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Sonntag, 10. September 1837

 

Eine Stunde vor der Messe erklärte Yvette, dass sie nicht daran teilnehmen wolle. »Die Bänke sind viel zu hart, und Father Benito redet immer dummes Zeug. Wenn Johnny nicht zur Messe geht, warum dann ich?« Charmaine redete dem Mädchen gut zu, sie beschwor es, und zuletzt drohte sie, die Sache mit ihrem Vater zu besprechen – aber ohne Erfolg.

John! Sie kochte innerlich. Alles seine Schuld! Seit seiner Ankunft hatte sie ihn noch kein einziges Mal in der Kapelle gesehen. Es war nur natürlich, dass Yvette Pauls Abwesenheit ausnutzte, um die Autorität ihrer Gouvernante gegen Johns auszuspielen. Na gut, das werden wir ja sehen, dachte sie, während sie zu Frederics Räumen stürmte.

Aber sie kam nicht weit. Im selben Moment verließ Agatha den südlichen Flügel und versperrte den Weg. Seit der Misshandlung des kleinen Pierre hatten sie so gut wie kein Wort mehr miteinander gewechselt, und Charmaine hatte nicht die Absicht, das jetzt zu tun. Mit kurzem Nicken wechselte sie die Richtung und ging stattdessen die Treppe hinunter.

Nachdem der erste Zorn verraucht war, kehrte die Vernunft zurück. An wen konnte sie sich wenden? Wer konnte eine bockige Achtjährige überzeugen, dass der Besuch der Messe für ihre Seele wichtig war? Rose? Vielleicht. John? Fast hätte sie gelacht. Er war schließlich die Wurzel allen Übels.

Andererseits wusste John von nichts. Wenn er von ihrem Problem hörte, würde er vielleicht sogar zusammen mit Yvette in die Kapelle gehen. Hatte er ihr nicht schon einmal geholfen?

Sie fand ihn im Esszimmer, wo er sich ganz allein ein ausgiebiges Frühstück genehmigte, während sich die übrige Hausgemeinschaft vor der heiligen Kommunion im Fasten übte. Unter der Woche hatte sie John kaum zu Gesicht bekommen, weil er Paul während seiner Abwesenheit vertrat. Trotzdem hatte er morgens, bevor er das Haus verließ, kurz mit den Kindern gespielt und sich auch abends hin und wieder mit ihnen beschäftigt. Es fiel ihr inzwischen zwar leichter, mit John zu sprechen, aber dieses Anliegen war besonders schwierig, und so trat sie nur zögernd an den Tisch.

»Verzeihen Sie, Sir.«

Er hob den Blick von der Zeitung. »Miss Ryan«, sagte er steif, weil ihm ihre Förmlichkeit auf die Nerven ging. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»O ja, das können Sie wirklich.« Sie zauberte ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht.

Die Mühe wurde belohnt. Er erwiderte ihr Lächeln. Hatte sie ihn entwaffnet, oder musste sie sich auf eine spöttische Bemerkung gefasst machen?

»Worum geht es denn?«, fragte er stattdessen.

»Ich möchte Sie einladen, mit uns zur Messe zu gehen.« Sorgfältig erwog sie jedes Wort. »Die Kinder würden sich über Ihre Gesellschaft freuen.«

Das Lächeln erlosch, aber eine Ablehnung war das noch nicht.

Sie nahm allen Mut zusammen, um seine Begeisterung vielleicht doch noch zu wecken. »Unter anderem geht es um Pierre. Er ist manchmal etwas unruhig. Wenn Sie bei ihm wären … Sie verstehen sich doch so gut mit ihm …«

»Ach wirklich?« Mit stahlhartem Blick sah er sie an. »Ganz schön doppelzüngig, Miss Ryan, aber ich durchschaue Sie. Sie erflehen meine Hilfe, wenn Sie Ihnen nützt, und dann beklagen Sie sich bei meinem Bruder.«

»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht.«

»Ach nein? Nun gut, lassen wir das.«

Das Schweigen dehnte sich.

»Gibt es noch etwas, Miss Ryan? Ich würde sonst gern mein Frühstück fortsetzen.«

Mutlos ließ Charmaine die Arme sinken. »Wollen Sie es sich nicht noch einmal überlegen?«, brach es schließlich aus ihr heraus.

»Miss Ryan«, sagte er betont langsam, »als Junge musste ich unendlich viele Predigten von Father Benito über mich ergehen lassen. Das reicht mir bis in alle Ewigkeit. Damals hatte ich keine Wahl – aber nun werde ich den Teufel tun und mir auch nur eine einzige anhören! Ich brauche keine sogenannten Priester, um meine Seelenqual zu bemessen. Das vermag ich selbst am besten. Beantwortet das Ihre Frage?«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«

»Haben Sie noch immer nicht begriffen, dass ich stets meine, was ich sage? Offenbar nicht. Aber ich sage es Ihnen gern noch einmal: Ich werde weder Sie noch die Kinder zur Messe begleiten. Nicht heute, nicht nächste Woche … niemals!«

»Aber Sie müssen doch in die Messe gehen!« Charmaine wurde immer wütender. Mit seinen heidnischen Reden brachte er das ganze Haus in Unordnung. Es war an der Zeit, dass ihm das jemand sagte. »Mag sein, dass Sie sich keinen Deut um Ihr Seelenheil scheren, aber es ist nicht hinnehmbar, dass Ihnen die Seelen der Kinder nicht am Herzen liegen!«

Verwundert zog John eine Braue in die Höhe. »Was haben die Kinder damit zu tun?«

»Alles und noch mehr! Sie sollten die Auswirkungen Ihres schlechten Beispiels nicht unterschätzen. Was sollen die Kinder denken, wenn sie Woche für Woche erleben müssen, wie Sie Gott zurückweisen, indem Sie der Messe fernbleiben? Wie soll ich ihnen das erklären?«

»Eine Einladung stelle ich mir eigentlich anders vor«, spottete John. »Ich dachte, Sie sorgten sich um meine arme Seele.«

»Keine Angst«, entgegnete sie spitz. »Wie konnte ich nur so dumm sein und glauben, dass man Menschen wie Sie bekehren könnte!«

»Eine höchst christliche Unart«, bemerkte er kalt.

»Weshalb verspotten Sie meine Überzeugungen?«

»Weil diese Überzeugungen meiner Meinung nach nichts wert sind.«

»Oh, Sie … Sie …«

»Halunke? Ungläubiger?«, bot er an. »Nein, Teufel passt Ihrer Meinung nach sicher besser ins Bild.«

»Teufel passt perfekt!«, rief sie aufgebracht, doch im nächsten Moment bereute sie ihre Worte. »Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht beschimpfen.«

»Ach nein? Wollten Sie mir lieber eine Moralpredigt halten?« Ihr Angriff ärgerte ihn. Schließlich war sie nur eine Angestellte. Als sie schwieg, fuhr er fort. »Eines will ich ein für alle Mal klarstellen, Miss Ryan: Ich hasse alle – und besonders rechthaberische Frauen, die meinen guten Willen missverstehen und meinen, dass sie mich nach ihren Maßstäben formen können. Für den Moment haben Sie und ich zu einer Art Waffenstillstand gefunden, aber ich verspreche Ihnen, dass ich diese Übereinkunft sofort aufkündige, wenn Sie mich manipulieren wollen.«

Der kalte Ton ließ keinen Zweifel daran, dass sie zu weit gegangen war. Sie hatte das Problem von der falschen Seite angepackt und musste um ihrer Selbstachtung willen einen Weg finden, um den freundschaftlichen Umgangston der letzten vierzehn Tage wiederzufinden. »Sir, das war wirklich nicht meine Absicht.«

»Und worum ging es eigentlich?«

»Das sagte ich bereits – es geht mir nur um die Kinder, vor allem um Yvette. Sie will nicht zur Messe gehen, weil Johnny auch nicht geht. Ich hoffte, dass sie ihre trotzige Haltung aufgeben würde, wenn Sie uns zur Kapelle begleiten.«

Charmaine konnte förmlich sehen, wie ihm alle möglichen Entgegnungen durch den Kopf schossen. Doch als er endlich antwortete, verschlug es ihr die Sprache.

»Lassen Sie Yvette doch einfach bei mir zu Hause. Die Gläubigen sollen sich nach dem Ritual der Messe verzehren, oder nicht?« Der Sarkasmus war nicht zu überhören. »Aus welchem Grund sollten wir Yvette also zwingen, wenn Father Benitos Predigten sie ohnehin nicht begeistern?«

Sie sprechen von der Seele eines Kindes, John! Eine Kinderseele, die verloren ist, wenn sie nicht an den heiligen Zeremonien teilnimmt, die Sie ins Lächerliche ziehen. Ich fasse es nicht, dass Sie einem Kind eine so schwerwiegende Entscheidung überlassen wollen!«

Trotz ihres neu entflammten Zorns blieb er ruhig. »Welchen Bedarf hätte denn eine unschuldige Achtjährige an diesem Heilsversprechen? Für eine unvoreingenommene Antwort ist Ihre Meinung zu festgefahren, Miss Ryan. Welche Sünden könnte dieses Mädchen in seinem kleinen Leben bereits auf sich geladen haben, die sie für alle Ewigkeiten von Gottes Barmherzigkeit ausschließen? Welche Moral könnte Father Benito sie lehren, die ihr die eigene Familie nicht beibringen kann?«

»Ich bin sprachlos!«, empörte sich Charmaine. »Wenn ihre Mutter noch am Leben wäre, könnte ich Ihnen vielleicht zustimmen. Aber selbst Mistress Colette hat ihr christliches Leben nicht allein auf gute Taten beschränkt, sondern ihre Kinder Sonntag für Sonntag in die Kirche geführt. Verstehen Sie mich? Es wäre Colettes Wunsch gewesen.«

»Bei Gott, Frau!« Aufgebracht schlug John mit der Faust auf den Tisch. »Was bringt Sie auf den Gedanken, dass ich auch nur einen Penny für Mistress Colettes Wünsche geben könnte?«

»Weil …«, stammelte Charmaine, »weil Mistress Colette eine liebenswerte, feinfühlige Person war, die ihren Glauben gelebt hat und auch ihre Kinder darin geborgen wissen wollte.« Sie redete und redete, obgleich sie am liebsten flüchten wollte. »Colette war die Frau Ihres Vaters und die Mutter Ihrer Geschwister. Also sollten Sie ihre Wünsche respektieren!«

»Miss Ryan«, unterbrach er sie heftig, »ich fürchte, Mistress Colette war völlig anders als die Frau, die Sie zeichnen, und meine Gefühle ihr gegenüber waren keineswegs edel. Sie hätte nie Mrs. Frederic Duvoisin werden sollen. So gesehen habe ich sie in dieser Rolle noch weniger geschätzt als die dritte Mrs. Duvoisin. Also lassen Sie die Gespenster ruhen. So früh am Morgen kann ich solch frommes Gerede beim besten Willen nicht verkraften!«

Ohne Gedanken an einen würdigen Abgang zu verschwenden, stürzte Charmaine wortlos davon.

Colette, liebe süße Colette! Wie konnte dieser Mensch sie nur so verunglimpfen? Sie konnte es nicht verstehen und musste an Pauls Worte denken: Obwohl Colette immer lieb und freundlich zu ihm war, hat sie durch ihn leiden müssen. So war es – das war die Wahrheit! Wie hatte sie nur glauben können, dass dieser Mann irgendwie anders sein könnte als der erste Eindruck, den sie gewonnen hatte? Welche Närrin sie doch war! Paul hatte sie gewarnt, und doch hatte sie seinen Rat in den Wind geschlagen und John gestattet, sich mit den Kindern anzufreunden. Kein Wunder, dass Paul besorgt war. John war ein schlechter Mensch, und zum Glück hatte sie ihn durchschaut, bevor es zu spät war.

Als Charmaine ins Kinderzimmer zurückkam, wirkte Yvette verunsichert. »Haben Sie mit Papa gesprochen?«

»Nein, aber mit deinem Bruder.«

»Mit Johnny?«

»Ich dachte, dass er dich überzeugen könnte, aber er hat sich geweigert. Er hat sich sogar über den Glauben deiner Mutter lustig gemacht. Wirklich schade, dass du mehr auf ihn als auf deine gütige Mutter hören willst.«

Jeannette rutschte vom Bett herunter. »Tut Yvette Mama weh, wenn sie nicht mit zur Messe geht?«

»Ich fürchte, ja«, flüsterte Charmaine.

»Habe ich es dir nicht gesagt, Yvette? Du darfst Mama nicht wehtun! Nur wenn sie sich über uns freut, kann sie Frieden finden.«

Rose kam herein. »Was ist los?«, fragte sie angesichts der betretenen Gesichter. »Selbst bei einer Beerdigung sind die Leute fröhlicher.«

Das war zu viel. Jeannette brach in Tränen aus, und Yvettes Miene verfinsterte sich zusehends.

Rose schnalzte mit der Zunge. »Was ist denn nur los, mein Kind? Weine doch nicht!«

»Yvette will nicht zur Messe gehen«, heulte Jeannette. »Es ist ihr egal, ob Mama …«

»Das habe ich nicht gesagt«, fiel Yvette ihr ins Wort. »Außerdem habe ich meine Meinung längst geändert. Ich gehe ja mit, Jeannette, hör bloß auf zu weinen. Bitte!«

Die Nacht war rabenschwarz, und der offene Wagen schwankte leicht, als er an Fahrt gewann. In der Dunkelheit war die staubige Straße kaum zu erkennen und so trügerisch, dass die unerfahrene Lenkerin von Angst ergriffen wurde. Sie zerrte an den Zügeln, woraufhin das Pferd scheute und wieherte. Doch dann verfiel es in eine langsamere Gangart. Obgleich etwas mehr Licht hilfreich gewesen wäre, wagte die Frau nicht, die Laterne anzuzünden. Irgendwann wurde die Straße ebener, und kurz darauf tauchte seitlich vom Weg schwacher Lichtschein zwischen den Bäumen auf. Ein kurzer Ruck am Zügel, und schon bog das Pferd mit verminderter Geschwindigkeit ab, bis es vor einem einsamen Gebäude inmitten des Waldes zum Stehen kam und der eigentliche Teil der Unternehmung begann. Die Lenkerin entstieg der Kutsche und strich ihre schwarzen Röcke glatt, die bis auf den Boden reichten. Obgleich sie vorsichtig auftrat, verriet der knirschende Kies unter ihren Sohlen jeden ihrer Schritte. Als sie die Stufen hinaufstieg, wurde die Tür bereits geöffnet.

»Sie haben sich verspätet«, tönte eine dunkle Stimme aus dem Inneren. »Um ganze sechs Stunden.«

Die Frau trat ein, und sofort schloss sich die Tür hinter ihr. Gleichmütig streifte sie die Handschuhe ab, schlug die Kapuze ihres Umhangs zurück und sah ihrem Gegenüber direkt in die Augen. »Ich habe gesagt, dass ich komme, und ich habe Wort gehalten.«

Sie war wütend, wie er an ihrem entschlossen vorgereckten Kinn und dem durchdringenden Blick erkannte, und zugleich beunruhigt, was ihre verächtliche Miene kaum verbarg.

»Offenbar sind Sie der Meinung, dass Sie mich warten lassen können«, bemerkte er kalt. »Aber ich warte nie auf jemanden. Am wenigsten auf Leute wie Sie!«

»Wie können Sie es wagen …«

»Mrs. Duvoisin«, entgegnete er verärgert. »Ich gebe Ihnen einen Rat: Versuchen Sie keine Spielchen. Sie sind aus einem höchst verwerflichen Grunde hier, der sich nicht plötzlich in Wohlgefallen auflöst, wenn Sie ihn nicht zur Kenntnis nehmen. Oder wenn Sie sich verspäten. Ich sage es nur ein Mal: Ich bin weder vergesslich noch tolerant. Seien Sie also beim nächsten Mal pünktlich, oder meine Geduld wird reißen, bevor noch die erste Stunde abgelaufen ist.«

»Beim nächsten Mal? Ich versichere, dass es kein nächstes Mal geben wird«, zischte sie erbost. »Sie sind verrückt, wenn Sie glauben, dass das so weitergeht.«

»Ganz im Gegenteil. Sie werden mich nicht nur weiterhin bezahlen, sondern von heute an sogar die doppelte Gebühr für mein Schweigen entrichten.«

»Ich habe Ihnen wirklich schon genug gegeben!«

»Wenn dem so wäre, so wären Sie heute Abend nicht hier, nicht wahr?« Er hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen. »Ich entscheide, wann ich genug bekommen habe. Selbst die doppelte Summe ist für die Frau von Frederic Duvoisin nicht ungewöhnlich. Sehen Sie sich doch nur an, welche Höhen Sie inzwischen erklommen haben. Ist das denn nicht das Einzige, was zählt – in welchem Maß Sie von den Plänen und Intrigen profitiert haben? Warum also teilen Sie Ihren Gewinn nicht mit einem, der Sie so gut versteht?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden!«

»Ach nein? Ob Ihr Mann sich wohl für Ihr Doppelleben interessiert? Es gibt auch noch eine andere Theorie, mit der ich öfter in Gedanken spiele … Womöglich fände Frederic einen Besuch von mir äußerst … nun, sagen wir, äußerst aufschlussreich?«

»Es gibt Mittel und Wege, um Sie daran zu hindern!«

Sein Blick wurde scharf. »Wollen Sie mich zum Narren halten, Madame? Ich hoffe nicht – und das zu Ihrer eigenen Sicherheit. Falls Sie versuchen sollten, mich loszuwerden, kommt die Wahrheit unweigerlich ans Licht.«

Er sah, wie ihre Angst wuchs, und nickte. »Genau. Ich habe Vorsorge getroffen. Aber nun will ich Sie endlich von Ihrer Last befreien.«

Er trat einen Schritt auf sie zu und nahm ihr den kleinen Beutel aus den Fingern. Er öffnete ihn, befingerte kurz den Inhalt und zog die Schnüre mit einem zufriedenen Nicken wieder zusammen. »Ausgezeichnet, fürwahr. Von heute an treffen wir uns jeden zweiten Samstag, pünktlich um drei Uhr. Ich freue mich schon auf Ihre Besuche. Gute Nacht, Mrs. Duvoisin.«

»Am Samstag? Warum ausgerechnet am Samstag?«

»Der Grund ist überaus einleuchtend. Falls Sie eine Verabredung versäumen, so kann ich am Sonntagmorgen mit einem Steinwurf gleich zwei Vögel erledigen.« Er lachte in sich hinein und freute sich sichtlich an seinem Wortspiel. »Ihr Mann wird sicher nicht erfreut sein, wenn er mich sieht. Unser letztes Treffen war ja schon verhängnisvoll genug. Das nächste könnte womöglich tödlich enden.« Sein scharfer Blick hielt sie in seinem Bann, bis sie sich fürs Erste geschlagen gab.

Montag, 18. September 1837

 

Die Kinder schliefen bereits, als Charmaine völlig erschöpft ins Bett sank. Die letzte Woche war nicht leicht gewesen, und diese hatte bereits schlecht begonnen. Es hatte jeden Tag geregnet, sodass sie ständig ans Haus gebunden waren. Doch schlimmer war noch, dass John die Kinder so gut wie nie besuchte, was Langeweile und Verdruss zur Folge hatte. Sie fragten ständig nach ihm, aber er entschuldigte sich immer aufs Neue mit der vielen Arbeit während Pauls Abwesenheit und stempelte seinen Bruder somit zum Tyrannen. Ungeachtet dessen flüchtete sich auch Charmaine in diese Schwindelei, sobald die Kinder sich beklagten. Sie wusste nicht recht, wie es nach Pauls Rückkehr weitergehen würde, aber darum musste sie sich heute noch nicht sorgen. Paul hatte ihnen eine Nachricht geschickt, dass er noch eine Woche länger auf Espoir aufgehalten wurde. Falls es weiter regnete, hieß das, dass sie auch weiterhin ans Haus gefesselt waren und John noch eine Woche lang beschäftigt war. Charmaine hegte den starken Verdacht, dass er ihnen in einer Art Trotz aus dem Weg ging. Sicherlich könnte er genau wie früher hin und wieder etwas Zeit für die Kinder abzweigen, wenn es ihn wirklich interessierte.

Wenn John sich einmal eine Meinung über jemanden gebildet hat, dann ändert er sie nur selten. Offenbar hatte er seine schlechte Meinung über sie nicht wirklich geändert. Und das trotz seiner Freundlichkeit bis zum letzten Sonntag. Wie hatte er es formuliert? Eine Art Waffenstillstand? Ein Waffenstillstand besiegelte das Abkommen zweier Feinde. Also betrachtete John sie noch immer als Feindin. Warum machte ihr das nur so zu schaffen?

Sie hatte kurz erwogen, ihm seine lästerlichen Bemerkungen zu vergeben, da sie in der Hitze des Gefechts gefallen waren. Aber als sie einander auf dem Weg zur Messe begegnet waren, hatte sie den Gedanken sofort wieder verworfen. »Wie ich sehe, haben Sie gesiegt, Miss Ryan«, hatte er spöttisch bemerkt und Yvette dabei angesehen. Das war zu viel! Sie hatte innerlich gekocht und sich kaum auf die Messe konzentrieren können. Dieser Mann war unverbesserlich. Nein, schlimmer noch, barbarisch, ohne Grundsätze und unfähig, sich mit zivilisierten Menschen zu verständigen. Ein solcher Mann verdiente keine Gnade.

Dennoch ging er ihr nicht aus dem Kopf, und sie dachte oft an Millie Thornfields Bemerkung, als diese ihr einmal das Bad gerichtet hatte. »Meine Mum mag Master John. Sie sagt, dass ein Mann, der seine Schwestern und Brüder so sehr liebt, ein gutes Herz hat.« Ob Johns Liebe zu den Kindern echt war? Oder waren seine Absichten hinterlistig? Stand er auf der Seite der Engel oder des Teufels? Sie schüttelte ihr Kissen auf und beschloss, auch weiterhin wachsam zu bleiben.

Donnerstag, 21. September 1837

 

Mit Mühe erklomm der kleine Pierre die Stufen der Veranda und schwankte ein bisschen, als er oben angekommen war. Dem Aussehen nach hatte er keine Ähnlichkeit mit dem jüngsten Lord der Insel, sondern eher mit einem Gassenkind ohne Familie und Obdach. Sein Gesicht war schwarz verschmiert, seine Kleider waren beschmutzt und die Schuhe voller Matsch. Keuchend und stolz schleppte er eine Angel, die doppelt so groß war wie er selbst, durch die Säulenhalle.

Urplötzlich wandelte sich der Tag zur Nacht, und nur ein paar Sekunden später öffnete sich der Himmel und schickte wahre Sturzfluten auf die Erde hinunter. Charmaine war überzeugt, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren. Sie nahm ihre Wanderung durch das Wohnzimmer wieder auf, bis einige Unruhe sie ins Foyer lockte.

»Oh, Miss Ryan, sehen Sie nur, was uns der Sturm ins Haus geblasen hat.« Travis Thornfield schob ihr das verdreckte Kerlchen hin. »Ich glaube, er braucht unbedingt Ihre Hilfe.«

»Ich kümmere mich um ihn«, erwiderte sie ohne Zögern. Als die Ängste schwanden, zitterte sie vor Erleichterung. »Wo hast du nur gesteckt, Pierre? Weißt du, wo ich überall nach dir gesucht habe?« Dem kleinen Kerl stiegen die Tränen in die Augen. »Ach, Pierre!«, schluchzte Charmaine und bereute ihre Vorwürfe. Ohne Rücksicht auf die verdreckten Sachen schloss sie den kleinen Mann fest in die Arme und herzte ihn, obwohl er ekelerregend nach totem Fisch roch. »Eigentlich müsste ich dich verhauen, weil du mir solche Angst gemacht hast.«

Sie hatte nicht bemerkt, dass John sich plötzlich über sie beugte. »Wenn Sie jemanden bestrafen, dann sollten Sie sich an mich halten.«

Charmaine richtete sich auf. »Wie konnten Sie den Jungen nur ohne meine Erlaubnis mitnehmen?«

»Aber, Miss Ryan«, versuchte er in pikiertem Ton zu beschwichtigen, »hat Rose Ihnen denn nicht gesagt, dass er in guten Händen ist?«

»Das hat sie! Trotzdem hätten Sie meine Erlaubnis einholen müssen!«

»Ihre Erlaubnis?«

»Ganz richtig – meine Erlaubnis! Ich bin für den Jungen verantwortlich und nicht Sie! Ich wusste den ganzen Tag über nicht, wo Pierre war. Wer weiß, was ihm alles hätte zustoßen können!«

»Miss Ryan«, zischte John, »ich bin doch kein Luftikus. Ich bin durchaus in der Lage …« Er schüttelte den Kopf, doch er zwang sich zur Ruhe. »Ich entschuldige mich für Ihre Ängste – aber um Pierres Wohlergehen müssen Sie sich wirklich nicht sorgen.«

»Warum haben Sie ihn dann hinter meinem Rücken entführt?«

»Ich habe ihn doch nicht entführt.« John war empört. »Ich habe mich nur an Rose gewandt, weil ich genau diesen Disput vermeiden wollte, den wir jetzt führen.«

»Und wie hätte ich Pierres Vater erklären sollen, wo sich sein Sohn befand, wenn er im Kinderzimmer nach ihm gefragt hätte? Es hätte ihn bestimmt nicht begeistert, dass jemand seinen Sohn ohne mein Wissen entführen konnte.«

John ballte die Fäuste und hielt einen Augenblick lang die Luft an. »Aber er ist nicht gekommen, oder?« Als sie schwieg, entspannte er sich wieder. »Ich hoffe, dass Sie Ihre Lehren daraus ziehen und vielleicht eines Tages sogar zugeben können, dass man mir Kinder anvertrauen kann. Trotz Ihrer Bedenken – die mein Bruder vermutlich geschürt hat – habe ich Pierre gesund nach Hause gebracht. Zwar etwas schmutzig, aber dafür glücklich! Zumindest war er das, bis Sie ihm den Spaß verdorben haben.«

Mit großen Augen sah Pierre zu seiner Gouvernante auf. »Bitte, nicht böse sein, Mainie!« Er schnüffelte. »Wir haben geangelt. Es war so lustig.«

Das kleine Stimmchen rührte Charmaine. »Ich bin nicht böse auf dich.« Sie fasste den Jungen an der Hand und warf John einen finsteren Blick zu, bevor sie sich zur Treppe wandte.

Aber Pierre machte sich los. »Erst will ich meine Fische sehen!«

»Deine Fische?« Erst jetzt sah Charmaine die Angel und nahm auch einen deutlichen Fischgeruch wahr.

»Ja, die wir in meinem Boot geangelt haben.«

»In deinem Boot?« Charmaine sah, dass John lächelte.

»Johnny hat es mir zum Geburtstag geschenkt.«

»Wie großzügig von ihm«, bemerkte Charmaine, »aber du hast doch heute gar nicht Geburtstag.«

»Ich weiß, aber das Boot weiß das nicht. Wir haben so getan, als ob ich Geburtstag hätte.«

John grinste, und der kleine Pierre strahlte über das ganze Gesicht. Dagegen war Charmaines Zorn machtlos. »Und wo sind deine Fische?«

»Hier!« John hob einen Haken in die Höhe, an dem ein paar Fische baumelten.

»Ich will sie ins Wasser legen und sehen, wie sie schwimmen«, erklärte Pierre.

»O nein.« John lachte und hob die Fische hoch, dass Pierre sie nicht mehr erreichen konnte. »Wir bringen sie lieber zu Cookie. Sie soll sie uns zum Dinner braten.«

»Wir sollen sie essen?« Pierre war besorgt. »Das will ich aber nicht. Ich will, dass sie schwimmen.«

»Aber sie können …«, begann John, dann fuhr er fort: »… komm mit!«

Ein paar Minuten später starrten sie in eine große Schüssel voll Wasser, in der die Fische lagen. Pierre stupste einen an und wunderte sich, dass nichts geschah. »Warum schwimmen sie denn nicht?«

»Weil sie tot sind«, bemerkte John gleichmütig.

»Tut ihnen das weh?«

»Ich glaube nicht. Vielleicht freuen sie sich sogar, wenn die beste Köchin der Welt sie …«

»Ach, hören Sie auf, Master John«, wehrte Fatima ab.

»… und ein Kenner der feinen Küche und alles Essbaren wie unser George sie sich schmecken lässt!«

Wie auf ein Stichwort kam George in die Küche und wunderte sich über Pierres Kichern. »Worüber lacht er?« Sein Blick wanderte von der lächelnden Charmaine zur verlegenen Köchin und weiter zu seinem grinsenden Freund.

»Über tote Fische«, sagte John. »Nur über ein paar tote Fische.«

Sonntag, 24. September 1837

 

Als Frederic Duvoisin gegen Mittag ins Kinderzimmer kam, befürchtete Charmaine, dass der geplante Ausflug ins Wasser fallen könnte. Aber Frederic nickte nur, als die Mädchen ihm erklärten, dass sie am Nachmittag in die Stadt fahren würden.

»Ich bleibe nur einen Augenblick«, sagte er, woraufhin sich Charmaine in ihr Zimmer zurückzog, damit die Kinder und ihr Vater ungestört waren.

John hatte lange geschlafen, und es war bereits früher Nachmittag, als er endlich sein Zimmer verließ. Als er an der Kinderzimmertür klopfen wollte, ließ ihn die Stimme seines Vaters blitzschnell anderen Sinnes werden. Rasch änderte er sein Ziel. Lunch …

Vom Treppenabsatz aus fiel sein Blick auf einen großen Fremden in der Halle, der eingehend Colettes Porträt betrachtete. Seine Sonntagskleidung war sichtlich zerschlissen, aber seine selbstsichere, ja, arrogante Haltung ging John gegen den Strich. Als ob der Mann ein Recht hätte, sich in diesen Räumen aufzuhalten!

»Verzeihen Sie«, sagte er und ging die letzten Stufen hinunter. »Kann ich Ihnen helfen?«

Der Fremde löste seinen Blick von dem Bild und sah John an. »Ja, das können Sie.« Dann nahm er ihn genauer in Augenschein. »Sind Sie John?«

»Der bin ich.« John war verblüfft. »Und wer sind Sie?«

»Wade Remmen«, sagte der Mann und streckte ihm die Hand entgegen.

John trat einen Schritt nach vorn und schüttelte sie. »Aha – der berühmte Mr. Remmen«, sagte er mit leisem Spott. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

»Genau wie ich, und zwar mehr, als Sie sich träumen lassen.«

John zog eine Braue in die Höhe. Selbstbewusst, dachte er. Kein Wunder, dass Paul ihm Verantwortung übertragen hat. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Remmen?«

Wade sah auf die Papiere in seiner Hand hinunter. Er reichte sie John. »Ihr Bruder sagte, dass Sie ihn in seiner Abwesenheit vertreten. Wie Sie wissen, wurde er aufgehalten. Die Papiere enthalten die Aufstellung aller Holzlieferungen der letzten vierzehn Tage und eine Liste der Lieferungen, die nach Espoir gegangen sind.«

John sah die Rechnungen nur flüchtig an. »Ich sorge dafür, dass mein Bruder sie bekommt.«

»Ich bedauere, aber ich muss die Listen unterschrieben im Laden abliefern. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Papiere unverzüglich durchsehen könnten.«

»Mr. Remmen, heute ist Sonntag. Ich ehre diesen Tag.«

Wade runzelte kurz die Stirn. »Nun gut. Wenn Sie mir die Papiere morgen zur Mühle schicken, kann ich sie nach der Arbeit in die Stadt bringen.«

»Ich habe einen besseren Vorschlag«, sagte John. »Ich bringe sie morgen selbst zum Laden. Was halten Sie davon?«

»Ein ausgezeichneter Vorschlag.«

John geleitete den Mann zur Tür und starrte dann kurz auf die Papiere hinunter. Einen Augenblick später stürmte er, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe empor und platzte, ohne anzuklopfen, ins Kinderzimmer. Jeannette thronte auf dem Schoß ihres Vaters, Pierre spielte zu seinen Füßen, und Yvette las ihnen eine Geschichte vor. Die Gouvernante war nirgendwo zu sehen.

Frederic sah überrascht auf, als Yvette ihren Bruder mit dem Satz »Wo kommst du denn her? Joseph sagte, dass du noch schläfst« begrüßte.

»Ich habe etwas für Vater«, sagte er knapp und legte die Papiere auf das Pult, das dem Sofa am nächsten stand. »Wade Remmen hat diese Papiere soeben gebracht. Sie müssen bis morgen Vormittag unterschrieben sein.«

»Wade?«, rief Jeannette aufgeregt. »Ist er noch da?«

»Ich habe ihn soeben zur Tür geleitet.«

Hastig sprang die Kleine vom Schoß ihres Vaters und flitzte quer durch den Raum davon.

»Was ist denn los?«, rief Frederic ihr nach. Doch statt einer Antwort rannte Jeannette auf die Veranda, um noch einen Blick auf Wade Remmen zu erhaschen.

Yvette verdrehte die Augen. »Sie ist verliebt.«

Frederic lachte ungläubig. »Wirklich? In Mr. Remmen?«

»Nur weil Mama einmal gesagt hat, wie gut er aussieht.«

Frederics Augen verdüsterten sich.

»Was ist los, Papa?«, fragte Yvette.

»Nichts«, stieß Frederic heftig hervor.

John war ebenso verblüfft, doch als er das Gefühl hatte, dass sein Vater mit ihm sprechen wollte, war er blitzartig aus der Tür, ohne auf das Gejammer seiner Schwestern Rücksicht zu nehmen.

»Darf es sonst noch etwas sein, Miss Ryan?«

»Nein …« Unentschlossen strich Charmaine über die teuren Stoffe, doch als Maddy Thompson die Ballen ins Regal räumen wollte, besann sie sich. »Wenn ich es recht überlege … ich nehme den karierten Taft und den blauen Musselin.«

»Das wird aber nicht ganz billig.«

»Das ist mir klar«, murmelte Charmaine.

Ein wenig später trat sie mit ihrem Päckchen aus der Tür. Obwohl sie fast ihr ganzes Geld ausgegeben hatte, stand sie zu ihrem Entschluss. In vier Tagen hatten die Mädchen Geburtstag. Es war der erste Geburtstag ohne ihre Mutter, und den wollte Charmaine so fröhlich gestalten, wie sie vor neun Monaten den ihren gefeiert hatten. Sie seufzte. Der Gedanke an Colette ließ den Verlust plötzlich doppelt schmerzlich erscheinen. Um nicht melancholisch zu werden, dachte sie an die Mädchen. Als Liebesbeweis würde sie die nächsten Nächte mit Nähen verbringen.

Sie blinzelte in die Sonne und machte sich auf den Weg zum Mietstall. George saß noch immer auf den Planken des Gehwegs und spielte mit Pierre, während die Zwillinge auf den Fässern neben ihm herumkletterten. Charmaine packte das kleine Paket fester und bahnte sich einen Weg zwischen den vielen Spaziergängern hindurch.

»Haben Sie alles bekommen?«, fragte George.

»O ja, und ich danke Ihnen, dass Sie inzwischen die Kinder gehütet haben.«

»Es war mir eine Freude.« Er stand auf und nahm Pierre auf den Arm. »Es ist doch eine gute Sache, dass der Laden auch am Sonntag geöffnet hat, nicht wahr?«

Charmaine sparte sich die Antwort. Das Thema wurde auf der Insel eifrig diskutiert. Sie selbst hielt nichts von Besorgungen am Sonntag, aber heute machte sie eine Ausnahme, weil George ihr seine Dienste als Kindermädchen angeboten hatte. Haltet den Tag des Herrn heilig. Charmaine achtete dieses Gebot und war damit die große Ausnahme unter den Kirchgängern, die jeden Sonntag nach der Messe Father Benitos Drohungen der ewigen Verdammnis in den Wind schlugen und ihre Läden öffneten.

»Möchten Sie zum Haus zurück?«, fragte George. »Oder wollen Sie lieber Stephen Westphal besuchen?«

Sein Scherz entlockte ihr ein Kichern. »Ich fürchte, wir müssen zurück, sonst kommen wir zu spät zum Dinner.«

»Noch nicht«, protestierte Yvette, »wir haben doch Gummy noch nicht gesehen.«

»Wen?«

»Gummy Hoffstreicher. Erinnern Sie sich – der Junge, der George und Johnny immer die Sandwiches geklaut hat? Er kommt jeden Tag hier vorbei.«

»Aber, Yvette«, tadelte Charmaine. »Dieser Gummy ist doch ein Mensch und keine Sehenswürdigkeit! Wenn du ihn triffst, behandelst du ihn hoffentlich wie einen Menschen.«

Yvette verdrehte die Augen, was George zum Einlenken veranlasste. »Es tut mir leid, Charmaine, aber das Ganze war nur ein Scherz.«

»Das weiß ich, George, und ich mache auch nicht Sie dafür verantwortlich …«

Rufe aus Richtung des Hafens schnitten ihr das Wort ab, und um sie herum drängten die Menschen plötzlich zum Kai. »Was ist los?«

»Offenbar kommt ein Schiff.« George beschattete seine Augen, um besser sehen zu können.

Charmaine tat es ihm nach und konzentrierte ihren Blick auf einen weißen Fleck am äußersten Ende der Bucht. Dabei wurden sie von der Menge weiter zum Kai geschoben.

»Siehst du etwas?« Aufgeregt zupfte Yvette George am Ärmel. »Woher kommt das Schiff? Kannst du die Flagge erkennen? Ist es unseres?«

»Ja«, rief George. »Es müsste eigentlich die Gemini sein. Die Raven erwarten wir erst nächste Woche. Vermutlich ist Paul an Bord.«

»Na wunderbar«, brummte Yvette missmutig.

Die Bemerkung konnte Charmaines Freude nicht trüben. Sie sah zu, wie das Schiff immer größer wurde und die weißen Masten vor ihr emporwuchsen. Endlich würde alles in Ordnung kommen.

Zehn Minuten später legte das Schiff unter Ächzen längsseits am Kai an. Voller Bewunderung sah Charmaine zu, wie Paul die Mannschaft befehligte und wie damals, vor einem Jahr, beim Vertäuen des Schiffes half. Heute sah er womöglich noch besser aus, dachte sie, und dabei klopfte ihr Herz so heftig, dass sie die Augen abwenden musste.

Paul streifte sich das Hemd über, das er während der Arbeit abgelegt hatte, und überließ den Matrosen die letzten Handgriffe. Als er über die Planken von Bord eilte, erspähte er zu seiner Überraschung das Begrüßungskomitee – vor allem Charmaine, deren Schönheit ihm schmerzvoll bewusst machte, wie sehr er auf Espoir die Gesellschaft einer Frau vermisst hatte. Als er auf sie zueilte, trafen sich ihre Blicke. War das Lust, was er in ihren Augen las? Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, wandte sie das Gesicht ab. Paul dagegen konzentrierte sich ganz auf George, um seine Instinkte zu beruhigen.

»Willkommen, du müder Reisender«, begrüßte ihn dieser. »Wie gehen die Arbeiten auf Espoir voran?«

»Sehr gut, danke. Aber was ist das für ein unerwarteter Empfang?« Paul legte den Arm um Jeannette und sah wieder zu Charmaine hinüber. »Sie sehen wunderhübsch aus, Charmaine.«

»Sie nicht minder«, gab diese zurück. »Ich meine – Sie sehen gut aus.«

Die Mädchen lachten, als ihre Gouvernante errötete.

»Es geht mir auch gut. Besonders, wenn ich an Fatimas Kochkünste denke. Ich darf gar nicht erzählen, was Männer in einem Lager so alles kochen. Manches konnte man beim besten Willen nicht essen. Ich bin froh, wieder hier zu sein. Auf Espoir fühle ich mich noch nicht zu Hause.«

»Das kommt bestimmt noch«, sagte George. »Das braucht Zeit.«

»Vermutlich.« Er streckte die Arme nach Pierre aus. »Hast du mich denn vermisst, mein Kleiner?«

»Hm. Ich habe Hunger. Ich will nach Hause.«

»Und ich erst! Dann also los, gehen wir!«

George eilte zum Stall voraus, und Paul, Charmaine und die Kinder folgten ihm gemächlich. »Ihr müsst mir unbedingt erzählen, was inzwischen passiert ist.« Die Worte waren zwar eindeutig an die Kinder gerichtet, doch sein Blick ruhte ständig auf ihrer hübschen Gouver-nante.

Den Nachmittag über lief Frederic ruhelos in seinen Räumen auf und ab, und seine Zweifel wuchsen, je dunkler es wurde. Also war dieser Wade Remmen Colettes Liebhaber gewesen. Oder nicht? Sollte er den Mann rufen lassen, um ihn zu befragen? Er schnaubte. Der junge Mann würde alles abstreiten. Vielleicht konnte er ihm ja die Wahrheit an den Augen ablesen. Aber welche Folgen hätte das? Was konnte er tun? Was sollte er tun? Und was war mit den Kindern? Wollte er überhaupt, dass sie davon erfuhren? Wenn er die Sache verfolgte, würde alles unweigerlich ans Licht kommen. Doch die Kinder liebten ihre Mutter und hielten sie für einen Engel. Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass er sie ebenfalls noch liebte. Trotz ihrer Untreue liebte er sie. Paul hatte recht: Colette war ein guter, ein wunderbarer Mensch. Und wenn sie sich wirklich noch einen Liebhaber genommen hatte, so doch nur seinetwegen und seiner bedauernswerten Verfassung wegen. Er wollte sie nicht länger für alles Elend verantwortlich machen, das ihm widerfahren war, und er weigerte sich, die Kinder mit Vermutungen über ihre untreue Mutter zu quälen. Sie sollten ihre Erinnerungen bewahren. Colette war tot und begraben – und die schmutzige Affäre ebenso. Nachdem er zu diesem Schluss gekommen war, streckte er sich auf seinem Bett aus und versuchte zu schlafen.

Eigentlich hatte Charmaine nähen wollen, doch nach drei vergeblichen Versuchen legte sie den Stoff beiseite. Sie konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren, weil sie von beunruhigenden Gefühlen heimgesucht wurde. In einer Sekunde kribbelten ihre Fingerspitzen, und im nächsten Augenblick gaben ihre Knie nach. Sie dachte an den Augenblick im Hafen, an Pauls unbeschreiblichen Blick, und spürte wieder, wie ihr das Blut in den Kopf schoss und ihr ein wahrer Rausch in die Glieder fuhr. Selbst jetzt verging sie noch immer vor Sehnsucht. Guter Gott, was war nur los mit ihr?

Seit Pauls Ankunft hatte sie kaum ein Wort herausgebracht, und entsprechend froh war sie, als er sich nach dem Dinner mit John und George in die Bibliothek zurückzog und sie und die Kinder unauffällig verschwinden konnten. Zum Glück gingen die Kinder ohne große Proteste ins Bett und schliefen auch früher ein als sonst.

Am liebsten hätte sie im Garten noch ein wenig frische Luft geschnappt, doch sie schob den Gedanken sofort wieder von sich. Ein Spaziergang hätte vielleicht ihren Kopf geklärt, aber eine Begegnung mit Paul wollte sie nicht riskieren. Sie traute sich selbst nicht mehr über den Weg. Solange diese unerklärlichen Gefühle sie heimsuchten, wollte sie Paul um jeden Preis aus dem Weg gehen. Rasch kniete sie nieder, sprach ihre Gebete und legte sich schlafen.

Paul trat hinaus auf die Veranda. Es war ein produktives Gespräch gewesen, und morgen wollte er sich ansehen, was sein Bruder in seiner Abwesenheit geschafft hatte. George zufolge war er ihm eine unschätzbare Hilfe gewesen – besonders was die Produktion des Tabaks anging. Wenn das der Wahrheit entsprach, würde er morgen nicht sofort in Arbeit versinken.

Dann dachte er wieder an Charmaine. Er sehnte sich nach einer Begegnung unter vier Augen, um zu vollenden, was er viel zu lange zurückgestellt hatte. Sie begehrte ihn so sehr, wie er sie begehrte. Doch sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und ließ ihn zappeln. Ob sie schon schlief? Plötzlich verspürte er den Wunsch, das herauszufinden …

Die Kerze auf dem Nachttisch war fast heruntergebrannt, aber seine Augen gewöhnten sich rasch an das Dunkel. Er trat ans Bett und sah voll Sehnsucht auf sie hinunter … wie schön sie war! Dunkle Wimpern auf milchweißen Wangen, lockende, leicht geöffnete Lippen, eine Hand, die entspannt neben dem Kissen lag, und üppige Brüste unter dem dünnen Nachthemd. Wie sehr er sich danach sehnte, sie zu umarmen! Was würde sie tun, wenn er sie mit einem Kuss weckte? Sein Puls schlug schneller, als er seine Phantasie spielen ließ. Vielleicht würde sie sich wehren, was er erregend fände. Doch nein, das erste Mal sollte wie ein Erwachen sein, ein wunderbares Gefühl, nach dem sie immer wieder verlangte, vielleicht sogar flehte …

Mit diesem Gedanken zog er sich lautlos zurück. In dieser Nacht würde er keinen Schlaf mehr finden – so viel war sicher !

Charmaine riss die Augen auf und griff hilfesuchend nach ihrer Decke. Wie lange hatte sie die Luft angehalten? Du hast sie gar nicht angehalten, Dummerchen! Du hast die Entspannung nur vorgetäuscht. Dabei hat dein Herzschlag so laut in deinen Ohren gedröhnt … Sicher hat er das gehört! Wie hätte er es überhören können? Sie hatte auf einen Kuss gewartet, der niemals kam. Hatte gebetet, dass er es nicht tat – und genau das Gegenteil ersehnt. Und dann war er fort … Fort! Stöhnend drehte sie sich um und versuchte, ganz ruhig zu atmen, zu schlafen.