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Samstag, 26. August 1837
Der Tag war noch kaum eine Stunde alt, als Charmaine und die Kinder bereits wieder das Haus verlassen hatten. Spät am Abend hatte George den Kindern verraten, dass Chastity in Kürze ihr Fohlen bekommen würde, und so waren sie schon beim ersten Tageslicht auf den Beinen und bestürmten Charmaine, sie endlich in den Stall zu bringen. Dort konnten sich die Zwillinge vor Freude und Glück kaum beruhigen, doch Pierre war des Spektakels nach einiger Zeit müde.
Zur Abwechslung ging Charmaine mit dem Kleinen nach draußen, und als sie ihn in großen Kreisen durch die Luft wirbelte, lachte er ausgelassen. Schwindlig und völlig erschöpft sanken sie schließlich ins Gras, und Charmaine herzte den Kleinen und küsste ihn zärtlich auf das Köpfchen. Rasch krabbelte Pierre weg, war blitzschnell wieder auf den Beinchen, strahlte Charmaine an und forderte mit geröteten Wangen: »Noch mal.« Und schon drehte er ihr den Rücken zu und reckte die Ärmchen in die Luft.
»Aber, Pierre, dir wird nur schlecht werden«, wandte sie schwer atmend ein.
»Bitte! Nur noch ein Mal!«, bettelte er und sah aus braunen Augen zu ihr empor.
»Das hast du beim letzten Mal auch gesagt.« Sie stach ihn mit dem Finger in den kleinen Bauch und kitzelte ihn bei jedem Wort. Pierre wand sich und lachte. »Na gut.« Seufzend stand Charmaine auf. »Aber es ist wirklich das letzte Mal, einverstanden?«
Er zuckte nur die Schultern und legte den Kopf schief, sodass man ihm einfach nichts abschlagen konnte. Lachend drückte Charmaine den Jungen an sich, und dann wirbelte sie ihn erneut herum, dass sein Jauchzen von der Fassade des Hauses widerhallte. Als sie ihn absetzte, neigte er den Kopf zur Seite und sah sie an. Und mit einem Mal schlang er die Arme um Charmaines Beine und drückte sie so fest, wie sie es zuvor mit ihm gemacht hatte.
Unwillkürlich traten Charmaine die Tränen in die Augen. »Ich liebe dich, mein Kleiner – so sehr!«
Als sie ihn losließ, erspähte er einen Schmetterling. Sofort hopste er von Blüte zu Blüte hinter ihm her und betrachtete ihn genauer, sobald er sich auf der nächsten Blume niedergelassen hatte. Charmaine sank auf die Wiese, und ihre Blicke folgten dem Jungen bei seinem sorglosen Tun.
Verdutzt kehrte John in sein Schlafzimmer zurück. Fröhliches Kinderlachen hatte ihn aufgeweckt und auf die Veranda gelockt. Mit angehaltenem Atem hatte er beobachtet, mit welcher Liebe und Zärtlichkeit Charmaine Ryan mit Pierre gespielt hatte, und war zu seiner großen Überraschung zu der Überzeugung gelangt, dass der verwaiste Junge offensichtlich die beste Ersatzmutter gefunden hatte, die man sich wünschen konnte. Womöglich war die Gouvernante ja doch keine von Pauls üblichen Liebschaften. Nachdenklich rieb er sich den Nacken. Ob er die junge Frau falsch eingeschätzt hatte?
Irgendwann war der Schmetterling vergessen, und stattdessen warf Pierre mit kleinen Steinchen. In der morgendlichen Kühle vermittelte Charmaine ein Bild der Ruhe, wie sie einfach nur still dasaß und den Jungen beobachtete. Doch in ihrem Innern überschlugen sich die Gedanken.
Die Woche war sehr viel ruhiger zu Ende gegangen, als sie begonnen hatte. Seit dem Picknick am Dienstag war ihr manches klar geworden. Auf jeden Fall war es sinnlos, sich vor John verstecken zu wollen. Drei Tage lang hatte sie sich seitdem in Selbstbeherrschung und Zurückhaltung geübt, was nicht leicht gewesen war. Doch inzwischen gelang ihr immer öfter, einfach den Mund zu halten. Sie hatte auf die harte Art lernen müssen, dass Wortgefechte mit John nicht zu gewinnen waren. Dazu kamen seine Retourkutschen einfach zu schnell, und das nagte an ihr.
Was Paul anging, so war er in den letzten Tagen ein wenig auf Distanz gegangen und hatte sich wieder in seine Arbeit gestürzt. Sie waren keinen Moment lang allein gewesen, was vermutlich am besten war. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal von John, in den Armen seines Bruders liegend, überrascht werden. Trotz seiner vielen Arbeit hatte Paul jeden Abend am Dinner teilgenommen, wofür sie ihm dankbar war. Doch heute war er schon bei Tagesanbruch nach Espoir aufgebrochen und wurde erst spät zurückerwartet, sodass sie John beim Dinner wohl oder übel allein gegenübertreten musste.
Die beschauliche Ruhe war augenblicklich dahin, als die Zwillinge aus dem Stall stürmten und rufend und winkend über die Wiese angerannt kamen. »Mademoiselle Charmaine, wollen Sie das neue Fohlen denn nicht streicheln?«
»Ich denke, dass Mutter und Kind jetzt erst einmal Ruhe brauchen. Außerdem müssen wir ins Haus zurück und endlich etwas essen.«
»Bitte, Mademoiselle, nur noch ein bisschen!«, bettelte Jeannette.
»Wir müssen Johnny unbedingt erzählen, dass Phantom der Vater ist«, rief Yvette.
»Phantom ist der Vater des Fohlens? Wirklich?«
»Aber natürlich! Weshalb ist sein Fell denn sonst so pechschwarz?«
»Tja, weshalb sonst?«, murmelte Charmaine.
Nach dem ausgedehnten Frühstück begann Pierre zu quengeln, bis Charmaine ihn schließlich zu einem zeitigen Schläfchen ins Bett legte und dann die Mädchen noch einmal in den Stall begleitete. Das Fohlen war wahrlich eine Augenweide: überlange Beine und rabenschwarzes Fell. Es trank gerade zum ersten Mal, als George in den Stall zurückkam. Da Charmaine die Mädchen bei ihm gut aufgehoben wusste, kehrte sie ins Haus zurück, um nach Pierre zu sehen.
Aber der Kleine lag nicht in seinem Bett. Rasch sah Charmaine ins Spielzimmer, aber dort war er auch nicht, dann in ihr Zimmer. Wieder nichts. Wo konnte er nur sein? Sie rannte zur Treppe und mahnte sich zur Ruhe. Pierre ging es mit Sicherheit gut. Er war wach geworden und aus dem Bett geklettert, um sie zu suchen. Ob er wieder in Pauls Räumen war?
Doch das Geräusch von splitterndem Glas verriet, dass sie sich geirrt hatte. Es war vom anderen Ende des Korridors gekommen, aus Colettes ehemaligem Salon, wo Pierre öfter gespielt hatte, bis man es ihm verboten hatte. Sekunden später war Charmaine an der Tür des Salons – und verfluchte ihr Glück, als genau in diesem Moment die gegenüberliegende Tür geöffnet wurde und die Herrin des Hauses die Räume ihres Mannes verließ.
Agatha zog die Stirn kraus, doch als Kinderkichern an ihr Ohr drang, schubste sie Charmaine wütend zur Seite und stieß die Tür auf. Pierre krabbelte zwischen Glasscherben und Blumen auf dem Boden herum.
»Du ungezogener Balg!«, zischte Agatha, stürzte sich auf den Jungen und riss ihn an den Armen in die Höhe. »Ich werde dich lehren, Dinge zu berühren, die dir nicht gehören!«
Charmaine fiel ihr in den Arm. Vor Überraschung ließ Agatha den Kleinen los, der sich augenblicklich hinter seine Gouvernante flüchtete, sich zitternd gegen ihre Beine presste und das Gesicht in ihren Rockfalten vergrub.
»Wie können Sie es wagen!«, empörte sich Agatha.
»Ich … Es tut mir leid …«
»Es tut Ihnen leid? Ist das alles, was Sie zu sagen haben? Der Junge entzieht sich Ihrer Aufsicht, dringt in mein Zimmer ein und zerbricht eine unersetzliche Vase – doch statt einzugreifen und für Ordnung zu sorgen, glauben Sie, dass es mit einer lahmen Entschuldigung getan ist?«
»Das Ganze war nur ein unglückliches Zusammentreffen. Die Kosten für die Vase können Sie mir gern von meinem Lohn abziehen.«
»Ich soll Ihnen die Kosten vom Gehalt abziehen?« Agathas Stimme klang schneidend scharf. »Ich fürchte, Sie unterschätzen den Wert dieses Stücks. Aber selbst wenn ich es ersetzen könnte, würde ich solche Aufsässigkeit nicht tolerieren. Sie reden mit mir, als ob Sie Mitglied dieser Familie wären! Ja, Sie greifen mich sogar an! Ich werde Ihnen zeigen, wer Sie sind – Sie kleine Angestellte!«
»Ich würde mir nichts dergleichen herausnehmen …«
»Gehen Sie zur Seite, Miss Ryan, und überlassen Sie den Jungen mir. Da Sie offenbar nicht in der Lage sind, für seine Erziehung zu sorgen, ist es an der Zeit, dass Ihnen jemand zeigt, wie man das macht.«
»Nein … bitte!«, bat Charmaine und schützte Pierre mit ihren Armen.
»Ich sagte, treten Sie zur Seite!« Agatha wollte den Jungen hinter Charmaines Rücken hervorziehen, doch je wütender sie zerrte, desto lauter wimmerte er. »Sonst entlasse ich Sie auf der Stelle!«
Charmaine blieb keine Wahl. Agatha konnte ihre Drohung wahrmachen, vor allem heute, da Paul nicht auf Charmantes war. Zutiefst beschämt ließ sie die Arme sinken.
»Mama! Mama!«, schrie Pierre in seiner Verzweiflung und klammerte sich an Charmaines Beine.
Aber Agatha zerrte ihn fort und schleppte ihn zum Frisiertisch. Dort legte sie das Kind quer über ihren Schoß und zog ihm die Hose herunter. Dann packte sie ihre Haarbürste und schlug zu.
»Hören Sie auf!«, schrie Charmaine. »Bitte, nicht!« Doch Pierres Weinen übertönte ihren schrillen Schrei. Bei jedem Schlag brüllte er lauter und vergoss einen wahren Strom von Tränen. Schließlich fiel Charmaine Agatha in den Arm. »Lassen Sie den Jungen sofort los!«
»Was, zum Teufel, tun Sie da?«
Charmaine erschrak, und Agatha duckte sich, als plötzlich John wie der Leibhaftige dazwischenfuhr. Pierres kleiner Popo und sein Rücken waren mit roten Striemen bedeckt. Mit kalter Verachtung sah John seine Tante an.
»Was ist nur in Sie gefahren?«
Agatha ließ den Kleinen los, der sich augenblicklich in Charmaines Arme flüchtete. Dann richtete sie sich auf und strich in dem Versuch, einen letzten Rest Würde zu wahren, ihre Röcke glatt.
»Der Junge braucht eine feste Hand«, erklärte sie gebieterisch, während sie die Bürste in ihren Rockfalten zu verbergen suchte.
»Eine feste Hand?« John packte Agathas Handgelenk und entriss ihr die Bürste. »Eine grausame Hexe sind Sie! Sie hätten wahrlich verdient, dass ich diese Bürste gegen Sie erhebe!«
Agatha zuckte zusammen, als er die Bürste quer durch den Salon schleuderte. »Wie kannst du es wagen! Ich bin die Herrin dieses Hauses und erwarte Respekt. So redest du nicht mit mir! Ich verlange eine Entschuldigung!«
»Eher wird die Hölle gefrieren, bevor ich mich bei einer wie Ihnen entschuldige!«
»Wie kannst du es wagen!«
»Wie können Sie es wagen, diesen Jungen wegen einer Vase zu misshandeln?«, fauchte er. »Ich warne Sie, Agatha! Wenn Sie noch ein einziges Mal die Hand gegen eines der Kinder in diesem Haus erheben, werde ich sie Ihnen abreißen und an die Hunde verfüttern!«
»Wie kannst du nur! Wie kannst du nur!«
Ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, drehte John sich zu Charmaine um, die den kleinen Pierre an ihre Brust gedrückt hielt. Der klammerte sich an ihren Hals und hatte das Gesicht tief in ihrem Haar vergraben. Sein Heulen war inzwischen zu leisem Schluchzen verebbt. Tröstend strich John über den kleinen Rücken und fasste Charmaine am Ellenbogen. »Kommen Sie, gehen wir, bevor ich ihr noch den Hals umdrehe.«
Er drängte die Gouvernante hinaus und zögerte nur kurz, als Frederic mit finsterem Gesicht unter der Tür erschien. Aber John ließ sich nicht aufhalten, und so trat der ältere Mann zur Seite. Charmaine konnte die Kälte zwischen den beiden Männern förmlich spüren. »Er hat mich beleidigt, Frederic! Du hast nicht gehört, wie er mich vor dem Personal beschimpft hat! Ich bin …«
John und Charmaine eilten den Korridor entlang. Als sie beim Kinderzimmer anlangten, sah sie zu ihm auf und machte sich auf eine Reihe wütender Fragen gefasst. »Wo sind die Mädchen?«, fragte er stattdessen.
»Bei George im Stall. Sie bewundern das neue Fohlen.«
Charmaine war überrascht, als keine weiteren Fragen folgten und John nur zum Glockenzug ging, um einem der Hausmädchen zu läuten.
Charmaine legte Pierre ins Bett und setzte sich zu ihm. Um Trost zu finden, schlang der kleine Junge die Arme um sein Kissen, was ihr schlechtes Gewissen noch verstärkte. Sie hatte das Kind enttäuscht. Der Kummer brach ihr beinahe das Herz. »Es tut mir so sehr leid«, flüsterte sie.
Pierre schob seinen Daumen in den Mund und schloss die Augen vor der Welt.
In diesem Moment fühlte Charmaine eine Hand auf ihrer Schulter und sah zu ihrem Retter auf. »Danke«, stieß sie hervor. Nie hätte sie gedacht, dass sie das einmal zu John Duvoisin sagen würde.
Mit ernster Miene sah er sie an. »Und wofür?«
»Dass Sie Mrs. Duvoisin Einhalt geboten haben, dass …«
»Ich bin leider etwas spät gekommen.«
Charmaine sah auf den kleinen Körper hinunter und war sich ihrer Schuld sehr wohl bewusst. Niemals hätte sie den Jungen dieser heimtückischen Person übergeben dürfen. »Wie konnte sie ein unschuldiges Geschöpf nur so misshandeln?«
»Es ist unsagbar grausam«, sagte John. »Peitschenhiebe sind noch zu gut für sie.«
Als es klopfte, ließ er Anna eintreten. »Wir brauchen eine Schüssel mit kaltem Wasser und einige Lappen.«
Das Mädchen knickste und verschwand, und einige Minuten später war sie mit dem Gewünschten wieder da. John rollte die Ärmel hoch. Er tauchte einen Lappen ins Wasser, wrang ihn aus und legte ihn als kalte Kompresse auf den kleinen Popo.
»Das hilft gegen die Schwellung.«
Pierre schrak hoch und stöhnte. Charmaine kniete neben dem Bett nieder und streichelte seinen Rücken, während John die Umschläge auf der misshandelten Haut wechselte.
»Es tut mir sehr leid, Mainie.«
»Das weiß ich doch, Pierre. In Zukunft solltest du wirklich nicht mehr hingehen.«
»Das tue ich auch nicht mehr. Nie mehr.«
»Das ist gut«, murmelte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Als Pierre den Kopf im Kissen vergrub, nahm sie John die Kompresse aus der Hand. Die Striemen waren bereits deutlich schwächer geworden. Trotzdem fürchtete sie, dass Pierre ein oder zwei Tage lang nicht würde sitzen können.
»Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen, Miss Ryan«, sagte John, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. »Bei Kindern heilt das sehr schnell, außerdem finden wir sicher ein weiches Kissen.«
»Das alles hätte einfach nicht passieren dürfen! Ich hätte ihn nicht aus den Augen lassen dürfen, und ich hätte niemals zusehen dürfen, wie diese Frau die Hand gegen ihn erhob – trotz ihrer Drohungen.«
»Sie sind zu hart gegen sich, Mademoiselle. Die Sache wäre viel schlimmer ausgegangen, wenn Sie nicht dagewesen wären. Sie haben Pierre vor Agatha gerettet, und er weiß das. Es macht keinen Sinn, wenn Sie sich selbst bestrafen.«
Sie staunte über seine einfühlsamen, tröstenden Worte. Und ebenso wunderte sie sich, dass er ihr keine Vorwürfe machte, weil Pierre ihr entwischt war.
»Besser?«, fragte er stattdessen.
Sie nickte ein wenig verwirrt.
»Gut. Dann gehe ich jetzt. Und vertreten Sie mich gut, ja?«
Als sie schon wieder nickte, lächelte er – warm und ohne jeden Spott. Dann war er fort, und sie saß ungläubig da und konnte kaum fassen, wie sehr er ihr geholfen hatte.
Sonntag, 27. August 1837
John und Pierre saßen zusammen im Speisezimmer am großen Tisch, während fast alle Mitglieder der Familie und die Dienerschaft zur Messe gegangen waren. Weil die Holzbänke so hart waren, hatte John vorgeschlagen, dass er sich zu Hause um den Kleinen kümmern wollte.
John beugte sich nach vorn und betrachtete den Dreijährigen ebenso eindringlich wie dieser ihn. Ein wirklich netter Junge, dachte er. »Was schlägst du vor? Was sollen wir jetzt eine Stunde lang machen?«
»Fischen.«
»Fischen? Woher weißt du denn, was das ist?«
»Von Georgie. Ihr habt doch immer mit Gummy im Hafen gefischt.«
John lachte und wunderte sich insgeheim über Pierres Gedächtnis. »Eines Tages gehen wir fischen«, sagte er, »aber dann mit einem Ruderboot.«
Pierre neigte den Kopf zur Seite. »Was ist ein Ruderboot?«
»Ein kleines Boot, in dem nur ein paar Leute Platz haben«, erklärte John. »Damit kann man auf einem See oder einem Fluss fischen. Vielleicht schenke ich dir eines zum Geburtstag. Würde dir das gefallen?«
»Hm.« Pierre nickte begeistert.
»Also gut. Dort, wo ich wohne, gibt es einen breiten Fluss, den James. Würdest du gern dort mit mir angeln?«
Pierre überdachte, was sein Bruder gesagt hatte. »Wo du wohnst?«
»Ja, genau – in Virginia. Ich muss nämlich bald wieder nach Hause fahren.«
»Warum?«
»Weil ich dort arbeiten muss.«
»Warum?«
»Weil …« John wusste nicht weiter und musste lachen. »Das ist eben so. Würdest du gern mitkommen? Wir würden mit einem Schiff über den Ozean segeln und dann direkt in den James River und im Hafen der großen Stadt anlegen, wo mein Haus steht. Würde dir das gefallen?«
Nachdenklich sah Pierre seinen großen Bruder an. »Würde ich in deinem Haus wohnen?«
»Würdest du denn gern bei mir wohnen?«
»Nur, wenn Mainie mitkommt.«
»Nur, wenn Mainie mitkommt«, murmelte John leise. »Also gut, das müssen wir uns noch überlegen.« Zärtlich zauste er Pierres Haar.
Father Benito redete und redete, und Charmaine ertappte sich dabei, wie sie ins Träumen geriet. Agatha saß in der Reihe vor ihr, und Charmaine erinnerte sich wieder an Johns Auftritt im Salon. Hexe … das Wort hatte gewirkt. Bis heute Morgen hatte Mrs. Duvoisin ihren Salon nicht mehr verlassen, wofür Charmaine gar nicht genug danken konnte. Aber Frederics Reaktion stand noch aus und machte ihr Sorgen. Bisher hatte er sie noch nicht zur Rede gestellt, doch das würde sicher noch kommen.
John. Zwar entschuldigte sein beherztes Eingreifen seine früheren Verfehlungen in keiner Weise, aber es hatte wenigstens eine willkommene Atempause zur Folge. Charmaine senkte den Kopf, und als sie ein stilles Gebet für John sprach, hatte sie das Gefühl, als ob ihre Mutter sie darin bestärkte. Selbst gestern beim Dinner war er netter gewesen als sonst. In Abwesenheit von Paul und Agatha hatten sie in entspannter Atmosphäre gespeist, und John und George hatten zum Gaudium der Kinder in einem fort Witze erzählt und allerlei Unsinn getrieben. Den ganzen Abend über hatte sie keine spöttische Bemerkung hinnehmen müssen, und entsprechend unbesorgt hatte sie John heute Morgen mit der Sorge um Pierre betraut. Vielleicht lag ja das Schlimmste hinter ihnen, und sie hatten eine Art Waffenstillstand erreicht.
Nach dem Ende der Messe steuerte Stephen Westphal auf Paul zu.
»Was führt Sie denn zu uns in die Kapelle, Stephen?«, fragte Paul erstaunt.
Seit dem verhängnisvollen Dinner im letzten Dezember hatte sich Mr. Westphal nicht mehr in Les Charmantes blicken lassen. Er musterte Charmaine nur kurz. »Da ich Sie während der Woche nirgendwo erreichen konnte, hoffte ich, Sie heute hier zu treffen.«
»Und worum geht es?«
Agatha gesellte sich zu ihnen, und Stephen Westphal begrüßte sie mit einem Nicken. »Vielleicht sollten wir das besser im Arbeitszimmer besprechen. Es geht um etwas Geschäftliches. Außerdem ist die Sache vertraulich.«
»Sie können offen sprechen«, sagte Paul, den Westphals Geheimnistuerei sofort misstrauisch machte.
»Nun gut. Einige der Konten in Richmond, die Sie auflösen wollten, bestehen bereits nicht mehr.«
»Bestehen nicht mehr? Was soll das heißen?«
Westphal räusperte sich. »Die Gelder wurden bereits im März abgezogen, und zwar von Ihrem Bruder. Allem Anschein nach existiert bei der Virginia State Bank kein Guthaben mehr.«
Verdutzt rieb Paul seinen Nacken.
»Das ist ja fürchterlich!«, rief Agatha.
»Keine Sorge«, beschwichtigte Westphal sofort. »Ich habe Edward Richecourt beauftragt, sich mit der Bank of Richmond in Verbindung zu setzen. Die dortigen Konten bestehen nach wie vor. Von dort wurden auch die Rechnungen der Schiffswerften beglichen. Für die Zukunft halte ich es allerdings für ratsam, sämtliche Konten zu überprüfen, bevor weitere Zahlungen angewiesen werden.«
»Das können wir gleich erledigen, sobald ich meinen Bruder finde«, sagte Paul. »Vermutlich schläft er noch.«
»Er ist schon auf«, meldete sich Yvette zu Wort. »Er spielt im Speisezimmer mit Pierre.«
»Mit Pierre?« In diesem Moment fiel Paul erst auf, dass der Dreijährige fehlte. »Etwa allein?« Besorgt sah er Charmaine an. »Sie haben ihn allein bei John gelassen?«
»Ja …« Charmaine war ein wenig verunsichert. »Dort ist er doch gut aufgehoben.«
Wortlos verließ Paul die Kapelle. Stephen warf Agatha einen fragenden Blick zu, bevor er Paul nacheilte. Beklommen folgten die Mädchen und Charmaine. Warum hatte Paul sie so entgeistert angesehen, als ob Pierre in Gefahr sei? John würde seinen kleinen Bruder doch nie in Gefahr bringen!
Als sie das Speisezimmer erreichten, thronte Pierre glücklich auf dem Schoß seines Bruders.
»Was ist los, Paulie?«, fragte John, als sein Bruder mit seinem kleinen Gefolge hereinplatzte. »Du siehst aus, als ob du ein Gespenst gesehen hättest!«
Paul schnaubte nur.
Fragend sah Charmaine von einem Bruder zum anderen, doch in ihren Mienen war nichts zu lesen. Ihre Unruhe wuchs. Pierre geht es bestens – warum also die Aufregung?
»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, John«, sagte Stephen Westphal in die Stille hinein und streckte John die Hand entgegen.
»Ist das wahr?« John machte keine Anstalten, sich zu erheben, und übersah auch die Hand geflissentlich.
»Aber natürlich«, erwiderte der Banker irritiert und ließ den Arm sinken. »Anne hat in ihren Briefen oft von Ihnen berichtet. Es freut mich, dass sich Ihre Geschäfte so blendend entwickeln.«
John schnaubte. »Blendend? Hat sie das so geschrieben?«
»Nun … ja.«
Westphal nestelte an seinem Kragen. Er hatte völlig vergessen, wie ungehobelt John sein konnte. Zehn Jahre in Amerika hatten den rauen Umgangston nicht verbessert.
»Hat Ihre Tochter auch erwähnt, dass Sie mich durch ganz Virginia verfolgt hat und ich nach New York gereist bin, um ihr zu entkommen?«
»Nein … nein, natürlich nicht«, sagte Westphal entrüstet. Er ließ ein gekünsteltes Lachen hören, als ob John nur gescherzt hätte. »Sie lässt mich in dem Glauben, dass … nun, dass …«
»Nun, Mr. Westphal, wie ich sehe, macht Ihre Tochter Ihnen falsche Hoffnungen. Erlauben Sie, dass ich etwas richtigstelle: Ich habe nicht die Absicht, um die Hand Ihrer Tochter anzuhalten. Gibt es noch anderes, worüber man Sie im Unklaren lässt?«
Zu Charmaines Entzücken rötete sich das Gesicht des Mannes vor Wut. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, stotterte er. Als John schwieg, machte Westphal auf dem Absatz kehrt und eilte ins Foyer hinaus.
»Mir geht er ebenfalls auf die Nerven«, sagte Paul, während sich alle setzten. »Trotzdem hättest du ihm nicht so unverblümt die Meinung sagen müssen.«
»Ach nein? Glaube mir, es ist so am besten. Im Gegensatz zu Mrs. London hat er meine Botschaft genau verstanden und wird seiner Tochter vielleicht begreiflich machen, dass sie nur ihre Zeit vergeudet. Ich bin ihrer Nachstellungen müde und will die Sache endgültig beenden.«
Paul schüttelte stumm den Kopf und wechselte das Thema. »Ich muss mit dir über unsere Konten bei der Virginia State Bank reden. Du hast zwei davon geschlossen. Aus welchem Grund?«
John lehnte sich zurück. »Es erschien mir unklug, unser gesamtes Geld im Süden zu belassen, also habe ich einen Teil nach New York transferiert. Warum fragst du?«
»Ich habe Wechsel auf diese Konten ausgestellt und wüsste gern, warum du mich nicht über deine Maßnahmen informiert hast.«
»Von den Wechseln hatte ich keine Ahnung. Warum hast du mir das denn nicht gesagt?«
Paul ließ die Diskussion an diesem Punkt lieber auf sich beruhen und griff stattdessen nach der Zeitung.
Die Kinder hatten gerade ihre Sonntagskleider gegen bequeme Sachen für den Stall eingetauscht, als es an der Tür klopfte.
Jeannette öffnete. »Papa!«
Charmaine knotete Pierres Schnürsenkel in aller Ruhe fertig. Dann stand sie auf und machte sich innerlich auf Frederics Vorwürfe gefasst.
»Guten Morgen, Jeannette. Wo wollt ihr denn hin?«
»In den Stall. Wir wollen das neue Fohlen besuchen!«
»Chastity hat seit gestern ein Fohlen«, erklärte Yvette. »Wir waren so oft dort, dass es uns schon für seine Besitzer hält. Vielleicht könnte ich es ja bekommen?«
»Das kann ich jetzt noch nicht sagen, mein Kind«, antwortete ihr Vater mit ernster Miene. »Wenn das Fohlen seinem Vater nachschlägt, könnte es als ausgewachsener Hengst eines Tages zu mächtig für dich sein.«
Yvette zog eine Schnute, doch Frederic lachte leise in sich hinein. »Warum lauft ihr nicht schon zur Koppel voraus? Ich möchte noch kurz mit eurer Gouvernante reden.«
Eine weitere Ermunterung war nicht nötig, und schon rannten die Mädchen davon. Nur Pierre spielte noch auf allen vieren mit seinen Klötzchen.
Frederic musste Charmaines Anspannung gespürt haben, denn er kam ohne Umschweife auf den Punkt. »Ich möchte mich ausdrücklich für das Benehmen meiner Frau entschuldigen, Miss Ryan. Das wird nicht wieder vorkommen.« Charmaine stand da wie vom Donner gerührt, doch Frederic hatte nur Augen für seinen Sohn. »Wie geht es ihm?«
»Jeden Tag besser, Sir. Ich hatte ihn zu einem Nickerchen ins Bett gelegt, doch als ich nach ihm sah, war er fort. Ich nehme an, dass er in Mrs. Duvoisins Salon gelaufen ist, weil dort früher seine …«
»Sie müssen sich nicht rechtfertigen, Charmaine. Ich bin mit der Art und Weise, wie Sie meine Kinder umsorgen, sehr zufrieden und mache mir nicht die geringsten Sorgen.«
Als der unangenehme Teil erledigt war, rief Frederic seinen Sohn zu sich und verlangte einen Kuss, den der Kleine ihm nur gar zu gern gab.
Am Abend kam John nach oben, um den Kindern eine gute Nacht zu wünschen. Von der Schwelle aus beobachtete er, wie Charmaine sich abmühte, um den zappelnden Pierre in seinen Schlafanzug zu stecken. Doch der Kleine wand und wehrte sich nach Kräften und kicherte, als er John entdeckte.
Charmaine schmunzelte. »Wie man sieht, hat er sich bereits blendend erholt.«
»Johnny«, rief Yvette, bevor er etwas erwidern konnte, »stimmt es, dass du Mr. Westphals Tochter nicht heiraten willst?«
»Ja, das stimmt.«
»Zum Glück! Ich will nämlich nicht, dass du überhaupt heiratest. Und sie schon gar nicht!«
Yvettes unverblümte Offenheit ließ John schmunzeln.
»Ist sie wirklich so reich, wie ihr Vater sagt?«
»Ihr verstorbener Mann war sehr vermögend, und eines Tages wird sie auch noch das Geld ihres Vaters erben«, antwortete John. »Warum fragst du?«
»Warum will sie dich denn heiraten, wenn sie schon reich ist?«
John lachte aus vollem Hals. »Weil ich so liebenswert bin, natürlich.«
Charmaine verdrehte die Augen – obwohl sich John genau in diesem Augenblick zu ihr umdrehte.
»Das glaube ich nicht!«, widersprach Yvette. »Das ist doch kein Grund.«
»Manche Menschen haben nie genug – ganz gleich, wie viel sie besitzen. Also heiraten sie immer noch mehr Geld dazu.«
»Aber du machst das nicht, Johnny, oder?«
»Wenn ich überhaupt heirate, meine Süße, dann nur eine Frau, der es egal ist, wie viel Geld ich besitze, und die glücklich ist, dass sie mit mir verheiratet ist. Genau das wünsche ich eines Tages auch dir.«
Charmaine war überrascht und senkte den Kopf. Er sollte nicht sehen, wie sehr ihr gefiel, was er den Mädchen sagte.
»Wie bei Cinderella?«, fragte Jeannette mit leuchtenden Augen.
John nickte. »Ja, genau wie bei Cinderella.«
»Aber die böse Stiefmutter«, meinte Yvette, »lässt dich nicht den Boden fegen, oder, Johnny?«
John lachte. »Auf gar keinen Fall. Ihren Besen fasse ich nicht an! Womit sollte sie denn sonst fliegen?«
Montag, 28. August 1837
Da Fatima noch auf dem Markt war und die Kinder Hunger verspürten, richtete Charmaine ihnen einen kleinen Imbiss her. Als Felicia und Anna in die Küche kamen, sah sie kurz auf, bevor sie sich wieder den Sandwiches widmete.
Charmaines Gleichmut reizte Felicia. »Wie ich schon gesagt habe«, legte sie los, »gefalle ich ihm ganz bestimmt. Warte nur ab. Ich muss nicht einmal so tun, als ob ich noch unschuldig wäre. Der mag doch keine altmodischen Mädchen. Was glauben Sie, Mademoiselle? Habe ich Chancen?«
Ohne aufzusehen, butterte Charmaine die Brotscheiben. »Chancen worauf?«
Felicias Lachen klang gekünstelt. »Da haben wir es! Sie spielt schon wieder die Naive! Mit Ihrem vornehmen Getue halten Sie sich wohl für was Besseres, oder? Seit Sie in den unteren Stock gezogen sind, geht das jetzt so. Denken Sie doch, was Sie wollen – aber Sie sind trotzdem nur eine Bedienstete. Genau wie Anna und ich. Sie sollten den Leuten nichts vormachen. Sie sind schließlich nur die Tochter eines Mörders und sogar noch schlechter als wir!«
Charmaine schnitt eine Grimasse. Sie war verletzt und zugleich sprachlos. Was hatte sie nur getan? Was hatte dieses gehässige Gerede nach so vielen Wochen wieder zum Leben erweckt?
»Ich wüsste gern, worauf Sie es eigentlich abgesehen haben, Mademoiselle«, fuhr das reizlose Geschöpf fort. »Sie haben Paul fast ein ganzes Jahr lang umgarnt – aber ohne Erfolg. Wollen Sie ihn jetzt eifersüchtig machen, indem Sie sich den größeren Fisch angeln? Was meinst du, Anna? Ist sie darauf aus?«
Annas Nicken befeuerte Felicias Phantasien.
Sie grinste und redete mit Anna, als ob Charmaine Luft für sie sei. »Mademoiselle Ryan wird sich ganz schön wundern, wenn sie glaubt, dass sie John auf dieselbe Weise umgarnen kann, wie sie das bisher bei seinem Bruder gemacht hat.«
»John?« Charmaine stockte der Atem. »Den überlasse ich Ihnen mit Freuden!«
»Wie großzügig von Ihnen!« Felicias Augen waren so hart wie Granit, und ihre Stimme war kalt wie Eis. »Ich registriere alle Veränderungen im Haus. Heute noch verfeindet – und am nächsten Tag dicke Freunde. Wie haben Sie das gemacht? Haben Sie hinter Pauls Rücken heimlich die Röcke gehoben?«
Angewidert packte Charmaine das Tablett und eilte über die Dienertreppe davon.
»So ist es richtig, Mademoiselle«, rief Felicia ihr nach. »Rennen Sie nur zurück zu den Kindern, und überlassen Sie die Männer mir. Doch wenn Sie weiter Ihre Spielchen treiben wollen, so halten Sie sich gefälligst an Paul und lassen Sie John in Ruhe!«
Kochend vor Wut erreichte Charmaine das Kinderzimmer, doch im nächsten Moment schob sie den Gedanken an Felicia beiseite und zwang sich zu einem Lächeln, als sie das Tablett vor Pierre und Rose auf den Tisch stellte. Dann setzte sie sich neben Jeannette, die in ein Buch vertieft war. »Das scheint ganz schön spannend zu sein.«
»Hm?« Abwesend hob die Kleine den Blick. »O ja, Mademoiselle! Glauben Sie, dass ein Mensch zum Vampir werden kann?«
»Zu einem Vampir? Handelt das Buch von Vampiren?«
»Ja. Vampire sind schrecklich. Es sind lebendige Tote«, erklärte sie mit großen, bangen Augen. »Am Tag schlafen sie im Grab, aber wenn es dunkel wird, stehen sie auf und suchen nach Opfern …«
»Hör auf, Jeannette, solche Geschichten jagen deinem Bruder doch Angst ein! Warum liest du überhaupt solche Bücher?« Sie nahm Jeannette das Buch aus der Hand und blätterte darin. »Wo hast du das denn bloß her?«
»Yvette hat es vor ein paar Tagen in der Bibliothek gefunden«, erklärte Jeannette. »Sie will es lesen, sobald sie mit Frankenstein fertig ist.«
»Frankenstein?« Entgeistert sah Charmaine zu Yvette hinüber, die vor den französischen Türen auf dem Boden lag und las.
»Die Geschichte ist noch gruseliger als die über die Vampire«, sagte Yvette. »Hören Sie nur …« Und dann folgten einige abscheuliche Einzelheiten.
Charmaine hatte genug gehört. Sie ging zu Yvette und nahm ihr das Buch aus der Hand. »Mary Shelley … Wo hast du das Buch her?«
»Von Johnny. Mary Shelley schreibt, dass sich eine Leiche über sie beugt …«
»Eine Leiche?« Charmaine schnappte nach Luft. »Weshalb sollte jemand, und erst recht eine Frau, eine so furchtbare Geschichte zu Papier bringen?«
»Um eine Wette zu gewinnen.«
»Wie bitte?«
»Johnny hat gesagt, dass Mary Shelley und ihre Freunde gewettet haben, wer die gruseligste Geschichte schreiben kann.«
»Und hat sie gewonnen?«
»Ich glaube, ja. Sie würden sich doch auch gruseln, wenn Dr. Frankenstein Tote zum Leben erweckt, oder?«
»Er erweckt Tote zum Leben? Aber, Yvette! Das ist Gotteslästerung!«
»Er holt die Leichen aus dem Grab …«
»Es reicht, Yvette!«, schimpfte Charmaine und klappte das Buch zu.
Rose pflichtete ihr bei.
»Von jetzt an will ich kein Wort mehr über entweihte Gräber und zum Leben erweckte Tote hören«, erklärte Charmaine. »Und damit wir uns richtig verstehen: Dieses Buch hebe ich auf, bis du älter bist.«
»Aber das geht nicht, Mademoiselle! Ich muss es zu Ende lesen, sonst …«
»Sonst?« Charmaine bemerkte den Blick, den Yvette ihrer Schwester zuwarf. »Heraus mit der Sprache, oder du siehst das Buch nie wieder!«
»Das ist unfair!«, schimpfte das Mädchen. Und nach kurzer Überlegung fügte sie hinzu: »Na gut. Joseph behauptet, dass ich feige bin und schon vor dem Ende heulen würde. Ich muss es also bis zum Ende lesen!«
»Warum lässt du dich ärgern? Joseph ist fünf Jahre älter als du und weiß genau, wie er dich reizen kann.«
»Das ist nicht wahr! Und wenn ich die Wette gewonnen habe, ist er der Feigling!«
»Welche Wette? Dabei ist hoffentlich kein Geld im Spiel, oder etwa doch?«
Yvette schüttelte den Kopf, aber Charmaine war nicht überzeugt. Trotzdem gab sie Yvette das Buch unter der Bedingung zurück, dass sie nach der Wette nicht mehr über diese makaberen Geschichten reden würde.
Dienstag, 29. August 1837
John steckte den Kopf ins Kinderzimmer. »Rose fühlt sich nicht wohl.«
»Ich weiß«, entgegnete Charmaine ruhig.
»Sie hat den Unterricht der Mädchen erwähnt. Wenn es Ihnen recht ist, könnte ich mich in der Zeit um Pierre kümmern.«
Charmaine war über diese Lösung zwar nicht glücklich, aber schließlich war sie einverstanden. Es dauerte keine dreißig Minuten, bis die Mädchen John zu ihren Schreibpulten gelockt hatten und er seine Aufmerksamkeit unter den Kindern aufteilen musste.
Anfangs hatte Charmaine John keinen Einblick in ihren bisherigen Unterrichtsstoff gewähren wollen, weil sie Kritik an ihrem unvollkommenen Wissen fürchtete. Doch John schien das alles gar nicht zu interessieren. Stattdessen entführte er die Kinder auf Phantasiereisen in unerforschte Gebiete und weckte ihre Neugier, indem er einen atemberaubenden Teppich aus rätselhaften Tatsachen und neuen Erkenntnissen wob. Sie fuhren mit der Dampflokomotive von Richmond nach Washington, wo sie in einen Heißluftballon kletterten und die restliche Strecke nach New York zurücklegten. Dort besuchten sie ein Baseballspiel, aßen mitten im August ein Eis und fuhren mit dem Omnibus zum Zirkus, wo sie eine Meerjungfrau und einen Mann mit zwei Köpfen bewunderten. Anschließend verlegte sich John auf seltsame Geschichten, die er in Versen vortrug, und als ihm kein Reim mehr einfallen wollte, erfand er einfach neue Wörter, bis das Lachen der Kinder von den Wänden widerhallte und ihre Gesichter vor Begeisterung leuchteten.
Als sich der Unterricht dem Ende näherte, war Charmaine tief beeindruckt. Sie hatte noch nie erlebt, dass sich ein Mann so auf Kinder einließ, wie John das tat. Er hatte ihre Herzen von Neuem erobert, wenn das überhaupt möglich war. Die Kinder profitierten von seinem Wissen, und er konnte sich in die Oase ihrer Zuneigung flüchten, wenn ihm von allen Seiten Abneigung entgegenschlug.
Charmaine war begeistert davon, wie John die Kinder fesselte. Sie hatte sie noch nie so glücklich erlebt – nicht einmal zu Colettes Lebzeiten. Neidlos musste sie anerkennen, dass er der bessere Lehrer war. Doch wie hätte sie auch mit ihm konkurrieren können? Und wollte sie das überhaupt? Sein Alter, seine Lebenserfahrung und das Privileg eines großen Vermögens waren Vorteile, die ihn zum idealen Lehrer für die Mädchen machten – und genauso für Pierre.
Als die Zwillinge John am Ende des Unterrichts baten, am nächsten Tag wieder mit ihnen zu lernen, sah er Charmaine an und wartete stumm auf ihre Zustimmung. Ihre Zustimmung! Fast hätte sie gelacht. Er hatte ihr Einverständnis doch gar nicht nötig. Warum also hatte er sie trotzdem angesehen? Woher rührte der plötzliche Respekt? Was war der Grund für sein verändertes Benehmen?
Je länger sie überlegte, desto verwirrter wurde sie. War Pierres Misshandlung der Grund, dass John sie plötzlich wie eine Lady behandelte? Zumindest war dieser Vorfall der Wendepunkt gewesen, dachte sie. Vom ersten Tag an hatte John sie für eines von Pauls billigen Mädchen gehalten, doch was hatte ihn inzwischen anderen Sinnes werden lassen?
Was auch immer der Grund war – sie hatte jedenfalls nicht die Absicht, ihr Glück zu hinterfragen. Und sie wollte es auch nicht gefährden, indem sie John vom Unterricht ausschloss. Solange er sie gut behandelte, würde sie seine Freundlichkeit erwidern. Zumindest verhieß der heutige Tag eine bessere Zukunft!
Freitag, 1. September 1837
Kurz vor Mitternacht öffneten sich die französischen Türen ein weiteres Mal auf geheimnisvolle Weise. Zitternd vor Angst rannte Jeannette zu Charmaine hinüber.
»Vielleicht hat Yvette ja die Tür geöffnet«, vermutete Charmaine. »Heute war es schließlich furchtbar heiß.«
»Das habe ich nicht gemacht!«
Nach Charmaines Geschmack kam der Widerspruch aus dem Nachbarzimmer etwas zu schnell. Dieselbe Szene hatten sie bereits vor zwei Wochen erlebt. Sicher war das Ganze nur ein Streich. In letzter Zeit spukten nicht nur Monster und Vampire in den Köpfen der Mädchen herum, sondern seit Neuestem auch Geister.
Mit einem Seufzer scheuchte die Gouvernante Jeannette zurück ins Bett und sah Yvette eindringlich an.
»Sie glauben, dass ich die Tür aufgemacht habe, nicht wahr?«
»Ich glaube, dass du Joseph beweisen wolltest, dass er feige ist und sich vor Geistern fürchtet.«
Yvette verschränkte die Arme und stritt alles ab.
Charmaine glaubte ihr kein Wort, aber Jeannette tat es und war kaum zu beruhigen. Als Schritte auf dem Korridor zu hören waren, fasste Charmaine den Entschluss, sich Hilfe zu holen. »Wenn dein Bruder sagt, dass es keine Geister gibt, glaubst du es dann?«
Es erfolgte ein halbherziges Nicken.
Charmaine sah auf Pierre hinunter, der sein kleines Stofflamm umschlungen hielt. Er schlief tief und fest und hatte von der Aufregung nichts mitbekommen. Rasch schlüpfte sie in ihren Morgenmantel und schlich hinaus auf den Korridor.
Die Tür zu Pauls Ankleidezimmer war nur angelehnt, und aus dem Spalt sickerte sanfter Lichtschein in den Flur. Sie hob die Hand, um zu klopfen, aber dann zögerte sie.
»Haben Sie es sich anders überlegt?«
Sie fuhr herum und seufzte erleichtert, als sie John die letzten Stufen heraufkommen sah. »Haben Sie mich erschreckt!«
»Das glaube ich gern«, bemerkte er sarkastisch. »Ein guter Rat: Der Weg über die Veranda fällt weniger auf.«
»Die Veranda?«, wiederholte Charmaine verständnislos, aber dann dämmerte es ihr. »Oh, Sie missverstehen da etwas. Ich wollte Ihren Bruder lediglich um einen Gefallen bitten.«
»Um einen Gefallen?« Ein schiefes Grinsen spielte um seine Lippen. »Sollte er denn nicht eigentlich Sie bitten?«
»Sir, Sie missverstehen mich.«
John schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
»Sir?«
»Mademoiselle?«
Es gab keinen anderen Weg. Außerdem war er ohnehin der Beste, wenn es galt, seine verzweifelte Schwester zu beruhigen. »Haben Sie einen Augenblick Zeit?«
»Die ganze Nacht.«
Verlegenheit überkam sie. »Ach, vergessen Sie es. Ich komme auch allein zurecht.«
John stutzte und holte sie an der Kinderzimmertür ein. »Wobei kann ich Ihnen helfen, Miss Ryan?«
Nachdem sie ihm die Lage erläutert hatte, betrat er das Zimmer und ging zu Jeannettes Bett.
»Miss Ryan hat mir gesagt, dass du dich fürchtest.«
»Die Balkontüren gehen immer von allein auf«, klagte Jeannette und sah zu ihrer Schwester hinüber, die zwar wach war, aber nichts dazu sagte.
Johns Blick richtete sich auf Yvette. »Und du weißt nicht, wer sie aufgemacht hat?«
»Nein. Beim letzten Mal habe ich jemanden gesehen. Aber heute Nacht habe ich nur etwas gehört.«
»Vielleicht hast du dir das ja alles eingebildet – nach den vielen Geistergeschichten, die du gelesen hast.«
»Ganz bestimmt nicht. Als es das letzte Mal passiert ist, hatte ich die Geschichten noch gar nicht gelesen. Außerdem öffnen sich Türen nicht von allein.«
»Manchmal schon«, sagte John.
»Wirklich?«, fragten beide Mädchen wie aus einem Mund.
»Aber natürlich.« Er erklärte ihnen, wie ein Windstoß eine Tür in Bewegung setzen konnte, und kurz darauf lächelte Jeannette und gestand, dass sie sich nun nicht mehr fürchtete.
»Aber wie konnte sich der Riegel von allein öffnen?«, fragte Yvette.
»Diese Türen schließen sehr schlecht. Da kann es schon vorkommen, dass ein Riegel nicht ganz einschnappt. So war es vermutlich auch heute Nacht. Würden Sie dem zustimmen, Miss Ryan?«
»Absolut.«
Yvette brummte nur und streckte sich aus.
John ging zu den französischen Türen hinüber und öffnete sie. »Morgen wird es wieder sehr heiß. Genießt lieber die kühle Brise, solange sie noch weht.«
»Nein!«, rief Jeannette. Als sie merkte, dass Pierre unruhig wurde, sprach sie leiser. »Bitte, mach die Türen zu, Johnny, und zwar richtig. Sonst fürchte ich mich.«
»Ich dachte, das wäre vorbei.«
»Ich habe Angst, dass jemand hereinschleicht … so wie beim letzten Mal.«
»Der Einzige, der noch so spät in der Nacht ums Haus schleicht, ist George, wenn er in Cookies Vorratskammer nach Leckereien sucht«, bemerkte John.
Die Mädchen kicherten fröhlich, wie John erwartet hatte. Doch leider weckten sie damit ihren kleinen Bruder.
Die Sache artet allmählich zu einer mitternächtlichen Party aus, dachte Charmaine und seufzte.
John bemerkte ihr Missfallen und wandte sich dem Kleinen zu. »Komm, schlaf wieder ein.« Er streichelte ihm sanft übers Haar. »Ihr müsst keine Angst haben, Kinder. Es ist alles in Ordnung. Miss Ryan schläft gleich nebenan, und ich bin auch nicht weit fort. Ihr müsst nur rufen.«
»Ich danke Ihnen«, flüsterte Charmaine, als sie ihn an die Tür begleitete. Seine Nähe verwirrte sie.
»Sie können mich jederzeit rufen.«
»Johnny?«, rief Jeannette. »Glaubst du, dass es Monster gibt?«
Er sah zu ihr zurück. »Aber natürlich.«
»Hast du schon eines gesehen?«
»Heute Morgen beim Frühstück, zum Beispiel.«
»Wirklich?«
»Hast du es denn nicht gesehen?«
»Nein.«
»Ich verstehe nicht, wie du es übersehen konntest«, fuhr er mit todernster Miene fort. »Es hat doch am Ende der Tafel gesessen und seine riesige Nase in die Luft gereckt.«
Die Mädchen brachen in Gelächter aus, und sogar Charmaine kicherte leise.
»Wisst ihr eigentlich«, begann John und ging noch einmal zu den Betten der Kinder hinüber, »dass Paul sich schrecklich vor Cookie gefürchtet hat, als sie zu uns kam?«
»Warum?«
»Als die Köchin eingestellt wurde, waren wir noch ziemlich klein – ungefähr fünf oder sechs Jahre alt. Paul hielt Cookie für den Boo-Bock.«
»Wer ist der Boo-Bock?«
»Ein Monster, natürlich«, erklärte John und erzählte dann eine längere Geschichte davon, wie er Paul eingeredet hatte, dass die freundliche Cookie ihn vergiften wollte. Wie gebannt hingen die Kinder an seinen Lippen und lachten hin und wieder – ganz besonders, wenn ihr Vater Paul mit der Rute drohte, falls er sich weiter so respektlos benahm. Charmaine wusste zwar, dass die Geschichte als Ablenkung gedacht war, doch sie ahnte, dass keine dieser Grausamkeiten erfunden war.
John bemerkte ihre verächtliche Miene. »Zu meiner Entschuldigung kann ich nur sagen, dass Paul sich mit ähnlichen Streichen schadlos gehalten hat.«
»Kein Wunder, nach dieser erfolgreichen Lehrstunde!«
»Das ist wahr. Es tut mir leid, wenn Ihnen meine Geschichte nicht gefallen hat.«
Charmaine bedauerte ihre Bemerkung. »Es tut mir leid, aber ich habe keine Brüder und kann vielleicht nicht beurteilen, wie Jungen sich benehmen. Ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihre Hilfe.«
»Nun gut, dabei wollen wir es belassen.« John zwinkerte den Mädchen zu.
»Wenn du da bist, fürchte ich mich überhaupt nicht mehr«, sagte Jeannette. »Kannst du nicht heute Nacht hier schlafen, Johnny?«
»Und wo, wenn ich fragen darf?«
»In Pierres Bett. Ihm macht das bestimmt nichts aus. Nicht wahr, Pierre?«
Der Kleine schüttelte schlaftrunken den Kopf. »Nein. Das macht mir nichts aus.«
»Siehst du? Bitte, bleib hier!«
John tat, als ob er überlegen müsste, und Charmaines Sorge wuchs, als sie an die Verbindungstür und den leichten Zugang zu ihrem Zimmer dachte.
»Das war ganz schön unfair. Ihr habt es eurem Bruder eingeredet.«
»Das stimmt nicht«, wehrte sich der Kleine, dessen Bäckchen im Lampenlicht rosig schimmerten. »Ich will es auch.«
Charmaine wartete auf Johns Antwort und beobachtete gerührt, welche Sanftheit, ja, Verletzlichkeit sich auf seinen Zügen malte. »Offenbar bin ich überstimmt. Wenn Miss Ryan keine Einwände hat, muss ich wohl hierbleiben.« Er sah sie an.
Unter seinem prüfenden Blick schlang sie die Arme um sich. »Ich habe nichts dagegen«, murmelte sie.
Er nickte und wandte sich ab. In diesem Augenblick war er seinem Vater unglaublich ähnlich – dieselbe magnetische Ausstrahlung. Es war beinahe unheimlich. John und Frederic sind sich in vielem ähnlich … aber sie würden es beide vehement bestreiten, sobald jemand das laut ausspricht. Kein Wunder, dass sie so oft aneinandergerieten. Zwei so starke Persönlichkeiten in einer Familie konnten wahrscheinlich nur schwer miteinander auskommen, ohne dass es zu Auseinandersetzungen kam.
Diese Einsicht bewog Charmaine, sich den Mann noch einmal näher anzusehen. Er saß neben Pierre auf dem Bett und zog seine Stiefel aus. Rein äußerlich hatte John große Ähnlichkeiten mit seinem Vater: dasselbe dichte Haar, ein ausgeprägtes Kinn, eine scharfe Nase und schmale Lippen. So gesehen war auch Paul unverkennbar ein Duvoisin. Doch im Gegensatz zu John besaß er charakterlich so gut wie keine Ähnlichkeit mit seinem Vater. Mit Johns Selbstsicherheit und Zielstrebigkeit konnte Paul nur schwer mithalten.
John nestelte an seiner Gürtelschnalle. »Wollen Sie mich noch ins Bett bringen, my charm? Oder darf ich auf etwas Diskretion hoffen?«
Die Zwillinge kicherten, und Charmaine lief feuerrot an, als ihr bewusst wurde, wie ungeniert sie ihn angestarrt hatte. »Ich … es … es tut mir entsetzlich leid!«, stotterte sie. »Ich wollte … ich meine, ich wollte Sie doch nicht …«
»Dessen bin ich sicher«, unterbrach er sie lachend.
Als sie merkte, dass er im Begriff stand, sein Hemd auszuziehen, eilte sie zur Tür. Doch als sie sich kurz umsah, um den Kindern eine gute Nacht zu wünschen, stellte sie fest, dass er das Hemd nur aus der Hose gezogen und sich bereits neben Pierre ausgestreckt hatte.
»Wir kampieren heute zusammen, mein Kleiner.«
So leicht brachte man sie nicht in Verlegenheit! Entschlossen ging Charmaine zu Jeannettes Bett hinüber. »Ich will dich nur noch schnell zudecken.« Mit diesen Worten zog sie die Decke nach oben und gab dem Mädchen einen Kuss. Dann war Yvette an der Reihe. »Und dass ihr nicht mehr redet«, ermahnte sie die Kinder leise. Dann trat sie an Pierres Bett und hob das Stofflämmchen auf, das zu Boden gefallen war. Sie legte es ihm in den Arm und küsste ihn auf die Stirn.
John spielte den Enttäuschten. »Bekomme ich keinen Kuss?«
Die Zwillinge kicherten.
»Ich küsse nur liebe Jungen.«
Wieder kicherten die Zwillinge.
»Aber ungezogene Jungen küssen besser.«
Das Gekicher wurde lauter.
»Gute Nacht, Master John.«
Die Fröhlichkeit der Kinder folgte ihr bis in ihr Zimmer.
»Hört lieber auf zu lachen«, warnte John, »sonst versohlt mir Miss Ryan noch den Allerwertesten. Einen Kuss kann ich ja ertragen, aber Schläge nicht. Niemals!«
Paul war erschöpft, doch er fand keinen Schlaf. Der Tag war unerträglich heiß gewesen, und die Luft in seinen Räumen war stickig. Im Augenblick stand er auf der Veranda und sog die kühle Nachtluft ein. Es war unmöglich, das Arbeitstempo auf Charmantes im selben Rhythmus beizubehalten und gleichzeitig Espoir aufzubauen. Zum Glück war George wieder da. Aber gleichzeitig waren neue Probleme aufgetaucht. Das Größte betraf die neu angelegten Tabakfelder. Aber selbst das wäre nur halb so schlimm, wenn er nicht gleichzeitig auf Espoir gebraucht würde. Die Lieferungen waren eingetroffen, man hatte mit den Bauarbeiten begonnen und auch schon das erste Zuckerrohr gepflanzt. All das machte seine Anwesenheit für eine weitere Woche erforderlich. Sein Bruder kannte sich mit Tabakpflanzungen aus. Ob er bereit war, ihm während seiner Abwesenheit auszuhelfen?
Stimmen mischten sich in Charmaines Träume, doch als sie plötzlich verstummten, schrak sie hoch. Es war dunkel. Aber dann kehrten die Stimmen zurück. Sie kamen aus dem Zimmer der Kinder – und eine war tief und wütend. Charmaine sprang aus dem Bett und riss die Tür auf.
John stand mitten im Zimmer, hielt einen zappelnden Joseph Thornfield am Kragen gepackt und deutete auf das zerknüllte Leintuch zu seinen Füßen.
»Ich habe es doch schon gesagt, Sir«, stotterte der Junge vor Angst. »Ich hatte nichts Böses im Sinn!«
»Du hattest nichts Böses im Sinn!«, wiederholte John ungläubig. »Du schleichst mitten in der Nacht als Geist über die Veranda – und willst mir weismachen, dass du nichts Böses im Sinn hattest?«
»So ist es, Sir.«
»John … ich meine, Sir«, verbesserte sich Charmaine, »bitte lassen Sie den Jungen laufen.«
»Ich soll ihn laufen lassen? Ja, sehen Sie denn nicht, was er vorhatte?«
»Das sehe ich sehr wohl, Sir, aber Joseph war das nicht allein. Stimmt es, Yvette?«
John runzelte die Stirn, doch als er den mordlustigen Blick gewahrte, mit dem Yvette den armen Joseph bedachte, dämmerte ihm der Zusammenhang.
»Es war doch nur eine Wette«, verteidigte sich Yvette. »Aber du hast mich nicht erschreckt, Joseph Thornfield, also hast du die Wette leider verloren.«
»Die Wette?« John schüttelte den jungen Mann am Kragen. »Heißt das, dass du – wer weiß wie oft – in dieses Zimmer gekrochen bist, nur um eine Wette zu gewinnen?«
»Nur heute Abend, Sir!«
»Du lügst!« Yvettes Augen funkelten. »Du hast Jeannette schon einmal erschreckt!«
»Das ist nicht wahr! Ich schwöre, dass ich das nicht getan habe! Dies war das erste Mal!«
»Das sagst du nur, damit du deinen Dollar nicht verlierst!«
»Das ist nicht wahr! Hier, nimm das Geld. Dann siehst du ja, dass es mir egal ist.« Er fischte einen zerknitterten Schein aus der Tasche und hielt ihn Yvette hin.
Blitzschnell nahm John den Schein an sich, obwohl er wusste, dass er für den Jungen sehr viel Geld bedeutete. »Ist das dein Einsatz?«
»Ja, Sir, aber …«
»Und du denkst, dass du die Wette verloren hast, weil du sie nicht erschreckt hast?«
»Nein, Sir, aber …«
»Warum, zum Teufel, gibst du ihr dann das Geld? Egal. Ich werde es für dich aufheben.« Er fuchtelte mit der Banknote unter Josephs Nase herum. »Wenn du mir beweist, dass du deinen Monatslohn nicht mehr für solch lächerliche Wetten riskierst, bekommst du das Geld zurück. Nimm jetzt das Laken und verschwinde, bevor ich meine Meinung ändere!«
»Ja, Sir!«
Rasch griff der Junge nach dem Leintuch und flitzte durch die französischen Türen auf die Veranda hinaus.
John fuhr mit den Fingern durch sein zerzaustes Haar, doch als seine Hand im Nacken angekommen war, hielt er inne und sah Charmaine an. Sie hatte ihr Haar zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über Schulter und Brüste fiel. Den Morgenmantel hatte sie in der Eile vergessen, und der dünne Stoff ihres Nachthemds verhüllte ihre hübsche Figur nur mangelhaft. Kein Wunder, dass Paul diese Frau anziehend fand. Aber erobert hatte er sie noch nicht. Das verriet ihm der unschuldig staunende Blick ihrer großen Augen.
»Er ist doch noch ein Junge«, sagte sie, ohne zu ahnen, was sich in seinem Kopf abspielte.
»Das ist richtig«, stimmte John zu. »Trotzdem hat er mich zu Tode erschreckt, als er plötzlich zu Jeannettes Bett gekrochen ist. Im Grunde müsste ich die Wette einlösen.«
Charmaine lächelte, und Yvette kicherte.
»Nur schade, dass er nicht das richtige Bett gefunden hat.«
»Mich hätte er trotzdem nicht erschreckt«, bemerkte Yvette mit gewissem Hochmut.
»Aber ganz bestimmt nicht.« John musste lachen, als ihm der Irrsinn der Situation bewusst wurde. »Jetzt aber schnell zurück ins Bett. Mach ein bisschen Platz, Pierre.«
»Johnny?«
»Ja?« John sah zu Jeannette hinüber, die die ganze Zeit geschwiegen hatte.
»Joseph hat gesagt, dass er vorher noch nie hier im Zimmer war. Aber wer war dann beim letzten Mal hier?«
»Auch Joseph, würde ich sagen. Wahrscheinlich hatte er keinen Mut, das zuzugeben.«
»Das glaube ich nicht! Beim ersten Mal hatten Yvette und Joseph doch noch gar nicht gewettet!«
Fragend zog John die Stirn kraus. »Verwechselst du vielleicht die Tage?«
»Nein, unmöglich! Das erste Mal ist es in der Nacht passiert, als du angekommen bist – bei dem schrecklichen Gewitter. Der Sturm war so stark. Erinnern Sie sich, Mademoiselle?« Sie sah Charmaine an. »Sogar Sie haben sich gefürchtet. Sie sind in die Küche gegangen, um uns Milch und Kekse zu holen. Das wissen Sie doch noch, oder, Mademoiselle?«
»Ich erinnere mich sehr genau«, flüsterte Charmaine. Sie wusste, dass John sie ansah, und fürchtete, dass ihre Gedanken auf ihren brennenden Wangen geschrieben standen.
»Das erklärt zwar einiges, was mir seitdem durch den Kopf gegangen ist«, murmelte er versonnen. »Aber über den Zeitpunkt der Wette sagt es nichts.«
»Oh, doch!«, warf Yvette ein. »Am ersten Morgen hast du mir den Frankenstein gegeben, aber Joseph hat die Wette erst vorgeschlagen, als er sah, dass ich das Buch lese.«
»Frankenstein«, brummte John. »Also bin ich selbst schuld, wenn ich heute Nacht keinen Schlaf finde. Na gut. Ich kehre also zu meiner ursprünglichen Vermutung zurück. Ich werde den defekten Riegel gleich morgen reparieren.«
»Aber, Johnny! Ich habe wirklich jemanden hier im Zimmer gesehen!«, protestierte Jeannette.
»Aber nein, Jeannette, das hast du bestimmt nur geträumt. Ich kann dir versprechen, dass sich niemand hier eingeschlichen hat.«
»Aber es war jemand hier«, piepste Pierre.
»Wirklich?« John schmunzelte. »Und wer sollte das gewesen sein?«
»Das darf ich nicht sagen«, sagte der Kleine.
»Wie bitte?«
»Na ja … Manchmal … Manchmal kommt Mama und besucht mich.«
Alle hielten den Atem an.
Ungläubig berührte John den Jungen an der Schulter. »Was sagst du da?«
Aber Pierre lächelte unbeeindruckt.
»Was hast du gesagt? Wer besucht dich manchmal in der Nacht?«, versuchte John es noch einmal.
»Mama«, wiederholte Pierre glücklich. »Sie spielt mit mir und erzählt mir Geschichten.«
»Er lügt!«, fuhr Yvette auf, doch als ihre Gouvernante sie zum Schweigen mahnte, brummte sie nur. »Natürlich tut er das.«
»Und was erzählt sie dir?«, fragte Charmaine.
»Das darf ich nicht sagen.«
»Und warum darfst du das nicht?«, fragte John.
»Mama … Mama sagt, dass ich nichts verraten darf.«
»Kann es sein, dass du das alles geträumt hast?«, fragte Charmaine.
»Nein«, widersprach Pierre heftig. »Sie weckt mich immer. Manchmal kommt sie auch mittags. Ich durfte auch in ihr großes Zimmer mit … als Auntie mich verhauen hat …«
Als die alten Wunden wieder aufgerissen wurden, begann Jeannette zu weinen.
Sofort rutschte Pierre vom Bett herunter und schmiegte sich an seine Schwester. »Hör auf zu weinen, Jeannie. Es tut mir leid. Ich will nicht, dass du weinst.«
Ratlos sah Charmaine zu John, doch ein Blick auf sein leichenblasses Gesicht verstärkte die Gänsehaut, die ihr gerade über den Rücken kroch. Im Augenblick war von ihm nicht viel Hilfe zu erwarten. Was war geschehen? Angeblich waren Männer doch so stark.
»Er hat sicher geträumt«, erklärte sie ohne rechte Überzeugung.
Als sie kurz darauf wieder zu Bett ging, verfolgte Pierres bizarre Geschichte sie noch lange Zeit. Sie dachte auch an John. Wie gebannt hatte er auf die Verandatüren gestarrt, als ob Colettes Geist jederzeit hereinschweben könnte.
Samstag, 2. September 1837
Zu ihrer Überraschung erwachte Charmaine am nächsten Morgen so zeitig, dass sie hörte, wie Paul beim ersten Dämmerlicht nach unten schlich, um seinen Arbeitstag zu beginnen. Kurzerhand schlug sie die Decke zurück. Sie wollte mit ihm frühstücken. Vielleicht konnte er ja etwas Licht in die Kette der phantastischen Ereignisse bringen, die sie in der vergangenen Nacht in Atem gehalten hatten. Sicher würde Paul besonnener reagieren als John und ihr lachend eine logische Erklärung für alles präsentieren.
Beim Anziehen fragte sie sich, ob John wohl die ganze Nacht bei den Kindern geschlafen hatte. Lautlos schlich sie zur Verbindungstür und spähte vorsichtig nach nebenan. Alle vier schliefen noch tief und fest. Der kleine Pierre lag in Johns Armen, und sein Rücken drückte sich gegen seine Brust. Als Ersatz für das Lämmchen, das wieder auf dem Boden lag, umklammerte er die Hand seines großen Bruders.
Charmaine war von der Ähnlichkeit der beiden überwältigt. Pierre hatte zwar eher die Haarfarbe seiner Mutter geerbt, aber der Schnitt ihrer Gesichter und ihrer mandelförmigen Augen – Frederics Augen – war beinahe identisch. Johns Gesicht war völlig entspannt und wirkte überraschend jugendlich. Sie sah, wie sein gleichmäßiger Atem die zarten Löckchen auf Pierres Kopf bewegte, und dann wanderte ihr Blick weiter zu den beiden Händen, zu Johns sonnengebräunter und Pierres zartweißer Hand, die einander stark und zärtlich zugleich umfassten.
Vorsichtig wollte sie die Tür schließen und erstarrte, als die Angeln vernehmlich quietschten. Pierre erwachte von dem Geräusch und drehte sich um. Als er John in seinem Bett liegen sah, setzte er sich auf. Und dann beugte er sich ganz nah zu seinem Bruder hinunter und versuchte, eines seiner Augen zu öffnen. John rollte sich auf den Bauch und vergrub sein Gesicht unter dem Kissen, woraufhin der Dreijährige sofort auf seinen Rücken stieg.
»Gnade, Pierre«, stöhnte John, als der Kleine munter auf und ab hopste. »Wenn ich ein Pferd wäre, hätte ich im Stall geschlafen!«
Charmaine unterdrückte ein Kichern. Pierre rutschte von John herunter und quetschte sich in den Spalt zwischen seinem Bruder und der Wand. Dann schob er den Daumen in den Mund und kniff die Lider zusammen.
Als Charmaine ins Speisezimmer kam, saß Paul allein am Tisch, trank seinen Kaffee und las die Zeitung. Bei ihrem Anblick huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Welche Überraschung! Weshalb sind Sie denn schon so früh am Tag aus den Federn?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie, beeindruckt von seinem Charme. »Ich nehme an, ich konnte einfach nicht mehr schlafen.« Dumme Antwort! Sag ihm einfach die Wahrheit … deshalb bist du doch hier!
»Welches Glück, dass ich von Ihrer Schlaflosigkeit profitieren darf.«
Er erhob sich und rückte ihr den Stuhl zurecht. Sie atmete heftig. Seine Gegenwart lähmte sie, und der Duft seines Rasierwassers stieg ihr zu Kopf. Dagegen verblassten die gespenstischen Eindrücke der vergangenen Nacht.
Fatima brach den Bann, indem sie Paul sein Frühstück servierte, nach Charmaines Wünschen fragte und ihnen dann noch frischen Kaffee einschenkte.
»Ich bin froh um diesen ungestörten Augenblick«, sagte Paul. »Ich muss außerdem einiges mit Ihnen besprechen.«
»Mir geht es genauso …«
Als er lächelte, zögerte sie und wartete, dass er zuerst das Wort ergriff.
»Am Montag werde ich nach Espoir segeln«, sagte er.
»Für lange?« Eine kindische Frage, aber er schien sich trotzdem darüber zu freuen.
»Nein, nur für zwei Wochen – oder auch drei. Ich habe die Insel in letzter Zeit etwas vernachlässigt, aber es gibt Wichtiges zu tun, das sich nicht länger aufschieben lässt.«
»Zwei Wochen?« Sie war enttäuscht. Wie schnell sich die frohe Stimmung dieses Morgens doch verdüsterte.
»Die Zeit wird schneller vergehen, als Sie glauben. Warum sind Sie so bedrückt? Doch nicht wegen John? Er hat Sie hoffentlich nicht wieder belästigt, oder?«
»Nein, nein, ganz im Gegenteil. Er war die Woche über ausgesprochen höflich zu mir.«
Paul runzelte die Stirn. »Das ist mir auch aufgefallen. Aber was bedrückt Sie dann?«
Charmaine wollte schon etwas sagen, aber dann überlegte sie es sich anders. »Es ist nichts.«
»Sind Sie sicher?«
»Aber natürlich. Sorgen Sie sich nicht. Es wird uns wunderbar gehen.«
Nachdenklich betrachtete er Charmaine, während Fatima den Teller vor sie hinstellte. »Was machen die Kinder?«
»In den letzten Tagen waren sie sehr glücklich – besonders in Johns Gesellschaft.«
»John?« Paul schien irritiert, dass sie einfach den Vornamen benutzte. Wir werden ja sehen, wer der bessere Spieler ist. »Das gefällt mir nicht. John sollte sich nicht sooft mit den Kindern abgeben. Er hat einen schlechten Einfluss auf sie.«
Noch vor einer Woche hätte Charmaine ihm zugestimmt. Aber in den letzten Tagen hatte John sich vorbildlich benommen.
»Ich werde das unterbinden. Ich will nicht, dass John aus meiner Abwesenheit Vorteile zieht.«
»Sie wollen das unterbinden?« Leichter gesagt als getan! Mit dem Aufpassen hatte es angefangen, dann waren die Unterrichtsstunden gefolgt, und nun hatte er sogar bei den Kindern geschlafen. Ein Blick in Pauls Gesicht – und sie wünschte, dass er nie die Wahrheit erfuhr. »Ich glaube nicht, dass Sie Ihren Bruder so einfach herumkommandieren können. Er kommt und geht doch, wie es ihm gefällt.«
»Ich werde mit ihm reden. Meiner Meinung nach wäre etwas mehr Zurückhaltung angebracht.«
»Aber nicht doch!«
Ihre Heftigkeit überraschte ihn. »Und warum nicht?«
»Ich wollte nur sagen, dass … dass das nicht nötig ist. Man sticht nicht unnötig in ein Hornissennest. John war in letzter Zeit sehr freundlich zu mir, und die Kinder freuen sich über seine Besuche. Wenn Sie ihm verbieten, sich in unser Leben einzumischen, wird er genau das tun. Sie kennen ihn doch. Wenn Sie dagegen nichts sagen, wird ihm die Sache von allein langweilig.«
Paul dachte nach. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte er dann zu ihrer Erleichterung. »Nun gut. Während meiner Abwesenheit muss John mich ohnehin auf Charmantes vertreten. Das sollte ihn den Tag über beschäftigen. Dennoch sollten Sie sich in Acht nehmen. Ich kenne meinen Bruder gut, und ich kenne seine kleinen Spielchen. Er könnte auch die Kinder benutzen, um mit Ihren Gefühlen zu spielen. Aber ich lasse nicht zu, dass er Sie verletzt.«
Sicher war diese Ritterlichkeit echt, dachte Charmaine. Trotzdem lächelte sie nur halbherzig, aß rasch ihren Teller leer und verabschiedete sich von Paul.
Oben im Korridor trat John mit verschlafenen Augen aus seiner Tür. Mit Sicherheit freute er sich schon auf die nächste Nacht im eigenen Bett.
»Guten Morgen … oder was auch immer.« Er schloss den obersten Knopf an seinem Hemd. »Haben Sie überhaupt geschlafen?«
»Ja, kurz vor der Dämmerung bin ich eingenickt. Schlafen die Kinder noch?«
»Nein, sie sind hellwach und betteln schon die ganze Zeit, dass sie wieder das Fohlen besuchen dürfen. Außerdem planen sie eine Überraschung. Wir dachten, dass Sie noch schlafen, und ich habe ihnen eingeschärft, Sie nicht zu stören. Sie ziehen sich gerade allein an. Sogar Pierre – auch wenn er vielleicht seine Hose verkehrt herum anzieht. Als ich in mein Zimmer gegangen bin, steckte sein Bein gerade im Ärmel seines Hemds. Trotzdem hat er meine Hilfe abgelehnt.«
»Ich verstehe.« Charmaine kicherte.
»Ich kann gern mit den Kindern frühstücken, wenn Sie sich noch ein Weilchen ausruhen möchten.«
Etwas mehr Zurückhaltung. Charmaine erschrak. Womöglich saß Paul noch beim Frühstück. »Vielen Dank, aber das ist nicht nötig«, erwiderte sie etwas heftig. »Trotzdem danke ich Ihnen für das Angebot«, fügte sie noch schnell hinzu.
»Gibt es einen Grund, warum ich nicht mit den Kindern frühstücken soll?«
»Nein«, log sie, um sein Misstrauen nicht zu wecken. Musste sie von nun an immer die Balance zwischen den beiden Brüdern wahren? Innerlich stöhnte sie. »So früh am Morgen kann ich Ihre Hilfe unmöglich in Anspruch nehmen. Aber begleiten dürfen Sie uns natürlich gern. Die Aufsicht der Kinder liegt nun einmal in meiner Verantwortung.«
»Das ist richtig«, sagte er, doch seine gerunzelte Stirn ließ Zweifel daran aufkommen.
»Er ist so schön!«, rief Jeannette und streichelte das Fell des Fohlens.
»Nicht nur schön«, berichtigte ihre Schwester, »sondern prachtvoll. Erinnerst du dich an Rusty, Johnny?«
»Aber natürlich«, antwortete er, während er Phantom sattelte. »Warum?«
»Weißt du noch, als du Jeannette und mir das Reiten beigebracht hast?«
»Hm.«
»Seit er tot ist, sind wir nie mehr zusammen geritten. Die anderen Pferde sind alle zu groß für uns.«
John schnallte den Sattelgurt fest. »Ja, so ist das nun einmal.«
»Wenn wir doch wieder ein Pony hätten …«
»Was willst du damit andeuten, Yvette?« Er drehte sich zu ihr um. »Hoffst du, dass ich euch ein Pony kaufe?«
»Oh, das wäre wunderbar, Johnny!« Ihr Gesicht glühte förmlich vor Begeisterung. »Zwei Ponys wären natürlich noch besser. Eines für mich und eines für Jeannette. Bitte, sag ja!«
Jeannette strahlte mit ihrer Schwester um die Wette, und John musste unwillkürlich lächeln. »Mal sehen«, sagte er dann und griff nach Phantoms Zügeln. »Na los, macht ein bisschen Platz. Ich muss in die Stadt und einige Geschäfte bei der Bank erledigen.«
»Ausgerechnet am Samstag und so früh am Morgen?«
»Mal sehen, ob ich den guten Mr. Westphal dazu zwingen kann, seine Bank vor neun Uhr aufzusperren. Womöglich treffe ich ihn ja noch in Nachthemd und Schlafmütze an.«
Jeannette und Yvette kicherten.
John wollte gerade den Stall verlassen, als Charmaine und Pierre eintraten. Sie hatte einen Brief in der Hand, den sie am Tag zuvor an Gwendolyn Browning geschrieben hatte, und wollte John bitten, ihn mitzunehmen, wenn er ohnehin in die Stadt ritt.
»Was höre ich denn da?« Er lachte leise. »Sie wollen mir ein so persönliches Anliegen anvertrauen?«
Sofort bedauerte Charmaine ihre Bitte. »Es tut mir leid, dass ich überhaupt gefragt habe!«
»Aber, aber.« Wieder lachte er. »Deswegen müssen Sie doch nicht gleich beleidigt sein. Geben Sie den Brief schon her. Ich werde ihn zuverlässig abgeben.«
Ihre Blicke waren so scharf wie Dolche. Dass er nie eine Gelegenheit ausließ, um sich über sie lustig zu machen!
Je länger sich der Vormittag hinzog, desto quengeliger wurden die Kinder. Nach dem Lunch schlug Charmaine ein Schläfchen vor. Yvette protestierte zwar, doch fünf Minuten später schlief auch sie tief und fest. Charmaine nahm das Vampirbuch an sich, das Yvette inzwischen ausgelesen hatte, und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Sie wollte das Buch in die Bibliothek zurückbringen und sich selbst ein neues aussuchen.
Zu ihrer Überraschung saß John am Schreibtisch in der Bibliothek und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Er war so tief in Gedanken versunken, dass er ihre Gegenwart gar nicht bemerkte.
»Sir?«, fragte sie leise.
Er hob den Kopf, aber gleich darauf wandte er den Blick ab und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Sie waren glasig, ja, gerötet, was nach einer schlaflosen Nacht kein Wunder war. Ob er noch immer an die seltsamen Vorfälle dieser Nacht dachte?
»Sir, geht es Ihnen gut?«
»Sir?«, äffte er sie nach und sah sie endlich an. »Ich dachte, wir hätten diese Förmlichkeit letzte Nacht hinter uns gelassen. Nennen Sie mich einfach John. Das gefällt mir besser.«
»Also gut«, sagte sie etwas zögernd, weil sie an Pauls Warnungen denken musste.
»Ich bin vor zwei Stunden aus der Stadt zurückgekommen, aber unseren kleinen Geist habe ich noch nicht gesehen. Ob er nur in der Nacht zum Vorschein kommt?«
»Was wollen Sie denn von Joseph?«
»Seinetwegen war ich heute Morgen auf der Bank, und jetzt würde ich ihm gern die Quittung geben, bevor er behauptet, dass ich ihm sein Geld gestohlen habe.«
»Die Quittung?« Charmaine war erstaunt. »Haben Sie seinen Dollar etwa auf ein Konto eingezahlt?«
Unwillig sah er sie an. »Ja, auf ein Sparkonto.«
»Natürlich.« Sie nickte und grinste.
»Ihrer Meinung nach war ich sicher zu mild, nicht wahr?«
»O nein, Sir … ich meine, John.«
Die Gouvernante machte sich einen Spaß mit ihm, und das gefiel ihm nicht. »Sind Sie aus einem bestimmten Grund hier, Miss Ryan?«
Sie sah auf das Buch in ihrer Hand hinunter und wurde ernst. »Ich bin froh, dass Sie Joseph so verständnisvoll behandelt haben. Mit Yvette verhält sich das etwas anders.«
Er runzelte die Stirn. »Mit Yvette? Warum das?«
»Die Kleine ist sicher klug, aber ihre Eskapaden geraten zunehmend außer Kontrolle. Nach dem Tod ihrer Mutter war ich anfangs großzügig. Dieses frühreife Benehmen war auf jeden Fall besser als Lethargie, und ihre Streiche haben auch Jeannette wieder zum Lachen gebracht. In letzter Zeit jedoch hat sie jede Zurückhaltung verloren.«
John schnaubte. »Ich würde mich viel mehr um Jeannette sorgen.«
»Um Jeannette?«
»Richtig. Das Mädchen ist einfach zu gut, einfach viel zu freundlich. Im Gegensatz zu Yvette, die selbstbewusst für sich eintritt und sich nicht manipulieren lässt, ist sie ein unschuldiges Ding, das leicht zu verletzen ist.«
Charmaines Staunen verschaffte ihm eine kleine Pause. So viel hatte er eigentlich gar nicht sagen wollen. »Yvette wurde in eine vermögende Familie hineingeboren«, fügte er noch an, »und jetzt spielt sie das reiche Mädchen.«
»Das verwöhnte reiche Mädchen«, korrigierte Charmaine vorsichtig. »Ihrer Mutter würde das nicht gefallen. Colette hat von ihren Kindern immer gute Manieren verlangt und Mildtätigkeit und Fürsorge über den Reichtum gestellt. Yvette hat dies früher immer respektiert und auf den kleinsten Verweis ihrer Mutter reagiert.«
Johns Blick trübte sich. »Ihre Meinung in allen Ehren, Miss Ryan, aber ich halte Mut und Verwegenheit für klüger, als sich stets in Bescheidenheit zu üben.«
Montag, 4. September 1837
John lümmelte in einem Ledersessel und ließ eines von Pierres Klötzchen durch seine Finger gleiten. Ungeduldig wartete er auf das Ende von Pauls Vortrag, der ihm gegenüber hinter dem großen Schreibtisch thronte. Paul hatte schon gestern Abend mit ihm reden wollen, aber John hatte ihn gebeten, die Sache auf Montag zu verschieben, da er sehr müde war und lieber am Morgen vor sieben Uhr aufstehen wollte. Und da saß er nun, der Frühaufsteher und nicht gerade der ernsthafte Geschäftsmann, den Paul erwartete.
»So weit die Lage unserer Finanzen. Irgendwelche Fragen?« Paul sah von seinen Papieren auf und verlor sofort die Geduld. »Warum grinst du so?«
»Wegen dir, Paulie. Du nimmst das alles so furchtbar ernst.«
»Damit hast du, verdammt noch mal, recht …«
»Ich weiß wirklich nicht, wo Vater und ich ohne dich wären«, unterbrach John ihn vergnügt.
»Du sitzt nur da und grinst, aber dies ist kein Spiel. Eines Tages wird es ein bitteres Erwachen für dich geben, aber dann ist es vielleicht zu spät. Heule mir dann bloß nicht vor, dass dir ein Vermögen durch die Finger geglitten ist.«
»Wessen Vermögen, Paul? Vaters oder mein eigenes?«
»Du weißt genau, dass alles dir gehört, sobald Vater nicht mehr lebt.«
»Das einzige Vermögen, um das ich mich sorge, ist das, was ich selbst verdient habe.«
»Du selbst?«, spottete Paul. »Abgesehen von deinem Lohn kontrollierst du außerdem Vaters Schiffsunternehmen und die Plantagen. Das und sein guter Name sind dir doch eine große Hilfe, wenn es gilt, dein eigenes Vermögen zu mehren.«
»Ich wäre ja verrückt, wenn ich das nicht ausnützte«, entgegnete John ruhig. »Andererseits profitieren Vaters Geschäfte auch von meiner Großzügigkeit.«
»Wie soll ich das verstehen?«
»Nimm zum Beispiel die Lieferungen für die Inseln, die ich regelmäßig ohne Entgelt durchführen lasse: Mehl, Mais, Nahrungsmittel, Tabak …«
»Was alles auf Duvoisin-Land gewachsen ist, John! Auf Land, das deiner Familie seit drei Generationen gehört …«
»Und erzeugt von Arbeitern, die ich aus meiner eigenen Tasche bezahle. Dafür werde ich nicht entschädigt.«
»Das war deine Entscheidung!«, empörte sich Paul. »Niemand hat dich gezwungen, deine Sklaven freizulassen. Man könnte das Land für einen Bruchteil dessen bestellen, was du deinen Pächtern zahlst.«
»Ja, Paul, meine Narretei und mein Gewissen …«
»Gewissen?«, schnaubte Paul höhnisch. »Welches Gewissen denn? Das sind doch nur Sklaven!«
»Das ist richtig, Paul, es sind nur Sklaven. Fatima ist auch nur eine Köchin und Buck nur ein Vorarbeiter. Du warst noch nie bei einer Sklavenauktion. Wenn du das auch nur ein Mal gesehen hättest, wärst du nur noch angeekelt und würdest diese Erniedrigung ablehnen.«
Paul atmete heftig aus. Diese Diskussionen führten zu nichts. Schon vor Jahren hatte Colette ihn gelehrt, dass die Gegner der Sklaverei logischen Argumenten nicht zugänglich waren.
»Lass es gut sein, John. Ich habe dich nicht um dieses Gespräch gebeten, um mit dir zu streiten. In diesem Punkt sehen wir die Dinge offenbar anders. Aber jetzt hast du mich lange genug abgelenkt.«
»Ich wusste ja nicht, dass du ein Ziel hattest.«
Paul überhörte die Bemerkung. »Die Vorräte auf der Insel schrumpfen zusehends. Trotz deiner sogenannten ›Großzügigkeit‹ haben wir seit Monaten keine Lieferungen mehr erhalten.«
»Das muss ein Irrtum sein. Bevor ich nach New York gereist bin, habe ich im Lagerhaus Anweisung gegeben, deine letzte Bestellung bis spätestens Mitte April auszuliefern. Deutlicher hätte ich mich nicht ausdrücken können …«
»Nun – hier ist jedenfalls kein Schiff angekommen.«
»… es sei denn, ich hätte es ihnen aufgemalt.«
Paul runzelte die Brauen. »Sag jetzt nicht, dass sich unsere Vorräte auf dem Schiff mit den fehlenden Papieren befanden!«
»Fehlende Frachtpapiere? Um die Papiere kümmere ich mich nicht.«
»Das ist richtig – du zeichnest höchstens Bilder darauf!«
John lachte leise. »Aber, Paulie, das war doch nur ein Scherz!«
»Ein Scherz? Nennst du das so?«
»Wo ist denn nur dein Humor geblieben? Warum beschwerst du dich eigentlich, da du die Ladung ja erhalten hast?«
»Weil ich«, stieß Paul zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »die Ladung umgehend an dich zurückgeschickt habe, lieber Bruder!«
»An mich? Und warum, in Gottes Namen?«
»Du hast dieses Durcheinander verschuldet. Ich bezahle meine Männer nicht, um im Bauch des Schiffes herumzuwühlen und die Fässer aufzubrechen, um Inventarlisten anzulegen und herauszufinden, was uns gehört.«
»Wovon redest du?«
»Das Schiff ist ordnungsgemäß hier eingelaufen, und zwar von Liverpool aus mit einer Ladung, die für Richmond bestimmt war. Dein unfähiger Kapitän hat unsere Vorräte angeblich auf deinen Befehl hin im hintersten Teil des Frachtraums verstaut, sodass unsere Fässer beim Laden in Liverpool unter der neuen Fracht begraben wurden.«
»Ich gebe keine Anweisungen, wie die Fracht zu laden ist«, entgegnete John. »Das ist Stuarts Aufgabe, und der weiß, was er tut. Das Durcheinander muss also in England entstanden sein.«
Diese Entgegnung war deutlich. Vermutlich hatte man den Kapitän unter Druck gesetzt, möglichst bald den Anker zu lichten und den Hafen zu verlassen. Also hatte er versäumt, die Ladung seines Schiffes umzuschichten und die englischen Güter übereilt an Bord genommen.
»Die britischen Papiere waren in Ordnung«, fuhr John fort, »und die Fässer für die Inseln waren mit dem Wappen der Duvoisins markiert. Und dir war es nicht möglich, die Fässer für die Inseln anhand der Markierungen von der übrigen Fracht zu trennen?« Er lachte lauthals. »Stattdessen schickst du die ganze Ladung zurück!«
»Ich finde das nicht komisch, John!«
»Ich schon!« John wischte sich die Tränen aus den Augen. »Sag, Paulie, hast du vielleicht deine Hose mit einem Rock vertauscht, bevor du diesen Entschluss gefasst hast?«
Paul sah düster drein. »Lach nur, solange du willst! Als das Schiff mit der Ladung zurückkam, hast du dich wohl kaum über den Verlust gefreut, oder etwa doch?«
»Welchen Verlust? Zu dieser Zeit war ich nicht in Virginia, sondern in New York.«
»Guter Gott!« Paul explodierte. »Ist dir klar, was das bedeutet?«
John schmunzelte. »Entweder befinden sich die Fässer wieder im Lagerhaus und verlieren täglich an Wert. Was mich jedoch nicht trifft, da ich sie ohnehin nicht berechnet habe. Oder Stuart hat angenommen, dass du die Vorräte nicht brauchst, und Fässer samt Inhalt inzwischen versteigert. Das beschert uns Einnahmen, mit denen wir nicht gerechnet haben. An deiner Stelle würde ich beten, dass die Sachen noch im Lagerhaus sind. Sicher ist das keineswegs.«
»Verdammt, John, deine großartige Idee mit den neuen Schiffsrouten funktioniert einfach nicht! Ich verlange, dass du die Sache in Ordnung bringst, bevor der Tag vorüber ist!«
»Und wie soll ich das deiner Meinung nach machen?«
»Schreibe an Edward Richecourt und veranlasse, dass er umgehend eine neue Ladung auf den Weg bringt. Und zwar ohne Umweg über New York, Baltimore oder Europa. Das Schiff soll auf direktem Weg von Richmond nach Charmantes segeln, und zwar innerhalb der nächsten vier Wochen und mit korrekten Frachtpapieren. Außerdem erwarte ich, dass eines der Schiffe von nun an wenigstens ein Mal monatlich zwischen Charmantes und Richmond pendelt.«
»Ausgerechnet Edward Richecourt? Dieser unfähige Mensch hat doch keine Ahnung, wie man so etwas macht. Lass mich das auf meine Art erledigen. Wenn ich allerdings eines meiner Schiffe von der normalen Route abziehen muss, so werde ich dem Inselkonto sämtliche Kosten in Rechnung stellen. Wenn du verlangst, dass ein Schiff halb leer zwischen den Inseln und Richmond pendelt und jeweils Steine als Ballast laden muss, so solltest du eines deiner neuen Schiffe dafür einsetzen. Auf diese Weise würde das Familienunternehmen auch von deiner Großzügigkeit profitieren.«
»Tu einfach, was ich von dir verlange, John. Für die Bezahlung werde ich schon sorgen.«
John stand auf, doch Paul hielt ihn zurück. »Das war noch nicht alles.«
»Nein? Was hast du denn noch auf dem Herzen?«
Paul überhörte den spöttischen Ton. »Ich wäre froh, wenn du während meiner Abwesenheit auf Espoir ein Auge auf Charmantes hättest. Besonders auf den Tabak, mit dem wir noch keine Erfahrung haben.«
»Warum, zum Teufel, hast du ihn dann gepflanzt?«
»Das ist mir selbst nicht ganz klar. Seit ich weiß, wie viel zusätzliche Arbeit daran hängt, wünschte ich, dass ich mich für Kakao entschieden hätte. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Harold, George und Wade bewältigen die tägliche Arbeit gut, aber zusätzlich braucht Charmantes eine fähige und geübte Hand.«
»Willst du die Insel denn wirklich meinen unfähigen Händen anvertrauen?«
»Ich habe nie behauptet, dass du unfähig bist, John. Du ärgerst mich nur viel zu gern. Falls es Schwierigkeiten gibt – und das ist während meiner Abwesenheit die Regel –, verfügst du über mehr Autorität als George.«
»Keine Sorge. Du wirst nichts auszusetzen haben.«
»Gut.« Paul nickte zufrieden und war zum ersten Mal an diesem Morgen erleichtert. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Es gibt noch etwas, John«, sagte er trotz Charmaines Bedenken. »Ich möchte mit dir noch über die Kinder sprechen.«
John sah seinen Bruder an. »Was gibt es?«
»Ich will nicht, dass du dich in ihr Leben einmischst, sie vom Unterricht ablenkst oder den Nachmittag über Kindermädchen spielst.«
»Ich wusste gar nicht, welch scharfe Augen du hast und woher du das alles weißt, obwohl du doch ständig arbeitest. Gibt es etwa einen Spion im Haus?«
»So etwas brauche ich nicht. Ich habe schließlich Augen im Kopf. Du weißt, dass es Vater nicht recht ist, wenn du zu viel Zeit mit den Kindern verbringst.«
»Dass es ihm nicht recht ist? Das ist mir einerlei. Ich werde die Kinder besuchen, und zwar, wann und wie oft ich das möchte. Das kannst du ihm ausrichten.«
»Verdammt, John! Wann hörst du endlich auf, ihn ständig zu verletzen?«
»Ich verletze ihn? Und was ist mit mir? Es hat Zeiten gegeben, da hast du zu mir gehalten!« Mit verächtlicher Miene fügte er hinzu: »Erinnere dich, Paul – er hat mit der Sache angefangen!«
»Und er hat dafür bezahlt.«
»Hat er das? Nun gut. So gesehen habe ich das auch.«