und fand mich Lieutenant Dolan gegenüber, der, auf den Absätzen wippend, im Türrahmen stand. Er hatte die Hände in den Taschen und ein Grinsen im Gesicht, das denen, die ihn kannten, schlechte Laune signalisierte. Ich suchte krampfhaft nach einer schlagfertigen Entgegnung, doch es fiel mir nichts ein. Ich faltete den Polizeibericht zusammen und steckte ihn in die Tasche. »Ich wollte mir nur ein paar Anhaltspunkte holen. Der Tod des Mädchens hat mich ziemlich getroffen.«
Zu meinem Erstaunen schlug er sofort einen anderen Ton an. »Mich auch«, gestand er.
»Was ist denn das für eine Geschichte mit dem verschwundenen Zeugen?«
Er warf einen grimmigen Blick in Emeralds Richtung, beschloß jedoch offenbar, das Hühnchen erst dann mit ihr zu rupfen, wenn ich fort war.
»Würde ich auch gern wissen. Hat er was zu Ihnen gesagt?«
»Nicht viel. Aber ich würde ihn jederzeit wiedererkennen. Es muß doch einen Weg geben, ihn ausfindig zu machen, meinen Sie nicht?«
»Ich hab’ schon alles versucht«, entgegnete er. »Wenn sich jemand an was erinnert, dann nur an den Lieferwagen, den er gefahren hat. Ein Toyota. Vielleicht vier, fünf Jahre alt.«
»Es würde sicher was bringen, wenn ich selbst mit den anderen Zeugen sprechen könnte.«
Er musterte mich einen Moment prüfend, griff dann nach der Akte, zog die Zeugenliste heraus und gab sie mir.
»Brauchen Sie die nicht?« wollte ich wissen.
»Ich habe eine Kopie. Wir bleiben in Kontakt, ja? Ich möchte nicht, daß Ihnen auch was zustößt.«
Ich steckte die Liste in die Tasche. »Danke.«
Dolan zeigte mit dem Finger auf mich. »Wenn Sie in diesem Fall ein Karnickel aus dem Hut zaubern, bastel ich Ihnen einen Orden.«
Übernehmen Sie sich nicht, dachte ich. Ich ging zu meinem Wagen, setzte mich hinters Steuer und dachte nach. Es mußte eine Möglichkeit geben, den Burschen aus dem Lieferwagen zu finden. Vermutlich wegen der Umstände unserer Begegnung hatten sich mir seine Züge unauslöschlich eingeprägt. Er war ungefähr einen Meter achtzig groß, kräftig, hatte dunkles, welliges Haar, war glatt rasiert und hatte am Mundwinkel eine kleine Narbe. Ich dachte an den Lieferwagen und versuchte mich an irgendeine Besonderheit zu erinnern. Mir war weder eine Firmenadresse noch irgendeine andere Aufschrift aufgefallen. Auch hatte auf der Ladefläche keinerlei Gerät gelegen, das einen Hinweis auf seinen Beruf gegeben hätte. Es war frustrierend, aber vielleicht würde mir noch etwas einfallen. Möglicherweise hatte er mit dem Unfall gar nichts zu tun. Trotzdem gab es zu denken, daß er untergetaucht war. Warum hatte der Bursche einen falschen Namen und eine fiktive Adresse angegeben?
Schließlich fuhr ich zum Universitätsgelände hinaus und unterhielt mich mit der Zimmergenossin von Caroline Spurrier, Judy Layton, die unaufhörlich redete, während sie Küchenschränke leerte und den Inhalt in diverse Pappkartons packte. Zuerst machte ich höflich Konversation, während sie Eßteller in Zeitungspapier wickelte und Kartons stapelte. Die Wohnung war eine typische Studentenbude: ein bißchen schäbig, buntmöbliert mit Gegenständen, die vermutlich aus irgendeinem Schuppen stammten.
»Wie lange haben Sie Caroline gekannt?«
»Ungefähr ein Jahr«, erwiderte Judy. »Meine erste Mitbewohnerin hat vergangenes Jahr Examen gemacht. Caroline und ich haben uns bei der Zimmervermittlung kennengelernt.«
»Und weshalb ziehen Sie jetzt aus?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich ziehe wieder zu meiner Familie. Es ist zu spät, für das restliche Semester noch jemanden zu finden, und allein kann ich mir die Wohnung nicht leisten.«
Judy Layton war zweiundzwanzig, sie studierte Englisch im vorletzten Semester und stammte aus der Stadt. Ihrer Aussage nach war Caroline eine gute Studentin und ein unternehmungslustiges Mädchen gewesen, die sich kein Vergnügen hatte entgehen lassen und trotzdem blendende Noten geschrieben hatte.
»Hatte sie einen Freund?«
»Sie hatte ’ne Menge Freunde.«
»Erinnern Sie sich an einen besonderen?«
Judy schüttelte den Kopf und konzentrierte sich auf die Arbeit.
»Caroline hatte ihrer Mutter erzählt, sie habe gerade mit einem Jungen Schluß gemacht, der sie bedrohte. Wissen Sie, von wem die Rede gewesen sein könnte?«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe mir die Jungs nicht gemerkt, mit denen sie sich eingelassen hat.«
»Aber wenn der Kerl soviel Schwierigkeiten gemacht hat, müssen Sie sich doch an ihn erinnern?«
»Hören Sie. Caroline und ich haben die Wohnung geteilt, das war’s. Wir waren nicht unbedingt befreundet. Jeder ist seiner Wege gegangen. Und wenn ein Typ sie belästigt hat, dann hat sie mir das doch nicht erzählt.«
»Ihres Wissens hatte sie also keine Probleme?«
»Nein.« Ihre Stimme wurde scharf. Sie wirkte trotzig.
Ich starrte sie an. »Judy, Leute werden nicht völlig grundlos ermordet. Es muß was passiert sein.«
»Seit wann war es Mord? Der Polizist, mit dem ich geredet habe, hat gesagt, sie sei in eine Schießerei auf der Schnellstraße geraten, die irgendein Motorradrowdy angezettelt hat.«
»Ihre Mutter ist anderer Meinung.«
»Ich kann Ihnen jedenfalls nicht helfen«, entgegnete sie eigensinnig. Ich fixierte sie düster und schweigend und hoffte, sie auf diese Weise zum Reden zu bewegen. Fehlanzeige. Falls sie mehr wußte, war sie offenbar entschlossen, es für sich zu behalten. Ich hinterließ meine Visitenkarte und bat sie, mich anzurufen, sobald ihr etwas einfiel.
Die folgenden beiden Tage verbrachte ich damit, die anderen Zeugen auf der Liste durchzugehen und mit jedem einzelnen zu sprechen. Wie Emerald bereits angedeutet hatte, hatte niemand etwas gesehen. Der Fahrer des Lieferwagens allerdings ging mir nicht aus dem Sinn. Welchen Grund konnte er haben, sich zu verstecken? Ich schnitt den Zeitungsbericht über Caroline Spurriers Tod aus und heftete ihr Foto an die Pinnwand über meinem Schreibtisch. Sie sah mit einem Lächeln auf mich herab, das plötzlich eher rätselhaft als spitzbübisch auf mich wirkte.
Der Gedanke, ihrer Mutter sagen zu müssen, ich sei mit meinen Nachforschungen in eine Sackgasse geraten, war mir unerträglich. Ich saß gerade an meiner Schreibmaschine, als mir plötzlich eine Idee kam. John Birkett war mir eingefallen, der Fotoreporter, der das Autowrack am Unfallort von allen Seiten fotografiert hatte. Falls er zufällig auch den Burschen aus dem Lieferwagen abgelichtet hatte, könnte ich der Polizei wenigstens etwas vorweisen. Ich griff nach dem Telefonhörer und rief Birkett an. Zwanzig Minuten später stand ich in seinem winzigen Büro. Wir hatten die Köpfe zusammengesteckt und prüften die Kontaktabzüge vom Unfallort.
»Fehlanzeige«, seufte John. »Das hier ist nicht übel, aber unscharf. Verdammter Mist. Ich habe ihn kein einziges Mal richtig vor die Linse gekriegt.«
»Was ist mit dem Lieferwagen?«
John zog weitere Kontaktabzüge hervor, die alle das Wrack des Citycars aus verschiedenen Blickwinkeln zeigten. »Da kannst du ihn im Hintergrund sehen. Hilft das?«
»Könnte man den Ausschnitt vergrößern?«
»Kommt auf den Versuch an. Interessiert dich was Bestimmtes?«
»Das Nummernschild.«
»Klar.«
Das Nummernschild des Staates Kalifornien wies eine siebenstellige Kombination aus Zahlen und Buchstaben auf, die wir schließlich auf einer unscharfen, grobkörnigen Vergrößerung ausklügelten. Natürlich hätte ich Lieutenant Dolan den Besitzer des Wagens ausfindig machen lassen sollen, doch ich bekenne mich zu einem gewissen Egoismus, der gelegentlich über meinen gesunden Menschenverstand siegt. Ich wollte den Fall nicht an Dolan zurückgeben, wenigstens jetzt noch nicht. Also rief ich einen Freund bei der Kraftfahrzeugstelle an und bat ihn, den Besitzer des Kennzeichens ausfindig zu machen.
Wie sich herausstellte, gehörte das Nummernschild zu einem marineblauen Toyota-Lieferwagen, Baujahr 1984. Als Eigentümer war ein gewisser Ron Cagle mit einer Adresse im McClatchy Way eingetragen.
Es war ein mit Stuck verziertes Haus, dunkelgrau gestrichen, die Fenster weiß abgesetzt. Mein Herz klopfte schneller, als ich auf die Klingel drückte. Das Gesicht des Lieferwagenfahrers hatte ich mittlerweile derart verinnerlicht, daß ich nur stumm glotzte, als die Tür schließlich geöffnet wurde. Vor mir stand ein breitschultriger Mann, gut ein Meter neunzig groß, mit kantigem Kinn, gerötetem Teint, braunem Haar und rötlichem Schnurrbart. »Ja bitte?«
»Ich möchte zu Ron Cagle.«
»Das bin ich.«
»Sie?« Die Stimme versagte mir wie einem Kind in der Pubertät. Ich warf einen Blick auf einen Zettel in meiner Hand. »Gehört Ihnen ein marineblauer Lieferwagen?« Ich las das Kennzeichen ab.
Er sah mich verwundert an. »Ja, das ist mein Lieferwagen. Stimmt was nicht?«
»Das weiß ich noch nicht. Haben Sie den Wagen kürzlich verliehen?«
»Nein, schon seit einem halben Jahr nicht mehr.«
»Sind Sie sicher?«
Er lachte. »Überzeugen Sie sich selbst. Er steht gleich draußen in der Einfahrt.« Damit zog er die Tür zu und ging voraus über die Veranda zur Einfahrt. Dort stand ein marineblauer Lieferwagen aufgebockt, ohne Räder. Die Motorhaube war geöffnet, und dort, wo der Motor hätte sein sollen, gähnte ein schwarzes Loch. »Also, was ist damit?« fragte er freundlich.
»Genau das wollte ich Sie fragen. Dieser Lieferwagen war vergangenen Freitag am Ort eines Unfalls. Dabei ist ein Mädchen getötet worden.«
»Der hier bestimmt nicht«, widersprach er. »Der hat immer hier gestanden.«
Wortlos zog ich die Fotos aus der Tasche. »Ist das vielleicht nicht Ihr Wagen?«
Er betrachtete die Bilder stimrunzelnd. »Sieht genauso aus.«
»Ist das nicht Ihr Kennzeichen?«
»Ja, doch«, gab er zu. Er schien nicht minder verwirrt als ich. Wir sahen vom Foto zum Lieferwagen und versuchten uns einen Reim darauf zu machen. Schließlich ging er um den Wagen herum, öffnete die Tür auf der Fahrerseite und kramte im Handschuhfach, bis er den Kraftfahrzeugschein gefunden hatte. Er hatte des Rätsels Lösung zuerst. »Da haben wir es«, sagte er. »Hier sehen Sie mal.«
Er reichte mir den Kraftfahrzeugschein. Das eingetragene Kennzeichen entsprach dem Nummernschild auf dem Zettel in meiner Hand.
»Na und?« fragte ich.
Er zeigte mit dem Finger auf das Nummernschild am Lieferwagen. Es zeigte eine völlig andere Kombination von Zahlen und Buchstaben.
Ich brauchte eine gute halbe Minute, bis es mir schließlich dämmerte. »Jemand hat einen Lieferwagen gestohlen und das Nummernschild mit Ihrem vertauscht«, erklärte ich.
»So sehe ich das auch.«
Diesmal rief ich Lieutenant Dolan an und berichtete ihm, was ich herausgefunden hatte. Er sagte, daß er eine Fahndung ausschreiben würde. Falls das gestohlene Fahrzeug noch in der Gegend war, würde man es bald ausfindig machen, doch das war mir zu ungewiß. Immerhin war der gute Samariter vor der Polizei auf der Flucht und konnte den Staat längst verlassen haben. Möglicherweise hatte er das >heiße< Fahrzeug auch einfach irgendwo stehengelassen. Genausogut konnte es sein, daß wir mit der Suche nach ihm nur Zeit vergeudeten. Vielleicht hatte er mit dem Unfall gar nichts zu tun oder hatte eine vernünftige Erklärung für alles. In meinem Job versucht man keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen, obwohl das zugegebenermaßen verlockend war.
Eine Woche verstrich, ohne daß etwas geschah. Die Ereignislosigkeit war entmutigend. Wenn ein Fall kurz vor der Auflösung ist, dann überstürzt sich meist alles, aber diesmal wurde die Chance, diesen Fall zu knacken, mit jedem Tag geringer. Ich tippte einen Bericht für Mrs. Spurrier, um sie auf dem laufenden zu halten. Ansonsten war ich ziemlich ruhelos und ertappte mich dabei, wie ich in meiner freien Zeit ziellos durch die Straßen fuhr und nur noch Augen für parkende Autos hatte. Caroline Spurriers Foto hing weiterhin an meinem Pinboard über dem Schreibtisch, und ihr Lächeln schien immer spöttischer zu werden, während ein Tag nach dem anderen verging.
Trotzig nahm ich mir erneut die Zeugen vor, fuhr zu jedem einzelnen auf der Liste. Die meisten wollten durchaus helfen, konnten ihrer Aussage jedoch nichts hinzufügen. Schließlich machte ich mich auf den Weg zum Campus und zu Carolines Zimmergenossin. Sie mußte mehr wissen, als sie zugegeben hatte. Vielleicht gelang es mir doch noch, ihr die nötigen Informationen zu entlocken. Ich fand die Wohnung verschlossen. Nachdem ich mir Judy Laytons neue Adresse beim Hausmeister besorgt hatte, fuhr ich zum Haus ihrer Eltern in Colgate hinaus, einem kleinen Vorort nördlich von Santa Teresa.
Ich landete vor einem hübschen, stuckverzierten Haus mit angebauter Garage für drei Autos. Ich klingelte. Während ich wartete, blickte ich mich um. Die Straße war breit, von Bäumen gesäumt und hatte einen Mittelstreifen mit Rasen und blühenden Büschen. Ich drückte erneut auf die Klingel. Offenbar war niemand zu Hause. Schließlich ging ich die Verandatreppe wieder hinunter und blieb in der Einfahrt stehen. Eigentlich war ich schon auf dem Weg zum Auto, das am Straßenrand parkte, doch statt dessen wandte ich mich unwillkürlich der Garage zu. Es gibt Augenblicke in meinem Beruf, da sagt einem eine innere Stimme, daß etwas faul ist. Ich wölbte die Hände über die Augen und starrte angestrengt durchs Fenster in die Garage. Dort im Halbdunkel entdeckte ich einen Toyota-Lieferwagen ohne Lackierung.
Mein Herz begann heftig zu klopfen, als ich die Klinke der Garagentür hinunterdrückte. Sie war offen. Ich ging hinein. Drinnen roch es nach Grundierung, Staub und Motoröl. Der Lieferwagen hatte keine Nummernschilder. Hastig durchsuchte ich die Fahrerkabine. Unter dem Fahrersitz entdeckte ich die Pistole. Ich berührte nichts, machte die Tür leise wieder zu und trat den Rückzug an. Im Dauerlauf hastete ich auf die Straße. Ich mußte zum nächsten Telefon und die Polizei benachrichtigen. Ich hatte gerade den Motor angelassen und den ersten Gang eingelegt, als ich den Mann vom Unfallort sah. Er saß in einem dunkelgrünen VW-Bus, der mir auf der gegenüberliegenden Fahrbahn entgegenkam und deutlich erkennbar auf die Einfahrt der Laytons zufuhr. War das Judys Bruder? Jetzt, da ich beide kennengelernt hatte, schien die Ähnlichkeit auf der Hand zu liegen. Kein Wunder, daß sie mir nichts hatte erzählen wollen. Der Busfahrer bremste ab, um die Straße zu überqueren, als sein Blick auf mich fiel. Falls ich noch Zweifel an seiner Schuld gehabt hatte, schwanden diese in dem Moment, als sich unsere Blicke trafen. Überraschung machte panischer Angst Platz, und er trat aufs Gas. Ich raste hinter ihm her. An der nächsten Ecke bog er mit quietschenden Reifen ab und war verschwunden. Ich versuchte verzweifelt, an ihm dran zu bleiben, zu erraten, welchen Weg er eingeschlagen hatte, obwohl er außer Sichtweite war. Allerdings war das Heulen seines Motors mir Wegweiser genug. Er fuhr in Richtung Freeway. Von der Überführung aus entdeckte ich ihn schließlich auf der südlich führenden Fahrspur in Richtung Stadt. Er war nicht zu übersehen. Die kastenförmige Silhouette des VW-Busses war schon von weitem erkennbar. Ich holte den Bus ein, als sich der Verkehrsfluß unvermittelt verlangsamte. Ich wußte nicht, ob die Ursache für das stockende Tempo ein Auffahrunfall auf der Gegenfahrbahn oder eine gesperrte Spur auf unserer Seite war. Immerhin verschaffte mir die Situation den erhofften Vorteil. Ich versuchte, ihn links zu überholen. Er sah mich, drückte aufs Gaspedal und brach nach rechts aus. Kies spritzte hinter seinen Reifen auf, als er auf dem Bankett weiterraste, Büsche streifte und die Autos auf der Kriechspur überholte. Ich war direkt hinter ihm. Die Nadel meines Tachos zeigte fast hundert, ich blieb so dicht an ihm dran, wie ich es wagen konnte. Insgeheim betete ich inständig, die Verkehrsüberwachung möge die halsbrecherische Jagd entdecken, doch weit und breit war kein Polizist zu sehen. Dann bremste er abrupt und zwang mich damit, ebenfalls die Geschwindigkeit zu verringern, gab jedoch sofort wieder Gas und hängte mich in einer Staubwolke ab. Dabei beobachtete er mich unaufhörlich durch den Rückspiegel, und unsere Blicke drückten wilde Entschlossenheit aus. Ich sah den Arbeitstrupp Sekunden früher als er. Männer in grell-orangefarbenen Westen arbeiteten neben einem Kranfahrzeug, das auf der Kriechspur parkte. Er hatte weder die Chance, rechtzeitig anzuhalten, noch die Möglichkeit auszuweichen. Sein VW-Bus bohrte sich in das Kranfahrzeug mit einem Krachen und Bersten, die das Blut in meinen Adern gefrieren ließen. Ich trat auf die Bremse. Mein Käfer kam nur eine Handbreit hinter seiner Stoßstange zum Stehen. Alptraumgleich wiederholte sich nun der Horror des ersten Unfalls. Polizei und Sanitäter, Fotografen, die das Fahrzeugwrack ablichteten, die Sirene der Ambulanz, die die Leiche abtransportierte. Als ich schließlich aufhörte zu zittern, wurde mir plötzlich klar, wo wir uns befanden. Der Arbeitstrupp war dabei gewesen, das große Autobahnhinweisschild wieder aufzustellen, das Caroline Spurrier mit ihrem Citycar umgefahren hatte. Layton hatte sein unrühmliches Ende also an der Stelle gefunden, wo er sie umgebracht hatte. Ihr Lächeln, mit dem sie von meiner Pinnwand auf mich herabschaut, sieht jetzt wieder richtig spitzbübisch aus.
Ich hinterließ einen Zylinder mit einem Karnickel auf Lieutenant Dolans Schreibtisch. Insgeheim jedoch wünschte ich mir die Zauberkraft, die junge Frau wieder lebendig machen zu können. Aber ich habe mein Bestes getan, und das muß genügen.