5

Freitag, 29. September 1837

 

Charmaines Lider zuckten einige Male, bevor sie endgültig die Augen öffnete. Es dauerte fast eine Minute, bis sie begriff, wo sie sich befand und warum sie in Pierres Bett lag. Gegen drei Uhr in der Nacht war ein mächtiger Ast der Eiche durch die verbarrikadierten Fenstertüren in ihr Schlafzimmer gekracht und hatte das ganze Haus alarmiert. Innerhalb von Minuten waren alle in ihrem Zimmer versammelt: die Kinder, Paul, John und George – und alle redeten durcheinander und überlegten, was zu tun war. Sogar die Hausmädchen lungerten neugierig im Flur herum, bis Agatha auf der Bildfläche erschien und sie verscheuchte.

John zog eine Grimasse. »Warum verschwinden Sie nicht auch einfach, Auntie?«

»Ich soll verschwinden?«

»Genau das. Im Augenblick nur aus dem Zimmer, morgen dann aus dem Haus und zuletzt von Charmantes – und zwar für immer.«

»Das geht wirklich zu weit!« Agatha spitzte die Lippen und rannte protestierend aus dem Zimmer.

Charmaine musste sich mühsam das Kichern verkneifen und zog sich mit den Kindern ins Nachbarzimmer zurück. Und während Paul und John noch unter brüderlichen Scherzen den großen Ast auf die Veranda bugsierten, schlummerte sie bereits wieder ein.

Als sie erwachte, war der Sturm vorüber und alles war ruhig. Nur ein paar schmale Silberstreifen drangen durch die vernagelten Türen ins Zimmer. Rasch schlüpfte sie noch einmal unter die Decke und schloss die Augen. Zum Aufstehen war es noch zu früh, die Mädchen schliefen, und Pierre …

Entsetzt schoss sie in die Höhe. Pierre war nicht da, und die Tür zum Korridor war nur angelehnt! Während sie in den Morgenmantel schlüpfte, rannte sie bereits aus dem Zimmer. Im Flur empfing sie fast völlige Dunkelheit. Nur durch die vernagelten Fenster an der Treppe drang etwas Helligkeit herein, und durch die angelehnte Tür von Johns Zimmer fiel ein schmaler Lichtstreifen quer über den Boden. Geräuschlos trat Charmaine näher, bis ein Kichern ihren Verdacht bestärkte.

»Pierre, bist du dort drinnen?«

Es dauerte einen Moment – und dann erschien ein Zwerg mit einem Bart aus Rasierschaum im Türspalt und strahlte sie an.

»Oh, Pierre! Was hast du nur wieder angestellt?«

Als sie sich hinunterbeugte, um den Jungen hochzuheben, küsste sie der Zwerg, woraufhin der halbe Bart auf ihrer Wange klebte und sie als Mitverschwörerin markiert war. In diesem Moment öffnete sich die Tür. Charmaines Blick glitt in die Höhe – von den Strümpfen über eine Hose und eine nackte Brust bis zu einem männlichen Gesicht, das unter weißem Schaum auf sie herabgrinste.

»Was kann ich für Sie tun, my charm

Rasch richtete sie sich auf. »Ich habe Pierre gesucht.«

»Er hat mich besucht, und nun vertreiben wir uns die Zeit, indem ich ihm das Rasieren beibringe.«

»Ist er nicht ein bisschen jung dafür?«

»Das kann man gar nicht früh genug lernen.« Er trat an den Waschtisch, nahm die Klinge in die Hand und begegnete ihrem Blick im Spiegel. »Ein ermüdendes Geschäft.«

Pierre kletterte auf den Stuhl neben dem Waschtisch und verfolgte gebannt, wie die Klinge durch den Schaum glitt.

»Bringen Sie ihn bitte ins Kinderzimmer, wenn Sie fertig sind?«

»Aber selbstverständlich«, sagte John und zwinkerte dem Jungen zu.

Fünf Minuten später war Charmaine wieder da. Inzwischen unterwies John auch seine Zwillingsschwestern, die sich den Spaß nicht entgehen lassen wollten.

»Ich will es aber lernen!«, verlangte Yvette.

»Aber Mädchen rasieren sich doch nicht.« Und dann: »Da sind Sie ja wieder, Miss Ryan. Darf es auch eine Lektion sein?«

»Nicht im Rasieren. Vielen Dank.«

Er lachte leise in sich hinein und brummelte, dass es dann ja noch Hoffnung für ihn gäbe.

Charmaine begriff die Bedeutung erst, als sein Blick zum Bett wanderte, und prompt röteten sich ihre Wangen.

»Warum rasierst du dich eigentlich?«, wollte Jeannette wissen.

»Weil er keinen Bart mag«, sagte Pierre.

»Genau.« John nickte. Und während er mit der Klinge über seine Wange fuhr und dabei das Gesicht verzog, klang seine Stimme seltsam verzerrt. »Wenn ich die Ladys küsse, soll mein Gesicht schön weich und glatt sein.«

Jeannette staunte. »Du küsst Ladys?«

»Manchmal – wenn ich Glück habe.«

»Und gefällt dir das?«, fragte Yvette ebenso ungläubig. »Küsst du sie auch auf die Lippen, wie Paulie das macht?«

John legte die Klinge zur Seite und wischte sich das Gesicht ab. »Das kommt ganz darauf an.« Wieder begegneten sich ihre Blicke im Spiegel, und Charmaine errötete noch ein bisschen mehr.

»Aber, Yvette, so etwas fragt man nicht«, mahnte John. »Nicht einmal den eigenen Bruder.«

»Beantworte lieber meine Frage. Wann hast du es zum letzten Mal gemacht?«

»Hm … lass mich überlegen …«

»Das ist abstoßend!« Yvette würgte es beinahe. »Nie würde ich das einem Jungen erlauben! Und erst die Spucke! Pfui Teufel!«

John trocknete sich die Hände ab und drehte sich dann zu ihnen um. »Vielen Dank, Yvette.«

»Wofür?«

»Dass du mich aufgeklärt hast. Eine Lady, die ich in letzter Zeit geküsst habe, fand das offenbar auch nicht schön, denn sie hat sich meine Spucke abgewischt. Vielleicht denkt sie ja genau wie du. Das wäre zumindest eine Erklärung.« Er überlegte. »Oder sie mag die bärtigen Gesichter lieber als glatt rasierte.«

Agatha verbrachte keine besonders angenehme Nacht. Ständig musste sie an Johns Beleidigung denken, und obendrein schmerzte ihr Kopf. Warum war das Leben nur so schwierig, so von Zufällen abhängig? Warum legte es ihr ständig Steine in den Weg? Nun gut, noch war sie nicht gestolpert, und sie hatte auch nicht die Absicht, das zu tun. Als der Morgen dämmerte, hatte sie sich wieder in der Gewalt und wusste genau, wie sie vorgehen wollte.

Sie betrat das Ankleidezimmer ihres Mannes im selben Moment, als auch Paul bei Frederic anklopfte. Sie ließ sich ihre Freude nicht anmerken und korrigierte ihre Taktik. »Ich will ja kein weiteres Öl ins Feuer gießen, Frederic«, erklärte sie mit Entschiedenheit, »aber Johns Beleidigung geht wirklich zu weit. Du hast mich gebeten, meinen Stolz hinunterzuschlucken, und das sogar vor den Dienstboten. Dir zuliebe habe ich mich daran gehalten und seine ständigen Sticheleien über mich ergehen lassen. Doch nun weiß ich, dass sein ekelhaftes Benehmen nur das Vorspiel für etwas weit Schlimmeres ist.« Sie hielt inne, um ihre Worte wirken zu lassen. »In der vergangenen Nacht habe ich endlich begriffen, warum er nach so vielen Jahren nach Charmantes zurückgekommen ist.«

Frederics Herz schlug schneller. »Und warum, Agatha?«

»Ist das denn nicht offensichtlich? Er hat von Pauls Plänen für die Weihnachts-Gala erfahren und möchte die Sache unbedingt hintertreiben. Stephen Westphal hat einige Dinge aufgezählt, die er bereits unternommen hat, um die Sache zu verhindern. John will, dass Paul scheitert.«

Frederic schwieg, ja, er schien sogar in gewisser Weise erleichtert zu sein, woraufhin Agatha eine drohende Haltung einnahm. »Ich warne dich hier und heute, Frederic«, erklärte sie mit schriller Stimme. »Ich lasse mich nicht vor deinen wichtigen Geschäftspartnern aus Richmond und ihren Frauen blamieren. Wenn John weiterhin auf Charmantes bleiben darf und du ihm gestattest, seine Spielchen auf Pauls Kosten fortzusetzen, werde ich mich aus der Planung des Festes zurückziehen.«

Sie sah flehentlich zu Paul hinüber. »Es tut mir leid für dich, Paul, aber ich möchte mich nicht an den Dingen beteiligen, die dein Bruder im Schilde führt. Er wird uns zum Gespött der besseren Gesellschaft von Virginia und des ganzen Südens machen.«

»Aber, aber, Agatha«, versuchte Frederic die Wogen zu glätten, »ich glaube nicht, dass John Derartiges im Schilde führt …«

»Ganz im Gegenteil«, fiel Paul ihm mit blitzenden Augen ins Wort. »Agatha hat recht, Vater. Wir alle kennen Johns Charakter nur zu gut. Wenn er noch länger auf Charmantes bleibt, wird er mit Sicherheit Unruhe stiften. Er hat außerdem schon damit angefangen.«

»Was soll das heißen?«

»Gestern hat die Raven festgemacht und unter anderem auch Dokumente von Edward Richecourt mitgebracht. Ich war bei Tagesanbruch im Hafen und habe dies hier bekommen.« Er blätterte durch die Mappe mit Papieren, die er in der Hand hielt. »Deshalb wollte ich mit dir sprechen. Offenbar hat John Kenntnis von unseren Plänen, und zwar vermutlich seit Februar. Er hat sämtliche Weisungen, die ich Richecourt im Januar erteilt habe, widerrufen. Aufgrund seiner Maßnahme wurden wichtige Papiere zurückgehalten und werden erst nach New York weitergeleitet, wenn du Richecourt Nachricht schickst und Johns Maßnahmen widerrufst.«

»Die Raven?«, fragte Frederic versonnen. »Seit wann liegt sie im Hafen?«

Paul war völlig verwirrt. Er hatte das Leuchten in Frederics Augen als Wut über Johns Einmischung gedeutet, aber warum fragte sein Vater dann nach der Raven? »Ein paar Tage«, antwortete er und runzelte die Stirn. »Warum fragst du?«

Frederic schüttelte den Kopf und starrte an die Wand. »Aus keinem besonderen Grund. Ich will mit Jonah Wilkinson reden, bevor er wieder Segel setzt.«

Wieder war Paul verblüfft und ärgerte sich über das Desinteresse seines Vaters. »Könnten wir wieder zum Thema John zurückkommen?«

»Ja«, murmelte der alte Mann abwesend, während er angestrengt nachdachte. In der letzten Nacht hatte er alle Möglichkeiten erwogen und um eine Entscheidung gerungen, ohne jedoch einen Weg zu erkennen. Und nun war es die Raven, die ihm den Weg wies, ihm sozusagen das Ruder in die Hand gab. Er rieb sich die Brauen, während er sich gleichzeitig für sein Tun verachtete und seine Gedanken sich bleischwer auf seine Seele legten. Wenn John und ich doch nur wie normale Menschen miteinander sprechen könnten. Aber das war vorbei. John würde ihn beschuldigen, Ränke zu schmieden – und genau dazu war er jetzt gezwungen.

»Vater?«, sagte Paul mitten in seine Gedanken hinein.

»Ja … John …« Endlich sah Frederic Paul an. »Ich glaube aus gutem Grund, dass John noch vor dem Wochenende abreisen wird.«

Trotz ihrer Überraschung blieben Paul und Agatha skeptisch.

»Wenn es dir gefällt«, fuhr Frederic mit Blick auf seine Frau fort, »spreche ich heute Abend beim Dinner mit John.«

»Beim Dinner? Heißt das, dass du heute Abend mit der Familie speist?«

»Darf ich das vielleicht nicht?«

»Aber natürlich darfst du, Frederic. Nur …«

Aus Sorge ließ Paul sie nicht ausreden. »Du weißt schon, welcher Tag heute ist?«

»Ja«, antwortete Frederic so leidenschaftslos, dass Paul angesichts der Leere in seiner Stimme fröstelte.

Charmaine und die Kinder kamen erst spät zum Frühstück. Den Morgen über hatte man die Bretter von den Fenstern entfernt und überall aufgeräumt, bis das Haus wieder in altem Glanz erstrahlte. John trank gerade den letzten Schluck Kaffee, als die vier sich an den Tisch setzten. Paul kam unmittelbar nach ihnen herein.

»Hast du dich schon nach Schäden umgesehen?«, fragte John in freundlichem Ton.

»Ich bin bereits seit Stunden unterwegs«, entgegnete Paul ebenso freundlich. »Wir hatten Glück, weil uns der Sturm nicht direkt getroffen hat. Einige Fischerboote müssen repariert werden, aber die Raven hat die Sache unbeschadet überstanden.«

»Gut. Und die Mühle?«

»Auch dort gibt es kaum Schäden. Nur das Zuckerrohr hat es schlimm getroffen, aber je schneller wir die Bergung angehen, desto mehr wird noch zu retten sein.«

Verblüfft hörte Charmaine den beiden zu, die sich wie Brüder miteinander unterhielten. Es hat Zeiten gegeben, da haben die beiden einander sehr nahe gestanden …

Anschließend wandte sich das Gespräch den Neuigkeiten zu. Mit der Raven waren auch Zeitschriften aus England eingetroffen. König William war tot, und seine junge Nichte hatte soeben als Queen Victoria den Thron bestiegen. Wie sich ihre Regierung wohl auf den Handel der Duvoisins auswirken würde?

Irgendwann kam George aus der Küche, aber er setzte sich nicht zu den anderen an den Tisch. Charmaine hatte schon vorher nach ihm Ausschau gehalten und lief ihm nach, als er den Raum durchquerte. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, George?«

»Aber natürlich.« Er lächelte, als sie sich bei ihm unterhakte und ihn hinaus ins Foyer begleitete.

Pauls Blick folgte den beiden, doch als er John fragend ansah, zuckte der nur die Schultern. Als Charmaine zurückkam, unterhielten sich die beiden gerade mit Pierre.

»Na, hat es dir gefallen, dass du dein Bett letzte Nacht teilen musstest?«

»O ja.« Der Kleine war begeistert. »Mainie war so schön warm.«

»Hat Miss Ryan mit dir gekuschelt?«

»Hm.«

»Der Junge weiß, wie man mit Ladys umgeht«, bemerkte John.

Paul überhörte das. »War es nicht ein bisschen eng?«

Pierre schüttelte den Kopf und faltete die Hände über seinem kleinen Bauch. »Beim nächsten Sturm schlafe ich bei Mainie und beschütze sie. Ich habe keine Angst vor einem Ast.«

»Und wenn es keinen Hurrikan mehr gibt?«, fragte John.

»Dann darf ich trotzdem bei Mainie schlafen – wenn ich sehr artig bin. Richtig, Mainie?«

Charmaine nickte hastig, doch als sie Johns lachenden Blick bemerkte, wusste sie bereits, was unweigerlich folgen würde.

»Und wenn ich ganz artig bin?«

»Dann darfst du auch bei uns schlafen«, sagte Pierre.

Charmaine zuckte zusammen, als Paul in haltloses Gelächter ausbrach, was wiederum Pierre ein ansteckendes Kichern entlockte.

John dagegen stützte nur stumm das Kinn in die Hand und beobachtete Pierre mit solch liebevollem Blick, als ob die unverhüllte Freude des Kleinen schon genügte, um ihm den Tag zu versüßen.

Neugierig beobachteten Pierre und Yvette die Arbeiten in Charmaines Zimmer. Nachdem man noch in der Nacht den großen Ast auf die Veranda geschoben hatte, wurden nun die Glasscherben beseitigt. Irgendwann gesellte sich auch Charmaine zu ihnen. Sie mussten einen Schritt zurücktreten, als John und Joseph die zersplitterten Fensterläden und Türen abschraubten, damit sie durch unbeschädigte Türen aus einem der Gästezimmer ersetzt werden konnten.

John wischte sich den Schweiß von der Stirn und wuchtete dann das eine Ende des Astes bis auf die Höhe der Balustrade empor. Joseph versuchte dasselbe auf der anderen Seite, aber seine Kräfte reichten bei weitem nicht aus. Beim dritten Versuch brach der Ast entzwei und landete auf Johns Fuß. »Verdammt!«, fluchte er, aber weniger vor Schmerz als vor Enttäuschung.

»Es tut mir leid, Sir! Ich wollte doch nicht …«

»Du kannst nichts dafür«, beruhigte ihn John trotz finsterer Miene. »Ich brauche einen stärkeren Helfer. Wo ist dein Vater?«

»Er baut zusammen mit den Stallknechten die Läden von den Fenstern ab. Aber ich versuche es gern noch einmal, Sir.«

»Noch einmal? Du willst mir wohl den Fuß brechen?«

»Nein, Sir. Diesmal passe ich auf.«

»Ich kann dir doch helfen, Johnny!«, erbot sich Yvette.

John verdrehte die Augen. »Glaubst du im Ernst, dass du mehr heben kannst als Joseph?«

Ihr eifriges Nicken entging ihm, weil er sich zu dem Jungen umdrehte. »Geh nach unten und hole meinen Bruder. Soviel ich weiß, nervt ihn Auntie gerade im Arbeitszimmer. Da kommt ihm etwas Abwechslung bestimmt gelegen.«

»Aber …«

John trat einen Schritt auf den Jungen zu.

»Ja, Sir! Zu Befehl, Sir!«

Joseph stürmte davon und hätte beinahe Jeannette über den Haufen gerannt, als diese hereinstürzte.

»George ist wieder da!«, rief sie und verschwand mit ihrer Schwester im Kinderzimmer.

Charmaine und Pierre folgten den beiden auf dem Fuß, was augenblicklich Johns Neugier weckte. »Ich werde nie so begeistert begrüßt«, brummte er, als alle vier aus der benachbarten Tür auf die Veranda liefen und sich aufgeregt an das Geländer lehnten.

Drüben vor dem Stall zog George soeben ein Päckchen aus der Satteltasche und klemmte es sich unter den Arm, bevor er über die Wiese auf das Haus zuging.

»George!«, rief Yvette schon von weitem. »Wir sind hier oben.«

John runzelte die Stirn. So aufgeregt hatte er die Mädchen selten erlebt. Und dann erst Charmaine. Heute Morgen hatte sie George zur Seite gezogen und mit ihm geflüstert. Mit Sicherheit braute sich hier etwas zusammen.

Lächelnd sah er auf seinen Freund hinunter. »Hallo, Georgie.«

»Hallo, John.« George nickte nur kurz und zeigte dann Charmaine das Päckchen. »Ich habe genau das bekommen, was Sie wollten.«

»Vielen Dank, George«, erwiderte Charmaine äußerst liebenswürdig. »Ich stehe tief in Ihrer Schuld.«

»Es war mir eine Freude. Können Sie es fangen?«

Sie nickte, und er warf das Päckchen nach oben, aber Yvette schnappte es sich.

»Mach es nicht auf!«, warnte Charmaine, während sie zu John hinübersah und ihre Blicke sich trafen.

»Worum geht es eigentlich?«, fragte John, als George im Haus verschwunden war.

Charmaine genoss den Augenblick sichtlich. »Ist den Angestellten denn kein Privatleben gestattet?«, fragte sie kokett, bevor sie Jeannette und Pierre an der Hand nahm und im Zimmer verschwand. Grinsend wedelte Yvette mit dem Päckchen in der Luft herum. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte hinter den anderen her.

Als Paul kam, wurde der Ast in kürzester Zeit über die Balustrade geworfen. Und als Joseph unten aus dem Haus trat, erhielt er den Auftrag, das Holz aus der Einfahrt zu entfernen.

»Damit ist er fast die ganze Woche lang beschäftigt«, freute sich John.

»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«, fragte Paul, als Charmaine mit den Kindern unter der Tür erschien.

»Danke, das war alles.«

Paul deutete auf die Fenstertüren, die noch eingebaut werden mussten. »Und was ist damit?«

»Das schaffe ich allein. Vielen Dank. Geh lieber wieder nach unten, bevor Auntie ungeduldig wird.«

Pauls Miene wurde ernst. »John …«, begann er zögernd, »Agatha war wegen deiner Bemerkungen in der vergangenen Nacht verärgert und hat ihre Drohung wahrgemacht. Sie hat sich heute bei Vater über dich beschwert.«

»Das ist mir gleichgültig«, schnaubte John und wandte sich den Türen zu.

»Das sollte es aber nicht sein.«

»Und weshalb? Was wirft sie mir vor – etwa Beleidigung? Dazu braucht Auntie mich nicht. Das kann sie selbst am besten.«

»John …«

Pauls eindringlicher Appell rührte John immerhin so weit, dass er den Kopf hob.

»Vater nimmt heute Abend am Dinner teil, und er hat Agatha versprochen, dass er mit dir reden wird.«

»Ist das nicht nett?« John verschränkte die Arme. »Vielen Dank für die Warnung. Mir schlottern die Knie.«

»Das soll keine Warnung sein. Es ist nur …«

»Nur was, Paulie? Nur was?«

»Nichts.« Paul schüttelte den Kopf. »Gar nichts.«

»Nur was?«, rief John hinter Paul her, als dieser den Raum verließ. Er hielt kurz inne, als ob er erwartete, dass sein Bruder zurückkäme, bevor er sich endgültig den Türen zuwandte. »Nur was?«, murmelte er fast unhörbar.

Charmaine fragte sich, ob Pauls Hinweis vielleicht doch als Warnung gedacht war. Aber was wollte er damit erreichen? Wollte er Johns Zunge bändigen? Oder sollte er nicht bei Tisch erscheinen? Das schien ihr am plausibelsten. »Werden Sie denn am Dinner teilnehmen?«

»Warum denn nicht?«, fragte John schroff.

»Ich dachte nur …«

»Es ist gleichgültig, was Sie denken, Miss Ryan«, fuhr er ihr über den Mund. »Dieses Haus ist ebenso mein Haus, auch wenn einige Leute wünschen, dass dem nicht so wäre«, fügte er sarkastisch hinzu. »Ich bin Mitglied dieser Familie, und ich habe dasselbe Recht, heute Abend am Tisch zu sitzen, wie alle anderen auch. Und genau dieses Recht werde ich wahrnehmen.«

Charmaine spielte an dem Bändchen herum, mit dem das Päckchen auf ihrem Schoß zugeknotet war. Als sie die Kinder am Morgen in ihren Plan eingeweiht hatte, hatten sie voller Begeisterung ihrem Vorschlag zugestimmt, Johnny das Päckchen erst abends beim Dinner zu übergeben. Den lieben langen Tag hatten sie ständig auf die Uhr gesehen und waren beinahe vor Spannung geplatzt. Unter keinen Umständen wollte sie die Kinder enttäuschen. Trotzdem fragte sie sich, wie die kleine Feier wohl endete. War sie verrückt, sich einfach über Frederic Duvoisins Anordnung hinwegzusetzen? Bis auf die eine Begegnung nach Pierres Züchtigung hatte sie Frederic und seinen Sohn noch nie zusammen in einem Raum erlebt. Und doch wollte sie bei Tisch in einem Hornissennest herumstochern …

Als sie das Speisezimmer betraten, hatte Frederic bereits am unteren Ende der Tafel Platz genommen. Der Stuhl am Kopfende war leer, und Charmaine fragte sich, was Frederic wohl beabsichtigte. Wenn John wie versprochen am Dinner teilnahm, so saßen sich die beiden Männer wie auf einer Bühne gegenüber, auf der es unter Umständen heiß hergehen würde.

Der Tischordnung entsprechend saß Agatha auf Frederics linker Seite und hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet, während ein leises Lächeln um ihre Lippen spielte. Schön und aufrecht – ganz so, wie man sich eine Hausherrin vorstellte.

»Guten Abend, Papa«, begrüßte Jeannette ihren Vater und küsste ihn auf die Wange, als sie hinter seinem Stuhl vorbeiging.

»Guten Abend, Prinzessin. Wie geht es dir?«

»Sehr gut, danke«, antwortete das Mädchen, als sie sich zu Yvette setzte. »Und wie geht es dir?«

»Recht gut, danke.« Frederics Blick wanderte zu seiner anderen Tochter und dem Päckchen, das sie in der Hand hielt. »Was hast du da, Yvette?«

»Ein Geschenk für Johnny«, erklärte Yvette. »Wie du weißt, hat er heute Geburtstag.«

Charmaine hielt den Atem an, aber Frederics sanfte Stimme beruhigte sie. »Ja, ich weiß.«

Dann nickte der Hausherr ihr zu. »Miss Ryan.«

»Guten Abend, Sir«, erwiderte sie leise und kümmerte sich sofort wieder um Pierre.

Nach der Begrüßung wurde es still. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten, und Charmaine war erleichtert, als sie endlich Pauls Stimme im Foyer vernahm, der zusammen mit Rose zu Tisch kam. Er rückte Rose den Stuhl zurecht und setzte sich dann neben Charmaine. »Guten Abend, allerseits«, grüßte er in die Runde. Und dann mit einem Nicken: »Vater.«

Felicia und Anna brachten Weinkaraffen und Krüge mit Wasser herbei und füllten die Gläser. Kurz darauf trugen sie Platten mit Fleisch, frischem Gemüse, duftenden weißen Kartoffeln und frisch gebackenem Brot herein. Natürlich hatte Fatima ihr Bestes gegeben, als sie gehört hatte, dass der Herr des Hauses am Dinner teilnahm.

Als alle Teller gefüllt waren, wandte sich Frederic an seinen Sohn. »Hast du im Lauf des Tages noch weitere Sturmschäden entdeckt?«

»Nicht wirklich«, antwortete Paul so respektvoll, dass selbst Charmaine überrascht war. »Unsere Sicherungsmaßnahmen haben sich ausgezahlt.«

»Sehr gut.« Frederic nickte beifällig. »Auf dich kann ich mich immer verlassen.«

»Sir?«

Frederic ging darüber hinweg. »Hast du etwas über Espoir gehört?«

»Nein, bisher noch nicht. Allerdings haben wir den Hafen schon lange vor der Hurrikanzeit befestigt, und das Haus ist stabil gebaut. Auch dem Zuckerrohr dürfte nicht allzu viel passiert sein, da die Pflanzen noch klein sind. Ich bin nicht sehr beunruhigt, aber die Einzelheiten werde ich am Montag hören.«

»Hättest du etwas gegen eine Begleitung einzuwenden?«

»Vater?«

»Ich würde deine Fortschritte gern mit eigenen Augen sehen.«

Paul war ebenso verblüfft wie alle anderen auch. Selbst Agatha war erstaunt. »Möchtest du mich denn begleiten?«

»Aber natürlich. Irgendwelche Einwände?«

»Nein, Vater. Ich … ich wusste nur nicht, ob du dir eine solche Reise schon zumuten willst.«

»Ein paar Meilen über das Meer, und obendrein auf einem sicheren Schiff, sind wohl kaum als Reise zu bezeichnen.« Er wandte sich an seine Frau. »Wie steht es mit dir, Agatha? Möchtest du uns Gesellschaft leisten?«

»Aber ja«, stimmte Agatha eifrig zu.

»Dann ist das abgemacht«, sagte Frederic und hob sein Glas. »Auf Montag und auf Espoir.«

»Auf Espoir.« Während Paul sein Glas hob, freundete er sich langsam mit diesem ungewöhnlichen Wunsch an.

Nach den Trinksprüchen begannen rund um den Tisch die Unterhaltungen. Wieder wanderte Charmaines Blick zu Johns Platz hinüber. Offenbar hatte er sich entschieden, dem Dinner fernzubleiben. Vielleicht war es ja besser, dachte sie, obwohl ihr Herz aus unerklärlichen Gründen schmerzte. Sie sah gerade wieder auf ihren Teller hinunter, als Stimmen im Foyer zu hören waren. Alle am Tisch verstummten und sahen zur Tür. Und während John und George ins Gespräch vertieft zu ihren Plätzen schlenderten, merkten sie nicht einmal, dass alle sie anstarrten.

Frederic legte die Gabel auf den Teller und sah seinen Sohn quer über den Tisch hinweg an. Es machte keinen Sinn, die Sache weiter aufzuschieben. Er musste den zweiten Teil seines Plans in die Tat umsetzen. Seine Familie konnte so nicht weiterleben. Es war an der Zeit, dass sein Sohn eine Entscheidung traf. »Du kommst spät«, stellte er fest, und nach einer Pause: »Dinner gibt es wie immer um sieben.«

John lehnte sich zurück. Charmaine meinte eine gewisse Traurigkeit in seinen Augen zu erkennen. Doch gleich darauf war der Schutzschild hochgezogen.

»Sir«, begann George, »es ist meine Schuld. Ich habe John gebeten, mir auf den Tabakfeldern zu …«

»Du musst dich nicht für mich entschuldigen, George. Ganz gleich, was du sagst, mein Vater wird sowieso immer nur das Schlimmste annehmen. Ist das richtig, Sir?«

Seine schroffe Anrede ließ den nötigen Respekt vermissen, dachte Charmaine.

»Ich möchte mein Urteilsvermögen nicht mit dem des Allmächtigen vergleichen«, bemerkte Frederic.

Charmaines Puls beschleunigte sich. Noch lächelte John. Ihr Blick wanderte den Tisch entlang. Alle sahen auf ihre Teller, nur Agatha starrte mit glitzernden Augen in die Runde. Verstohlen sah Charmaine zu Paul hinüber. Seine Braue zuckte, als er den schweigenden Appell registrierte.

Wie gebannt starrte John seinen Vater an. Dann stand er auf, packte Georges Teller und häufte alles Essen darauf, dessen er habhaft werden konnte. George nickte dankend, als John den Teller vor ihn hinstellte. Als Nächstes bediente John sich selbst, setzte sich wieder und begann zu essen. Nach einigen kräftigen Bissen, die zeigen sollten, dass er sich nicht beeindrucken ließ, begann er zu sprechen.

»Na, wie geht es den Kätzchen, Jeannie?«

»Gut«, antwortete die Kleine völlig verdutzt.

Yvette ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Smudge hat letzte Nacht in Jeannettes Bett geschlafen.«

»Ist das die orangefarbene Katze?«, fragte er, als ob er die Blicke seines Vaters nicht bemerkte.

»Nein, die heißt Orange. Pierre hat sie so getauft.«

»Orange ist mir heute Morgen übers Gesicht gelaufen und hat mich geweckt.«

Die Kinder kicherten fröhlich, doch Agatha schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Die Kätzchen sind hübsch, Jeannette, aber trotzdem müssen sie in ihrem eigenen Bett schlafen und nicht in deinem.«

Die Gesichter der Kinder fielen in sich zusammen, aber John wurde jetzt erst richtig munter.

»Sag, Vater, wie bekommt dir das Eheleben nach dem langen Junggesellendasein? Ist meine reizende Tante jetzt die Richtige, oder gehört der Platz in deinem Herzen noch immer meiner gütigen Mutter?«

Frederics Antwort kam schnell. »Von Elizabeths Güte hast du leider nichts geerbt.«

»So, so, Vater. Und wem schlage ich dann nach?«

»Gute Frage«, entgegnete Frederic. »Von deiner Geburt an hast du nur Qual und Kummer über dieses Haus gebracht.«

»Von meiner Geburt an?«, wiederholte John langsam und nachdenklich, was die Ungeheuerlichkeit dieser Aussage noch betonte.

Frederic zuckte zusammen. Verdammt! Warum habe ich das gesagt? Verdammt! Solche Wunden heilten nie. Die einzige Hoffnung für sie beide bestand darin, sich nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Ja, so war es am besten, entschied er.

Charmaine spielte mit ihrem Essen herum und wünschte, dass sie einfach aufstehen und gehen könnte. Die Atmosphäre erinnerte sie viel zu sehr an die Mahlzeiten ihrer Kindheit. Warum sagte ein Vater solche Sätze zu seinem Sohn? Und warum provozierte John seinen Vater absichtlich?

Die Minuten verstrichen, während die Mahlzeit ihren Fortgang nahm. Aus dem Augenwinkel sah Charmaine, wie John Messer und Gabel auf den Teller legte. Einen Moment lang hielt er den Kopf gesenkt. Dann schob er plötzlich seinen Stuhl zurück und stand auf. Also blieb er nicht zum Dessert. Sie seufzte erleichtert. Sie würden ihm sein Geschenk später geben, wenn der Augenblick günstiger war.

Aber Yvette war offenbar anderer Ansicht. »Johnny, warte!«, rief sie und sprang auf. Sie rannte um den Tisch herum und hielt ihm das Päckchen hin. »Alles Gute zum Geburtstag.«

Verdutzt sah John auf das Geschenk hinunter und machte keine Anstalten, es entgegenzunehmen. Yvette legte es kurz entschlossen auf den Tisch und wartete geduldig.

»Du bist der beste Bruder auf der Welt, und wir haben dich lieb«, erklärte sie voller Bewunderung.

John musste schlucken. Als er endlich das Bändchen löste, öffnete sich das Papier und enthüllte eine lederne Kappe. Ergriffen sank er wieder auf seinen Stuhl und stützte die Stirn in die Hand. »Danke«, stieß er leise hervor.

»Gefällt sie dir nicht?«, fragte Pierre von der anderen Seite des Tisches herüber.

John hob den Kopf und öffnete den Mund, aber Frederics Befehl kam ihm zuvor. »Pierre, komm her zu mir.«

Unentschlossen sah der Junge zwischen den beiden Männern hin und her und überlegte. Dann schaute er über Frederics rechte Schulter. Lächelnd rutschte er daraufhin von seinem Stuhl herunter, kletterte auf Frederics Schoß und schlang ihm die Ärmchen um den Hals.

»Ich liebe dich, mein Sohn«, murmelte Frederic ernst. Obgleich die Worte an Pierre gerichtet waren, ruhten seine Blicke auf John, sodass Charmaine nicht genau wusste, wer gemeint war.

»Ich liebe dich, Papa«, erklärte der Kleine fröhlich und strahlte.

Holz schrappte auf Holz, als John seinen Stuhl zurückstieß. Er stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich mit verzerrtem Gesicht und feuchten Augen seinem Vater entgegen. »Ich hasse dich!«, stieß er so erstickt hervor, als ob er einen schweren Schlag auf den Brustkorb erhalten hätte. Dann packte er die Kappe und flüchtete aus dem Raum.

Charmaine sah zu Frederic hinüber. Er strich Pierre über das Haar, während ein schiefes Lächeln um seine Mundwinkel spielte. Doch seine Augen schimmerten dunkel vor Kummer.

Nach diesem Drama war die Stimmung im Kinderzimmer gedrückt. Charmaine war wie vor den Kopf geschlagen, und genau wie die Kinder, die lustlos im Spielzimmer herumsaßen, konnte sie sich auf nichts konzentrieren. Ihre Gedanken überschlugen sich, kehrten aber immer wieder zu einer Erkenntnis zurück: Es war Hass. Eindeutig. Dieses Gefühl kannte sie nur zu gut. Hass war der Begleiter ihrer Jugendjahre gewesen, aber sie hatte ihn stets in bitterem Schweigen in sich verschlossen. Im Gegensatz zu John.

Und Frederic? Seine Verachtung für John war so offensichtlich wie ekelhaft. Sein widersprüchliches Benehmen stieß Charmaine ab. Einerseits überschüttete er Paul mit Lob und Anerkennung, und im selben Atemzug schleuderte er John die übelsten Verleumdungen entgegen – und das vor seinen jungen, empfindsamen Töchtern. Das Ganze machte keinen Sinn. Warum verbannte er John nicht einfach von Charmantes? Und warum war John noch immer da, obwohl er seinen Vater hasste? Wusste sie das nicht? Nein, das weißt du nicht.

Sie schrak zusammen, als es an ihrer Tür klopfte, und war sehr überrascht, als John davorstand. »Ich würde gern mit Ihnen sprechen. Darf ich hereinkommen?«

»Aber natürlich.«

Er trat ein. »Ich möchte mich für mein Benehmen beim Dinner entschuldigen. Ich wollte nicht …«

»Bei mir müssen Sie sich nicht entschuldigen«, fiel sie ihm ins Wort und war erleichtert, als Yvette unter der Tür erschien und zum ersten Mal seit dem Dinner wieder lächelte.

»Hast du die Kappe anprobiert?« Sie rannte zu ihrem Bruder. »Passt sie dir?«

»Sie passt perfekt. Deswegen bin ich ja gekommen. Ich wollte mich bedanken. Es hat vielleicht nicht so ausgesehen, als ob ich mich gefreut hätte. Aber das Gegenteil ist der Fall. Ich werde die Kappe genauso stolz tragen wie meine alte.«

»Wirklich?«

»Aber ja.« Er nickte Jeannette und Pierre zu, als sie sich zu ihnen gesellten. »Wenn ich ehrlich bin, gefällt sie mir sogar besser als meine alte.«

»Warum hast du Vater gesagt, dass du ihn hasst?«, fragte Yvette.

John sah zu Boden. »Das ist eine lange Geschichte. Sie ist in neunundzwanzig Jahren entstanden, und es dauert fast genauso lange, um die Sache zu erklären.«

»Wenn du Papa hasst, dann hasse ich ihn auch!«

»Aber nicht doch, Yvette!« John ging auf die Knie, umfasste ihre Schultern und sah sie eindringlich an. »Man hasst nicht jemanden, nur weil das ein anderer tut! Hass ist eine schlimme Sache und vergiftet das Leben.«

»Und warum hasst du Papa dann?«

»Ich hätte das nicht sagen dürfen. Aber ich war sehr wütend.«

»Und warum warst du wütend?«

»Um das zu verstehen, bist du noch ein bisschen jung. Aber unser Vater liebt dich, und es würde ihm wehtun, wenn er hören müsste, dass du ihn hasst.«

»Hast du ihm nicht wehgetan?«

»Das weiß ich nicht. Aber du willst das doch nicht tun. Oder?«

Als Yvette den Kopf schüttelte, strich er ihr übers Haar. Und während er aufstand, flüsterte er Charmaine noch rasch ein paar Worte zu. »Ihnen danke ich auch, Miss Ryan.«

»Und wofür?«

»Für den Versuch, meinen Geburtstag zu feiern.«

Samstag, 30. September 1837

 

Für einen Samstagnachmittag war das Haus ungewöhnlich still. Man hätte denken können, dass nach dem gestrigen Abend alle das Weite gesucht oder sich in eine ruhige Ecke geflüchtet hätten. Paul hatte das Haus schon im Morgengrauen verlassen. Kurz darauf war die Herrin des Hauses, die für gewöhnlich lange schlief, zu ungewöhnlich früher Stunde um sieben Uhr mit einem Wagen davongefahren, und einige Zeit später hatten sich auch George und Rose auf den Weg in die Stadt gemacht und die Zwillinge mitgenommen. Charmaine hatte entschieden, mit Pierre zu Hause zu bleiben. Doch nur zwei Stunden später fragte sie sich bereits, warum sie nicht mitgefahren war. Die Leere des Hauses drückte ihr aufs Gemüt, und selbst Pierres Fröhlichkeit konnte ihre melancholische Stimmung nicht vertreiben.

Der Kleine musste ihre trübe Stimmung gespürt haben, denn irgendwann hatte er das Buch weggeschoben und war von ihrem Schoß herunterrutscht. Im Augenblick spielte er mit seinen Bauklötzen.

Ihr Blick glitt durch den Raum und blieb an dem großen Bild über dem Kamin hängen. Seltsam. Obwohl sie so oft in diesem eleganten Raum gesessen hatte, hatte sie das Bild nie richtig angesehen. Dafür sah sie es heute umso klarer: ein Mann und zwei Jungen. Das hatte sich nicht verändert. Doch nun erblickte sie Frederic, der seinen adoptierten Sohn im Arm hielt, während sein ehelicher Sohn ein Stück abseits stand. Wieder dachte sie an Georges Worte: Die beiden haben ihr Leben lang um die Anerkennung ihres Vaters gewetteifert … Paul hatte stets die Nase vornFrederic war oft gemein zu John … Stellen Sie sich vor, wie er sich gefühlt haben muss, wenn der adoptierte Sohn um die Liebe seines Vaters buhlte, während er als leiblicher immer mit leeren Händen dastand … Charmaines Stimmung wurde noch ein wenig trüber. War dieses Bild nur gemalt worden, um John zu verletzen?

Plötzlich stürzte Pierres Turm geräuschvoll in sich zusammen, und Charmaine sah zu, wie der Junge unter den Stühlen herumkroch, um die Klötze einzusammeln und den Bau von Neuem zu beginnen. Während der Turm in die Höhe wuchs, wankte und schwankte er, bis er erneut zusammenfiel. Aber der kleine Mann ließ sich nicht so schnell entmutigen, und Charmaine sah mit Staunen, wie er es ein drittes und ein viertes Mal versuchte.

Konnte man Johns Leben auch so leicht wieder zusammenfügen? Charmaine runzelte die Stirn. Warum fragte sie sich das? Warum dachte sie überhaupt an ihn? Wichtiger noch, wann hatte sie einmal nicht an ihn gedacht? Ihr war mulmig zumute, als sie begriff, dass sie die letzten beiden Tage offenbar nur an ihn gedacht hatte.

Frederic und er waren noch zu Hause. Wie es ihnen wohl ging? Sie schauderte, als sie an den Hass dachte, den sie miterlebt, und an die Schlüsse, die sie daraus gezogen hatte. Was, wenn die Kinder in diesem abscheulichen Spiel als Faustpfand benutzt wurden? Guter Gott, und sie stand in der Mitte. Wie sollte sie damit umgehen? Eine Antwort gab es nicht. Wenn sie Frieden finden wollte, musste sie die Fragen aus ihrem Kopf verbannen und sich der Zukunft zuwenden. Entschlossen stand sie auf.

»Pierre?« Sie legte das Buch auf den Tisch. »Ich muss kurz nach oben gehen. Nur eine Minute.«

»Warum?«

»Ich möchte Freunden in Virginia einen Brief schreiben, aber mein Briefpapier liegt in meinem Zimmer. Kann ich dich einen Moment allein lassen?«

Er nickte. »Hm.«

»Bleibst du brav hier und spielst weiter mit den Klötzen? Versprichst du mir das?«

»Ja, Mainie.«

Sie zwinkerte ihm zu. »Ich bin gleich wieder da.«

Er wollte die Geste erwidern, aber dazu musste er sein Lid mit den Fingern bewegen.

Lachend ging Charmaine davon.

John lehnte sich an den Türrahmen zwischen Bibliothek und Wohnraum. Er hatte gelesen, bis ihn fröhliches Lachen vom Schreibtisch weggelockt hatte. Und nun sah er zu, wie Pierre leise singend auf Händen und Knien herumkroch und seine Klötze zusammensuchte. Ein kurzer Blick verriet ihm, dass sie allein waren und er den Augenblick ungestört genießen konnte. Er trat einen Schritt auf den Jungen zu. »Guten Morgen, Pierre!«

Der Kleine fuhr herum. »Was machst du hier?«

»Dasselbe wollte ich dich fragen.«

Pierre deutete auf die Klötze. »Ich baue ein Haus.«

»Ein Haus? Wirklich? Und wer soll darin wohnen, wenn es fertig ist?«

»Ich und Mainie und Jeannie und Yvie und … du!«

»Oh, das könnte mir gefallen.« Wieder sah er sich um. »Wo ist Mainie überhaupt? Ich dachte, ich hätte sie vorhin lachen hören.«

»Sie war da, aber jetzt ist sie oben. Sie kommt gleich wieder. Ich soll auf sie warten. Dann lernen wir wieder das Albabet.«

»So, so, das Albabet?«

»Alphabet«, verbesserte Pierre ungehalten.

John zwinkerte. »Du kannst es also richtig sagen.«

»Ja! Soll ich es aufsagen? Ich kann es schon gut.«

John hörte zu und nickte anerkennend, als der Junge geendet hatte.

Pierre lief zu John hinüber. »Weißt du, welchen Buchstaben ich am liebsten mag?«

»Nein. Welchen denn?«

»Das M.«

»Und warum gerade das M?«

»Weil zwei Namen so anfangen, die ich am liebsten mag. Das hat Mainie gesagt.«

John war verwirrt. »So? Wen meinst du denn?«

»Mainie und Mama, du Dummkopf.«

»Aber natürlich! Bin ich dumm!«

»Kennst du meine Mama?«, fragte Pierre mit ernstem Gesicht. »Sie ist soo schön.«

»Das habe ich gehört«, murmelte John.

Pierre zog ihn an der Hand. »Komm, ich zeig sie dir.«

John wurde bleich, aber er folgte dem Jungen.

Die kleine Pilgerreise führte zum Treppenabsatz unter das Porträt der zauberhaften Colette Duvoisin in ihrem zartblauen Madonnengewand und mit dem mitfühlenden Blick, den sie erlittenem Schmerz verdankte.

»Heb mich hoch!« Als John nicht reagierte, zerrte Pierre an seinem Hemd. »Heb mich hoch!«

John tat es und trat noch einen Schritt näher, sodass sie fast unter dem Bild standen.

»Das ist meine Mama«, flüsterte Pierre so leise, als ob er sie nicht wecken wollte. »Ist sie nicht schön?«

»Ja«, flüsterte John. »Sie ist wunderschön.«

Ebenso vorsichtig wie John strich Pierre über die elfenbeinfarbenen Hände, die seine Mutter auf dem Schoß gefaltet hatte. Doch er runzelte die Stirn, als die raue Leinwand die täuschende Lebendigkeit zerstörte. »Sie lebt nicht mehr«, sagte er und sah John an.

»Nein«, murmelte John, wobei ihm die Worte fast im Hals stecken blieben. »Nein, sie lebt nicht mehr.«

Pierre legte das Köpfchen schief und betrachtete Johns feuchte Augen. »Warum weinst du?«

»Ich … ich glaube, dass ich sie vermisse«, sagte er leise.

»Liebst du sie?«

»Ja.«

»Und wie sehr?«

»Genauso sehr wie du.« Er schluckte den Schmerz hinunter, drückte den Jungen an sich und vergrub seine Lippen in Pierres weichem Haar.

Als Charmaine oben an der Treppe erschien, hatte er sich wieder in der Gewalt.

»Guten Morgen, Miss Ryan. Pierre und ich vertreiben uns ein wenig die Zeit.«

Sie war froh, dass er lächelte, auch wenn dieses Lächeln nicht bis zu seinen Augen reichte. »Es tut mir leid, dass ich ihn allein gelassen habe. Ich wollte nur schnell …«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Pierre und ich haben uns bestens unterhalten, nicht wahr, Pierre?«

Der Junge nickte und zappelte ungeduldig. John stellte ihn auf den Boden und sah ihm nach, wie er wieder in den Wohnraum rannte. Er wartete auf Charmaine, und zusammen folgten sie Pierre, der bereits wieder Häuser und Türme baute. John zog sich einen Stuhl heran.

Charmaine legte ihr Schreibpapier auf den Tisch und setzte sich John gegenüber. Er schien an Pierres neuem Werk sehr interessiert zu sein. Als er aufsah, begegneten sich ihre Blicke. »Geht … es Ihnen gut?«, fragte sie hastig.

Einen Moment lang zögerte er. »Wenn Sie wissen wollen, ob ich mich vom gestrigen Zweikampf erholt habe, so kann ich sagen, dass ich überleben werde. Sichtbare Narben gibt es keine.«

»Und unsichtbare?«

Wieder ein Stirnrunzeln und dann ein schiefes Lächeln. »Aber, aber, Miss Ryan. Könnte es sein, dass Sie mich allmählich verstehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »So etwas würde ich mir nie anmaßen.«

»Ah, aber Sie arbeiten daran.«

Das hämische Funkeln seiner Augen irritierte sie. »Ich wollte Sie nicht aushorchen.«

»Ich denke nicht, dass Ihnen das gelungen ist. Aber ich mache Ihnen Ihre Neugier nicht zum Vorwurf.« Er lehnte sich zurück. »Wir haben inzwischen mehr als zwei Monate zusammen verbracht, und Sie haben viele meiner Seiten kennengelernt – und, weiß Gott, nicht nur gute. Da finde ich es ganz normal, wenn man über meine Beweggründe nachdenkt.«

Er hielt einen Augenblick inne. Ob er auf eine Reaktion von ihr wartete? Schließlich verschränkte er die Arme und sah sie an. »Ich würde Ihre Meinung über mich sehr gern erfahren – wohlgemerkt Ihre ehrliche Meinung.«

Sie war sprachlos. Meinte er das ernst? »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Und warum nicht?«

»Weil … weil … nun, ich kann es einfach nicht.«

»Falls Sie das beruhigt – meinen schlimmsten Wutanfall haben Sie miterlebt. Und Sie leben noch.« Er lachte leise in sich hinein. »Kommen Sie, Charmaine, ich weiß doch, dass Sie auf diesen Augenblick warten – den Augenblick der Wahrheit, sozusagen, an dem Sie mir sagen können, was Sie von mir halten, und ich Ihnen zuhören muss.«

»Sie irren sich!«

»Wirklich?« Ihr Erröten passte nicht recht zu ihrer Aussage. »Wie dem auch sei. Ich würde trotzdem gern Ihre Meinung hören. Was, wenn ich Ihnen Zurückhaltung und einen kühlen Kopf verspreche? Nein, ich habe eine bessere Idee«, fügte er nach einigem Nachdenken hinzu. »Wenn Sie ehrlich zu mir sind, werde ich Ihnen gegenüber genauso ehrlich sein. Ich vermute, dass Sie gern mehr über ein Familiengeheimnis erfahren würden, zum Beispiel, was Paul betrifft? Wenn es mir möglich ist, werde ich jede Frage beantworten, die Sie mir stellen.«

Charmaine riss die Augen auf. Er hatte ihren Appetit geweckt – und das wusste er.

»Ist das ein Handel?«

Plötzlich stand er auf, und aus Unsicherheit tat sie es ihm nach. Sie wusste nicht, was er vorhatte, bis er seine Hand ausstreckte. Langsam legte sie ihre kühle Hand in die seine und sah darauf hinunter.

Er hielt ihre Hand einen Augenblick in der seinen. »Auf Wahrheit und Ehrlichkeit.«

»Und Sie werden alle meine Fragen beantworten?«

»Sobald Sie mir mein wahres Selbst enthüllt haben«, sagte er mit einem schiefen Grinsen.

Sie wusste nicht, wo sie beginnen sollte … Aber dann fasste sie sich ein Herz. Hatten ihre Mutmaßungen sie nicht zwei ganze Tage lang gequält? »Ich denke, dass Sie ein Mann mit Vergangenheit sind«, begann sie vorsichtig und suchte auf seinem Gesicht nach ersten Anzeichen von Unmut. »Vermutlich hat man Sie verletzt oder enttäuscht. Jedenfalls verstecken Sie sich hinter einem Schutzschild aus Zynismus und Spott. Das Leben hat Ihnen einen schweren Schlag versetzt, und Sie wollen es ihm heimzahlen. Grausam zu sein, ist einfacher, als jemandem zu vergeben, so wie es leichter ist, zu lachen als zu weinen.«

»Ganz im Gegenteil, my charm. Den meisten fällt das Weinen leichter. Sein Lachen muss man sich hart erarbeiten und tagaus, tagein üben, um die Verzweiflung und den Verlust in Schach zu halten. Nur so kann man weiterleben …«

»Haben Sie sie geliebt?«, flüsterte Charmaine. Doch als sich seine Miene verhärtete, bedauerte sie den Fehler sofort. »Es tut mir leid. Ich hätte das nicht fragen …«

»Entschuldigen Sie sich nicht!«, herrschte er sie an. »Sonst widerrufe ich den Pakt.« Sein Auflachen klang hohl. »Diese Frage wird mir langsam langweilig. Pierre hat vor kaum zehn Minuten dasselbe gefragt.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

»Was glauben Sie? Was habe ich wohl einem Kind gesagt, das nach seiner toten Mutter fragt?« Der Sarkasmus war nicht zu überhören. »Natürlich habe ich sie geliebt. Schließlich war sie meine Stiefmutter

Er beendete die Unterhaltung, indem er ihr einfach den Rücken zukehrte. So viel zur Ehrlichkeit. Aber selbst in der Lüge ahnte sie die Wahrheit …

Paul beeilte sich mit seinem Bad, weil er den Besuch von Stephen Westphal erwartete. Wenn es nach Paul gegangen wäre, hätte das Gespräch noch warten können. Aber der Finanzmann hatte ihn in der Stadt getroffen und erklärt, dass die Sache keinen Aufschub duldete. Es war an der Zeit, dass die Aufbauphase auf Espoir zu einem Ende kam und mit der profitablen Arbeit begonnen wurde. In Kürze wurde das erste Schiff erwartet, doch zuvor mussten noch Handelsrouten festgelegt und Verträge mit Kunden und Geschäftspartnern geschlossen werden. Westphal hatte unermüdlich gearbeitet und auch seine unschätzbaren Verbindungen zum Festland genutzt. Nun wollte er seine Ergebnisse mit Paul abstimmen.

Paul betrat die Bibliothek, in der eine angespannte Stimmung herrschte. John stand am anderen Ende des Raums und starrte durch die französischen Türen nach draußen, während Westphal verlegen an seinem Kragen nestelte, der unangenehm eng in die Haut einschnitt. »Guten Abend, Stephen.«

Westphals Miene drückte große Dankbarkeit aus, als ob Paul ihn aus den Klauen der Hölle befreit hätte. »Guten Abend, Paul.« Er sprang auf und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Ich bin wohl etwas zu früh gekommen.«

Paul ging zum Barschrank hinüber. »Aber nein, Stephen. Im Gegenteil. Ich muss mich entschuldigen, weil ich so lange auf den Zuckerrohrfeldern aufgehalten wurde. Wir sind noch immer mit den Folgen des Sturms beschäftigt.«

»Natürlich, natürlich.« Stephen nickte.

»Darf ich Ihnen einen Brandy einschenken?«, fragte er über die Schulter. Dabei sah er zu John hinüber, der bereits ein Glas in der Hand hielt.

»Sehr gern, wenn es Ihnen keine Mühe macht.«

Wieder sah Paul seinen Bruder an. »Konntest du unserem Gast keinen Drink anbieten?«, fragte er in scharfem Ton.

John drehte sich um. »Es ist nicht an mir, etwas anzubieten. Jedenfalls noch nicht.«

Paul runzelte die Stirn. Offenbar hatte es zuvor einen Wortwechsel zwischen den Männern gegeben. Die Frage war nur, was John gesagt hatte. Agathas Vermutungen fielen ihm wieder ein. Womöglich war Johns Benehmen ein erstes Anzeichen für das, was kommen würde, wenn potentielle Investoren und Geschäftspartner vermuten mussten, dass John die Geschäfte seines Bruders hintertrieb.

Agatha betrat den Raum und begrüßte Stephen Westphal mit ungewöhnlichem Überschwang. »Es ist ja so lange her, Stephen. Ich freue mich, dass Sie heute unser Gast sind.«

»Mir geht es nicht anders, liebe Agatha.«

John verzog das Gesicht. »Es ist nicht gerade schwierig, ihn zufriedenzustellen.«

Paul versuchte, die wachsende Spannung aufzulösen. So gern er seinen Bruder hinausgeschickt hätte, so sehr fürchtete er im Gegenzug eine vulgäre Bemerkung.

»Wird Frederic an der Besprechung teilnehmen?«, fragte Stephen.

»Ich fürchte, nein«, antwortete Agatha. »Er hat mich beauftragt, ihn zu entschuldigen.«

»Das tut mir leid.« Stephens Blick wanderte zu John. »Ihr Neffe hat vorhin eine Familienzusammenkunft erwähnt. Darf ich daraus schließen, dass sich die Gesundheit Ihres Mannes gebessert hat?«

»Das hat sie in der Tat«, bestätigte Paul. »Unser Treffen an Weihnachten ist übrigens seine Idee. Er steht uns mit Rat und Tat zur Seite und hat uns mit seinem Wissen und natürlich auch mit seinem Vermögen unschätzbare Dienste geleistet. Ohne ihn stünde keiner von uns da, wo wir heute stehen.«

»Darauf trinke ich«, erklärte John in beißendem Ton und hob sein Glas.

Paul warf ihm einen vernichtenden Blick zu, während er die Anwesenden zum Sitzen aufforderte. »Das Dinner wird nicht vor sieben Uhr serviert. Wir haben also Zeit, um schon einmal anzufangen.«

Agatha setzte sich in einen Lehnstuhl, während Stephen zum Schreibtisch ging und einige Schriftstücke aus der Mappe nahm. »Als Erstes hier die Einladungsliste.« Er überreichte Paul das Papier. »Diese Farmer, Investoren und Makler sollten Sie unbedingt einladen. Die Farmer produzieren die Fracht, und die Investoren werden die Geschäfte kritisch begleiten, aber es sind vor allem die Makler, die Ihre Transportkapazitäten an den Mann bringen. Falls Sie, wie geplant, weitere Schiffe bestellen, könnten die reicheren Farmer die nötigen Mittel aufbringen und sich somit an Ihrem Erfolg beteiligen. Den meisten dürfte an langfristigen, sagen wir fünfjährigen, Verträgen gelegen sein.«

Paul überflog die Reihe der Namen, und seine Augen leuchteten auf. Selbst wenn nur die Hälfte dieser Männer seiner Einladung folgten und nur ein Viertel ernsthaft in sein Geschäft investierten, waren die Ecksteine seines finanziellen Erfolgs gesetzt – dann konnte Paul Duvoisin, der uneheliche Sohn des bekannten Schiffskaufmanns und Unternehmers Frederic Duvoisin, mit seiner Arbeit beginnen.

»Williamson, Brockton, Carroll und Farley kann ich besonders empfehlen«, fuhr Westphal fort. »Sie besitzen die größten und ertragreichsten Plantagen des gesamten Südens und sind ständig auf der Suche nach Transportmöglichkeiten. Ihre Ernten wachsen von Jahr zu Jahr. Ich schlage vor, dass Sie die Leute direkt ansprechen. Bisher arbeiten sie mit Hiram Gimble, einem bekannten und sehr erfolgreichen Makler, zusammen. Wenn Sie ihr Interesse gewinnen könnten, könnte das weitreichende Folgen haben.«

Paul war von dem klugen Vorschlag beeindruckt und träumte bereits davon, die ersten Früchte seiner harten Arbeit zu ernten.

»Natürlich werden wir diese Männer einladen und Mr. Gimble ebenfalls!« Agatha strahlte, als ob die Pläne gar nicht schnell genug umgesetzt werden konnten.

Paul pflichtete ihr bei. »Wenn die Liste komplett ist, müssen wir uns wieder treffen, um alle Einzelheiten durchzusprechen. Einige Namen sind mir ein Begriff, aber von den zuletzt Genannten habe ich nur beiläufig gehört.«

»Diese Farmer produzieren ausschließlich Baumwolle.«

Paul sah John an, der es sich auf einem kleinen Sofa bequem gemacht hatte. »Du sagst das, als ob das ein Problem darstellte.«

»In der nahen Zukunft nicht, aber auf lange Sicht könnte es so sein.«

»Bist du bereit, dies zu erklären, oder machst du es wie Yvette und kassierst für deine Informationen?«

»Du bezahlst doch Stephen auch für seine Dienste«, gab John zurück. »Vielleicht kann er dich ja aufklären.«

Stephen Westphal geriet sichtlich in Zorn. »Wenn Sie meine Fähigkeiten als Farmer anzweifeln, so bin ich der Erste, der Ihnen recht gibt. Aber ich bin Bankfachmann, John, und für einen wie mich haben Männer mit dem größten Bankkonto auch die größte geschäftliche Erfahrung.«

»Da ich Ihnen meine Bankgeschäfte nicht anvertraut habe, wundert mich nicht, dass Sie meinen Worten so wenig Gewicht beimessen.«

»Dieses Gerede ist ja lächerlich!«, schimpfte Agatha. »Warum hörst du ihm überhaupt zu, Paul? Er will dich doch nur ablenken. Nein, er will deinen Erfolg untergraben! Ich traue ihm nicht! Du solltest ihn wegschicken.«

Paul hörte gar nicht hin. Auch wenn er es nicht gern zugab, war seine Neugier geweckt. »Und welche Bedenken hast du, John?«

Agatha sprang auf. »Paul!«

»Setzen Sie sich, Auntie!«

Agatha biss sich auf die Lippen und sank auf ihren Stuhl. Als sie begriff, dass sie wie ein Hund gehorcht hatte, richtete sie sich noch einmal auf und glättete umständlich ihre Röcke.

»Ich bestreite keineswegs, dass die Männer, die Sie erwähnt haben, erfolgreiche Baumwollfarmer sind«, begann John. »Aber ist es klug, sich auf Baumwolle zu beschränken? In diesem Jahr ist der Markt ausgesprochen schlecht, und die Preise sind im Keller. Nächstes Jahr kann das wieder anders sein. Aber das Risiko ist hoch, wenn man alles auf eine Karte setzt.«

Westphal wollte das nicht gelten lassen. »Baumwolle liegt in diesem Jahr bei fünfzig Prozent. Außerdem bieten Williamson, Brockton, Carroll und Farley nicht nur Aufträge aus Virginia, sondern auch aus anderen Regionen. Falls die Tabakernte durch Schädlinge oder einen Hurrikan ausfallen sollte, muss Paul auf andere Ernten zurückgreifen können. Außerdem würde er sich ja nicht auf Baumwolle beschränken, da andere Farmer auf der Liste auch Tabak produzieren und die karibischen Geschäftspartner vorwiegend Zuckerrohr anbauen.«

Der Mann lächelte selbstgefällig, doch John wusste, dass er sich seine Argumente erst beim Reden ausgedacht hatte. »Sehr erfinderisch«, bemerkte er.

Paul runzelte die Stirn. »Und weiter, John? Das ist doch noch nicht alles.«

»Es gibt Gerüchte, dass es zum Krieg kommen könnte. Vielleicht nicht nächstes Jahr und vielleicht auch noch nicht in zehn Jahren. Aber willst du wirklich dein Geld und deine harte Arbeit allein auf Projekte in den südlichen Staaten beschränken?«

»Sag jetzt nur nicht, dass du auch auf dieses Gerede hörst. Ich kann einfach nicht glauben, dass es zum Krieg kommt.«

Spöttisch zuckte John die Schultern. »Ich bin überrascht, dass dir das so wenig Gedanken macht. Nun gut. In deinen Augen stammen all diese Gerüchte vom bösen John, aber ist es denn nicht vernünftig, alle diese Punkte zu bedenken, bevor man eine Entscheidung trifft? Die Sklavenarbeit wird sich nicht in alle Ewigkeit fortsetzen lassen. Die Schwarzen haben die Nase voll. Vielleicht lässt sich die Konfrontation noch eine Weile aufschieben, aber letztes Jahr ist es schon fast zum Krieg gekommen. Was wirst du tun, wenn deine Häfen blockiert werden? Als Sympathisant des Südens werden deine Waren weder in New York noch in Boston willkommen sein. Was also willst du dann transportieren und wohin?« Er zuckte die Schultern und seufzte. »Dies ist nur die Weisheit eines Mannes, der seit zehn Jahren auf dem Festland lebt und weiß, worüber man im Norden und im Süden redet.«

Paul ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und betrachtete seinen Bruder. Johns Ausführungen machten Sinn, aber konnte er ihm trauen? John hätte seinen Spaß, wenn das kostspielige Unternehmen seines Bruders scheiterte. »Wenn das stimmt, sieht es für dich doch genauso schlecht aus. Du baust auch Tabak an, und du verschiffst Waren aus dem Süden. Was unternimmst du dagegen, John?«

»Aber, Paul, du hast dich doch erst vor Kurzem über alle meine Veränderungen und neuen Maßnahmen beschwert, die ich in den letzten Jahren durchgeführt habe. Über den Rest wollen wir aus Gründen der Fairness gar nicht reden.«

»Worauf willst du hinaus, John?«

»Bevor ich im August nach Charmantes kam, hatte ich zum Beispiel nicht die geringste Ahnung, was du auf Espoir planst. Es hat sogar ein regelrechtes Komplott gegeben, um die Sache vor mir geheim zu halten.« Er sah Stephen Westphal an, der sich zum zweiten Mal an diesem Abend unruhig auf seinem Stuhl wand. »Was ich weiß, habe ich Mr. Richecourt aus der Nase ziehen müssen. Ich verstehe nur nicht, warum. Da es dir offenbar sehr wichtig war, mich aus dem Spiel herauszuhalten, müsst ihr auch allein weiterspielen. Es war bereits großzügig von mir, dass ich dir diesen Rat gegeben habe.«

Paul verdrehte die Augen, aber sonderlich beeindruckt war er nicht. »Du weißt sehr gut, warum ich nichts gesagt habe. Mit deiner scharfen Zunge hast du schon genug einflussreiche Menschen in Richmond verärgert. Und mit deinem rebellischen Benehmen erst recht. Du hast deine Sklaven freigelassen, und zwar ohne Vaters Zustimmung, als der übrige Süden noch um den Erhalt der Sklavenarbeit gekämpft hat. Und du willst mir Ratschläge über kluge Entscheidungen erteilen? Ist es etwa klug, Arbeitskraft, die nichts kostet, einfach zu verschenken? Spar dir deinen Vortrag über Rechtlosigkeit und Erniedrigung. Man kann Sklaven auch anständig behandeln, ohne gleich ihren Status zu ändern. Sieh dir doch die Leute an, mit denen du dich zusammentust! Sie sind kaum in der Lage, sich auf der Erde, geschweige denn in zivilisierten Kreisen zu bewegen. Edgar Allan Poe. Weiß Gott! Und du fragst, warum ich dich nicht in meine Pläne einbeziehe?«

John stellte sein Glas auf den Tisch und lächelte. »Nicht mehr.« Dann erhob er sich und ging zur Tür, wo er sich umdrehte. »Mach nur so weiter, Paul, und höre auf Mr. Westphal. Sicher weiß er mehr als ich. Ich sehe nach, ob das Dinner schon fertig ist.«

Paul starrte eine ganze Weile auf den leeren Türrahmen, bevor er sich wieder Mr. Westphal zuwandte. »Ich bedauere die Unterbrechung. Verstehen Sie mich nicht falsch, Stephen, aber ich wüsste gern, was mein Bruder vor meiner Ankunft gesagt hat? Ich hoffe, es war keine Beleidigung.«

»Es war nicht der Rede wert«, antwortete Stephen mit einer eleganten Handbewegung.

»Nicht der Rede wert?« Paul war nicht überzeugt. »Haben Sie gestritten?«

»Es war meine eigene Schuld. Lassen Sie uns nicht mehr darüber reden.«

»Nein, Stephen. Sie müssen es mir sagen.« Paul musste wissen, was womöglich ernste Folgen für seine Interessen hatte. »Wenn es nötig ist, werde ich auch mit meinem Vater sprechen. John hat nicht das Recht, meinen Gast zu beleidigen.«

»Es ist nicht nötig, Ihren Vater damit zu behelligen. John hat, aus welchem Grund auch immer, angenommen, dass Frederic mich heute Abend eingeladen hätte. Auf seine sarkastische Art hat John mich wissen lassen, dass meine Tochter bestimmt kein Interesse mehr an ihm hätte, wenn sein Name erst aus dem Testament getilgt sei.«

An diesem Punkt schaltete sich Agatha ein. »Solche Bemerkungen sollten Sie dorthin zurückschieben, woher sie kommen, Stephen. Ich habe gelernt, das Gerede meines Neffen zu überhören. Aber da wir gerade von Anne reden – Sie müssen mir ihre Adresse geben. Ich möchte sie unbedingt bei unserem Fest dabeihaben. Was wäre denn ein solches Fest ohne eine kluge und kultivierte junge Frau wie Ihre Tochter?«

Angesichts ihrer Worte hellte sich Stephen Westphals Miene sichtlich auf.

Nach einigem Nachdenken fand Paul die Aussicht auf Anne Londons Gegenwart durchaus begrüßenswert. Trotz der vielen anderslautenden Versicherungen musste John die Witwe in der einen oder anderen Weise ermutigt und somit ihr dreistes Benehmen herausgefordert haben. Seine Gedanken wanderten in die Zukunft. Falls John Anne Londons Liebreiz einmal erlegen war, so war er vielleicht auch ein zweites Mal verwundbar. Was würde die naive Miss Ryan dann von ihm halten? Dies war genau die Rückversicherung, die Paul brauchte, falls sein Bruder länger auf der Insel blieb.

»Aber was wird John dazu sagen?«, fragte Stephen, als ob er Pauls Gedanken gelesen hätte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn das begeistern …«

»Nicht er lädt ein«, fiel Paul ihm ins Wort, »sondern ich.«

Stephen strahlte über das ganze Gesicht. Zweifellos wäre seine Tochter entzückt, im Winter diesem anderen gut aussehenden und vielversprechenden Sohn von Frederic Duvoisin zu begegnen.

Sonntag, 1. Oktober 1837

 

Nach der Messe vertauschte Charmaine ihr Sonntagskleid mit alltäglichen Sachen.

»Wir sind fertig!«, riefen die Kinder durch die Tür. »Dürfen wir die Ponys besuchen und die Kätzchen in den Stall bringen?«

»Ja, aber seid vorsichtig! Geht nur zu Angel und Spook. Den anderen Pferden dürft ihr nicht zu nahe kommen.«

»Wir passen schon auf!«

»In einer halben Stunde gibt es Frühstück!«

Keine Antwort … sie waren längst über alle Berge. Charmaine schüttelte den Kopf und freute sich, dass die Kinder trotz aller Widrigkeiten fröhlich und munter waren.

Am Morgen hatte John den Mädchen ein vernünftigeres Zuhause für die Kätzchen empfohlen. Und zwar die Scheune. »Dort könnt ihr ihnen ein Bettchen machen. Katzen haben außerdem einen beruhigenden Einfluss auf die Ponys.« Als Yvette skeptisch blieb, schlug er vor, Paul oder George zu fragen, wenn sie ihm nicht glaube. »Pferde und Katzen vertragen sich bestens, und ich kann auch besser schlafen.« Drei Nächte mit Katzenpfoten auf dem Gesicht waren genug. Außerdem hatten die Mädchen von nun an drei Gründe, um in den Stall zu laufen: das Fohlen, die Ponys und obendrein ihre Kätzchen.

Als Charmaine das Kinderzimmer betrat, lag John der Länge nach auf dem Boden und ließ mit Pierre kleine Segelboote über die Dielen gleiten. Sie freute sich an dem hübschen Bild. »Pierre, bist du hungrig? Es ist Zeit fürs Frühstück.«

John hob den Kopf. »Hungrig ist gar kein Ausdruck! Ich hoffe, die Messe war diese Strapaze wert.«

»Das war sie«, entgegnete Charmaine.

John lachte in sich hinein. »War Father Benitos Predigt wenigstens inspirierend?«

Sie schwieg, um nicht lügen zu müssen. Das frühere Feuer war dahin und die Messe zur Pflichtübung verkommen.

Er grinste. »Manches ändert sich offenbar nie. Wie können Sie Benitos Scheinheiligkeit nur ertragen?«

»Er ist immerhin ein Priester!«

»Nach meiner Auffassung nicht. Oder haben Sie schon einmal Worte wie Mitgefühl oder Liebe von ihm gehört, geschweige denn erlebt?«

Charmaine biss sich auf die Zunge. Das klang plausibel, und doch hatte sie das Gefühl, als ob John sich eher über ihren Glauben als über Father Benito lustig machte.

»Ich sehe schon, Sie sind mir böse«, sagte er. »Dabei habe ich nichts gegen Priester. Ein guter Freund von mir ist Priester, und er ist ein freundlicher, mitfühlender Mensch, der Benito das eine oder andere beibringen könnte. Obgleich bei ihm Hopfen und Malz verloren ist, wie ich meine.«

»Bei wem? Bei Father Benito oder bei Ihrem Freund?«

Bevor John antworten konnte, kam Paul herein und bemerkte Charmaines gerunzelte Stirn.

»Was ist los? Ärgert er Sie wieder?«

»Aber nein«, antwortete sie mit einem Blick zu John. »Nicht wirklich.«

»Wir haben über Father Benito diskutiert«, bemerkte John. »Würdest du ihn als guten oder schlechten Priester beschreiben, Paul?«

Paul wehrte ab. »Im Moment habe ich leider keine Zeit dafür. Ich muss etwas mit dir besprechen.«

»Und das wäre?«

»Ich möchte unter vier Augen mit dir sprechen.«

John brummelte zwar, aber natürlich stand er auf und folgte seinem Bruder nach unten. Im Arbeitszimmer ließ sich John auf ein Sofa fallen.

»Wir brechen morgen in aller Frühe auf«, begann Paul.

John war verwirrt. »Wer wir?«

»Vater, Agatha und ich, und natürlich einige der Diener.«

»Wovon sprichst du?«

»Das haben wir doch bei Tisch besprochen. Vater möchte die Fortschritte auf Espoir persönlich in Augenschein nehmen. Wir werden ungefähr eine Woche fortbleiben.«

John runzelte die Brauen und überlegte. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Vermutlich haben wir das ausgemacht, bevor du gekommen bist. Egal. Wenn wir morgen fahren, wüsste ich gern, dass auf Charmantes alles so läuft, als ob ich zu Hause wäre. Der Zuckerrohrernte gilt meine größte Sorge. Zwei Felder wurden vom Sturm verschont, aber für das Pressen brauchen wir jede Hand, wenn wir keinen Verlust machen wollen. George sagt, er habe alles im Griff, aber wenn die Fässer auf die Raven verladen werden, braucht er unbedingt Unterstützung.«

»Auf die Raven?«, fragte John. »Die müsste doch längst auf dem Weg nach Richmond sein.«

»Wäre sie auch, wenn der Sturm sie nicht aufgehalten hätte. Heute bin ich froh, dass ich die Melassefässer verladen kann.« Paul legte eine kleine Pause ein. »Kann ich auf deine Hilfe zählen?«, fragte er dann, als John nichts sagte.

Eine unheimliche Stille breitete sich aus. John starrte auf die große Bücherwand am anderen Ende des Raums, und Paul fragte sich, ob sein Bruder die Frage überhaupt gehört hatte.

Er wechselte das Thema. »Da ist noch eine andere Sache. Ich hätte gern dein Wort als Gentleman, dass du Charmaine in meiner Abwesenheit nicht bedrängst.« Wieder reagierte John nicht. »John«, fuhr Paul ihn ungehalten an, »hörst du mir überhaupt zu?«

Johns Blicke richteten sich auf seinen Bruder. »Sorge dich nicht, Paul, sorge dich einfach um gar nichts.«