1

Dienstag, 22. August 1837

 

Seelenfrieden! Oh, erlösendes Vergessen! waren Charmaines letzte Gedanken, bevor ihr die Lider zufielen. Als ob einer ihr Flehen erhört hätte, sank sie zum ersten Mal seit drei langen Nächten wieder in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Vogelgezwitscher im großen Eichbaum vor dem Fenster weckte sie. Doch sie blieb noch einen Moment lang liegen, um die Melodie der Natur auf sich wirken zu lassen, die einen strahlend schönen Tag verhieß. Einen Tag, wie geschaffen für ein Picknick. Nach einer Weile erhob sie sich und spähte vorsichtig ins benachbarte Zimmer, doch die Kinder schliefen noch tief und fest. Um keine Minute des herrlichen Tages zu versäumen, begann sie schon einmal mit ihrer Morgentoilette.

Die Antwort auf Loretta Harringtons Brief lag oben auf der Kommode. Als sie die Seiten noch einmal in die Hand nahm und kurz überflog, erwachten die tumultartigen Szenen der letzten drei Tage zu neuem Leben.

Mit großer Freude habe ich Ihren Brief gelesen … Mir geht es so weit gut … Die Kinder sind mir eine ständige Freude, und meine Stellung gefällt mir sehr gut … Allerdings verstehe ich bis heute nicht, wie Mr. Duvoisin eine so kaltherzige Person wie diese Agatha Ward heiraten konnte … Ich gehe ihr nach Möglichkeit aus dem Weg … Paul ist nach wie vor der vollendete Gentleman … Manchmal glaube ich, dass er – abgesehen von Rose und George Richards – der einzige Freund ist, den ich hier im Haus habe … Vergangene Woche ist George endlich nach Charmantes zurückgekehrt. Auf keinen Fall sollten Sie die Hoffnung hegen, dass er für mich in Frage käme … Solche Gedanken liegen mir fern … Vor ein paar Tagen ist auch John Duvoisin heimgekehrt – und das, wie man sich erzählt, gegen den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters. Sein Benehmen hat meine Vorbehalte gegenüber der Ehe nur noch bestärkt. Inzwischen kann ich sogar Frederic Duvoisins Verachtung für sein eigen Fleisch und Blut nachempfinden. John ist ein ungehobelter Kerl, den man nur verachten kann. Er verbringt ganze Tage in seinem Zimmer und trinkt oft bis zum Morgengrauen. Ich meide die Begegnung mit ihm, wann immer ich kann. Doch er taucht stets in den unmöglichsten Augenblicken auf, und dann muss ich jedes Mal wieder erkennen, dass ich seinem Sarkasmus nichts entgegensetzen kann. Seine Ablehnung meiner Person hat mehrere Gründe. Er weiß zum Beispiel über meinen Vater Bescheid – zweifellos durch seine zukünftige Braut, die verwitwete Anne Westphal London … Kennen Sie diese Person? Allerdings bin ich längst nicht sein einziges Opfer. John Duvoisin hackt praktisch auf jedem herum. Sogar auf seiner Tante und jetzigen Stiefmutter … wenn man so will. Sie können Mr. Harrington ausrichten, dass er mit seiner Einschätzung nie richtiger gelegen hat als bei diesem Menschen. Bitte bestellen Sie allen, die ich kenne, meine besten Grüße …

Seufzend steckte sie den Brief in den Umschlag zurück. Dann setzte sie sich an den Frisiertisch und fuhr mit langen Bürstenstrichen durch ihre Locken.

Mit einem Mal wurde die morgendliche Stille durch unflätige Flüche unterbrochen. Hastig sprang Charmaine hoch und eilte in den Korridor. Gefolgt von einem Holzeimer, der von einer Wand abprallte und dabei seinen Inhalt auf die Stufen entleerte, floh Joseph Thornfield in Riesensätzen die Treppe hinunter.

»Du verdammter Dummkopf! Ich bade zwar für mein Leben gern, aber deswegen will ich noch lange nicht den Sopran im Knabenchor singen!«

Unwillkürlich folgte Charmaines Blick dem Gebrüll – und sie riss überrascht die Augen auf. Triefend nass beugte sich John Duvoisin über das Geländer und schimpfte dem jungen Diener hinterher. Bis auf das Badetuch, das er sich um die Hüften geschlungen hatte, war er nackt. Aber diese ungehörige Blöße schien ihm gar nicht bewusst zu sein. Ohne es zu wollen, verglich Charmaine Johns Körper mit dem seines Bruders – ihrem obersten Maßstab, was das männliche Erscheinungsbild anging – und musste widerstrebend zugeben, dass die beiden sich durchaus miteinander messen konnten: dieselben breiten Schultern, dazu muskulöse Arme und Beine und ein straffer Bauch, der im Augenblick allerdings leicht gerötet war. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie merkte, dass sie nicht länger auf seinen Rücken starrte. Als ihre Blicke sich trafen, zog Charmaine eine Grimasse. Doch John grinste nur. Den Schmerz hatte er angesichts des unverhofften Publikums offenbar schnell vergessen.

»Ihre Bäckchen glühen ja wie Äpfelchen, my charm. Hat mein Bruder Sie denn noch nicht mit der männlichen Anatomie vertraut gemacht? Oder habe ich durch meine Ankunft etwa die erste Lektion unterbrochen?«

Gekränkt stürmte Charmaine in ihr Zimmer und knallte die Tür so laut ins Schloss, wie sie nur konnte. Aber der Erfolg war gleich null. Es dauerte noch fast eine ganze Minute, bis das Gelächter endlich verhallte.

Als sie ihr Zimmer zum zweiten Mal verließ, war es noch immer früh am Morgen. Doch die Hoffnung auf ein ungestörtes Frühstück war dahin. Johns Gebrüll hatte alle Bewohner des Hauses aufgeschreckt. Alle bis auf Agatha, die allein in ihrem Salon frühstückte. Als Charmaine und die Kinder auf der Treppe mit Paul, George und Rose zusammentrafen, betete sie inständig, dass wenigstens John sich verspäten möge. Doch in letzter Zeit war keines ihrer Gebete erhört worden, und so dauerte es nicht lange, bis auch der andere Bruder auf der Bildfläche erschien, kaum dass die übrige Familie im Speisezimmer versammelt war.

»Guten Morgen, allerseits!«, grüßte John fröhlich und zwinkerte Charmaine zu.

Sie bedachte ihn mit einem finsteren Blick, doch er achtete nicht weiter darauf, sondern setzte sich zu den Kindern an den Tisch, die ihn begeistert begrüßten. Charmaine blieb unschlüssig stehen, weil Paul und George noch unter der Tür standen und offenbar etwas zu besprechen hatten.

John entging rein gar nichts. »Frühstücken Sie auch, Mademoiselle, oder wollen Sie nur zusehen? Sie stehen da wie ein armes Hündchen, das einen Bissen vom Tisch des Herrn ergattern möchte.«

Der Vergleich schmerzte wie Salz in einer Wunde und machte Charmaines Vorfreude auf den schönen Tag endgültig zunichte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat einen Schritt näher.

»Wie konnte ich das nur vergessen!« John schob seinen Stuhl zurück. »Die Lady erwartet natürlich, dass ihr der Gentleman den Stuhl zurechtrückt. Da mein verehrter Bruder augenblicklich verhindert ist, muss ich das wohl tun!«

Er kam um den Tisch herum und zog einen Stuhl hervor. Dann wedelte er mit der Serviette über das Polster und krönte seine Vorstellung mit einer unterwürfigen Verbeugung und der auffordernden Geste, doch bitte Platz zu nehmen. Charmaine tat es so gleichmütig wie möglich, doch als sie ihre Serviette entfaltete, bemerkte sie, dass Paul die Lippen zusammenpresste und sich nur mit Mühe beherrschte.

John kehrte auf seinen Platz zurück und plauderte in regem Wechsel mit George und Rose und mit den Kindern. Das restliche Frühstück verlief ohne größere Zwischenfälle, bis Jeannette plötzlich Charmaines Brief an Loretta Harrington hervorzog.

»Soll ich Joseph den Brief geben, damit er ihn zur Post bringt, Mademoiselle?«

Charmaine zuckte zusammen. »Ja, bitte«, antwortete sie dann hastig.

Zu spät! Johns Interesse war geweckt. Er zog eine Braue in die Höhe. Dieser Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Als Jeannette hinter Johns Stuhl vorbeigehen wollte, hielt er sie auf und nahm ihr den Umschlag aus der Hand. »Was haben wir denn da?«

»Einen Brief, wie du ja wohl unschwer siehst«, bemerkte Paul ungehalten.

»Einen Brief? Was du nicht sagst! Vielen Dank für die Aufklärung, lieber Bruder. Ich habe beinahe vergessen, wie ein Brief aussieht, aber Miss Ryan offenbar nicht, oder?«

Charmaine erbleichte, als John sich mit dem Umschlag gegen die Lippen klopfte. »So, so. Mrs. Joshua Harrington in Richmond, Virginia. Harrington … Wo habe ich den Namen schon gehört? Ach ja … im vergangenen Jahr beim Treffen der Kaufleute. Joshua Harrington hat damals gegen die Tarife für Importe protestiert. Ich erinnere mich genau. Ein ziemlich ungeduldiger Mensch. Eher klein – und das nicht nur in körperlicher Beziehung.«

»Ich hatte genau den gegenteiligen Eindruck«, wandte Paul ein.

»Wie dem auch sei, Paul, aber groß kann man ihn wahrlich nicht nennen, oder?«, meinte John.

George kicherte, doch Paul sah verdrießlich drein. »Ich spreche von seinem Charakter.«

»Nicht doch, Paulie«, widersprach John. »Keine Ahnung, wie du zu dieser Meinung kommst. Bei unserem Gespräch hat er jedenfalls äußerst ungeduldig reagiert.«

»Hast du dich vielleicht über ihn lustig gemacht?«

»Weshalb sollte ich so etwas tun? Meiner Meinung nach hat der Mann keinen Humor. Das ist alles. In Anbetracht seines biblischen Vornamens habe ich ihm nur geraten, vor seiner nächsten Rede besser noch einmal Rücksprache mit Gott zu halten. Anschließend wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben, was mir nur recht war.«

Paul schloss die Augen und schüttelte entrüstet den Kopf.

»Im Augenblick ist das wohl eher nebensächlich, nicht wahr, Mademoiselle?«, bemerkte John mit neuem Ernst. »Sie möchten diesen Brief zur Post geben, was normalerweise zu Josephs Aufgaben gehört. Da er jedoch das Chaos in meinem Zimmer beseitigen muss, erbiete ich mich freiwillig, den Brief an seiner Stelle zum Laden zu bringen.«

»Wie edel von dir«, bemerkte Paul, bevor Charmaine überhaupt antworten konnte. »Aber vermutlich legt Miss Ryan Wert darauf, dass ihr Brief zuverlässig überbracht wird.«

»Nicht doch, Paulie! Du willst mir doch wohl nicht unterstellen, dass ich ihn unterwegs verlieren könnte?«

»Sagen wir es lieber so: Dazu bin ich zu höflich. Da du jedoch – im Gegensatz zu mir – heute nicht in die Stadt musst, werde ich den Brief mitnehmen.«

»Auch wenn du es nicht für möglich hältst, Paulie, ich habe sehr wohl Besorgungen zu machen und muss außerdem noch eigene Briefe zur Post bringen. Wenn ich Miss Ryans Brief befördere, kann ich wenigstens beweisen, dass ich nicht der Halunke bin, für den sie mich noch immer hält. Der Brief wird zuverlässig an sein Ziel gelangen.«

»John …«

»Gib doch endlich zu, dass du aus ganz anderen Gründen in den Laden willst. Habe ich recht, Paulie? Vielleicht ein Tête-à-Tête mit Maddy Thompson?«

»Ich verabscheue diese Spielchen, lieber Bruder. Wenn dir so viel an der Beförderung des Briefes liegt, dann tu dir keinen Zwang an.«

»Spiel jetzt bloß nicht den Beleidigten!«, rief John, woraufhin die Mädchen kicherten.

Für Charmaine war die Angelegenheit jedoch keineswegs erledigt. »Wenn ich gewusst hätte, welchen Wirbel der Brief auslöst, hätte ich ihn oben gelassen.« Ihr Lachen klang künstlich. »Ich bringe ihn lieber selbst zur Post.« Sie beugte sich nach vorn, um John den Brief aus der Hand zu nehmen, doch der brachte ihn außer Reichweite.

»Die Kinder haben doch jetzt Unterricht, oder nicht? Da müssen persönliche Angelegenheiten leider zurückstehen. Aber keine Sorge! Ich gebe Ihnen mein Wort als Gentleman: In meinen Händen ist Ihr Brief absolut sicher. Doch falls Sie noch immer Bedenken haben – George kann für meine Diskretion bürgen. Im Gegensatz zu einer bestimmten Person, die jedoch ungenannt bleiben soll, habe ich mich noch nie so weit vergessen, die Briefe anderer Menschen zu lesen.«

Charmaine errötete.

»Außerdem muss ich nicht diesen Brief lesen, um zu wissen, was Sie von mir halten. Das haben Sie schon mehrmals unzweifelhaft zum Ausdruck gebracht.«

Charmaine zog sich mit den Kindern ins Spielzimmer zurück. Je mehr Zeit verging, desto inständiger hoffte sie, dass John endlich das Haus verließ und sie noch rechtzeitig den Korb für ihren Lunch mit den Kindern bei Fatima bestellen konnte. Inzwischen war es fast elf Uhr. Während Paul und George noch immer im Arbeitszimmer über ihren Papieren saßen, hatte John offenbar die Zeit in seinem Zimmer vertrödelt. Wo war nur der Eifer hin, den er beim Frühstück an den Tag gelegt hatte?

Charmaine konzentrierte sich auf die Mathematik, um nicht länger an die Misslichkeiten denken zu müssen: an das verspätete Picknick und an Johns Angebot, den Brief zu befördern. Ob er ihn unterwegs las? Selbst wenn er es tat, würde sie es nie erfahren! Es war dumm gewesen, ihren Hass so unverhüllt einem Stück Papier anzuvertrauen – jetzt hielt es der Teufel persönlich in der Hand!

John Duvoisin – der Teufel persönlich. Ja, sie hasste diesen Mann! Sie hasste seine überhebliche Art, hasste, wie er sie verspottete und bloßstellte und auch noch Spaß daran hatte. Sie hasste, dass er alles von ihr zu wissen glaubte, und sie hasste, mit welcher Wonne er Menschen unglücklich machte. Ja, sie hasste ihn. Sie hasste ihn ebenso, wie sie ihren Vater hasste. Sie hasste, hasste, hasste ihn! Colettes Worte verfolgten sie: Zuerst werden Sie ihn hassen … Zuerst? Und dann? Hatte sie nicht angedeutet, dass jeder ihn liebte, der ihn besser kennenlernte? Lächerlich! Charmaine hatte John vom ersten Augenblick an gehasst, und das würde sich bis in alle Ewigkeit nicht ändern. Im Gegenteil. Sie sehnte den Tag herbei, an dem er endlich wieder seine Sachen packte und nach Richmond zurückfuhr. Wenn es nach ihr ging, konnte das gar nicht früh genug geschehen.

Charmaine merkte auf, als plötzlich Türen zuschlugen und Schritte durch den Flur hallten. Rasch überließ sie Yvette und Jeannette den Aufgaben und trat auf die Veranda. Für Anfang August wehte eine angenehm kühle Brise, die in den Blättern der großen Eiche raschelte. Sie sah zu den Koppeln hinüber und wurde mit dem Anblick von Paul belohnt, der die Hände in die Hüften stützte und offenbar etwas mit George und zwei Stallburschen zu besprechen hatte. Seine Haltung strahlte eine natürliche Autorität aus – von den breiten Schultern und dem schlanken Körper bis hin zu den muskulösen Schenkeln, die sich unter seiner Reithose abzeichneten. Die blank polierten Reitstiefel vollendeten das Bild. Charmaine musste die Augen schließen, weil ihr Herz plötzlich wie wild klopfte. Sie dachte an ihren ersten Tag auf der Insel, als sie Paul an Bord der Raven erspäht und das Spiel der Muskeln auf seinem gebräunten Rücken bewundert hatte – ein unvergesslicher Anblick, der sie an die römischen Statuen in europäischen Museen erinnert hatte.

Dann dachte sie an den gestrigen Abend, an den Kuss im Garten, und wieder raste ihr Herz. Obgleich sie im letzten Moment zurückgeschreckt war, erinnerte sie sich voller Glück an die leidenschaftliche Umarmung und hatte noch immer den lockenden Ton seiner Stimme im Ohr. Rasch holte sie Luft und mahnte sich zur Vorsicht. Dies war ein Spiel mit dem Feuer, und es war sicher klüger, solche Begegnungen in Zukunft zu vermeiden. Wie schwer ihr das werden würde, merkte sie schon im nächsten Augenblick, als Paul den Arm um die Schultern eines der Stalljungen legte und sie sich augenblicklich in seine starken Arme zurückträumte.

In diesem Moment fiel die Haustür ins Schloss und zerstörte das Traumbild. Vorsichtig spähte Charmaine über das Geländer – und zuckte im selben Augenblick zurück. Es war der Teufel persönlich, der die Stufen hinuntereilte. Er trug eine braune Lederkappe und ein weißes Hemd, dazu eine hellbraune Reithose und passende Stiefel. Seine Haltung wirkte locker und doch so überheblich, dass Charmaine versucht war, ihm jede Niederlage zu wünschen. Sie kannte ihn erst seit drei Tagen, und trotzdem war klar, dass sich dieser Wunsch nie erfüllen würde, denn niemand anderer strahlte eine solche Selbstsicherheit aus. Nicht einmal Paul. Wieder hallten ihr Colettes Worte im Ohr: Dieser Mann ist ein Rätsel … eines von vielen. Du lieber Himmel, eines war wahrlich genug!

John hatte die Wiese fast überquert, als Paul sich aus dem Kreis der Männer löste und auf ihn zuging. Charmaine stockte der Atem, weil Paul offenbar eine bissige Bemerkung machte, die sie allerdings nicht verstand. John wedelte mit einem Brief vor Pauls Gesicht herum. Mit einem einzigen Brief! Dann sagte er etwas, woraufhin Paul sich zur Fassade des Hauses umdrehte. Es dauerte keine Sekunde, bis er sie entdeckt hatte und ein Lächeln über seine Lippen glitt. Charmaine schüttelte den Kopf. John musste gewusst haben, dass sie auf dem Balkon stand. Aber woher? Oder hatte er es gar nicht gewusst? Hatte er Paul nur ärgern wollen und Glück gehabt?

John verschwand im Stall, und als er ein paar Minuten später wieder auftauchte, führte er seinen schwarzen Hengst am Zügel. Phantom – laut der Zwillinge. Das Tier schien sich gegen die Trense zu wehren; sein schwarzes Fell glänzte im Sonnenlicht.

Als ein Pferdeknecht ein weiteres Pferd aus dem Stall führte und George die Zügel übergab, warf Paul besorgt die Hände in die Höhe. »Es dauert bestimmt nicht lange!«, rief George, nachdem er aufgesessen war.

Jeder schien gespannt darauf zu warten, dass John dem Beispiel seines Freundes folgte. Dabei wagte niemand, nicht einmal Paul, diesen »Dämon« zu reiten. Die Stallburschen hatten ihn so getauft, weil er ständig ausbrach, über die Zäune sprang oder ihnen entwischte, die anderen Pferde biss und sie alle Mühe hatten, ihn von den anderen abzusondern. Wie es aussah, wollte John genau das tun, wofür Paul zum Glück zu vernünftig war. Charmaine nahm sich vor, lauthals zu lachen, wenn er abgeworfen wurde.

Der Hengst witterte die Freiheit und scharrte ungeduldig mit den Hufen, während John unbeeindruckt weiter mit George redete. Beiläufig zog er etwas aus seiner Hemdtasche und hielt es dem Tier unter die Nüstern. Phantom schnupperte und knabberte gierig. John strich kurz über die seidige Flanke und schwang sich dann mit einer fließenden Bewegung in den Sattel. Das Tier bockte, doch John parierte sofort mit dem Zügel. Laut wiehernd schüttelte Phantom seine Mähne und begann, sich um sich selbst zu drehen. Charmaine lachte leise in sich hinein. Ein erfahrener Reiter war John nicht. Zumindest diese kleine Schwäche hatte sich gezeigt!

»Er braucht dringend Bewegung«, rief George. »Er wurde seit Ewigkeiten nicht mehr geritten.«

»War mein Bruder etwa zu feige, um ihn ordentlich zu bewegen?«

»Blödsinn, John! Mein Hals war mir wichtiger. Wenn er dich abwirft, bist du selbst schuld. Der lässt sich nur anständig reiten, wenn er völlig erschöpft ist.«

»Das werden wir ja sehen! Ich bin überzeugt, dass er sich in kürzester Zeit wieder an sämtliche Tricks erinnert.«

Als ob er seine Worte unterstreichen wollte, beugte John sich nach vorn und tätschelte Phantom den Hals. Ein kleiner Druck gegen die Flanken – und schon trabte der Hengst auf Paul zu. Mit ausgestrecktem Arm zauste John das Haar seines Bruders und lachte, als Phantom einen weiten Bogen auf der Zufahrt beschrieb und seine Hufe rhythmisch auf das Pflaster schlugen. Ein Ruck am Zügel – und sofort schoss der Hengst vorwärts und sprengte mit wehendem Schwanz und fliegender Mähne durch das Tor davon. George gab seinem Pferd die Sporen, setzte John nach und verschwand Sekunden später in der Staubwolke, die Phantom bei seinem ungestümen Abgang aufgewirbelt hatte.

Als Charmaine kurze Zeit später das Haus verließ, überkam sie ein Gefühl der Freiheit. Auch die Kinder waren bester Stimmung. Fröhlich jagten sie den Schmetterlingen nach oder pflückten exotische Blüten, die in üppiger Fülle überall auf den Wiesen wuchsen. Trotz der Hitze war der Himmel blau und klar, und der Wind trug den Duft des nahen Ozeans bis zu ihnen herüber. Nach langen Stunden in der Abgeschiedenheit des Kinderzimmers empfand Charmaine das tropische Paradies als reine Wohltat.

Ihr Weg führte sie in nordwestlicher Richtung über freies Land bis zu einem Picknickplatz, den die Zwillinge als Ziel des heutigen Ausflugs auserkoren hatten. Nach einiger Zeit gelangten sie an ein Wäldchen, das nur von einem schmalen Pfad aus rauem Felsgestein durchschnitten wurde. Der Weg schien ins Nichts zu führen, doch zwischen den Bäumen war er nicht mehr so düster, wie Charmaine zuerst befürchtet hatte. Anfangs führte er einen kleineren Abhang empor, wurde jedoch schnell flacher, bis er völlig unerwartet auf eine mit Gras bewachsene Lichtung oberhalb eines Steilufers mündete. Drei Seiten der Lichtung waren von dichtem Laubwerk umgeben, doch Richtung Westen bot sich ein atemberaubender Ausblick auf den Ozean.

»Oh, wie wunderschön! Wie einzigartig!«, stieß Charmaine hervor und sah mit einem tiefen Seufzer in die leuchtenden Gesichter der Mädchen. »Diese herrlichen Blumen! Und dann erst das Meer – seht nur, wie es in der Sonne glitzert!«

Jeannette und Yvette kicherten um die Wette, während Charmaine den Picknickkorb abstellte. Im Schatten eines alten Kapokbaums breiteten sie ihre Decke aus, und dann förderten sie alles zutage, was Fatima eingepackt hatte: gebratenes Huhn, frische Orangen, Bananen und außerdem noch Kekse und Limonade. Unwillkürlich verglich Charmaine diese Herrlichkeiten mit dem ärmlichen Abendessen von früher, wo es nur Suppe mit Brot gegeben hatte, was noch dazu für mehrere Tage reichen musste. Ein Festessen wie dieses hatte es höchstens am Weihnachtsabend gegeben. Im Stillen dankte sie Gott für ihr Glück und wünschte, dass ihre Mutter das alles noch miterlebt hätte.

Nach dem langen Marsch stürzten sich alle wie halb verhungert auf das Essen. Selbst Pierre langte kräftig zu. Charmaine musste lachen, als er sich noch einen dritten Keks in sein fettverschmiertes Mäulchen stopfte. Sie konnte ihm gerade noch Gesicht und Hände abwischen, bevor er sich ihrem Griff entwand, auf die andere Seite der Decke kroch und völlig erschöpft einschlief.

Um der Langeweile im Arbeitszimmer zu entgehen, schlenderte John hinüber in die Küche. Die Mittagszeit war lange vorbei, doch es sah nicht so aus, als ob es in absehbarer Zeit etwas zu essen gäbe. Er hatte Georges Einladung zum Lunch bei Dulcie’s ausgeschlagen, weil er keine Lust verspürt hatte, sich zu den Zechern zu setzen, die dort verkehrten. Er zog es vor, allein zurückzureiten. Er hatte sich inzwischen ans Alleinsein gewöhnt, und meistens behagte es ihm sogar. Doch im Augenblick war er hungrig.

»Hallo, Master John«, rief Fatima über die Schulter, während sie ein Tablett mit Muffins aus dem Ofen zog und auf den Tisch stellte.

»Hallo, Cookie.« Er setzte sich. »Ganz schön heiß hier drin. Es wäre wirklich besser, wenn der Herd draußen im Küchengebäude stünde.«

»Bringen Sie Ihren Vater bloß nicht auf dumme Gedanken! Ich koche lieber im Haus. Das spart mir eine Menge Lauferei. Und lassen Sie gefälligst die Finger von meinen Muffins!«, drohte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Die gibt es erst heute Abend.«

»Die Muffins interessieren mich nicht, aber es ist schon fast zwei Uhr. Wann gibt es Lunch?«

Als Fatima sich bückte und ächzend im Feuer stocherte, schnappte sich John ein Muffin und versteckte es unter dem Tisch.

»Heute Mittag habe ich den Tisch nicht gedeckt, Master John.«

»Und warum nicht? Streiken Sie für mehr Lohn?«

»Sie sollten mich wirklich besser kennen, Master John. Ihrem Vater und Mrs. Agatha habe ich den Lunch auf einem Tablett nach oben geschickt, aber mit Ihnen habe ich nicht gerechnet.«

»Und was ist mit den Kindern und ihrer Gouvernante?« Als Fatima in der Vorratskammer Kartoffeln in ihre Schürze sammelte, stahl er sich noch ein Muffin.

»Miss Charmaine und die Kinder machen ein Picknick.« Sie leerte den Inhalt ihrer Schürze auf den Tisch. »Ich habe ihnen einen Korb hergerichtet.«

»Ein Picknick?«

Misstrauisch beäugte Fatima ihr Gegenüber. »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Master John.«

»Und was wäre das, Cookie?«

»Wenn Sie hungrig sind, mache ich Ihnen gern etwas zu essen, Master John, aber lassen Sie Miss Charmaine in Ruhe.«

»Was bringt Sie nur auf solche Gedanken?«

»Ich habe genau gehört, wie Sie gestern Abend auf ihr herumgehackt haben. Miss Charmaine ist ein nettes Mädchen, aber sie kennt Sie nicht. Lassen Sie sie lieber in Ruhe, bevor Sie die junge Frau aus dem Haus treiben.«

Fatima griff nach einem Laib Brot, um John ein Sandwich zuzubereiten.

»Ein nettes Mädchen, wie?« John hob ein Muffin an die Lippen. »Das höre ich von allen Seiten. George ist ganz hingerissen, und mein Bruder …«

In diesem Moment sah Fatima, was John beabsichtigte. »Meine Muffins!«, bellte sie. »Legen Sie die Muffins sofort wieder aufs Blech! Sonst hole ich den Stock.«

Bevor sie den Tisch umrundet hatte, rannte John bereits mit triumphierendem Lachen aus der Hintertür. Die Hühner stoben gackernd auseinander, und er hatte alle Mühe, um sich nicht in den Wäscheleinen zu verfangen.

»Fort mit Ihnen!«, schimpfte Fatima und fuchtelte mit einem Messer in der Luft herum. »Lassen Sie sich nur ja nicht vor dem Dinner hier blicken!«

John tippte an den Rand seiner Kappe und verbeugte sich übermütig. Dann ging er über die Wiese davon und vertilgte die noch warmen Muffins, was seinen Hunger erst richtig weckte. Aber er wusste ja, in welche Richtung er sich wenden musste – wo ein ausgezeichneter Lunch auf ihn wartete! Er lachte. Der Nachmittag schien unterhaltsamer zu werden als ursprünglich angenommen. Arme Miss Ryan! Sie und er ganz allein – und weit und breit kein Paul, um sie zu retten. Nun gut. Zumindest die Kinder würden sich über seinen Besuch freuen. Es war ganz einfach, denn er wusste genau, wo er sie finden würde.

Charmaine saß entspannt auf der Decke und sah sich um. »Wie romantisch«, murmelte sie und träumte sich bereits in Gedanken mit Paul in dieses Paradies. »Wann habt ihr das Plätzchen denn entdeckt?«

»Wir haben es nicht entdeckt«, stellte Yvette fest, »sondern Johnny, aber das ist schon Ewigkeiten her.«

Sobald Charmaine den Namen hörte, irrten ihre Blicke umher und versuchten, das dichte Laubwerk zu durchdringen. Er wird nicht plötzlich aus den Büschen springen, beruhigte sie sich. Er ist vor dem Lunch in die Stadt geritten, und wir haben lange vor seiner Rückkehr das Haus verlassen. Er hat keine Ahnung, wo wir sind

»Was ist los, Mademoiselle?«, fragte Jeannette.

»Gar nichts, meine Süße. Erzähle mir mehr. Wann war euer Bruder zum ersten Mal mit euch hier?«

»Damals ging es Mama noch gut, und wir waren noch klein.«

»Wenn ich die Augen ganz fest zukneife«, sagte Yvette, »kann ich sie sehen …«

Jeannette tat es ihrer Schwester nach, und Charmaine bewunderte ihre blühende Phantasie. »Ihr habt gesagt, dass John die Lichtung entdeckt hat. Wisst ihr vielleicht auch, wann das war?«

Yvette nickte. »Als kleiner Junge hat er oft mit George die Gegend unsicher gemacht. Dabei haben sie die Steilküste und die Lichtung entdeckt und sich gegenseitig versprochen, keinem etwas zu verraten. John hat erzählt, dass er immer hierher geflüchtet ist, wenn er sich über Paul oder Papa geärgert hat. Dies war der einzige Ort auf der Insel, den Paul nicht kannte. Als wir alt genug waren, um ein Geheimnis zu bewahren, durften wir auch mitkommen. Aber wir mussten versprechen, dass wir es Paul nie erzählen.«

Charmaine biss die Zähne zusammen. Wie abscheulich – die Kinder so gegen Paul zu beeinflussen.

»Ich habe entschieden, dass wir Ihnen vertrauen können«, fügte Yvette mit nachdenklichem Blick hinzu. »Und wenn …«

»Und wenn …«, hakte Charmaine misstrauisch nach.

»Wenn Johnny uns vermisst, sucht er ganz bestimmt hier nach uns.«

Wenn Johnny uns vermisst? Dazu muss er erst einmal nach Hause kommen, und dann muss er merken, dass wir nicht da sind. Da beides eher unwahrscheinlich war, schob Charmaine den Gedanken beiseite und stimmte zu, als die Kinder Verstecken spielen wollten. Yvette und Jeannette rannten davon, Charmaine musste suchen, und abgeschlagen wurde auf der Decke. Charmaine hielt sich die Augen zu und zählte bis fünfzig. Dann spähte sie den Waldrand entlang, ob vielleicht eine unachtsame Bewegung das Versteck der Mädchen verriet.

Auf ein vernehmliches Rascheln hin folgte sie dem Pfad, auf dem sie gekommen waren. Dann lockte sie das Knacken eines Zweigs weiter zu einem Beerendickicht neben dem Weg. Um die Mädchen zu überraschen, rannte sie in vollem Tempo um das Dickicht herum – und landete völlig unerwartet in Johns Armen. Ihr Haarknoten löste sich, und die Locken fielen ihr über die Schultern.

»Aber, aber«, rief John überrascht. »Eine solche Freude über mein Kommen habe ich wirklich nicht erwartet!«

Wütend machte Charmaine sich frei und drehte ihm demonstrativ den Rücken zu.

»Wollen Sie mich denn nicht wenigstens fangen?«

»Ganz bestimmt nicht!«, fauchte Charmaine und stapfte zur Lichtung zurück. Dabei zerrte sie sich wütend die Nadeln aus dem Haar. Aber leider ließ sich der Mann nicht so leicht abschütteln.

»Johnny, Johnny!«, riefen Yvette und Jeannette wie aus einem Mund und kamen aus ihren Verstecken angerannt. »Du hast uns also wirklich gefunden!«

»Als ich zum Lunch nach Hause kam, hat Cookie verraten, dass sie euch einen Picknickkorb gepackt hat.«

»Du darfst gern mitessen!«, rief Jeannette und deutete auf die Reste.

John ging zur Decke und betrachtete den schlafenden Pierre. Dann nahm er einen der Teller und belud ihn mit allerlei Köstlichkeiten, bevor er sich auf einen Baumstamm setzte, um in aller Ruhe zu speisen. Yvette leistete ihm Gesellschaft, während Jeannette noch ein paar Kekse auf einen Teller häufte.

Keiner beachtete Charmaine, die innerlich kochend ihre Frisur richtete. Offenbar hatte John nicht die Absicht, in absehbarer Zeit wieder zu verschwinden. Nach einer gewissen Zeit fand sie ihre Sprache wieder. »Überraschen Sie die Menschen immer ungefragt?«

»Nur, wenn es sich lohnt. Und mit Vorliebe, wenn sie ahnungslos sind.«

»Und was genau soll das heißen?«

»Nehmen wir zum Beispiel Sie: So viele Geheimnisse habe ich schon entdeckt.« Er zwinkerte und fegte ihren Missmut mit einem Hühnerknochen beiseite, den er über die Schulter ins Gebüsch warf. »Heute habe ich es allerdings nur auf den Lunch abgesehen. Es schmeckt einfach köstlich. Und die paar Blasen, die ich mir eingehandelt habe, nehme ich dafür gern in Kauf.«

Charmaine biss sich auf die Lippe und machte sich ans Aufräumen. Sie war froh, als die Mädchen John ablenkten und Geschichten über Amerika hören wollten.

Ihre Stimmen weckten Pierre. Verschlafen setzte sich der Junge auf, rieb sich die Augen und lächelte, als er John erkannte. Er gähnte. Dann stand er auf, rannte zu seinem großen Bruder hinüber und hieb ihm seine kleine Faust auf die Schulter.

»Aber Pierre!« Charmaine war fassungslos. Noch nie hatte der Junge die Hand gegen jemanden erhoben. Was, wenn John ihr wegen seines ungehörigen Benehmens Vorhaltungen machte? Aber genau das Gegenteil war der Fall. John spielte den Verletzten und ließ sich mit lautem Stöhnen ins Gras fallen, wo er reglos liegen blieb.

Beklommen näherte sich Pierre in kleinen Schritten und sah nicht, wie seine Schwestern einander zuzwinkerten. Als er sich vorsichtig hinunterbeugte, riss John plötzlich die Augen auf. »Buh!« Pierre zuckte zusammen, aber gleich darauf gluckste er vor Wonne und war erst nach drei weiteren Buhrufen zufrieden.

Als John genug vom Spiel hatte, zog er den Jungen auf seinen Schoß und setzte ihm seine Kappe auf. Doch sie war viel zu groß und rutschte über Augen und Nase herunter, sodass nur noch Pierres Grinsen zu sehen war.

Charmaine ließ sich gegen einen Baumstamm sinken und beobachtete die Szene. Pierre erwärmte sich zunehmend für seinen großen Bruder. Genau das fehlte ihr noch zu ihrem Glück – noch ein Kind mehr, das den lieben langen Tag nach John verlangte!

Übermütig spitzte der Kleine unter der Kappe hervor. »Wie bist du hierhergekommen?«

»Auf Fang natürlich, kleiner Dummkopf«, bemerkte Yvette altklug und sah John an.

»Fang?«, fragte Charmaine.

»Johnnys Pferd«, sagte Yvette.

»Pferd?«, wiederholte Charmaine und sah ihn vorwurfsvoll an. »Von diesen Blasen erholen Sie sich bestimmt nicht mehr.«

»Ich habe gesagt, dass ich Blasen habe, aber nicht, wo.«

Die Mädchen glucksten vor Lachen.

Charmaine fand das weniger lustig. »Ihr Pferd heißt Fang? Und der Hengst von heute Morgen? War das nicht Phantom?«

»Das ist alles richtig. Wegen seiner schlechten Manieren nennen ihn die Stallknechte auch Phantom oder Dämon, wie Sie bestimmt schon gehört haben, my charm

Wie der Herr, so der Hengst, dachte Charmaine.

Johns Lächeln wurde breiter. »Wie dem auch sei – offiziell heißt er jedenfalls Fang.«

»Klingt eher wie ein Hundename«, bemerkte Charmaine sarkastisch.

»Hund oder Pferd, jedenfalls ist es ein Tiername.« Als Charmaine ihnen den Rücken zudrehte, zwinkerte John den Mädchen zu. »Außerdem hat der Hengst den Namen aus einem ganz bestimmten Grund erhalten.«

Yvette lief zu Charmaine hinüber und ergriff ihre Hand. »Kommen Sie mit, Mademoiselle. Sie werden den Grund auf den ersten Blick verstehen.«

Charmaine ließ sich von Yvettes Eifer anstecken und ging hinter ihr den Pfad entlang. Über die Schulter sah sie, dass die anderen folgten. Jeannette lief neben John her, und der kleine Pierre thronte auf seinen Schultern.

Der Junge wollte ihr von seinem luftigen Platz aus zuwinken, doch im nächsten Moment überlegte er es sich anders und hielt John mit beiden Händchen die Augen zu. Rasch löste dieser die Fingerchen von seinem Gesicht. »Ich kann nichts mehr sehen, Pierre! Wenn ich stolpere, kullern wir doch wie Humpty Dumpty durch den Wald.« Charmaine musste lachen, als sich der Dreijährige daraufhin in Johns Haar festkrallte.

Kurz darauf entdeckten sie Fang, der zwischen hohen Halmen auf der Wiese graste. Der Wind zauste seinen mächtigen Schweif.

»Na los, schneller!«, rief Yvette und rannte los.

»Yvette, warte!«, rief John ihr nach.

Sie blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Dann beeil dich gefälligst!«

Als John sie erreichte, setzte er den Jungen ab und sah das Mädchen eindringlich an. »Ich habe dir eingeschärft, dass du dem Hengst nicht zu nahe kommen darfst, wenn ich nicht dabei bin. Ich dachte, das hättest du verstanden.«

Yvette senkte den Kopf. »Aber …«

»Kein Aber, Yvette. Fang kann gefährlich sein, wenn er erschrickt. Du darfst dich ihm nur nähern, wenn ich dabei bin. Verstanden?«

»Verstanden«, entgegnete sie kleinlaut.

Über so viel Fürsorge war Charmaine überrascht. John tätschelte Yvette den Rücken und stülpte ihr seine Kappe auf den Kopf, was ihm ihre grenzenlose Zuneigung eintrug. Dann nahm er sie bei der Hand und rief nach Charmaine.

»Das also ist Fang«, bemerkte Charmaine. Doch als das Tier seine Mähne schüttelte, zuckte sie zurück.

John legte den Arm um den schwarzen Hals des Hengstes und begann mit der Vorstellung. »Fang, dies ist Miss Ryan. Sie kommt aus Richmond. Miss Ryan, und dies ist Fang, mein treuer Hengst.«

Die Zwillinge kicherten und Pierre ebenfalls.

Plötzlich tat das Pferd einen Schritt nach vorn und ließ zu Johns Entzücken ein lautes Wiehern hören. Charmaine erstarrte. »In der Pferdesprache heißt das: Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erklärte er zum Gaudium der Kinder.

Da musste sogar Charmaine lächeln.

»Gefällt er Ihnen, Mademoiselle?«, fragte Jeannette.

»Er ist wahrlich beeindruckend«, erklärte sie etwas nervös. »Aber einen Grund für den Namen kann ich nicht erkennen. Fang klingt wirklich nach Hund.«

John zog Charmaine am Handgelenk ein Stück näher. »Es gibt nur einen, allerdings beeindruckenden Grund, der ihm diesen Namen eingetragen hat.«

Sie zuckte zurück, als sie die Wärme seiner Haut spürte, und entzog ihm ihre Hand.

»Fang kam mit einem übergroßen scharfen Schneidezahn auf die Welt. Stimmt es, Mädchen?«

Die beiden nickten eifrig.

»Ein übergroßer Schneidezahn?« Ungläubig sah Charmaine John an. »Sie scherzen.«

»Aber nein. Fang ist berühmt dafür, dass er ständig in Finger oder Pferde beißt. Deshalb bleibt ihm jedermann fern. Sein Zahn ist seine Waffe.«

Die Zwillinge kicherten unentwegt. Wie war sie nur in diese lächerliche Situation geraten? Hätten die Kinder nicht solchen Spaß gehabt, wäre sie am liebsten umgekehrt.

»Sie glauben ihm das nicht?«, fragte Yvette. »Aber es stimmt!« Sie sah zu ihrem Bruder auf. »Zeig ihn ihr doch.«

John zog den Kopf des Hengstes in die Höhe und packte die Nüstern. Als sich Fang gegen den Griff wehrte, wich Charmaine einen Schritt zurück.

»Warum gehen Sie weg? Wollen Sie die Sensation des Jahrhunderts denn nicht sehen? Im Zirkus müssten Sie dafür viel Geld bezahlen.«

»Ich möchte Ihnen wirklich keine Umstände machen.« Sie zögerte. »Ich bin sicher, dass ich auch ohne die Sensation des Jahrhunderts sehr gut leben kann.«

»Na los, Mademoiselle«, drängte Yvette. »Er beißt Sie schon nicht.«

Charmaine überlegte, ob sich die Bemerkung auf Fang oder John bezog. Dann entschloss sie sich zum Mitmachen, damit die Quälgeister endlich Ruhe gaben.

John bot dem Pferd ein Stück Zucker auf der flachen Hand an. Der Hengst zog die Lippen zurück und nahm das Stück vorsichtig auf, aber Charmaine konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.

»Na, haben Sie ihn gesehen?«

»Ehrlich gesagt, nein.«

»Aber wieso denn nicht? Er war doch mindestens so deutlich zu sehen wie Ihre Nase!«

»Immer mit der Ruhe, Yvette«, wies John das Mädchen zurecht. »Nicht gar so heftig. Ihr seid schließlich im Vorteil, weil Miss Ryan nicht genau weiß, wo sie hinsehen muss. Sie müssten schon etwas näher kommen.«

Als John dieses Mal die Hand ausstreckte, zog er die Lippen des Hengsts noch etwas weiter zurück, und Yvette deutete genau auf die interessante Stelle. »Hier! Sehen Sie ihn? Sehen Sie den großen Zahn?«

Charmaine sah überhaupt nichts, aber das enttäuschte Seufzen des Mädchens spornte sie nur weiter an.

Irgendwann ließ John Fangs Kopf los und presste seine Stirn gegen den kräftigen Hals. Charmaine runzelte die Stirn. Ging es ihm nicht gut? Dann sah er zum Himmel empor und grinste, bis ihm die Tränen in die Augen traten. In diesem Moment begriff sie, dass er lachte. Auch die Zwillinge krümmten sich vor Vergnügen und brachten kein Wort mehr heraus. Selbst Pierre ließ sich anstecken und kicherte.

»Sie sind die erste Erwachsene, die auf diesen Trick hereingefallen ist«, sagte Yvette keuchend.

Charmaines Laune sank. Alle amüsierten sich auf ihre Kosten! Warum war dieser Mann nur so erpicht darauf, sich auf ihre Kosten einen Spaß zu machen? In ihrer Verzweiflung packte sie Pierres Hand und eilte mit schnellen Schritten zurück auf die Lichtung.

»Mademoiselle!« Jeannette rannte ihr nach. »Sie sind uns doch nicht böse, oder? Es war doch nur ein Spaß! Wenn wir gewusst hätten, dass Sie es nicht lustig finden, hätten wir es nicht gemacht.«

Charmaine unterdrückte die Tränen und ließ sich von der herzlichen Umarmung des Mädchens trösten. Bis John und Yvette sie eingeholt hatten, blieb genügend Zeit, um sich zu fassen. Keinesfalls sollte John merken, dass er ihr schon wieder die Tränen in die Augen getrieben hatte.

John beobachtete, wie Charmaine sich verstohlen die Augen abtupfte. Welch geschickte Schauspielerin. Jetzt soll ich mich wohl schuldig fühlen, weil ich sie zum Weinen gebracht habe. Er schüttelte den Kopf und lachte in sich hinein. Ihre Figur und ihr widerspenstiges Haar sind bei weitem das Aufregendste an ihr. Und den langen Blick, um einen Mann zu beunruhigen, beherrscht sie in Vollendung. Kein Wunder, dass Paul und George hingerissen sind. George, der Korrekte, und Paul, der Held, der sie erobern könnte. Und Johnny? Nun ja, mit Johnny war das nicht so einfach. Doch wenn sie spielen will – warum nicht? Johnny hat nichts zu verlieren. Sie denkt, dass sie Paul schon in der Tasche hat, aber mit einem wie ihm hatte sie es noch nie zu tun. Also gut, Miss Ryan, dann los. Sie werden schon noch merken, wie es sich mit Johnny spielt.

»Na, los, wer als Erster bei der Decke ist!«, rief Yvette. »Der Letzte muss den Korb tragen.« Sie bog auf den Pfad ein, und Jeannette und Pierre stürzten ihr nach.

John holte Charmaine ein. »Haben Sie etwa keinen Humor?«

Sie sah ihn nicht an, sondern starrte wortlos in die Ferne. Aber so leicht ließ John sich nicht abwimmeln. Er vertrat ihr den Weg. Als sie den Kopf wegdrehte, hielt er ihr Kinn fest und zwang sie, ihn anzusehen. Sie schlug seine Hand zur Seite. »Fassen Sie mich nicht an!«

Er lachte leise, doch als sie an ihm vorbeiging, eilte er ihr nach. »Es tut mir leid, wenn wir Sie verärgert haben«, entschuldigte er sich zu ihrer großen Verwunderung. »Die Zwillinge lieben diesen Scherz über alles, und ich dachte, dass Sie den Spaß verstehen würden.«

Da Charmaine nicht wusste, wie ernst es ihm war, schwieg sie lieber und war froh, als sie die Lichtung erreichten.

»Du hast überhaupt nicht versucht, uns einzuholen!«, beschwerte sich Yvette.

Pierre rannte ihnen entgegen. John schwang den Kleinen durch die Luft und setzte ihn ab. »Aber, aber, Yvette. Wenn ich dich eingeholt hätte, hättest du doch den ganzen Tag lang eine Schnute gezogen.«

»Auch wenn du es versucht hättest, hättest du uns nicht besiegt!«

Sie zog die Kappe vom Kopf und hielt sie ihm hin. »Na los, nimm sie dir doch, aber pass auf, dass Pierre sie nicht erwischt.«

Als John die Hand ausstreckte, wich sie aus, doch als er sie einzuholen drohte, warf sie die Kappe durch die Luft zu ihrer Schwester.

John grinste. »Okay, Jeannie, gib mir die Kappe.«

Das Mädchen zögerte, doch als John auf sie losstürzte, rannte sie quietschend davon, und gleich darauf flog die Kappe wieder durch die Luft.

Begeistert ging John auf das Spiel ein und postierte sich geschickt zwischen den beiden Mädchen. Aber Yvette durchschaute seine Absicht und warf die Kappe stattdessen zu Charmaine, die wohl oder übel mitspielen musste. Sofort fuhr John zu ihr herum.

»Geben Sie mir die Kappe, my charm«, bat er und streckte die Hand aus.

»Tun Sie es ja nicht, Mademoiselle!«, schrie Yvette. »Werfen Sie sie lieber zu mir!«

Charmaine gehorchte und atmete erleichtert auf, als John von ihr abließ. Beim nächsten Wurf verfehlte die Kappe ihr Ziel und fiel dicht neben Pierre auf die Erde. Der Junge hob sie auf und warf sie kichernd in Charmaines Richtung, aber gleichzeitig so ungeschickt, dass John sie beinahe zu fassen bekam. Blitzschnell ließ Charmaine die Kappe hinter ihrem Rücken verschwinden und wich einen Schritt zurück. Als John immer näher kam und ihr schon fast jede Sicht nahm, stieß ihr Fuß plötzlich gegen einen Baumstamm. Sie saß in der Falle!

Er war nur noch wenige Inches von ihr entfernt. Als ihr Blick von den geöffneten Hemdknöpfen zu dem glatt rasierten Gesicht glitt, wurden Erinnerungen an ihre erste Begegnung wach. Irgendwie schien er seit dieser Nacht gewachsen und wirkte womöglich noch eindrucksvoller als an dem Morgen, als er in sein Zimmer gestürzt war und sie mit Colettes Brief in der Hand ertappt hatte. Er kam noch näher und stützte mit triumphierendem Grinsen beide Hände gegen den Stamm, sodass sie sich nicht mehr rühren konnte. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie gut er aussah, wie locker ihm das Haar ins Gesicht fiel und ihm ein jungenhaftes Aussehen verlieh. Er schien ihre Gedanken zu lesen. Das Grinsen wurde breiter, und auf seinen Wangen bildeten sich tiefe Grübchen. Mit einem Mal brauste ihr das Blut in den Ohren, und sie fühlte, wie sie errötete.

»Bekomme ich meine Kappe freiwillig zurück, my charm?«, fragte er heiser. »Oder muss ich Gewalt anwenden?«

Zitternd händigte sie ihm sein Eigentum aus. Er blieb noch einen Augenblick lang dicht vor ihr stehen, während er die Kappe wieder in die richtige Form brachte und sich leise beschwerte. »Ich fürchte, sie hat im Kampf etwas gelitten und wird nie wieder so sein wie zuvor.«

Yvette war wütend. »Sei froh, dass du sie überhaupt zurückbekommen hast!« Sie funkelte Charmaine an. »Sie haben sich ja nicht einmal gewehrt! Spielverderberin!«

»Immer mit der Ruhe, Yvette«, mahnte John. »Alles Gute muss irgendwann zu Ende gehen. Selbst unsere Spielchen.« Obgleich die Bemerkung an Yvette gerichtet war, sah er Charmaine vielsagend an. Mit diesen Worten setzte er die Kappe wieder auf und ging zu Pierre hinüber und zauste ihm liebevoll den Schopf.

Die Zwillinge schlichen sich heimlich von hinten an, um die Kappe wieder an sich zu bringen, doch ihr großer Bruder ließ sie nicht mehr in Reichweite herankommen, so hoch sie auch sprangen und hüpften. Charmaine hatte die Mädchen nie ausgelassener erlebt.

»Ihr führt wohl immer etwas im Schilde, was?«, tadelte John die Schwestern im Spaß.

»Genau wie du, Johnny!«, rief Yvette.

»Wie ich? Was führe ich denn im Schilde?«

»Du führst doch immer etwas im Schilde«, stellte Yvette fest, als sei das allgemein bekannt. »Jedenfalls hat Papa das gesagt.«

Ein Schatten glitt über Johns Gesicht. Unwillkürlich trat Charmaine einen Schritt näher, weil sie fürchtete, dass er das Mädchen schlagen könnte. Doch John wollte es nur genauer wissen. »Hat er dir das gesagt?«

»Nein, nicht mir. Aber Paul.«

»Aber du warst dabei?«

»Nicht wirklich. Paul musste etwas Wichtiges mit Papa besprechen, und ich wollte unbedingt wissen, was es war. Also habe ich mir ein Glas aus der Küche geholt und in der Toilette neben Vaters Ankleidezimmer an der Wand gelauscht. Es hat prima geklappt, und ich konnte jedes Wort hören. Paul hat sich über etwas geärgert. Ich glaube, über ein Schiff, das du ohne richtige Papiere hierher nach Charmantes geschickt hast. Egal. Damals hat Papa jedenfalls gesagt, dass du nie etwas Gutes im Schilde führst.«

Mit einem Mal lachte John los. »Mit einem Glas an der Wand«, murmelte er und schüttelte den Kopf.

Yvette nickte. »Weißt du denn nicht mehr, dass du mir das einmal gezeigt hast?«

»Das ist richtig. Du bist ganz schön gerissen.«

Charmaine war erstaunt und zugleich wütend. »Yvettes Lauschaktion am Samstag war also meine Schuld, aber diesen Vorfall finden Sie großartig, nur weil Sie die Idee dazu geliefert haben. Ist das so?«

John lachte nur und wandte sich an Yvette. »Ein guter Rat an meine kleine Spionin: Mach ruhig so weiter, aber lass dich nie erwischen! Wenn Paul die Sache mit dem Glas herausfindet, wird er dich zusammen mit den Säufern im Keller des Versammlungshauses einsperren!«

»Wohin allerdings Sie gehören!«, schimpfte Charmaine.

»Was soll das denn heißen?«, fragte John.

»Sie sollten besser nachdenken, bevor Sie den Kindern Ihre miesen Tricks beibringen. Das könnte eines Tages auf Sie zurückfallen.«

»Das muss ich mir merken!« Mit gespieltem Ernst tat er, als ob er Papier und Feder aus der Tasche zöge und notierte: »Miss Ryan, die absolute Autorität, was Moral und Tugend betrifft, rät mir, mein Tun zu überdenken, sonst …«

»Sonst was?«, fragte Yvette.

»Sonst wird Paulie mir eine Abreibung verpassen. Ist das so richtig, Mademoiselle?«

Charmaine runzelte die Stirn, sagte aber nichts, da ihre Mahnung offenbar nicht auf fruchtbaren Boden gefallen war.

Als sie auch weiterhin beharrlich schwieg, lachte John leise und verabschiedete sich von den Kindern. Dann wandte er sich zu ihr um, zog die Kappe vom Kopf und presste sie auf sein Herz. »Ich danke Ihnen sehr, dass ich an diesem Picknick teilnehmen durfte, Miss Ryan. Ich bin sicher, dass Sie den Nachmittag ebenso genossen haben wie ich. Doch bitte verlangen Sie nicht, dass ich länger bleibe, als mir das möglich ist.«

Genossen, fürwahr! Angesichts der absurden Feststellung hätte sie beinahe laut gelacht. Sie seufzte erleichtert, als er sich endlich zum Gehen wandte und auch die Kinder ihn nicht umstimmen konnten. Kaum dass er zwischen den Bäumen verschwunden war, brachen sie ebenfalls auf und machten sich auf den Rückweg.