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Freitag, 13. Oktober 1837

 

Charmaine schrak hoch und saß gleich darauf senkrecht in Pierres Bett. Sie war aufgewacht, weil jemand weinte. Rasch schlich sie zu Jeannette hinüber und setzte sich zu ihr. »Wach auf, mein Schatz, du hast schlecht geträumt.«

Ganz langsam tauchte das Mädchen aus den Tiefen des Schlafs empor. »Oh, Mademoiselle«, wimmerte sie, »wir waren mit Johnny im Ruderboot. Es fing an zu schaukeln … und Pierre fiel ins Wasser! Aber dann fing er an zu schwimmen und hat es, glaube ich, geschafft.« Sie stöhnte aus tiefstem Herzen. »Warum ist das nicht in Wirklichkeit auch so gewesen? Ich vermisse meinen Bruder so sehr!«

»Ich weiß, mein Mädchen, ich weiß«, tröstete Charmaine sie. »Aber er ist jetzt bei deiner Mama. Sie passt auf ihn auf und ist nicht mehr allein.«

Charmaine liebkoste das verzweifelte Mädchen und strich ihr sanft das Haar zurück, bis sie wieder ruhiger atmete. Als sie sicher war, dass Jeannette eingeschlafen war, zog sie die Decke über das Mädchen und küsste sie auf die Wange. Dann erhob sie sich und trat hinaus auf den Balkon. Der Regen hatte aufgehört, und sie spürte, wie die Luft in ihrem Nacken spielte und den Schmerz in ihrer Brust ein wenig erleichterte. Aber dieser erholsame Moment war nicht von Dauer. Mutlos ließ Charmaine den Kopf sinken und musste heftig schlucken, um ihre Tränen zu unterdrücken.

Noch vor einer Woche hatten sie wie im Paradies gelebt. Vor einer Woche war sie mit den Kindern und John in den Wald gegangen, und zusammen hatten sie einen wunderbaren Tag an dem versteckten See verbracht. Und dann war die zauberhafte Woche jäh zu Ende gegangen, als am Abend Yvettes Schritte und lautes Geschrei sie aus dem ersten Schlaf gerissen hatten. Heute konnte Charmaine über diese Aufregung nur lachen. Ein solches Theater … und alles wegen eines Kartenspiels!

Aber all das war jetzt vorbei. Am vergangenen Tag hatten sie Pierre zu Grabe getragen, und zwar unter einer gleißend hellen Sonne, die alle Lügen und Wahrheiten, allen Streit und alle Enthüllungen des frühen Morgens überstrahlte. Johns Augen waren so trocken geblieben wie dieser herrliche Tag voll verlogener Versprechungen, und selbst das war eine Lüge.

Nichts als Lügen …

Frederic hatte sich mit einer Hand auf Jeannettes zarte Schultern gestützt und mit der anderen auf seinen schwarzen Stock, als er den kleinen Sarg auf dem Weg von der Kapelle zum Friedhof begleitet hatte, wo Pierre neben Colettes Grab seine letzte Ruhe finden sollte.

Yvette hatte versucht, John zu trösten, doch der war seinen Weg allein gegangen. Nach einer Weile hatte sie sich stattdessen zu Charmaine gesellt und den ganzen Weg über mit gesenktem Kopf schniefend gegen die Tränen gekämpft.

Alle Bewohner des Hauses waren dem Sarg gefolgt, nicht zuletzt auch Rose und George. Am Grab hatte George seinem Freund den Arm um die Schultern gelegt und reglos bis zum Ende bei ihm ausgeharrt, hatte zugesehen, wie die Erde auf den kleinen Sarg gehäuft wurde und wie Jeannette nach vorn getreten war und Pierres ausgestopftes Lämmchen auf den Erdhügel gelegt hatte.

Wie versteinert hatten Vater und Sohn einander kein einziges Mal angesehen. Doch kaum dass die Gesellschaft zu Hause angekommen war, waren schwarze Wolken aufgezogen, und der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und all die Tränen geweint, die Vater und Sohn nicht hatten weinen können. Der restliche Tag war in stiller Trauer vergangen.

Charmaine wischte sich die Tränen ab. Eigentlich hätte sie in ihrem eigenen Zimmer schlafen müssen, doch sie hatte noch nicht den Mut gefunden, in dem Bett zu schlafen, in dem Pierre gestorben war. Früher oder später musste sie es tun, aber heute noch nicht.

Sie drehte sich um, als sie ein Geräusch am Ende der Veranda vernahm. Es war Paul, der langsam zu ihr herüberkam. Seit sie ihn schlafend im Sessel vorgefunden hatte, waren sie nicht mehr allein gewesen. Und das schien bereits Ewigkeiten zurückzuliegen.

Sie bemerkte seinen kummervollen Blick und seine tiefe Traurigkeit.

»Es ist schon spät«, flüsterte er. »Konnten Sie nicht schlafen?«

»Ich bin immer wieder aufgewacht. Ich hoffe, dass ich irgendwann so müde bin, dass ich das Denken vergesse …«

Die Worte erstarben auf ihren Lippen, als Paul sie wortlos in seine Arme zog. Sie hielt sich an ihm fest, vergrub den Kopf an seiner Brust und musste sich große Mühe geben, um nicht zu weinen. Sanft strich er über ihr Haar und über ihren Rücken. »Es ist gut, Charmaine, weinen Sie doch endlich«, sagte er leise. »Bis heute waren Sie stark für uns alle, aber jetzt will ich endlich für Sie da sein.«

Da war es mit ihrer Beherrschung vorbei.

»Genau das wollte ich schon gestern tun«, sagte er nach einer ganzen Weile.

»Ich weiß.« Das klang zwar kläglich, aber sie presste ihr Gesicht noch immer an sein Hemd und konnte ihre Tränen nicht aufhalten.

»Wir müssen diesen Schmerz überwinden, dann werden auch wieder glücklichere Tage kommen.«

»Ich bete zu Gott, dass Sie recht behalten, Paul. Ich weiß nicht, wie ich ohne Pierre leben soll. Ich vermisse ihn schon jetzt.«

»Ich verspreche Ihnen, dass Sie das lernen werden, Charmaine. Das verspreche ich Ihnen.«

Sie hielten einander noch eine ganze Weile fest. Als der größte Schmerz vorüber war, trat Charmaine einen Schritt zurück. Paul ließ sich gegen die Balustrade sinken und zog sie neben sich. Dabei legte er einen Arm um ihre Schultern.

»Vielleicht können wir ja morgen etwas mit den Mädchen unternehmen«, schlug er vor. »Vielleicht einen Ausflug in die Stadt?«

Charmaine schmiegte ihren Kopf an seine Brust und gab ihm schweigend zu verstehen, wie sehr ihr seine Sorge um die Kinder gefiel.

Als es sehr viel später wieder zu regnen begann, kehrte Paul in seine Räume zurück. Zart fuhr er mit den Lippen über die ihren und wünschte ihr leise eine gute Nacht.

Charmaine sah ihm nach. Dann kehrte sie in ihr eigenes Zimmer zurück, zog die Decke beiseite und schlüpfte zwischen die Laken. Lange konnte sie nicht einschlafen, doch als sie ihr Kissen in die Arme nahm, spürte sie, wie sicher Pauls Arme sie umfasst hielten … und ihre Lider wurden schwer.

Samstag, 14. Oktober 1837

 

Wenn du immer nur das Schlimmste glauben willst, dann tue es, Frederic … Frederic schrak hoch. Er hatte im Traum mit Colette gestritten, und sie hatte ihn wie in den ersten Wochen ihrer Ehe mit blitzenden Augen angestarrt. Aber diese Worte hatte sie erst vor nicht allzu langer Zeit zu ihm gesagt … ungefähr einen Monat vor ihrem Tod.

Er schloss die Augen und wollte den Traum wiederfinden, aber als die Minuten vergingen und nichts geschah, stand er auf.

Obwohl die französischen Türen seines Zimmers nach Norden zeigten, spiegelte sich das Licht der Morgendämmerung in den Tropfen an den Lamellen der Fensterläden und warf bunte Reflexe in den düsteren Raum. Frederic sank in seinen Lehnsessel und starrte auf die hellen Punkte, bis er alles um sich herum nur noch als Hell und Dunkel wahrnahm.

Er hatte diesen Raum satt und erst recht sein Dasein in diesem selbstgewählten Gefängnis. Er dachte an John und spürte, wie ihn ein Gefühl beschlich, das er erst langsam entdeckte. Seine Augen wurden feucht, als er begriff, dass er diesen Sohn liebte, sogar sehr liebte. Ja, mehr noch, dass er ihn bewunderte. Kalt und ablehnend zu sein war sehr viel leichter als mild und mitfühlend. Durch Eifersucht und Schmerz hatte er sich von dem Einzigen fernhalten lassen, das ihn hätte heilen können: von seinem eigen Fleisch und Blut. Im Gegensatz zu seinem Vater hatte John die Last nicht auf andere abgeladen. Trotz all seiner Wut und seiner Fehler konnte John mit sich und mit seinen Entscheidungen leben.

Frederic senkte den Kopf. Wann war er eigentlich ein solch bemitleidenswerter Idiot geworden, dem niemals verziehen werden würde, wie John gesagt hatte? Warum sollte er ihm auch verzeihen?

Pierre war tot – diese Wahrheit schnitt ihm wie ein Messer ins Fleisch. Pierre ist tot, weil du mich hasst. Solch weitreichende Folgen seiner Verbitterung hatte Frederic nicht bedacht und auch nie erwartet, dass sie sich eines Tages auf ihn selbst auswirken würden. War er schon so verkommen, dass er die Vernichtung seiner Familie in Kauf nahm? Und schlimmer noch, den Tod eines unschuldigen Jungen? Er musste sich endlich seiner Vergangenheit stellen. Er hatte Elizabeth und John und auch Colette schmählich im Stich gelassen.

Colette … Er hatte sie vom ersten Augenblick an falsch eingeschätzt. Als sie im Alter von siebzehn Jahren auf die Insel gekommen war, hatte ihm ihre zauberhafte Schönheit den Atem geraubt. Aber noch beunruhigender war ihr Benehmen – etwas in ihrer Art zu sprechen und sich zu bewegen, das ihn stark an Elizabeth erinnerte, hatte ihn täglich mehr fasziniert, bis er sich kaum noch beherrschen konnte.

Aber Colettes Absichten waren genauso verwirrend. John war hingerissen, doch Frederic blieb argwöhnisch. In erster Linie wegen der Mutter. Er hatte die Frau schnell durchschaut und die Sorge um zukünftige Armut in ihrem Blick gelesen. Und dann Paul. Man hatte ihn einfach ausgebootet, als Colette erfuhr, dass er kein Vermögen erben würde. Und natürlich das Mädchen selbst, das im dekadenten Frankreich geboren und aufgewachsen war. Ihre ungewohnte Freizügigkeit war ihm sofort aufgefallen, und er war überzeugt, dass sie seinem Sohn durchaus das eine oder andere beibringen konnte. Was die frechen Bemerkungen zu bestätigen schienen, die er hin und wieder im Vorbeigehen aufschnappte. Das Mädchen war sogar so weit gegangen, auch mit ihm zu flirten, was ihn ernsthaft an ihrer Unschuld zweifeln ließ. Womöglich war die angebliche Unschuld nur ein Vorwand, um John zur Hochzeit zu bewegen. Getreu dem Motto, dass ihren Körper nur derjenige bekam, der ihr einen Ring an den Finger steckte und ein größeres Guthaben auf der Bank besaß. Ganz offensichtlich tat diese fast verarmte Familie alles, um ihre jammervolle Situation zu verbessern.

Was John anging, so hatte Frederic nichts dagegen, wenn der junge Mann seinen Spaß hatte. Andererseits hielt er ihn noch für viel zu jung und zu undiszipliniert für eine Ehe. Im Gegensatz zu seinem fleißigen Bruder war John auch als Student kein Vorbild gewesen. Seine Musikstudien waren die Ausnahme, aber sonst fehlte es ihm an Geduld, um lange Vorträge anzuhören oder gar Examen abzulegen. Frederic hatte immer wieder Briefe von der Universität erhalten, die Johns Lustlosigkeit und häufige Abwesenheiten vom Unterricht beklagten. Es gab nur noch wenige Lehrer, die ihn überhaupt in ihren Vorlesungen duldeten, da er ihre Behauptungen mit Vorliebe in Zweifel zog und sie vor den anderen Studenten zu blamieren suchte, damit diese ihren Spaß hatten. Obwohl die Sorbonne nur ungern auf das Geld der Duvoisins verzichtete, kamen die Professoren überein, John mit entsprechenden Noten bestehen zu lassen und auf seine geschätzte Anwesenheit während des nächsten Semesters zu verzichten. Da die Universität John nicht hatte zähmen können, setzte sein Vater für die Zukunft auf harte Arbeit und praktische Erfahrungen, bevor an eine Hochzeit zu denken war.

Als Frederic eines Tages zufällig hörte, wie Colette ihrer Freundin erzählte, dass die Spielchen mit John wesentlich mühsamer waren, als Stallknechte auf dem Heuboden zu küssen, hatte er endgültig genug. Er wollte nicht zusehen, wie sie ihre Gunst irgendeinem Dahergelaufenen schenkte und vor dem naiven John die Jungfrau spielte! Nein. Es war an der Zeit, dass Colette mit einem wirklichen Mann Bekanntschaft machte, der ihre Spielchen durchschaute und ihr den Kopf zurechtrückte. Falls sie es wirklich auf das Geld abgesehen hatte, würde außerdem verhindert, dass sein Sohn auf eine Geschäftemacherin hereinfiel … und sei sie auch noch so schön. Natürlich würde John wüten und toben, aber das kannte Frederic bereits. Es gab eine Menge anderer Frauen, die er erobern konnte. Mit der Zeit würde sich seine Empörung legen, und womöglich würde er eines Tages seinem Vater sogar Beifall zollen.

Unvermittelt tauchten Bilder vor Frederic auf … Bilder der Nacht, die Colettes Schicksal besiegelte …

Nach einem anstrengenden Tag auf den Zuckerrohrfeldern war er müde nach Hause gekommen. Bis auf einige Lichter in der Halle war das Haus dunkel. Er nahm an, dass alle im Bett waren, und ging in die Küche, um etwas zu trinken. Als er das Esszimmer durchquerte, hörte er Gekicher und Geflüster aus dem Garten. Er trat ein Stück näher, bis er Colette und ihre Freundin in angeregter Unterhaltung erblickte. Sie sprachen zwar Französisch, aber Frederic konnte die Sprache gut genug, um dem Geplänkel zu folgen.

»Ich behaupte trotzdem, dass Paul sehr viel besser aussieht«, sagte Pascale, »nur ist er leider nicht der reiche Bruder.«

Frederic mühte sich, die Antwort zu verstehen, aber Colette sprach zu undeutlich.

»Der Vater ist aber auch nicht zu verachten. Es wäre doch die reinste Verschwendung, ihn deiner Mutter zu überlassen. Ob ich einmal mein Glück versuche?«

»Psst! Sei still!«, zischte Colette und rückte enger zu Pascale. »Jemand könnte dich hören!«

»Ich schlage vor, dass du dich an ihn heranmachst. Ich glaube, er findet dich attraktiv!«

»Hör auf damit, Pascale!«, warnte Colette. »Allerdings würde ich gern das Küssen mit ihm üben«, fügte sie mit schamlosem Lachen hinzu.

»Klingt nicht übel.« Pascale kicherte. »Ich bin sicher, dass er das bestens kann. Und ein bisschen Training täte dir vor der Hochzeitsnacht sicher gut.« Sie kicherten immer lauter.

»Du bist einfach furchtbar, Pascale!« Unwillig schnalzte Colette mit der Zunge.

»Wir sollten allmählich zu Bett gehen«, schlug Pascale vor. »Kommst du mit?«

»Ich will erst noch etwas trinken. An diese Hitze werde ich mich nie gewöhnen. Geh du schon vor, Pascale. Wir sehen uns morgen. Gute Nacht.«

Colette ging in die Küche, doch im nächsten Augenblick blieb sie wie angewurzelt stehen, als sie Frederic am Tisch stehen sah, wo er sich ein Glas Wasser einschenkte.

»Wie ich höre, sind Sie durstig, Mademoiselle Delacroix?«

Sie nickte und errötete unter seinem Blick. Er goss ein Glas ein, und als er es ihr reichte, berührten sich ihre Hände. Sie trank es rasch aus. »Noch mehr?«

»Nein, danke«, murmelte sie mit bebender Stimme.

»Dann begleite ich Sie zu Ihrem Zimmer.«

Während sie vor ihm durch die Halle ging und die Treppe emporstieg, bewunderte er ihre Figur, ihren schlanken Hals und die schwingenden Hüften.

Vor ihrem Zimmer wandte Colette sich um, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Doch er trat einen Schritt näher und öffnete den Türknauf hinter ihrem Rücken. Als sie das Zimmer betrat, folgte er ihr. Sie war zwar überrascht, aber nicht beunruhigt.

»Ich habe außerdem gehört, dass Sie zur Vorbereitung der Hochzeitsnacht noch das Küssen lernen wollen.« Er schloss die Tür.

Colette schnappte nach Luft. »Sie haben unser Gespräch belauscht!«

»Richtig.«

Er trat auf sie zu und umfasste ihr Kinn. Dann hob er langsam ihren Kopf, sodass sie zu ihm aufsehen musste.

»Wir haben doch nur Spaß gemacht.« Nervös wollte sie sich ihm entziehen. »Wir sind immer noch aufgeregt, dass wir hier auf der Insel sind.«

»Ach wirklich?«

»Aber ja.« Sie kicherte. Und ihre blauen Augen blitzten, als ob ihr das kleine Abenteuer gefiel.

Rasch griff er in ihr Haar, zog ihren Kopf nach hinten und presste seine Lippen auf ihren Mund. Entweder war sie überrascht oder erregt, jedenfalls wich sie nicht zurück. Also umfasste er ihre Schultern und zog sie an sich. Seine Zunge drängte ihre Lippen auseinander und erkundete zärtlich ihren Mund.

»Monsieur!«, rief sie atemlos, als er sie freigab.

»Was wollen wir sonst noch üben, Mademoiselle?« Er war erregt, und seine Stimme klang rau. Seine Hand strich über ihren Rücken und umfasste ihr Gesäß. »Falls Sie überhaupt noch üben müssen …«

»Ich fürchte, Sie haben mich missverstanden, Monsieur!«

»Oh, ich denke, ich verstehe nur zu gut.« Mit diesen Worten machte er sich an den Knöpfen ihres Mieders zu schaffen. Ihr frischer Duft berauschte ihn genau wie ihre Lippen und weckte seine Leidenschaft. »Aber, aber, Colette, wir wissen doch beide, dass französische Mädchen gern spröde tun … wie perfekte Jungfrauen, obwohl sie das längst nicht mehr sind. Besonders die Mädchen der feinen Gesellschaft.«

»Sie sehen das wirklich völlig falsch!«

Sie wich vor ihm zurück, aber dabei stieß sie gegen das Bett und fiel darauf. Dort lag sie mit geöffnetem Mieder, und die wunderschöne Schwellung ihrer Brüste war unter dem Korsett zu ahnen.

Hastig schlüpfte Frederic aus Stiefeln und Hemd und öffnete die Knöpfe seiner Hose. Als sie davonkriechen wollte, packte er lachend ihr Fußgelenk und zerrte sie in die Mitte des Betts zurück. Sie sträubte sich, bis er sie ganz unter seinen Körper gezogen hatte und ihren Protest mit seinen Lippen erstickte. Dann löste er die Häkchen des Korsetts und entblößte ihre weißen Brüste. Gierig umfasste er sie und war entzückt, wie zart und weich sie sich in seine Handflächen schmiegten. Und als sich ihrer Kehle ein tiefes Stöhnen entrang, wurde seine Lust nur noch größer.

»Mon Dieu«, wimmerte sie, als sich seine Lippen von ihrem Mund lösten und stattdessen ihre Brustwarzen suchten. Trotz der Hitze in ihrem Zimmer zitterte sie von Kopf bis Fuß.

Sie rührte und regte sich nicht, als er über ihr kniete und ihr die letzten Kleidungsstücke vom Leib zog, und als er aufstand und seine eigenen ablegte, schrie oder protestierte sie mit keiner Silbe. Offenbar hatte sie die Vergeblichkeit eingesehen. Ein leises »Non, s’il vous plaît!« war alles, was er hörte.

»Zu spät, Mademoiselle.« Seine Lust war längst geweckt. »Wer mit dem Feuer spielt, um einen reichen Mann zu fangen, verbrennt sich zuweilen die Finger. Hat Ihre Mutter Sie das denn nicht gelehrt?«

Mit gerunzelter Stirn sah sie stumm zu ihm auf und ergab sich, als er ihre Beine spreizte. Er küsste sie voller Leidenschaft und drang mit einem einzigen gierigen Stoß in sie ein. Als sie sich aufbäumte und sich ihrer Kehle ein erstickter Schrei entrang, war er überrascht. Und als er endlich begriff, dass sie noch unschuldig war, hatte er seine Lust längst nicht mehr unter Kontrolle.

Colette sammelte ihre Kräfte, wollte ihn wegschieben, doch er packte ihr Gesäß und presste sich tief in sie hinein, um sie endlich zu besitzen. Danach hielt er inne, fühlte die Schwellung ihrer Brüste, bemächtigte sich ihrer Lippen, trank ihren Schmerz, umschloss ihr Gesicht mit seinen Händen und liebkoste ihre Haut vom Kinn bis zu den tränennassen Wangen mit kleinen Küssen. Sie mochte ihn nicht ansehen, also küsste er zärtlich ihre Lider und wartete geduldig, bis sich ihr Körper unter ihm entspannte. Als sie einen Seufzer ausstieß, begann er, sich langsam zu bewegen, ganz sanft und langsam und dann immer schneller, bis er schließlich alle Beherrschung verlor. Sie umschlang ihn, grub ihre Nägel in seine Schultern, doch die Augen hatte sie noch immer fest geschlossen, als ob sie nicht sehen wollte, was geschah. Als seine Leidenschaft abgeebbt war, sanken ihre Arme kraftlos herab, und als er sich von ihr löste, entrang sich ihren schmerzenden Lippen ein Schluchzen.

Das blutbefleckte Laken und ihr Weinen bestätigten nur, was er längst wusste. Dieses Mädchen war unschuldig gewesen, woran außer ihm niemand gezweifelt hatte. Plötzlich überkam ihn tiefe Scham. Er hatte einen schrecklichen Fehler begangen, hatte dem Mädchen Unrecht getan und bedauerte sein rüdes Benehmen zutiefst. Er hatte sie beschmutzt und seinem Sohn die Braut genommen.

Er stand auf und sah einen Moment auf sie hinunter, doch als er etwas sagen wollte, sich zu ihr setzen, sich entschuldigen und ihr die Tränen trocknen wollte, zog sie nur stöhnend die Decke über sich, wandte sich ab und weigerte sich, ihn überhaupt anzusehen. Da er nicht wusste, was er tun sollte, kleidete er sich an und verließ den Raum.

Den nächsten Tag verbrachte sie allein in ihrem Zimmer, schützte Unwohlsein vor und wollte weder ihre Mutter noch John oder ihre Freundin sehen. Spät in der Nacht, als alle längst zu Bett gegangen waren, kam Frederic wieder zu ihr – doch dieses Mal, um ihr einen Antrag zu machen. Sie hatte keine andere Wahl und nahm ihn an.

Während der darauffolgenden Tage setzte ihm Colettes Liebeskummer zu. Sie bestand darauf, dass sie allein mit John sprechen wollte. Obgleich er seinem Sohn lieber die Wahrheit gesagt hätte, war sie strikt dagegen. Er hatte nie erfahren, was genau sie John gesagt hatte. Vermutlich hatte sie sich Hure und Geschäftemacherin nennen lassen, um größeren Schaden abzuwenden. Dennoch war John am Boden zerstört.

Da ihm die Verbitterung seines Sohnes lästig war, hatte er sie einfach weggewischt. Er würde sich in kürzester Zeit von seinem gebrochenen Herzen erholen. Er war noch jung und würde eine andere Frau finden. Und Colette vergessen. Was ihn selbst anging, so gab er sich Mühe, damit Colette die Sache vergaß. Sie faszinierte ihn und ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Trotz ihrer schwachen Proteste hatte sie sich doch nicht ernsthaft gewehrt, hatte ihn nicht mit aller Kraft von sich gestoßen, bis es zu spät war. Und warum? Hatte sie Angst vor ihm? Je länger er darüber nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, dass er ihr keine Gewalt angetan, sondern sie nur verführt hatte.

Die ersten Wochen ihrer Ehe waren äußerst turbulent verlaufen, und sein Puls beschleunigte sich, sobald er nur daran dachte. Er erinnerte sich an den Mut, mit dem sie seinen ehelichen Übergriffen begegnete, und an die zahllosen Nächte, in denen sie sich der Leidenschaft ergab und in seinen Armen stöhnte. Sie fürchtete sich nicht vor ihm, obgleich er zuweilen dachte, dass sie hart an der Haltung arbeitete, die sie zur Schau trug.

Teil ihrer anfänglichen Schwierigkeiten war ihre skrupellose Ablehnung der Sklaverei. Entweder sprach Colette nicht mit ihm, oder sie stellte seine moralische Haltung in Bezug auf die Sklaverei infrage. Er erinnerte sich an heftige Auseinandersetzungen, besonders wegen seines Sklaven Nicolas. Sie konnte ungewöhnlich gesprächig werden, um die missliche Lage der Sklaven zu beschreiben. Doch er war entschlossen, seine Plantagen mit harter Hand zu führen, und hielt an seiner despotischen Haltung fest. Hier stand ein Wille gegen den anderen. Nur im Bett räumte Colette für Augenblicke das Feld. Eine vertraute Wärme durchströmte ihn, wenn er an diese Momente dachte. Keine Frau hatte ihn je so befriedigt wie Colette … mit Ausnahme von Elizabeth. Doch für ihn waren die beiden ohnehin meistens ein und dieselbe Person.

Im Lauf von Wochen und Monaten wurde ihr stürmisches Verhältnis allmählich sanfter. Sein Feuer brannte so heiß wie immer, und Colette wich seiner Leidenschaft nicht mehr aus, indem sie sich hinter verletztem Stolz verschanzte. Stattdessen genoss sie sein Liebesspiel und schlief Nacht für Nacht zufrieden in seinen Armen ein. Als sie dann auch noch ein Kind erwartete, platzte sein Herz beinahe vor Stolz. Es war ein glückliches Jahr. Er hatte eine zweite Chance bekommen.

Damals dachte er oft an John und kämpfte mit den Sätzen, die er hätte schreiben oder hätte sagen können, um die Sache aus der Welt zu schaffen. Irgendwie ahnte er, dass er alles nur schlimmer machen würde. Letztlich konnte er nur hoffen, dass die Zeit alle Wunden heilte.

Die Zeit kam: John kehrte nach Charmantes zurück. Colette war zu dieser Zeit hochschwanger. Obgleich sie John freundlich begrüßte, mochte er sie kaum ansehen, und sobald sie sich im selben Raum befanden, stand ihm die Ablehnung ins Gesicht geschrieben. Je mehr Zeit verging, desto mehr ärgerte sich Frederic über die absichtlichen Kränkungen und Sticheleien. Warum war er zurückgekommen? Offenbar hasste er sie beide. Gegen Ende der Woche wurden seine Absichten schmerzhaft klar, als seine Stimme nämlich so wütend durchs Haus schallte, dass Frederic ihn oben in seinen Räumen hören konnte. Er rannte die Treppen hinunter und starrte entsetzt auf die Szene im Wohnraum. Das Einzige, was ihn in diesem Moment von einer Prügelei abhielt, war Colette, die mit den ersten Wehen aufs Sofa niedergesunken war.

Die Geburt der Zwillinge war schwer und dauerte mehr als vierundzwanzig Stunden. Frederic wich nicht von Colettes Seite und weigerte sich zu gehen, selbst als Blackford das verlangte. Er dachte an Elizabeths Wehen vor zwanzig Jahren und war vor Angst wie gelähmt. Er betete und handelte mit dem Allmächtigen, damit er Colette verschonte. »Geben Sie ihr etwas!«, schimpfte er ungehalten, als Colette sich vor Schmerzen krümmte.

Blackford gehorchte, und Frederic wurde ruhiger, als das Laudanum seine Wirkung tat. Trotzdem keuchte Colette und warf unruhig ihren Kopf hin und her. Frederic strich ihr das Haar aus der Stirn und murmelte tröstende Worte an ihrem Ohr. Schließlich verfiel sie ins Delirium und rief ein ums andere Mal lauthals nach John. Als sein Trost keine Wirkung zeigte, wandte Frederic sich ab.

Es dauerte noch Stunden, bis es endlich vorüber war und man ihm zwei gesunde Mädchen präsentierte. Aber die Liebe, mit der er die Kinder noch am Tag zuvor hatte überschütten wollen, war gestorben.

Von da an berührte er Colette nie wieder und nahm voll Bitterkeit zur Kenntnis, dass ihr Herz wohl für immer seinem Sohn gehörte. Er hatte sie beide bestohlen. Dass sie John als Liebhaber nahm, hätte ihn nicht überraschen dürfen. Und schmerzen auch nicht. Doch das konnte er nicht verhindern. Er dachte daran, wie sie vor einigen Jahren in der Öffentlichkeit mit seinen Geschäftspartnern geflirtet hatte. Ihre Wünsche waren deutlich, aber mit ihm hatten sie nichts zu tun. Als Colette ihm ihre Affäre mit John gebeichtet hatte, ihn um Verständnis gebeten und ihre Ehe als Fehler bezeichnet hatte, war er davon ausgegangen, dass sie John die Wahrheit erzählt hatte. Aber das hatte sie nicht getan.

Wenn er zurückblickte, wurde ihm klar, dass Colette ihn stets beschützt hatte. Selbst als sie gelitten hatte, hatte sie das Band zwischen Vater und Sohn immer über ihre eigenen Wünsche gestellt. Sie hatte erst damit aufgehört, als er ihrer Seele zugesetzt hatte, indem er sie aus seinem Bett verbannt und ihr das erste zarte Band der Liebe verweigert hatte, das gerade zwischen ihnen keimte. Er schluckte, weil die Erkenntnis schmerzte. Auch diese Wahrheit hatte Colette seinem Sohn verschwiegen, um einen endgültigen Bruch zwischen ihnen zu vermeiden. Sie hatte sie beide geliebt und immer voreinander geschützt.

Er senkte den Kopf, als er an den traurigsten Punkt dachte: Trotz all seiner Intrigen und Verleumdungen hatte Colette ihn nie verdammt. Sie hatte immer nur das Beste angenommen und ihn mehr verehrt, als er gewusst hatte. Sie musste seine innersten Zweifel gekannt, musste geahnt haben, dass seine raue Art nur ein Schutzschild war und ihm letztlich anderes wichtig war. Und nun war sie tot. Auch das hatte er geschehen lassen. Selbst im Grab hatte er sie nicht aus dieser Not erlöst. Wenn du immer nur das Schlimmste denken willst, Frederic, dann mach nur so weiter … Du vertraust mir nicht … nicht einmal jetzt vertraust du mir …

Nein, ma fuyarde, schwor er, ich vertraue dir. Ich werde nie wieder das Schlimmste glauben. Blackford hatte gelogen. Aber warum?

Frederic erhob sich aus seinem Sessel. Dies sollte das letzte Mal sein, dass er den ganzen Tag hier verbracht hatte.

Robert Blackford erhielt Frederics knappe Botschaft, als er gerade die Praxis schloss. Sobald Joseph fort war, fragte er sich, was wohl so eilig war. War der Mann krank? Rasch schob er den Gedanken von sich. Darüber hätte ihn seine Schwester längst informiert. Oder war sie krank? Nein, in diesem Fall hätte die Botschaft anders gelautet. Warum also wurde er so dringend ins Herrenhaus gerufen? Vielleicht war ja die Wahrheit entdeckt worden.

Er mahnte sich zur Ruhe, während er in Weste und Jacke schlüpfte. Jetzt durfte er nicht die Haltung verlieren. Diese Sache hatte vermutlich nichts mit ihm, sondern mit seinem bockigen Neffen zu tun, der sich geweigert hatte, ihn ans Bett des Jungen zu rufen. Nachdem der erste Schreck vorüber und das Kind beigesetzt war, konnten die ungelösten Fragen an die richtige Adresse gerichtet werden. Sicher würde Agatha mit dem Ergebnis zufrieden sein. War es nicht das, was sie die ganze Zeit über angestrebt hatte? Diesmal hatte sich John selbst ein Bein gestellt.

Robert griff nach Hut und Tasche und verließ das Haus. Es war besser, pünktlich zu sein.

Charmaine schlang die Arme um ihren Körper. Sie erschauerte angesichts der ungewohnten Kühle. Das Wetter war noch genauso schlecht wie am Tag zuvor. Die Regenzeit hatte begonnen, und ein kühler Nieselregen hatte die strahlend schönen Tage vor Pierres Beisetzung abgelöst.

Lügen. Seit diesem Tag verfolgte sie das Wort.

»Sie hätten mit Paul und den Mädchen in die Stadt fahren sollen«, bemerkte Rose, woraufhin sich Charmaine von den regennassen Scheiben abwandte. »Aber nicht bei diesem Wetter.«

»Am Nachmittag wird es aufklaren«, prophezeite Rose. Sie sah von ihrer Strickarbeit auf, während sich die Finger aber eifrig weiterbewegten.

Charmaine nickte abwesend. »Zweifellos ist Paul verärgert. Mit der Einladung beim Frühstück hat er sicher nicht nur seine Schwestern gemeint.«

»Ich bin überrascht, dass Yvette mitgefahren ist.«

»Ich nicht«, meinte Charmaine und setzte sich neben Rose. »John hat das Haus schon sehr früh verlassen. Vermutlich hofft sie, ihn in der Stadt zu treffen.«

Rose schüttelte den Kopf. »Sie ist ein ganz besonderes Mädchen und ähnelt ihrer Mutter sehr.«

Charmaine hörte die Rührung in Roses Stimme und musste sich zusammennehmen. »Guter Gott, Nana«, hauchte sie. »Welch eine Geschichte.«

Rose legte ihre Strickarbeit weg. »Möchten Sie darüber sprechen?«

Charmaine zögerte, da sie nicht wusste, wie weit Rose eingeweiht war. Doch der melancholische Blick verriet ihr, dass sie alles wusste. »Oh, Nana, dieser Streit zwischen John und seinem Vater … Es war furchtbar. John hat Sachen gesagt, die ich nie hätte hören dürfen.«

»Lassen Sie nur.« Rose tätschelte ihre Hand. »Diese Wahrheiten sind oft hilfreich, um die Beteiligten besser verstehen zu können.«

»Besser verstehen?« Charmaine sah Rose ungläubig an. »Wie kann ich einen Hass verstehen, der seit neunundzwanzig Jahren besteht … einen Hass, der so viel Unheil gebracht hat?«

»Unheil? Sie sprechen von Menschen, die Sie lieben, Charmaine. Menschen sind fehlbar und machen auch zuweilen schwere Fehler, aber es sind nur Fehler. Mehr nicht.« Sie lächelte. »Ihre Reaktion ist nur natürlich, aber es ist noch längst nicht alles verloren. Die Zeit ist der beste Heiler. Die Zeit und die Gemeinschaft. Die Mädchen brauchen Sie jetzt mehr als je zuvor.«

Charmaine dachte über das Gesagte nach. »Aber was soll werden, wenn man mich entlässt? Mr. Duvoisin wollte nicht, dass ich den Streit mitanhöre. Für ihn bin ich jetzt eine Mitwisserin, die ihn ständig an diese Szene erinnert.«

»Er wird Sie nicht entlassen«, erklärte Rose mit Bestimmtheit.

Charmaine war sich dessen nicht so sicher. Sie dachte an Agatha und ihre Machenschaften. »Warum hat Mrs. Duvoisin mich angelogen? Was wollte sie damit erreichen?«

»Sie wollte erreichen, dass John und sein Vater sich wieder an den Kragen gehen, damit John ein für alle Mal von Charmantes verbannt wird.«

»Und warum? Warum hasst sie ihn so sehr? Er ist doch ihr Neffe.«

»Sie wissen sicher noch, wie man sich als Opfer seiner spitzen Zunge fühlt, nicht wahr? Agatha hat nie klein beigegeben und sein Verhalten jahrelang ertragen. Aber jetzt ist sie Frederics Frau, und das nützt sie aus. Was Mrs. Duvoisin angeht, so hat sich John heute sein eigenes Grab geschaufelt.«

Charmaine war wütend. »Ich hätte ihr kleines Spiel durchschauen sollen.«

»Das ist kein kleines Spiel«, flüsterte Rose mit düsterer Miene. »Es ist richtig … auch Agatha hat Narben davongetragen, aber statt sie heilen zu lassen, beklagt sie ständig das Los, das man ihr auferlegt hat. In Zukunft sollten Sie sich vor ihr in Acht nehmen.«

»Das tue ich. Am besten gleich vor beiden.«

Rose runzelte die Stirn. »Sie sollten Frederic nicht so schnell verurteilen. Denken Sie daran, auch er wurde getäuscht.«

»Als Ergebnis seines Verhaltens.«

»Mag sein oder auch nicht. Trotz seiner Fehler ist Frederic ein guter Mensch. Als ich nach Charmantes kam, war ich so alt wie Sie, Charmaine. Frederic war mein kleiner Pierre. Ich habe geholfen, ihn aufzuziehen, und es tut mir weh, ihn so bekümmert zu erleben. Ich weiß, dass er große Verantwortung für alles empfindet, was zwischen ihm und John vorgefallen ist, und es am liebsten ändern würde. Aber das ist schwierig, wenn man sich nach dem Tod der geliebten Frau so in seinem Hass vergräbt. Johns Mutter hatte ein fröhliches, unerschrockenes Wesen, und das hat sie ihrem Sohn vererbt. Es hat John geholfen, Frederics Bitterkeit zu ertragen. Aber leider hat genau das Frederic wiederum an die tote Elizabeth erinnert.« Sie seufzte bekümmert. »Es stimmt, dass Frederic seinen Sohn für Elizabeths Tod verantwortlich gemacht hat. Aber die Ablehnung war nicht ganz unbegründet … da er nicht sicher war, dass John wirklich auch sein Sohn war.«

Wie gebannt lauschte Charmaine, als Rose ihr die Geschichte von Elizabeths Entführung und Vergewaltigung erzählte. »Frederic und Elizabeth waren gerade seit sechs Monaten verheiratet, als John geboren wurde.«

»Aber John ist Frederics Sohn! Dazu muss man die beiden doch nur ansehen.«

»Das ist richtig. Heute ist das völlig klar, doch als John noch ein Kind war, war die Ähnlichkeit nicht so deutlich zu sehen. Der Zweifel verursachte diese Abneigung. Als Frederic endlich erkannte, dass John sein Sohn war, war es zu spät. Ganz gleich, was Frederic tat oder sagte, nichts verbesserte die Situation. Im Gegenteil. John stellte die Geduld seines Vaters mit Wonne auf die Probe und dachte sich immer neue Konflikte aus, um als Letzter zu lachen. Über die Jahre wurde das zur schlechten Gewohnheit. Aber wir haben damit leben gelernt.«

»Weiß John, was mit seiner Mutter geschehen ist?«

»Nein«, flüsterte Rose. »Darüber hat Frederic nie gesprochen, und meine Aufgabe war es nicht, ihm in dieser Sache vorzugreifen. Es hätte vermutlich auch keinen Unterschied mehr gemacht.«

Charmaine dachte darüber nach. Wie konnte Frederic ein kleines Kind für so etwas verantwortlich machen? »Das erklärt vieles, was Johns Kindheit betrifft. Aber was war mit Colette?«

»Für Frederic war sie die Rettung, seine zweite Chance. Sie haben Colette erst kennengelernt, als ihre Gesundheit und ihre Kräfte bereits nachließen. Als sie nach Charmantes kam, war sie mutig und lebenslustig, fast so wie Yvette. Bis auf ihre blonden Haare war sie ein Spiegelbild von Elizabeth. Sie ging mit John um, wie Elizabeth früher mit Frederic umgegangen war. Ich habe das bemerkt und Frederic auch. Das machte ihn reizbar. Eine Zeit lang versuchte er, die verwirrenden Ähnlichkeiten zu übersehen, obgleich sie ihm andererseits auch gefielen. Aber letztlich ging er ihr nur noch aus dem Weg, und Colette rätselte, womit sie ihn beleidigt hatte. Um ihn zurückzugewinnen, versuchte sie sich unklugerweise auch im Flirten.« Rose seufzte aus tiefstem Herzen. »Es gab Zeiten, da …«

»Da?«

Rose rieb sich die Stirn, als ob ihr die Erinnerung unangenehm sei. »Colette wusste Dinge … Es war seltsam … als ob …«

»Als ob?«

»Als ob sie schon früher hier gewesen wäre.« Rose lachte, aber wirklich wohl war ihr dabei nicht. »Eine alte Frau wie ich zweifelt manchmal an ihrem Verstand. Es war Schicksal, einfach nur ein schweres Schicksal, das Frederic und Colette zusammengeführt hat, bis …«

Ob Rose wusste, was wirklich geschehen war? Vergewaltigung … Charmaine verzog das Gesicht. Aber dann hörte sie klar und deutlich Colettes Stimme, Ich liebe ihn noch immer, und war völlig durcheinander.

»Ich will die Wahrheit wissen! Ich will nur die Wahrheit wissen.«

Angesichts von Frederics Zorn stand Robert Blackford wie erstarrt da. Er hatte diesen Mann längst abgeschrieben, doch hier stand er vor ihm – aufrecht und in frisch gebügelten Sachen. Der Stock erinnerte eher an ein Szepter als an eine Krücke, Kinn und Wangen waren glatt rasiert, das Haar ordentlich gescheitelt und frisiert, und sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er klar bei Verstand war.

»Die Wahrheit?« Blackford zögerte. »Welche Wahrheit denn?«

»Über meine Frau – meine verstorbene Frau Colette. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass der Anlass für ihren Tod nicht derjenige war, den Sie mich glauben machen wollten. Wie ich schon sagte, ich will die Wahrheit wissen.«

»Aber, Frederic!«, warf Agatha ein. »Willst du Robert vielleicht unterstellen, dass er dich belogen hat?«

Frederic hatte auch seine Frau rufen lassen, und sie war sichtlich überrascht, als sie ihren Bruder bei ihm antraf.

»Ist das nicht offensichtlich, Frau?«, stieß Frederic zwischen verkniffenen Lippen hervor und funkelte Agatha an.

Blackford war seiner Schwester für die dumme Bemerkung dankbar, weil sie ihm Zeit zum Überlegen bot, wie er sich gegen diesen unerwarteten Vorwurf zur Wehr setzen konnte.

»Und du hältst gefälligst den Mund, Agatha!«, befahl Frederic. »Du hast schließlich durch das Unglück am meisten profitiert.«

Agatha fühlte sich bis ins Mark getroffen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Wer hat meine Diagnose in Zweifel gezogen?«, fragte Blackford. »Ich war doch der einzige Arzt, der Ihre Frau behandelt hat. Wer also hat Ihnen gesagt …?«

»Das ist meine Sache! Ich weiß es!«

Robert schwieg. Wer ist dieser Informant?

»Ich warte, Blackford! Ihr Schweigen macht Sie zum Schuldigen.«

Da der Vorwurf Blackford völlig unerwartet getroffen hatte, sah er nur zwei Möglichkeiten: die Lüge oder die Wahrheit. Damit er sich nicht entscheiden musste, hielt er sich lieber an den einmal eingeschlagenen Weg. »So wie Sie das Recht haben, an meiner Diagnose zu zweifeln, so habe ich das Recht zu erfahren, was dieser Diagnose widerspricht.«

»Sie haben überhaupt kein Recht!«, zischte Frederic. »Ihre Arbeitsmöglichkeit auf der Insel beruht allein auf meinem guten Willen. Bisher war ich Ihnen wohlgesinnt, aber das kann sich blitzschnell ändern. Ich weiß, dass meine Frau mir nicht untreu war, also konnte sie auch keine Fehlgeburt erleiden. Warum haben Sie mich belogen?«

Die Spannung löste sich erst, als Agatha einen Schritt nach vorn trat. »Robert trifft keine Schuld, Frederic. Das Ganze war meine Idee.«

Unter seinem durchdringenden Blick senkte sie den Kopf. Ihre unerwartete Beichte ließ ihn die Stirn runzeln. Sie atmete tief ein, bevor sie den Kopf hob und ihn ansah. Ihre Wangen waren tränennass. »Robert wollte es nicht tun, aber ich habe ihn angefleht, bis er schließlich mir zuliebe eingewilligt hat.«

Sie schien nach Worten zu suchen und tastete vergeblich nach einem Taschentuch. Letztlich wischte sie sich die Tränen mit den Händen ab.

»Was sagst du da?« Frederic konnte kaum an sich halten.

»Ich liebe dich, Frederic!«, stieß sie hervor. »Und wie du weißt, habe ich das immer getan! Nach Colettes Tod hast du dich so sehr in deine Trauer hineingesteigert, dass mein Herz für dich geblutet hat. Bevor du verhungern oder wahnsinnig werden konntest, habe ich Robert angefleht, Colette in ein schlechtes Licht zu rücken und dir zu beweisen, dass sie solch tiefe Trauer nicht wert war. Ich hoffte, dass dich das zu den Lebenden zurückbrächte. Außerdem gab es ja noch die Kinder. Sie mussten den Verlust ihrer Mutter verkraften … und du warst nicht an ihrer Seite! Sie haben allerlei beängstigende Einzelheiten aufgeschnappt und wollten irgendwann auch nicht mehr essen.«

Agatha legte eine kleine Pause ein, damit Frederic das Gehörte überdenken konnte. Natürlich würde er Rose und die Gouvernante dazu befragen. Als sie wieder sprach, wirkte ihre Reue sehr überzeugend. »Was ich getan habe, war falsch. Aber ich war außer mir vor Angst, dass die Kinder dich auch noch verlieren, wenn wir keine Maßnahmen ergreifen. Du hattest doch so vieles, wofür sich das Leben lohnte: deine Söhne und Töchter und … mich. Ja, auch mich. Ich habe zu Gott gebetet, damit du für mich weiterlebst.«

Frederics Blick wanderte von der leise schluchzenden Agatha zu Blackfords todernster Miene. Demnach … hatte John recht. Er empfand nur noch Abscheu. Vor sich selbst und vor seinem schrecklichen Benehmen, das den Anlass zu dieser heimtückischen Lüge geboten hatte. Er konnte die beiden nicht verurteilen, wenn er selbst die Bühne für ihr Theater bereitet hatte. Aber er konnte sie auch nicht länger ansehen. »Geht mir aus den Augen!«

Rasch verließen die beiden den Raum, und Frederic blieb mit seiner Verachtung und dem zunehmenden Mitleid für Agatha allein zurück.

Am frühen Nachmittag hörte es auf zu regnen, und der Himmel klarte auf. Der einzige Beweis für den Dauerregen waren die winzigen Wasserperlen, die wie Tautropfen an jedem Grashalm glitzerten. Charmaine bewunderte die Schönheit der Natur um sich herum und fühlte, wie ihr Kummer ein wenig abebbte. Paul war mit den Kindern noch unterwegs, und angesichts des besseren Wetters rechnete sie auch nicht vor einer weiteren Stunde mit ihrer Rückkehr. Sie dachte an Pierre, als sie über die Zufahrt schlenderte.

Ziellos spazierte sie zum Stall hinüber und strich ihrer grauen Stute zärtlich über die Nüstern. »Sie ist eine richtige Schönheit«, hörte sie plötzlich eine Stimme aus einem der Ställe sagen.

»Das ist wahr.« Die Stute schnupperte an ihr, als sie sich zu dem Pferdeknecht umdrehte. Vom Sehen her war ihr der Mann vertraut, aber sie wusste nicht, wie er hieß.

»Und eines der friedlichsten Pferde im Stall.« Der Mann rieb seinen Arm, den er in einer Schlinge trug. »Ich habe sie persönlich ausgesucht, als Master John ein anständiges Pferd für die Gouvernante gesucht hat. Er hat mich bis nach Virginia geschickt.«

Charmaine war verblüfft. »Wirklich?«

Der Mann nickte. »Sir Richards hat alles geplant und auch die Kosten für den Mietstall bezahlt, als die Pferde auf Charmantes angekommen sind. Aber ich habe die Stute und die Ponys ausgesucht.«

Sie freute sich. »Dann muss ich mich ja bei Ihnen bedanken, Mr. …«

»Bud. Sagen Sie einfach Bud.«

»Also gut, Bud.« Sie lächelte. »Haben Sie Master John heute schon gesehen?«

»Nur ganz früh am Morgen, als er weggeritten ist.«

»In die Stadt?«

»Nein, Ma’am. Richtung Westen. Ich denke, er muss allein sein. Er fühlt sich immer noch schuldig, weil er mir zu Hilfe gekommen ist, als Phantom mich angriff. Er hat das Kind allein gelassen, aber er konnte doch nicht wissen, was passiert!«

Charmaine war überrascht. Bisher kannte sie nur einige Bruchstücke der Geschichte. »Hat Phantom sich losgerissen?«

»Ja, Ma’am. Wie so oft. Manchmal benimmt er sich wirklich wie der Teufel. Am Sonntag haben seine Augen wie wahnsinnig geglüht. Als er auf mich losgegangen ist, dachte ich, mein letztes Stündchen hätte geschlagen. Zum Glück konnte Gerald ihn ablenken, sonst hätte er mich zu Tode getrampelt.«

»Und Master John?«

»Er muss das Geschrei bis ins Haus gehört haben. Dann weiß ich wieder, dass sich Phantom nicht so leicht zähmen ließ wie sonst, wenn er seinen Herrn sah. Es hat ganz schön lange gedauert, bis er ihn wieder unter Kontrolle hatte. Dann hat sich Master John um mich gekümmert. Heute wünschte ich, er hätte es nicht getan. Ich mache mir Vorwürfe. Besser hätte es mich getroffen als den kleinen Kerl …«

»Sagen Sie das nicht. Sie trifft wirklich keine Schuld. So gesehen träfe uns alle Schuld, aber gegen Gottes Willen sind wir machtlos.«

»Danke, dass Sie das sagen«, murmelte der Mann.

Charmaine lächelte zum ersten Mal. Dann fiel ihr Blick auf die Stute. »Würden Sie mir die Stute bitte satteln?«

»Was? Sie wollen ausreiten?«

»Ja«, sagte sie rasch, bevor sie den Mut verlor.

Der Mann gehorchte, und keine zehn Minuten später folgte Charmaine dem Pfad, der zur Rückseite und dann weiter nach Westen in die Einsamkeit führte. Langsam legte sich ihre erste Nervosität. Wenn ich in Schwierigkeiten gerate, wird John mir helfen.

Eine Begegnung mit ihm wäre jetzt genau das Richtige. Sie wollte ihn sehen und mit ihm sprechen. Sie verstand, dass er den anderen aus dem Weg ging, aber warum mied er auch sie? Er hatte sich ihr anvertraut und ihr seine Seele geöffnet. Das musste etwas bedeuten. Oder bedauerte er inzwischen diese Beichte und ging ihr aus Scham aus dem Weg?

Auf dem Weg in die Halle starrte Robert Blackford seine Schwester ungläubig an. Sie schwieg beharrlich, und ihre Miene forderte dasselbe von ihm. Doch als Agatha in seinem Wagen saß und sie durch das Tor fuhren, stieß sie einen Freudenschrei aus.

»Oh, welch wunderbares, welch außerordentliches Glück!«

»Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«, schimpfte Blackford und sah sie an, als ob er an ihrem Verstand zweifelte. »Dabei hätte ich gerade fast meinen Kopf verloren.«

»Robert, Robert, Robert!«, jubelte Agatha und tätschelte seine Hand. »Glaubst du denn, dass ich das zugelassen hätte? Im Gegenteil. Die Dinge konnten gar nicht besser laufen. Du hast unsere Chance nur nicht gesehen. Es ist wichtig, in einer Niederlage sein Glück zu erkennen! Glück, Robert!« Sie lachte. »Die Wahrheit liegt auf dem Tisch. Das wird unseren Erpresser enttäuschen, schätze ich. Dabei dachte der Arme, dass er die Sache perfekt eingefädelt hätte.« Vor Begeisterung spitzte sie die Lippen. »Wie fandest du meinen Auftritt? War ich überzeugend?«

»Du hast mich fast zum Weinen gebracht, liebe Schwester.« Er war begeistert, wie klar sie auch unter Druck denken konnte und wie schön sie war. »Du solltest dich beim Theater bewerben. Dazu ist es nie zu spät. Wie wäre es mit … New York?«

»Aber nein, Robert. Die hiesige Produktion ist doch viel einträglicher.«

»Woher wusste Frederic so genau über Colette Bescheid?«

»Das tut jetzt nichts mehr zur Sache. Wenn Frederic mehr Informationen gehabt hätte, hätte er mir die Geschichte nicht abgenommen. Ich persönlich glaube, dass er nur geblufft hat.«

»Wie dem auch sei, jedenfalls ist sein Misstrauen jetzt geweckt.«

»Und wir haben ihn darin bestätigt«, sagte Agatha. »Von nun an glaubt er, dass wir uns um sein Wohlergehen sorgen. Wie könnte er uns daraus einen Vorwurf machen? Nein, Robert, um Colette müssen wir uns keine Sorgen mehr machen. Es gibt noch andere Probleme, um die wir uns kümmern müssen.«

»John?«

»Ja, genau.«

»Aber er verlässt Charmantes. Paul hat das bei der Beisetzung erwähnt.«

Nachdenklich sah sie ihn an. Sie hatte keinen Zweifel an Johns Absicht, aber freiwillig zu gehen war etwas anderes, als fortgejagt zu werden. Plötzlich war ihre gute Laune ein wenig getrübt.

»Du bist jetzt Frederics Frau und Hausherrin auf Charmantes … Was willst du mehr?«

»Ich will alles, Robert. Ich will vor allem, dass dem rechtmäßigen Erbe das gesamte Familienvermögen zufällt. Du wirst sicher besser schlafen, wenn du weißt, dass Frederics Vermögen an Paul fällt, und zwar an Paul allein. Wie die Dinge augenblicklich stehen, wird John uns den Hunden zum Fraß vorwerfen, sobald Frederic die Augen schließt.«

Robert erschrak, doch insgeheim musste er seiner Schwester recht geben.

Bei ihrer Rückkehr erfuhr Charmaine, dass John kaum fünf Minuten, nachdem sie aufgebrochen war, über die Hauptstraße nach Hause gekommen war. Sie übergab Gerald die Zügel und ging ins Haus.

Aber weder im Wohnraum noch in der Bibliothek war eine Spur von ihm zu entdecken. Auf dem Rückweg bemerkte sie die Post, die wie immer auf dem Tisch in der Halle lag. Der oberste Brief auf dem Stapel war an sie gerichtet und stammte von Loretta Harrington. Rasch erbrach sie das Siegel und überflog den Inhalt.

Liebe Charmaine,

Dein letzter Brief hat mich sehr beunruhigt. Du weißt, dass ich keine voreiligen Urteile fälle und einen Menschen lieber zuerst kennenlerne. Aber Deine Beschreibung von John Duvoisin hat mich doch sehr beunruhigt. Ich hoffe nicht, dass der Mann so unerträglich ist, wie Du ihn schilderst, aber ich habe trotzdem meine Bedenken. Vielleicht gibt es ja noch andere Gründe für seine düsteren Stimmungen …

Guter Gott. Charmaine stöhnte. Sie musste Loretta noch heute Abend antworten und das schreckliche Bild berichtigen, das sie von John gezeichnet hatte. Allerdings wusste sie nicht, wie sie es über sich bringen sollte, über Pierres Tod zu schreiben.

Es war schon spät. Charmaine hatte ihre Gebete beendet und wollte soeben zu Bett gehen, als es an der Tür klopfte. Sie streifte ihren Morgenmantel über und öffnete. Es war John. »Haben Sie schon geschlafen?«

»Nein, noch nicht.«

»Ich muss Sie einen Augenblick sprechen, Charmaine.« Er bedeutete ihr, zu ihm in den Korridor zu kommen.

Obwohl sie ahnte, dass es um etwas Unerfreuliches ging, folgte sie ihm zu seinem Ankleidezimmer. Er schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Charmaine sah ihn an und wartete, dass er begann.

»In der Morgendämmerung verlasse ich Charmantes und fahre nach Virginia zurück.«

Sie schloss die Augen. Hatte sie nicht gewusst, dass es so kommen würde? Die Mädchen werden verzweifelt sein.

»Ich hoffe, dass Sie mir noch einen Gefallen tun, Charmaine, und Yvette und Jeannette in meinem Namen Adieu sagen. Ich habe es den Mädchen nicht selbst gesagt, weil ich ihren Kummer nicht ertrage. Ich will ihnen nicht wehtun.«

»Müssen Sie denn fort?«, flüsterte sie.

»Außer meinen Schwestern gibt es nichts mehr, was mich hier hält. Wenn ich könnte, würde ich Sie alle drei mitnehmen und aus dieser Hölle befreien. Aber mein Vater hat mir diese Bitte vor einer Woche abgeschlagen. Nach Pierres Tod würde er es erst recht nicht erlauben.«

Charmaine war wie betäubt. Sie sah die Bitterkeit in seinen Augen und wusste, was er dachte. Wenn sein Vater zugestimmt hätte, wäre Pierre noch am Leben.

»Sagen Sie den Mädchen das bitte nicht«, fügte er hinzu, weil er ihr die Gedanken am Gesicht abgelesen hatte. »Sie würden ihn nur hassen. Ich mache meinen Vater nicht für das Geschehene verantwortlich, nur mich selbst. Keiner von uns hätte diese Tragödie erleben müssen, wenn ich mich vor vier Jahren nicht so entsetzlich geirrt hätte.« Stille trat ein. Und dann: »Werden Sie den Kindern für mich Adieu sagen?«

»Aber natürlich. Werden Sie wiederkommen?«

»Das weiß ich noch nicht.« Und auf ihren verzweifelten Blick hin fuhr er fort: »Vielleicht ändert ja mein Vater seine Meinung und gestattet den Mädchen im Frühjahr einen Besuch in Richmond, wenn sich die Wogen ein wenig geglättet haben.«

»Sie werden am Boden zerstört sein und Sie vermissen«, sagte Charmaine. »Und wie wird es Ihnen gehen? Sie sollten jetzt nicht allein sein.«

»In Virginia und New York wartet sehr viel Arbeit auf mich. Ich habe alles vernachlässigt, während ich hier auf Charmantes war.« Er seufzte. »Ich werde mich also in die Arbeit stürzen.«

Sie nickte, obwohl sie ihn am liebsten überredet hätte, doch noch zu bleiben. Aber sie wusste, dass er gefühlvolle Szenen verabscheute. »Ich werde Sie vermissen«, sagte sie stattdessen.

Zum ersten Mal lächelte er und sah ihr in die Augen. »Dann hatte mein Besuch doch wenigstens etwas Gutes.« Er öffnete die Tür. »Ich werde Sie auch vermissen, my charm

Auf der Schwelle zögerte sie und sah zu ihm empor.

»Ich danke Ihnen sehr«, murmelte er.

Sie wusste, dass ihm der Abschied nicht leichtfiel, und wollte ihm gern ein wenig Trost mit auf den Weg geben. Sie trat einen Schritt näher und umschlang ihn. Dann lehnte sie ihren Kopf, die Augen geschlossen, an seine Brust und lauschte auf den Schlag seines Herzens. Es war wohltuend, seine Arme um die Schultern und sein Kinn in ihrem Haar zu fühlen. »Auf Wiedersehen, John«, flüsterte sie. Sie zog ihn kurz an sich und spürte, wie ihr die Rührung die Kehle verschloss. »Leben Sie wohl.« Dann löste sie sich von ihm und flüchtete in ihr Zimmer.

Sonntag, 15. Oktober 1837

 

Am nächsten Morgen begrüßte George Charmaine und die Zwillinge vor der Kapelle. Sie waren zu früh gekommen und lächelten George entgegen. Er wollte ihnen sagen, was Charmaine bereits wusste und den Mädchen auch sofort beim Aufwachen eröffnet hatte. Die Falcon hatte in der Morgendämmerung Segel gesetzt, und John befand sich auf dem Rückweg nach Virginia.

»Er hat mir Briefe für euch gegeben«, sagte George. »Sie liegen auf dem Tisch in der Halle.«

Während die Mädchen losrannten, um die Briefe zu holen, sah Charmaine George an. »Ich mache mir Sorgen um ihn, George. Er wird sehr allein sein.«

»Er will allein sein, Charmaine«, antwortete George leise. Er hätte nie erwartet, solche Besorgnis aus ihrem Mund zu vernehmen. »Er wird das schon schaffen.«

Die Mädchen kamen mit den Briefen zurück. Einer davon war für Charmaine. Sie scheuchte die Kinder durch den kleinen Vorraum und sank auf die hinterste Bank der Kapelle. Dort öffnete sie den Brief.

Charmaine,

ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit in den letzten Tagen, aber am meisten danke ich Ihnen für die Liebe, die Sie Pierre gegeben haben. Sie sind ein außergewöhnlicher Mensch, und die Mädchen dürfen sich glücklich schätzen, Sie zu haben. Ich weiß, dass Sie ihnen auch in Zukunft alle Liebe geben werden, und ich hoffe, dass das umgekehrt ebenso gilt. Falls Sie jemals irgendetwas brauchen, so zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden. George weiß, wo ich zu finden bin.

John

Charmaine faltete den Brief und schob ihn in ihre Tasche. Dann sah sie zu dem Kruzifix über dem Altar empor. Die Worte des Briefs hinterließen eine gewisse Leere: nett, freundlich und unbeteiligt. Und wer wird Sie trösten, John?, rief ihre Seele.

Sie verstand seine Abreise, genauso wie sie begriff, warum er gekommen war. Was ihn nach Charmantes gezogen hatte, war nicht mehr da. Colette und Pierre waren tot, und mit seinem Vater verband ihn nichts. Sie wusste, dass er die beiden Mädchen liebte, aber sie waren Frederics Kinder und nicht seine. Es gab also keinen Grund, länger auf Charmantes zu bleiben.

Sie sah die tiefe Enttäuschung in den Augen der Kinder, bevor sie sich stumm abwandten und auf ihre Plätze in der vordersten Reihe setzten. Insgeheim wunderte sie sich über ihre Stärke. Sie heulten und jammerten nicht, wie sie es früher unweigerlich getan hätten. Vielleicht ahnten sie, dass sie nie wieder so glückliche, sorgenfreie Tage wie vor der Tragödie erleben würden.

Charmaine betete, dass sie die Wirklichkeit ertrug. Sie konnte nichts tun. John hatte seine Entscheidung getroffen, und nichts würde die Falcon jetzt noch zurückbringen. Es war an der Zeit, nach vorn zu blicken und in der täglichen Arbeit Trost zu finden. Sie hatten es schon ein Mal geschafft, und genauso würden sie das wieder tun, so schwer es ihr auch fiel. Als sie in die Zukunft blickte, überkam sie plötzlich ein Gefühl großer Einsamkeit, als ob sie Colette noch einmal verlor. Da wurde ihr klar, dass John diese Einsamkeit in dem Moment von ihr genommen hatte, als er in ihr Leben getreten war.

Charmaine war überrascht, als Frederic Duvoisin unerwartet die Kapelle betrat und nach vorn ging. Jeannette stand auf, umarmte ihren Vater kurz und forderte ihn dann auf, sich neben sie zu setzen.

Ebenso überrascht war Agatha, als sie kurz darauf hereinkam. »Warum hast du nicht gesagt, dass du zur Messe gehst? Ich hätte dich doch gern begleitet.« Frederics Antwort war leider nicht zu verstehen, doch zu Yvettes großem Missvergnügen nahm ihre Stiefmutter neben ihr Platz.

Charmaine blieb, wo sie war, und verschwand nach der Messe ohne ein Wort. Sie wollte mit niemandem reden, und die Zwillinge wussten, wo sie zu finden war. Sie ließ das Frühstück aus, und beim Lunch teilte Travis ihr mit, dass Frederic sie um Punkt ein Uhr im Arbeitszimmer zu sprechen wünschte.

Sie war verunsichert. Warum im Arbeitszimmer? Warum wollte er sie überhaupt sprechen? Er hatte viele Tage Zeit gehabt, um über die Situation nachzudenken. Empfand er sie als unliebsame Mitwisserin des Familiengeheimnisses, wie sie Rose gegenüber angedeutet hatte? Würde er sie doch noch entlassen?

Fünf Minuten vor eins verließ sie das Kinderzimmer und ging zur Bibliothek hinunter. Zitternd klopfte sie an.

»Herein.«

Der Raum war ungewöhnlich hell, da alle Fenstertüren offen standen und das Licht auf den Schreibtisch und den Teppich fiel. Frederic saß hinter einigen Papierstapeln, und auch auf dem Boden neben dem Tisch türmten sich die Akten.

»Wie geht es Ihnen, Miss Ryan?« Er bedeutete ihr, sich zu setzen.

»Es geht mir gut, Sir.« Sie war nervös, weil sie aus der höflichen Begrüßung nicht auf seine Absicht schließen konnte. »Sie wollten mich sprechen?«

»Ja. Ich werde Sie auch nicht lange aufhalten. Ich möchte Ihnen nur mitteilen, dass ich im Stundenplan meiner Töchter einige Änderungen vornehmen werde.«

Charmaine musste schlucken. Jetzt kommt es.

»Von heute an werden die Mädchen die Samstage mit mir verbringen. Ich erwarte, dass sie pünktlich um neun Uhr am Frühstückstisch auf mich warten. Bis um sieben Uhr am Abend werde ich mich um die Kinder kümmern, sodass Sie von Ihren Pflichten entbunden sind.«

»Von meinen Pflichten entbunden?«, wiederholte sie und dachte nur »entbunden«. War das eine Kündigung?

»Sie dürfen frei über Ihre Samstage verfügen – außer ich bin krank oder sonstwie unabkömmlich. Sind Sie damit zufrieden?«

Charmaine war verunsichert. »Es geht nicht darum, ob ich zufrieden bin, Sir. Es geht allein darum, Ihre Wünsche zu erfüllen.«

Frederic schmunzelte. »Sie haben in Zukunft einen Tag in der Woche frei. Ihr Lohn ist davon nicht betroffen, da ich erwarte, dass Sie in Notfällen Ihre Pläne ändern. Ist daran etwas auszusetzen?«

»Nein, Sir.«

»Also gut, dann bis nächsten Samstag um neun Uhr. Das ist alles, Miss Ryan.«

Charmaine seufzte abgrundtief, als sie die Tür hinter sich schloss. Er hatte sie nicht entlassen! Aber was noch wichtiger war: Er hatte sich ihr gegenüber benommen, als ob nichts vorgefallen sei. Dafür war sie ihm sehr dankbar.

Yvette war weit weniger glücklich, als sie die Neuigkeit erfuhr. »Er will nur Johnny nachmachen, aber er wird nie so werden wie er! Von nun an sind unsere Samstage ruiniert!«

Charmaine sah zu Jeannette und dann wieder zu Yvette. »Vielleicht will euer Vater gern Zeit mit euch verbringen, solange ihm das noch möglich ist. Wäre es denn so schlimm, wenn er John nacheifern wollte?«

Yvette warf sich auf einen Sessel. »Aber warum müssen wir das den ganzen Tag lang mitmachen?«

»Wie wäre es denn, wenn ihr euch erst einmal Gedanken macht? Vermutlich ist euer Vater für jede Hilfe dankbar.«

Sofort machten sich die Mädchen an die Planung, und Charmaine fragte sich insgeheim, wie Frederic die Pläne seiner Töchter in die Tat umsetzen wollte: Picknicks, Ausflüge in die Stadt, Bootsfahrten und Spiele auf dem Rasen. Frederic hatte die letzten vier Jahre praktisch bewegungslos in seinen Räumen zugebracht. Ob er wirklich mit der Energie von zwei Neunjährigen mithalten konnte? Charmaine lachte leise. Welche Änderungen würde sie wohl noch erleben?

Als es klopfte, sprang Yvette auf, doch ihr hoffnungsvolles Lächeln erstarb, als Paul ins Zimmer kam. »Hallo, alle zusammen!«

Sie brummte einen Gruß und verzog sich schmollend an ihr Pult.

»Hallo, Paul«, rief Jeannette.

»Ich habe eine Überraschung für euch.«

Yvette sah mit neuem Interesse auf.

»Gestern ist Fracht aus England angekommen. Darunter auch ein Fass mit Leckereien aus dem Zucker, der hier auf Charmantes gewachsen ist. Wollt ihr sie einmal versuchen?« Er zog eine große Papiertüte hinter seinem Rücken hervor und bot den Kindern die Süßigkeiten an.

Jeannette riss ihm mit einem begeisterten »Danke!« die Tüte aus der Hand und machte sich mit Yvette daran, die Beute in Augenschein zu nehmen und sich die schönsten Stücke auszusuchen.

Paul sah Charmaine an. »Es war auch neuer Tee dabei. Fatima bereitet ihn gerade zu. Wollen wir auf der Veranda eine Tasse trinken?«

»Sehr gern«, sagte sie rasch und überließ die Mädchen ihren Plänen.

»Mussten Sie auch am Sonntag arbeiten?«, fragte Charmaine, nachdem sie sich gesetzt hatten.

»Ja, die Sache duldete keinen Aufschub. Aber am frühen Nachmittag war die Ladung fertig registriert.«

»Hat die Falcon diese Ladung mitgebracht?«

»Ja«, sagte er, ohne den Blick von ihr zu wenden.

»Haben Sie John heute Morgen noch gesehen?«, fragte Charmaine leise.

»Wir sind zusammen in die Stadt geritten.«

»Hat er noch irgendetwas gesagt?«

»Nicht allzu viel.« Paul seufzte. »Er wollte unbedingt nach Virginia zurück, Charmaine, und ich kann es ihm nicht verdenken. Während der letzten Tage war es hier unerträglich. Außerdem hat er seine Arbeit in den letzten Monaten sehr vernachlässigt. Damit kann er sich jetzt ablenken«, sagte er voller Mitgefühl. »Ich dachte mir, dass die Mädchen nach dieser Neuigkeit unglücklich sind und eine Aufmunterung brauchen könnten.«

»Die Süßigkeiten helfen sicher. Es war lieb, dass Sie daran gedacht haben.«

Fatima brachte den Tee und goss zwei Tassen ein. »Und wie geht es Ihnen?«, fragte Paul. »Ein wenig besser als am Freitag?«

»Ich tue, was ich kann. Ich versuche, nicht daran zu denken, aber ich verfluche mich noch immer, dass ich Pierre an diesem Morgen allein gelassen habe.« Tränen traten ihr in die Augen.

»Es war nicht Ihre Schuld, Charmaine.« Tröstend ergriff er ihre Hand. »Es war auch nicht Johns Schuld. Wie oft haben Sie Pierre zum Schlafen ins Bett gelegt und sind dann noch nach unten gekommen, wenn er eingeschlafen war? Sie haben das doch nur getan, weil Sie wussten, dass er gut aufgehoben ist. Das Zimmer zu verlassen war das Normalste von der Welt. Alle Eltern tun jeden Tag nichts anderes.«

»Ich weiß ja, dass Sie recht haben.« Sie tupfte ihre Augen trocken. »Und doch denke ich immer, wie glücklich wir alle wären, wenn ich es nicht getan hätte. Ich vermisse ihn so sehr.«

»Das weiß ich.« Er streichelte ihre Hand. »Mir geht es doch genauso.«

Sie schwiegen eine ganze Zeit und nippten an ihrem Tee. Dann kam Charmaine noch einmal auf John zu sprechen. »An diesem Morgen hat mir John die ganze Geschichte erzählt«, begann sie nervös, weil sie nicht wusste, wie Paul reagieren würde.

Er sah sie an, aber verärgert wirkte er nicht. »Und Sie sind noch immer neugierig?«

»Ich wüsste gern, wie Sie darüber denken. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Sie Colette schon vor John kannten.«

Paul lehnte sich zurück und trank einen Schluck. »Ich habe Colette nicht geliebt, falls Sie das meinen. Ich war ein Freund, und unsere Freundschaft vertiefte sich im Lauf der Jahre. Als ich Colette kennenlernte, fand ich sie sehr anziehend. Und wunderschön. Sie kannte sich in der Pariser Gesellschaft bestens aus und stellte mich ihren Freunden vor. Als John sich in sie verliebte, war ich nicht eifersüchtig – zumindest nach einiger Zeit nicht mehr. Es gab schließlich noch andere Frauen … und äußerst reizvolle und entgegenkommende obendrein …«

Charmaine fühlte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. »Aber trotzdem waren Sie während der ersten Tage nach Johns Rückkehr wütend auf ihn.«

Paul schüttelte den Kopf. »Damals hatte er es darauf angelegt, mich zu provozieren. In meiner Wut habe ich vielleicht überreagiert. Ich verstehe allerdings bis heute nicht, warum John die Beziehung mit Colette so weit getrieben hat. Das mache ich ihm zum Vorwurf. Nun gut, er war mit ihr verlobt, und mein Vater hätte sich niemals einmischen dürfen. Aber nachdem er es getan und Colette ihre Wahl getroffen hatte, hätte John die Sache auf sich beruhen lassen müssen. Stattdessen hat er sie gepeinigt. Er hasste meinen Vater so sehr, dass er Colette in diese unmögliche Situation gebracht hat.«

»Und Colette hatte keinen freien Willen? John hatte alles unter Kontrolle?«

Paul rieb sich die Stirn. »Nun gut, Charmaine, weder Colette noch John haben mich jemals über Einzelheiten aufgeklärt. Ich weiß nicht, wann ihre Affäre begann und wie lange sie dauerte. Aber ich weiß, dass es John nicht an anderen Möglichkeiten mangelte. Es gab genügend Frauen, die ihm sofort zu Füßen gesunken wären, und zwar bereitwilligst. Er hätte ihnen nur Tag und Uhrzeit nennen müssen. Warum also musste er eine Affäre mit einer verheirateten Frau – ja, schlimmer noch, mit der Frau seines Vaters – beginnen? Er hat meinen Vater tief verletzt, und das nicht nur physisch. Was für ein Gefühl ist das wohl – Hörner aufgesetzt zu bekommen? Und das im eigenen Haus, von seinem eigenen Sohn? Stellen Sie sich nur vor, wie viele Menschen im Haus von dem Skandal wussten.«

Wer mit dem Schwert lebt, wird durch das Schwert umkommen, dachte Charmaine. »Aber John hat Colette geliebt.« Während sie den Satz sagte, hatte sie den Eindruck, als ob Paul überrascht sei.

»Dann weiß ich nicht, was Liebe ist. Oder ich habe noch nicht genug geliebt, um zu wissen, ob man darüber den Verstand verlieren kann.«

Charmaine war zu enttäuscht, um etwas darauf zu erwidern, und so schwiegen sie eine ganze Zeit. Aber dann dachte sie über seine Äußerung nach und begriff zum ersten Mal, weshalb Paul Johns Verhalten so verachtete. Er sah die Sache eher unpersönlich – als ob man eine Frau durch eine andere ersetzen könnte.

Sie goss ihnen noch Tee ein, weil sie das Gespräch nicht an einem solchen Punkt beenden wollte. »Ihr Vater hat mich nach dem Mittagessen ins Arbeitszimmer rufen lassen.«

Fragend sah Paul sie an. »Ins Arbeitszimmer?«

»Ja. Und nach Arbeit sah es dort auch aus. Von heute an will Ihr Vater die Samstage immer mit seinen Töchtern verbringen. Ich habe an diesen Tagen frei«, ergänzte sie und lachte.

Paul grinste. »Dann werde ich in der Woche wohl noch etwas mehr arbeiten müssen, damit ich an den Samstagen auch frei habe.«

An diesem Abend nahm Frederic am Dinner der Familie teil, aber trotz aller Mühen wollte es ihm nicht gelingen, gelöst und herzlich zu erscheinen. Auch die Unterhaltung mit den Mädchen verlief recht einsilbig. Mit einem resignierten Lächeln überließ er seine Töchter schließlich ihren trüben Gedanken.

Bevor die Mahlzeit vorüber war, klagte Yvette über Müdigkeit und Bauchschmerzen und entschuldigte sich. Sie versprach, sofort in ihr Zimmer zu gehen, doch als Charmaine nach oben kam, war das Mädchen nirgendwo zu finden. Offenbar hatte die letzte Woche auch einem so willensstarken Mädchen alles abgefordert.

Nach kurzer Suche im Haus fand Charmaine das Mädchen drüben im Stall. Sie hockte, das Kätzchen im Arm, in Phantoms Box auf einem Strohhaufen und weinte.

»Diesmal hat Johnny Phantom mitgenommen, Mademoiselle«, schluchzte sie. »Also kommt er nie mehr zurück. O Gott! Ich will meinen Bruder wiederhaben! Ich will ihn wiederhaben!«

Charmaine fand nicht den Mut, Yvette Hoffnungen zu machen. Als sie das letzte Mal auf Wunder gehofft hatte, hatte das Schicksal sie verlacht. Sie hatte aufgehört, an Wunder zu glauben. Stattdessen sank sie neben Yvette auf die Knie und zog sie in die Arme, damit sie sich in Ruhe ihren Kummer von der Seele weinen konnte.