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Donnerstag, 28. September 1837

 

»Willst du mich heiraten, Charmaine?«

Sanft klangen die Worte in ihrem Ohr und streichelten ihren Nacken, sodass sie im ersten Moment zu träumen meinte. Aber sie fühlte, wie er sie an sich zog, fühlte seinen Mund auf ihren Lippen und die verzweifelte Sehnsucht, die sowohl zu ihrem Körper als auch zu ihrem Herzen sprach …

Erschrocken fuhr sie hoch, und es dauerte fast eine ganze Minute, bis sich ihr heftig klopfendes Herz beruhigte. Als die Euphorie des Traumes der Wirklichkeit wich, stöhnte sie. Paul störte ihren Schlummer nun schon in der vierten Nacht, seit er sich in ihr Zimmer geschlichen und sie nur wortlos betrachtet hatte. Der immer wiederkehrende Traum war so lebendig, dass er sie noch Stunden später verfolgte.

Ein Traum, nur ein Traum! Wagte sie etwa, auf mehr zu hoffen – vielleicht auf die geflüsterten Worte, die sie bisher nur im Schlaf gehört hatte? Oder war die Unsicherheit ihr Schicksal – an einem Tag Hoffnungen zu hegen und am nächsten am Boden zerstört zu sein? Antworten gab es nicht, nur Wünsche und Sehnsüchte, die um das Wörtchen vielleicht kreisten. Statt noch lange zu grübeln, stieg Charmaine aus dem Bett und widmete sich ihren täglichen Pflichten.

Hufgeklapper lockte sie hinaus auf die Veranda, und sie sah gerade noch, wie Paul auf seinen Schimmel stieg und durch das Tor galoppierte. Seit seiner Rückkehr war er ständig beschäftigt, sodass sie ihn kaum sah, als ob er sich noch auf Espoir befände. Ob er ihr absichtlich aus dem Weg ging? Nein, das war Unsinn. Sie wusste ja, wie viel er von sich verlangte. Es war gerade sechs Uhr morgens – und er war schon fort, vermutlich für den ganzen Tag. Wieder hieß es warten. Aber worauf? Auf den nächsten Besuch in ihrem Schlafzimmer? Da blieb er besser, wo er war.

Vergiss ihn, dachte sie und wandte sich ab, um sich anzuziehen. Heute war der Geburtstag der Zwillinge. Das war genau die richtige Ablenkung. Sie hatte ihnen versprochen, dass sie den Tag ganz nach eigenen Wünschen gestalten durften. Da würde schon keine Langeweile aufkommen.

Die Kinder hatten nichts von ihrer nächtelangen Arbeit mit Nadel und Faden mitbekommen und wussten auch nicht, dass sie die hübsch verpackten Geschenke erst vor ein paar Stunden auf dem Tisch im Speisezimmer aufgebaut hatte. Jeannette war bestimmt entzückt, wenn sie die Kleidchen für ihre Porzellanpuppe auspackte. Doch mit Yvette war die Sache schon schwieriger. Charmaine konnte nur hoffen, dass sie sich über die Reithose freute, die sie ihr genäht hatte. Agatha würde auf jeden Fall die Nase rümpfen, aber das war Charmaine egal. Außerdem war daran ohnehin nichts mehr zu ändern.

Als es an der Verbindungstür klopfte, stand Pierre davor und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Guten Morgen, kleiner Mann.« Sie nahm ihn in die Arme. »Deine Schwestern sind ganz schön faul, was? Sollen sie ihren Geburtstag verschlafen, oder wollen wir sie lieber aufwecken?«

»Aufwecken.« Er machte sich los und hüpfte auf Yvettes Bett.

Das Mädchen stöhnte, aber als sie begriff, dass der Geburtstag tatsächlich begonnen hatte, rannte sie quer durchs Zimmer und scheuchte ihre Schwester aus dem Bett. Als Charmaine etwas von Geschenken im Esszimmer sagte, waren die Mädchen blitzartig in den Kleidern und auf und davon.

Als Charmaine und Pierre zehn Minuten später ins Speisezimmer kamen, saßen die beiden mit leeren Händen am Tisch und starrten ihren älteren Bruder wütend an. Von Geschenken war weit und breit nichts zu sehen.

»Das ist unfair!«

John schlürfte seinen Kaffee und grinste. »Mag sein, aber dafür lustiger.«

Charmaine war verärgert. »Was soll das?«

»Guten Morgen, Miss Ryan«, begrüßte er sie fröhlich, ohne ihren Missmut zur Kenntnis zu nehmen.

»Guten Morgen«, erwiderte sie steif und setzte Pierre in seinen Stuhl.

John sah den Kleinen an. »Wie geht es dir, Pierre?«

»Gut. Gehen wir wieder angeln?«

»Heute nicht. Für heute habe ich andere Pläne.«

»Wo sind die Geschenke, die ich eingepackt habe?«, fragte Charmaine.

»Versteckt.«

»Versteckt? Und wer hat sie versteckt?«, fragte sie, obwohl das im Grunde nicht nötig war.

»Lassen Sie mich erklären, my charm. Erstens ist Suchen mindestens so spannend wie Auspacken, und zweitens sind ja nicht nur Ihre Geschenke versteckt. Rose hat mir auch noch ein paar gegeben, und außerdem gibt es noch zwei große, die ich …«

»Wirklich?«, riefen die Mädchen wie aus einem Mund. Ihre Enttäuschung war wie weggeblasen, und sie bombardierten ihren Bruder mit Fragen.

»Ich werde euch überhaupt nichts verraten.« Er lachte. »Es hat mich fast die ganze Nacht gekostet, um alles zu verstecken. Jetzt müsst ihr auf Schatzsuche gehen.«

»Auf Schatzsuche?«, fragten die Mädchen.

John bemerkte Charmaines Lächeln. »Offenbar gefällt Ihnen meine neue Präsentation?«

»Ehrlich gesagt, ja.« Sie konnte ihm nicht länger böse sein. Doch im nächsten Augenblick lenkte Yvette sie ab, als sie schon losstürmen wollte.

»O nein, junge Lady, zuerst wird gefrühstückt.«

»Aber …«

»Kein Aber«, mahnte John. »Außerdem gibt es noch einige Hinweise, die ihr vielleicht gern beim Frühstück hören möchtet.«

Yvette war sofort einverstanden, und die Mädchen aßen, so schnell sie konnten. Sogar Charmaine ließ sich mitreißen, als John alles versprach, aber im Grunde gar nichts verriet. Ob die Mädchen über ihre, Charmaines, Geschenke enttäuscht waren? Gegen Johns Schilderung der versteckten Herrlichkeiten wirkten sie armselig und klein.

»Eines müsst ihr noch wissen«, sagte John, als die Zwillinge vom Tisch aufstanden. »Bei einer Schatzsuche gibt es immer auch Feinde. Ihr müsst also aufpassen, dass ihr nicht erwischt werdet.«

»Erwischt? Von wem denn?«

»Von wem?« John lachte spöttisch. »Von Auntie Agatha zum Beispiel, der schlimmsten Feindin überhaupt!«

Wie leicht er die Kinder zum Lachen brachte!

»Lacht nicht«, ermahnte er sie mit ernstem Gesicht. »Wenn sie euch erwischt, ist der Spaß vorbei.«

»Ja, ja, schon gut.« Yvette zupfte Jeannette am Ärmel, und dann hüpften die beiden davon.

»Ich auch!« Pierre schob seine halbleere Schüssel weg.

Charmaine steckte die Serviette wieder fest. »Was, ich auch?«

»Ich will auch Geschenke sehen.«

»Wenn du aufgegessen hast.« Sie bot ihm einen Löffel voll Porridge an.

Aber Pierre packte den Löffel. »Ich will allein essen!«

Charmaine überließ ihm den Löffel und drückte ihm einen Kuss auf den Scheitel. Als sie sich ihrem eigenen Teller zuwandte, spürte sie, dass John sie ansah, und für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Zu ihrer Überraschung blickte er rasch weg und widmete sich wieder seiner Zeitung.

»Guten Morgen allerseits!«, rief George schon im Foyer. Er erspähte die große Porridgeschüssel, zog sie zu sich heran und griff nach dem Servierlöffel. »Es will doch niemand mehr Porridge, oder?«

John amüsierte sich. »Iss ruhig alles allein auf. Die Schweine werden allerdings enttäuscht sein.«

George hörte gar nicht hin, sondern häufte noch Zucker und Sahne auf den Brei und aß dann zu Pierres Entzücken tatsächlich mit dem großen Löffel direkt aus der Schüssel.

»Ich nehme an, dass dich noch ein anderer Grund als nur das Frühstück hergeführt hat?«, fragte John.

»Noch ein anderer Grund? O ja. Das hätte ich fast vergessen. Der Geburtstag der Mädchen …«

Er sah, wie John leicht den Kopf schüttelte. Zu spät! Charmaine beäugte ihn misstrauisch. »Sie haben doch heute Geburtstag, oder?« Er wollte den Schnitzer gern ausbügeln.

»Das stimmt«, antwortete sie vorsichtig. »Aber das ist ja nichts Neues.«

»Ich frage mich nur, wie der Tag gefeiert wird? Haben Sie etwas Besonderes geplant?«

»Vorläufig nur die Geschenke und jetzt die Schatzsuche. Ich habe allerdings versprochen, dass heute der Unterricht ausfällt und die Mädchen selbst entscheiden dürfen, was sie machen wollen. Natürlich nur etwas Vernünftiges.«

»Natürlich.« George nickte und sah mit hochgezogenen Brauen zu John hinüber.

Charmaines Interesse war geweckt, aber John lächelte nur und lieferte keinerlei Anhaltspunkte.

»Ist alles gut gegangen, George?«, fragte er.

»Ich habe die Verladung heute Morgen überwacht, wenn es das ist, was du wissen willst.«

»Demnach ist alles in Ordnung?«

»So ist es. Ganz nach deinen Wünschen, nur …« George hob einen Finger in die Höhe. »Die Bezahlung ist noch nicht geregelt.«

»Wie bitte? Ich habe dir doch vor Wochen das Geld gegeben. Oder hast du das vergessen?«

»Nein, John, das habe ich nicht vergessen. Aber ich bin auch kein Idiot. Das Geld war für die P… äh, Ladung bestimmt, aber meine Ausgaben waren damit nicht gedeckt. Ich bin zwar dein Freund, aber gestern musste ich Paul eine Menge Zeit stehlen, um an deinem Projekt arbeiten zu können. Also schuldest du mir zumindest einen kleinen Ausgleich. Von Dank will ich gar nicht sprechen.« Er streckte John die geöffnete Handfläche entgegen.

Charmaine kicherte. Es sah aus, als ob er betteln wollte. Verblüfft verfolgte sie, wie John seine Brieftasche zückte und George ein Bündel Scheine in die Hand drückte, das ungefähr ihrem Wochenlohn entsprach. Welche Gefälligkeit war wohl eine so großzügige Gabe wert? George strich die Scheine glatt, zählte sie und grinste Charmaine an, als er sie in die Tasche steckte. War sie unfreiwillig Zeuge eines Geschäfts geworden? Irritiert sah sie zu John hinüber, doch der las bereits wieder in der Zeitung. Sie traute ihm nicht über den Weg. George dagegen war ihr Freund und wollte ihr nichts Böses. Außerdem würde er sie niemals anlügen. Sobald sie allein waren, wollte sie ihn ausfragen.

Ungeduldig hämmerte Pierre mit dem Löffel auf seinen leeren Teller. Rasch nahm Charmaine ihm das Werkzeug weg, was lautes Gebrüll zur Folge hatte.

»Es tut mir leid, Pierre, aber solchen Lärm macht man nicht.«

Aber das Geheul dauerte an. Pierre stieß die Milch weg, die sie ihm anbot, und drehte das Gesicht zur Seite, als sie ihm den Mund abwischen wollte.

Rasch stand John auf und kam herüber, woraufhin Charmaine den Löffel fester packte. Sicher wollte er ihre Autorität untergraben und ihn ihr aus der Hand reißen. Aber John beachtete sie gar nicht und hob Pierre in die Höhe. »Was soll das Theater? Du heulst doch nicht wegen eines Löffels, oder? Dann wärst du aber nicht der Pierre, den ich kenne. Ist das möglich? Der Pierre, den ich kenne, heult nämlich nie und ist immer freundlich, besonders zu Mainie. Habe ich recht?«

Die Tränen versiegten. »Ich bin aber Pierre«, jammerte der Kleine. »Aber ich muss Pipi.«

»Nein«, berichtigte John, »du musstest Pipi.«

»Ach, du lieber Himmel!« Plötzlich begriff Charmaine, warum er so gejammert hatte. »Komm, Pierre, wir gehen nach oben und ziehen dich um.«

Als sie die Arme nach dem Jungen ausstreckte, trat John einen Schritt zurück. »Ich trage ihn schon. Ihr Kleid muss nicht auch noch nass werden.«

Bevor sie etwas sagen konnte, ging er bereits in die Halle. Mit hängenden Schultern saß Jeannette auf der Treppe und hatte die Knie bis ans Kinn gezogen.

»Was ist los?«, fragte John. »Hast du schon alle deine Geschenke gefunden?«

»Nein.« Sie zog eine Schnute und starrte zu Boden. »Ich habe nur ein Geschenk gefunden … einen Stein. Yvette hat schon drei Sachen. Richtige Geschenke. Bonbons und ein Buch und eine Hose. Aber ich habe nur einen eingepackten Stein!«

»Vielleicht ist ja gar nicht mehr versteckt«, scherzte er.

»Sagen Sie doch so etwas nicht!«, zischte Charmaine. »Sonst heult sie auch noch.«

John nahm sich die Ermahnung zu Herzen. »Gib nicht so schnell auf, Jeannette. Es gibt ebenso viele Geschenke für dich wie für Yvette.«

»Aber wo sind sie denn? Ich habe doch schon überall gesucht!«

»Überall?«

»Ja, überall im Haus …« In diesem Augenblick dämmerte es ihr. »Sie sind gar nicht im Haus versteckt, oder?«

»Es gibt nur einen Tipp, habe ich gesagt.«

Aber das genügte. Blitzschnell stürmte Jeannette die Stufen hinunter und aus der Haustür. John musste den ganzen Weg bis zum Kinderzimmer schmunzeln.

Er hat ebenso viel Spaß wie die Mädchen, dachte Charmaine.

»Setzen Sie ihn aufs Bett«, rief sie über die Schulter und holte frische Sachen und ein Handtuch aus dem Schrank.

John lud seine nasse Last ab. Dann breitete er die Arme aus und betrachtete sein nasses Hemd und seine durchweichte Jacke. Charmaine hielt mitten im Schritt inne, warf alles bis auf das Handtuch auf einen Stuhl und lief auf ihn zu. »O nein! Ihre Jacke ist ruiniert! Und erst Ihr Hemd!« Ohne lange zu überlegen, rieb sie das Hemd mit dem Handtuch trocken, doch als ihr bewusst wurde, was sie tat, ließ sie erschrocken die Hände sinken. Sie wich einen Schritt zurück und sah betreten zu ihm auf. »Es … es tut mir leid!«

Er rührte sich nicht, und seine Arme hielten noch unverändert den Raum umfasst, wo sie soeben noch gestanden hatte. Mit schiefem Lächeln genoss er ihre Verlegenheit.

»Ich … ich muss mich um Pierre kümmern.«

»O ja«, sagte er und lachte. »Und ich muss fort, bevor ich weiteres Unheil anrichte, das sich nicht nur mit einem trockenen Tuch reparieren lässt.«

Nach dem Umziehen gingen Charmaine und Pierre hinaus auf den Balkon, um nach Jeannette Ausschau zu halten. Unten öffnete sich die Haustür, und gleich darauf gerieten John und George in ihr Blickfeld. John hatte ein frisches Hemd angezogen, dazu eine rehbraune Hose, Reitstiefel und Kappe. Offenbar wollte er mit George ausreiten.

Charmaine konnte zwar kein Wort der Unterhaltung zwischen den beiden Männern verstehen, aber schon ihre Haltung bezeugte, welch tiefe Freundschaft sie verband. Auch nach sechs Wochen wunderte sich Charmaine noch immer. Ein leises Lachen, ein Kopfschütteln, eine Hand, die eine Bemerkung unterstrich, und der Arm, der sich um die Schulter des Freundes legte. Die meisten Brüder wären auf eine solche Freundschaft eifersüchtig.

Ein entzücktes Quietschen ertönte, als die Zwillinge aus dem Stall auf ihren Bruder zustürmten. Yvette erreichte ihn als Erste und umschlang ihn mit aller Kraft. »Oh, sie sind wunderschön, Johnny! Wo hast du sie denn her?«

Seine Antwort war zu leise, als dass Charmaine sie verstehen konnte. Aufgeregt hüpften die Mädchen um ihren Bruder herum und zerrten ihn an den Armen zum Stall hinüber. »Wir können ja gleich loslegen!« Als John etwas sagte, blieben die Mädchen stehen. »Ja, gern!« Jeannette lachte.

»Komm, wir holen sie!«, rief Yvette. Als sie sich umdrehte und zum Haus hinübersah, entdeckte sie Charmaine auf der Veranda. »Da ist sie ja!«

Die Gruppe kam ein Stück weit über die Wiese auf sie zu. »Mademoiselle Charmaine!« Jeannette war ganz aus dem Häuschen. »Warten Sie nur, bis Sie sehen, was John uns geschenkt hat!«

»Bleiben Sie auf der Veranda!«, rief Yvette. »Wir bringen sie nach draußen!«

Als Yvette mit George im Stall verschwand, ahnte Charmaine, was kommen würde. »Warten Sie nur, was Sie gleich sehen werden«, rief Jeannette glückstrahlend, als sie mit John den anderen folgte. »Es sind die schönsten Geschenke der Welt! Schöner als alles andere und auch schöner als jeder Schatz!«

Im selben Moment führte George zwei Ponys aus dem Stall. Zwei wunderschöne Geschöpfe, die aufs Hübscheste herausgeputzt und geschmückt waren und schon rein äußerlich genau zu den Mädchen passten. Das eine war kohlrabenschwarz, kaute widerspenstig an seinem Halfter und schüttelte den Kopf. Das andere dagegen war so weiß wie Puder und äußerst sanftmütig, aber genauso schön wie das erste.

»Sie sind wirklich hübsch!«, rief Charmaine und ahnte schon, was als Nächstes kam.

»Johnny will mit uns reiten, wenn Sie es erlauben.«

»Wenn ihr schon Ponys habt, dann müsst ihr auch reiten.«

»Kommen Sie auch mit?«, rief Jeannette.

»Ich?« Charmaine war überrascht und gleichzeitig verlegen. »Macht das lieber ohne mich. Ich bleibe mit Pierre zu Hause und sorge mich um euer Wohlergehen.«

»O bitte, Mademoiselle, kommen Sie doch mit!«, bettelten die Zwillinge. »Ohne Sie macht es keinen Spaß. Außerdem haben Sie versprochen, dass wir heute bestimmen dürfen, was wir machen!«

»Das dürft ihr ja auch, sobald ihr wieder zurück seid. Schaut nicht so enttäuscht. Freut euch lieber, schließlich habt ihr zwei schöne Ponys geschenkt bekommen!«

»Aber Johnny hat auch ein Pferd für Sie gekauft!«

Charmaine wurde blass. »Ich fürchte, ich … ich verstehe nicht …« Aber sie verstand nur zu gut und suchte blitzschnell nach einer passenden Ausrede.

John sah ihr die Nöte an der Nasenspitze an. »Miss Ryan, ich bin davon ausgegangen, dass Sie als gewissenhafte Gouvernante darauf bestehen würden, die Kinder nicht aus den Augen zu lassen.«

Gleichzeitig führte George eine gescheckte Stute mit glänzendem Fell auf die Koppel, deren dunkle Mähne und Schwanz in der morgendlichen Brise wehten.

Charmaine war sprachlos. Mittlerweile war ihr klar, was sie am Frühstückstisch beobachtet hatte: die hochgezogenen Brauen, die rätselhaften Sätze und die Übergabe des Geldes. »Ein solches Geschenk kann ich nicht annehmen. Das schickt sich nicht.«

»Sehen Sie es einfach nicht als Geschenk an«, riet John, »sondern als Arbeitsmittel, um Ihre Pflicht zu erfüllen – und schon schickt es sich!«

»Wie bitte?« Sie war verärgert.

»Von heute an werden die Zwillinge öfter reiten wollen, und ich kann ihnen nicht jedes Mal Gesellschaft leisten. Wie Sie mir ja bereits mehrmals klargemacht haben, liegt die Sorge um die Kinder in Ihrer Verantwortung! Also brauchen Sie auch ein Pferd, um die Kinder zu begleiten.«

»Beeilen Sie sich, Mademoiselle!«, drängte Yvette. »Wir können nicht den ganzen Tag warten. Die Ponys werden sonst ungeduldig.«

»Und wir auch!«, ergänzte Jeannette.

»Die Mädchen haben recht. Ziehen Sie sich etwas Bequemes an, das auch schmutzig werden darf, und beeilen Sie sich.«

»Ich kann nicht!« Es ärgerte sie, wie er über sie verfügte. »Ich muss bei Pierre bleiben.« Sie sah, wie Pierre vor lauter Langeweile auf dem Balkon hin und her rannte.

»Pierre kommt auch mit«, erklärte John.

»Aha, und wo soll er sitzen, wenn ich fragen darf?«

»Ich nehme ihn zu mir auf den Sattel. Kommen Sie, wir vergeuden die schönste Zeit des Tages. Ziehen Sie sich um und kommen Sie endlich, bevor es dunkel wird.«

»Es tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss, aber auf dieses Tier setze ich mich nicht. Ich kann nicht mit ihm umgehen.«

»Mit ihr«, korrigierte John. »Das Pferd gehört wirklich Ihnen.«

»Das glaube ich nicht. Welcher Mann mit klarem Verstand würde ein so teures Tier für eine Gouvernante kaufen?«

»Ob Sie es glauben oder nicht, Miss Ryan, ich habe es getan. Und Sie werden uns auf diesem Ausritt begleiten!«, entgegnete er trotzig. »Als Gouvernante der Kinder gehört das zu Ihren Pflichten.«

»Ja, aber …«

»Aber was?«

»Ich kann doch gar nicht reiten!«, stieß sie hervor und war verletzt, als die Mädchen lachten und Yvette rief: »Habe ich es dir nicht gesagt!«

Ein finsterer Blick von John brachte die Zwillinge zum Schweigen. »Keine Sorge, das bringen wir Ihnen schon bei.« Das klang ruhig und überzeugend. »Die Stute ist ein sanftmütiges Wesen. Nein, weitere Entschuldigungen werden nicht angenommen. Wir warten am Stall, und wenn Sie in zehn Minuten nicht unten sind, komme ich Sie holen.« Er schob die Mädchen vor sich her zur Koppel zurück.

Charmaine seufzte. »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie Pierre, als er das nächste Mal an ihr vorbeirannte.

Er blieb stehen und sah zu ihr auf. »Mitgehen.«

Sie lachte wehmütig. »Also gut, wenn du das sagst.«

Millie Thornfield zögerte kurz, bevor sie an Frederic Duvoisins Vorzimmertür klopfte. Als er sie hereinrief, atmete sie tief ein und fasste den Henkel des Korbs fester. Er sah von einer Zeitschrift auf und bat sie, näher zu treten. »Nun?«

»Ich habe die Hübschesten ausgesucht, Sir«, flüsterte Millie.

»Darf ich sie sehen?«

Sie stellte den Korb vor ihn hin. Als sie das Tuch abnahm, wachten die Kätzchen auf. Das orangefarbene gähnte und streckte sich, und das graue schlug mit dem Pfötchen nach dem anderen und entfesselte eine kleine Rauferei. Millie kicherte, doch als ihr bewusst wurde, wo sie sich befand, hielt sie erschrocken inne und war überrascht, als sogar der Hausherr lächelte.

»Ich danke dir, Millie. Das war eine wunderbare Idee. Meine Töchter werden sich sicher freuen.«

Zusammen mit Pierre kam Charmaine in einem einfachen Kleid zum Stall. Aufgeregt rief Jeannette, dass es bestimmt ein wundervoller Tag werden würde. Charmaine erschauerte bei dem Gedanken. Wenn doch nur Paul da gewesen wäre, um diesem Unsinn ein Ende zu machen. Aber er war nicht da, und sie war in jeder Beziehung seinem Bruder ausgeliefert.

Die Zwillinge hatten die Ponys Spook und Angel getauft und wollten von George wissen, wer welches Geschlecht hatte. In diesem Augenblick kam John mit Phantom aus dem Stall. »Angel ist ein Mädchen«, antwortete George, »und Spook ein Junge. Vermutlich erfüllen sie mehr als nur einen Zweck.«

»Was soll das heißen?«, fragte Jeannette harmlos.

Yvette schnalzte mit der Zunge. »Dass sie Fohlen bekommen wie Chastity und Phantom. Stimmt das, Johnny?«

»Ganz genau.«

»Dürfen wir dieses Mal zusehen?«, fragte sie, woraufhin Charmaine die Stirn runzelte. »Ich weiß nicht, wie das geht, aber ich würde es gern herausfinden.«

»Wirklich?« Als George verlegen an seinem Kragen zerrte, befürchtete Charmaine, dass er zu einem Vortrag über Empfängnis und Geburt ausholen wollte.

Aber John kam ihm zuvor. »Das muss noch ein wenig warten, Yvette«, sagte er. »Es wird immer später. Geh und hole den Picknickkorb, während ich Jeannette und Miss Ryan in den Sattel helfe.«

»Den Picknickkorb?«, fragte Charmaine.

»Aber natürlich, my charm. Was wäre ein Ausflug ohne Picknickkorb?«

»Aber kein Picknick – so viel ist sicher. Ich will mit Ihnen kein Picknick mehr machen. Das eine war wirklich mehr als genug. Vielen Dank.«

»Aber Sie wollen die Kinder doch nicht enttäuschen, oder? Ausgerechnet an ihrem Geburtstag.«

Sie saß in der Falle. Beim Frühstück hatten die beiden geschickt nach ihrem Programm für den Tag gefragt, und sie hatte John genau in die Hände gespielt. »Ich will mich aber nicht weit vom Haus entfernen«, schränkte sie ihre Zusage ein.

»Nein, nein, wir reiten nicht weit«, versuchte John sie zu beruhigen. Doch Charmaine ahnte, dass das gelogen war. »Na los, Yvette, worauf wartest du? Holst du den Korb?«

Rasch machte die Kleine kehrt und lief davon.

Im Kinderzimmer war es still, und auch im Schlafzimmer war niemand. »Stell den Korb nur ab, Millie«, sagte Frederic. »Ich dachte, die Kinder hätten Unterricht.«

»Soll ich sie suchen, Sir?«

Lautes Lachen weckte Frederics Aufmerksamkeit. »Das ist nicht nötig«, murmelte er und hinkte auf die Veranda. Schweigend stand er im Schatten der großen Eiche und verfolgte die Vorgänge auf der großen Wiese.

John schloss den Sattelgurt. Dann gab er Jeannette ein Zeichen, und Sekunden später thronte sie auf Angels Rücken und strahlte vor Glück. Er passte noch die Steigbügel an, bevor er einen Schritt zurücktrat. Jeannette kannte sich aus. Sie trieb das Pony an, und schon setzte es sich in Bewegung.

Als John sich zu Charmaine umdrehte, stieg Panik in ihr auf. Für einen Rückzug war es zu spät. Ihr flehender Blick ging zu George, doch der streichelte nur lächelnd den Hals der gefleckten Stute. »Keine Sorge, Charmaine, die Stute ist friedlich und leicht zu reiten.« Er führte die Stute neben sie, übergab John die Zügel und nahm Pierre beiseite.

»Sind Sie bereit?«, fragte John, nachdem er den Sattelgurt befestigt hatte.

Ihr Mund war so trocken, dass sie nicht antworten konnte. Die Stute war deutlich kleiner als Phantom, aber ihr kam sie immer noch groß vor. »Der ist doch viel zu hoch«, flüsterte sie und starrte auf den Sattel, der sich genau vor ihren Augen befand.

»Keine Sorge, das schaffen Sie.«

»Ich bin doch noch nie geritten. Ich weiß gar nicht, wie ich dort hinaufkomme.«

»Irgendwann ist immer das erste Mal«, bemerkte er.

Charmaine fand das nicht witzig und funkelte ihn an.

Doch er übersah das. »Keine Sorge, my charm. Ich lasse schon nicht zu, dass Ihr erster Versuch fehlschlägt.«

Sie bemerkte, dass George grinste. »Wenn das ein Spiel sein soll, dann suchen Sie sich ein anderes Opfer.«

»Sie tun mir Unrecht, Miss Ryan«, protestierte John. »Ich will Ihnen nur helfen. Warten Sie, ich mache es Ihnen vor.« Schritt für Schritt erklärte er jede Bewegung, bis er im Sattel saß. »Sehen Sie, es ist ganz einfach. Haben Sie es verstanden?«

Sie nickte, obwohl sie wusste, dass das Schlimmste erst noch kam.

Er sprang herunter. »Nun?«, fragte er und lächelte, weil ihr Zögern ihn belustigte.

»Na gut.« Sie drehte ihm den Rücken zu und packte mit einer Hand den Rand des Sattels und mit der anderen die Mähne. Zu ihrer Verwunderung hielt das Pferd still.

»Sehr gut, Miss Ryan. Jetzt müssen Sie nur noch den Fuß in den Steigbügel schieben.«

»Das weiß ich!«, fauchte sie. Als sie den Fuß hob, waren ihre Unterröcke zu sehen, doch bei dem Versuch, sie zu verstecken, verfehlte ihr Fuß den Bügel. Sie versuchte es erneut, aber wieder misslang es. Ihr Gesicht brannte vor Scham, weil sie ahnte, dass die Männer hinter ihrem Rücken grinsten.

»Denken Sie einfach nicht an die Unterröcke, Miss Ryan. Ich bin alt genug und habe schon einige gesehen. Je weniger Sorgen Sie sich machen, desto leichter geht es.«

»Machen Sie sich bloß nicht über mich lustig! Ohne Ihre Scherze säße ich längst im Sattel.«

»Ach ja?«

»Natürlich. Außerdem ist es kein Wunder, dass es mir schwerfällt. Schließlich reiten Ladys im Damensattel.«

»Da irren Sie sich, Mademoiselle.« Es amüsierte ihn, wie sie immer wieder neue Ausreden suchte. »In Paris oder London mag das Sitte sein, aber hier auf Charmantes reiten die Frauen wie die Männer …« Seine Stimme verklang, und während ihm deftige Scherze durch den Kopf gingen, sah er zu George hinüber. »Auf diese Weise fällt man nicht so leicht vom Pferd, und außerdem ist die Haltung nicht nur natürlich, sondern auch bequemer – besonders für eine Anfängerin.«

George schmunzelte.

»Ich verzichte auf Ihre Belehrungen.«

»Wollen Sie meine Reitkünste vielleicht in Zweifel ziehen?« John spielte den Beleidigten. »Bisher hatte ich immer Erfolg und wurde von allen beglückwünscht, die das Vergnügen hatten, damit Bekanntschaft zu machen.«

Warum George breit grinste, war Charmaine ein Rätsel. Ebenso wie Johns Worte, die offenbar nur George richtig deuten konnte. Um die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen, deutete sie auf den Steigbügel. »Können Sie den nicht niedriger einstellen?«

»Aber das bringt nichts, my charm

George lachte, und John stimmte darin ein. Und das alles auf ihre Kosten! Als sie an den Vorfall mit Fang dachte, saß ihr ein Kloß in der Kehle. Am liebsten wäre sie davongerannt, aber das konnte sie Yvette nicht antun, die gerade mit dem Picknickkorb zurückkam.

»Es tut mir leid, Charmaine«, entschuldigte sich John, als er ihr ratloses Gesicht sah. Angesichts ihrer Unschuld plagte ihn das schlechte Gewissen. »Wir haben Sie nicht ausgelacht. Steigbügel müssen so weit oben sitzen, damit man sich hochziehen kann und überhaupt in den Sattel kommt.«

Sein Stimmungswechsel verwirrte Charmaine.

»Ich biete Ihnen meine Schulter an – stützen Sie sich auf, wenn Sie den Fuß in den Steigbügel schieben. Der Rest geht dann wie von selbst.«

Das Angebot konnte sie nicht ablehnen, da er schon dicht neben ihr stand. Sie legte den Arm auf seinen Rücken, und ihr Fuß fand den Steigbügel ohne Mühe. »Jetzt packen Sie Sattel und Mähne und ziehen sich hoch!«

Sie kam kaum vom Boden hoch, weil sie von den warmen Händen abgelenkt wurde, die sich um ihre Taille schlossen.

»Versuchen Sie es noch einmal«, sagte er rasch, bevor sie den Mut verlor.

Diesmal stieß sie sich ab, irgendwo zwischen Himmel und Erde fühlte sie Johns starke Arme, und als sie die Luft ausstieß, saß sie bereits im Sattel. Während sie zu ihm hinunterlächelte, spürte sie noch immer den Druck seiner Hände auf ihrem Körper.

Im nächsten Moment wurde sie von Angst gepackt, weil ihre Umgebung von oben so ganz anders aussah. Sie klammerte sich an die Mähne ihrer Stute und konnte erst loslassen, als John dem Pferd die Zügel überstreifte und ihr in die Hand gab. Sie merkte kaum, dass er die Steigbügel verkürzte und dabei ihre Knöchel berührte, um die Länge zu prüfen. Und dann wandte er sich zu ihrem Entsetzen auch noch ab, um sich um sein eigenes Pferd zu kümmern!

»Wo gehen Sie hin?«, rief sie erschrocken, als sich die Stute unter ihr bewegte.

»Einen Moment.«

»Sie können mich doch nicht allein lassen! Ich weiß ja nicht, was das Tier will!« Wie auf ein Stichwort setzte sich die Stute in Bewegung und trottete langsam zur Koppel hinüber, wo die Ponys grasten.

»Lassen Sie ihr ihren Willen«, rief John. Er schnallte den Picknickkorb mit einem Riemen an den Sattel. »Sie will nur grasen.«

Und genauso war es. Wie vorhergesagt blieb die Stute bei den Ponys stehen und begann zu fressen. Charmaine umklammerte die Zügel, als ob ihr Leben davon abhinge, weil sie fürchtete, über den Hals abzurutschen. Ihr Atem ging erst ruhiger, als sie ein paar Minuten später noch immer im Sattel saß.

John band Phantom los und schwang sich in den Sattel. Der Hengst schnaubte und schüttelte den Kopf, aber sein Reiter hielt ihn mit eiserner Hand unter Kontrolle und ritt zu Charmaine hinüber.

»Geht es schon besser?«, fragte er. An den weiß hervortretenden Knöcheln sah er, wie fest sie die Zügel umklammerte.

»Ein wenig. Wollen Sie Pierre wirklich mitnehmen?«

»Aber natürlich. Warum fragen Sie?«

»Wir sollten ihn vielleicht lieber bei Rose lassen.«

John runzelte die Stirn.

»Ich sorge mich nur um seine Sicherheit«, fügte sie hinzu. »Der Hengst ist so wild.«

Sofort wurde sein Gesichtsausdruck weicher. »Damit man mich auf dem Hintern landen sehen kann, muss man mich erst einmal abwerfen. Pierre ist bei mir sicher aufgehoben. Außerdem kann ich ihn doch jetzt nicht enttäuschen.« Er sah auf den Kleinen hinunter, der immer noch geduldig dastand und vor freudiger Erwartung strahlte.

Charmaine merkte, dass Johns Entschluss feststand.

»Außerdem gehört ihm der Tag genauso wie seinen Schwestern. Glauben Sie vielleicht, dass wir Spaß haben würden, wenn wir ihn heulend zu Hause sitzen lassen?«

»Vermutlich nicht«, musste sie zugeben. »Aber manchmal läuft nicht alles so, wie man …«

»Muss ich es wirklich aussprechen, Charmaine? Niemals würde ich ein Kind in Gefahr bringen, und Pierre erst recht nicht.« Er gab George ein Zeichen, dass er ihm den Jungen nach oben reichte, und setzte ihn vor sich auf den Sattel.

Als er Phantom antrieb, quietschte der Kleine vor Vergnügen, und Charmaine war froh, dass sie ihn nicht zu Hause gelassen hatten.

Yvette verbat sich die Anweisungen ihres Bruders. »Ich bin schließlich auch allein in den Sattel gekommen.«

Also ritt John wieder zu Charmaine und zeigte ihr, wie man das Pferd antrieb und die Zügel richtig einsetzte. Alles schien kinderleicht zu sein. Er ermunterte sie, den Griff um die Zügel zu lockern. Sich daran zu klammern, schützte nicht vor einem Sturz, sondern provozierte eher einen Abwurf. »Die Stute ist bestens zugeritten.« Mit leisem Lachen versuchte er ihre neu erwachten Ängste zu besänftigen.

Yvette zog kurz an den Zügeln, damit Spook den Kopf hob, und ritt über die Zufahrt voraus. Als Nächste folgte Jeannette.

John nickte Charmaine zu. »Und jetzt Sie.«

Charmaine atmete kurz ein. Dann folgte sie tapfer dem Beispiel der Zwillinge und war überrascht, als die Stute ihren Kommandos gehorchte. Dann waren sie unterwegs. Sie winkten George zum Abschied zu und ritten durch das Tor auf die Straße hinaus. Als die Stute gehorsam den Ponys folgte und Charmaine den gleichmäßigen Rhythmus des Pferdes unter sich spürte, wich ihre Anspannung ganz allmählich.

Frederic stand noch immer auf der Veranda und wurde von Erinnerungen heimgesucht. Du bist nie zu Hause, um dich um die Kinder zu kümmern … Lieber hätte ich ein Pferd … Es muss ja nicht in eine Schachtel passen, Papa … Du hättest es auch mit einer blauen Schleife um den Hals im Stall verstecken können … John liebt sie … Er wird dafür sorgen, dass sie gut aufgehoben sind … Das Fohlen hält uns für seine Herren, vielleicht könnte ich es ja bekommen … Colette hat mir geschrieben … Um die Kinder mit der Liebe und Zuneigung zu versorgen, die sie von dir nicht bekommen … Niemals würde ich ein Kind in Gefahr bringen und Pierre erst recht nicht …

Die Reiter waren schon lange außer Sicht, als Frederic ins Haus zurückkehrte. Er war allein, und schuld daran war nur er. Seufzend sah er auf den Korb mit den schlafenden Kätzchen hinunter.

Kätzchen … Beim letzten Geburtstag hatte Yvette ihn um ein Pony angebettelt – und er hatte entschieden, ihr ein Kätzchen zu schenken. Wie konnte er nur annehmen, dass ihr das Geschenk gefiel? Er wusste, was sie sich wünschte, aber hatte er ihr zugehört? John dagegen war kaum sechs Wochen im Haus und kannte bereits ihre geheimen Sehnsüchte. Sein Sohn erfüllte Colettes letzten Wunsch.

Und dann war da noch Pierre. Er war zu klein, um zu beklagen, was er von seinem Vater nie bekommen konnte – was seine Kindheit und die Umstände um seine Geburt ihm vorenthielten. Es dauerte nicht mehr lange, bis auch er neun Jahre alt werden würde.

Neun … War es möglich, dass Yvette und Jeannette schon neun Jahre alt waren? Frederic blickte über die Jahre auf den Tag zurück, als seine Gebete erhört worden waren und seine Frau die Geburt der Zwillinge glücklich überstanden hatte.

Am morgigen Tag vor neunundzwanzig Jahren hatte er weniger Glück gehabt. Die Erinnerung ließ ihn heute noch zittern. Die bedrückenden Bilder der düsteren Nacht, kurz nach Mitternacht, verfolgten ihn noch immer, als ob es gestern gewesen wäre. Beim Gedanken an den Verlust bei dieser Geburt zog sich seine Brust schmerzhaft zusammen.

»John«, hatte Elizabeth gestöhnt, bevor die nächste schmerzhafte Wehe sie erfasste. »Wenn es ein Junge ist, dann nenne ihn John.« Das waren ihre letzten Worte gewesen.

Colette hatte ähnlich schwer kämpfen müssen wie Elizabeth. Obwohl er stets tapfer war, hatte ihn damals die Angst davor, dass er durch die Geburt der Zwillinge auch seine zweite Frau verlieren könnte, beinahe umgebracht.

Aber Gott war ihm gnädig gewesen und hatte Colette verschont. Und warum? Hatte Gott seine Gebete in den langen Stunden vor Mitternacht erhört? War Colettes Rettung nur dem Schwur zu danken, den er damals vor Gott und sich selbst abgelegt hatte? Ihm war klar, dass ihn dieser Schwur genau bis hierher geführt hatte, heute noch wirkte und auch noch in Zukunft das Leben seiner Kinder aufs Schrecklichste bestimmen würde. Er sank auf Yvettes Bett und rieb seine schmerzende Stirn. Wollte er wirklich zulassen, dass die Vergangenheit die Zukunft beherrschte? Guter Gott, dachte er, was soll ich nur tun?

»Gefällt dir unser Ausflug, Pierre?«, unterbrach Johns Stimme den gedämpften Hufschlag auf der staubigen Straße.

»Ja, sehr.« Der Kleine kicherte. »Ich mag das große Pferd!« Er verdrehte sich den Hals, um zu seinem Bruder emporzusehen. »Du stehst auf dem Kopf!«

»Aber nein, ich doch nicht. Du stehst auf dem Kopf!«

Pierre sah an sich hinunter. »Nein, ich doch nicht.« Dann merkte er, dass Charmaine ihn beobachtete. »Ich finde es schön, Mainie!«

Sie lächelte. »Das sehe ich.«

John lächelte ebenfalls. »Haben Sie Ihre Bedenken inzwischen überwunden?«

»Die meisten schon, aber noch nicht alle. Ich gewöhne mich zwar langsam an die Bewegung, aber ich fürchte mich schon jetzt vor dem Absteigen.«

»Machen Sie sich keine Sorge. Das ist sehr viel leichter, als hinaufzukommen.«

Danach schwiegen sie, und Charmaines Blick wanderte von John zu dem Blattwerk um sie herum und den exotischen Vögeln und kehrte dann wieder zu Pierre und ihm zurück. Dabei bemerkte sie, dass er sie nachdenklich musterte. Doch sie hielt seinem Blick tapfer stand. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.

Er zog eine Braue in die Höhe. »Was soll denn nicht stimmen?«

»So, wie Sie mich anstarren, rechne ich mit dem Schlimmsten. Vielleicht habe ich ja eine Warze auf der Nase.«

»Eine Warze? Nein, my charm, Ihre Nase ist perfekt … perfekt geformt.« Er sah sie an.

»Und?«

»Darf ich Vollkommenheit denn nicht bewundern? Ich will Ihnen nicht schmeicheln, Miss Ryan, aber ich hätte nie gedacht, dass Sie so perfekt auf dem Pferd sitzen würden. Für eine Anfängerin wirklich vollkommen.«

Sie hatte das Gefühl, dass er sich über sie lustig machte. »Komplimente taugen nichts.«

Die Antwort kam schnell – und verwirrte sie. »Das war kein Kompliment, sondern eine Beobachtung, die einige Fragen beantwortet.«

»Zum Beispiel?«

»Weshalb Sie als Gouvernante angestellt wurden.«

»Sie wollen wohl nicht unterstellen, dass ich diese Stellung meinen Fähigkeiten als Reiterin verdanke, oder? Ihre Gedankengänge verblüffen mich immer wieder.«

Ein wildes Lächeln spielte um seine Lippen. »Das höre ich gern. Ganz gleich, was ich bin – jedenfalls bin ich nicht langweilig.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Mir war nicht bewusst, dass Sie etwas gefragt hätten.«

»Ich wüsste gern, welche Verbindung Sie zwischen meiner Stellung als Gouvernante und meinen Fortschritten auf diesem Tier erkennen?«

»Oh, diese Frage. Ich habe mir über Ihre Fähigkeit Gedanken gemacht, sich auf ein neues Wagnis einzulassen. In diesem Fall war es die Stute. Diese Facette Ihres Charakters erklärt, warum Sie die Position erhalten haben. Selbst in großer Angst haben Sie sich beherrscht und Ihr Ziel nicht aus den Augen verloren. Das ist bewundernswert.«

»Sie machen sich über mich lustig.«

»Aber nein, Miss Ryan. Ich verstehe das als Kompliment. Im Leben der Kinder spielen Sie eine wichtige Rolle.«

»Bemerken Sie das erst jetzt?«

»Nein. Aber das war der Grund, warum ich zu Beginn Ihre Fähigkeit in Zweifel gezogen habe.«

»Zu Beginn?«, fragte sie überrascht. »Und heute tun Sie das nicht mehr?«

»Nein. Nicht mehr, seit ich Ihnen eine Chance gegeben und Ihr Leben mit den Kindern beobachtet habe.«

Sie war zu verblüfft, um etwas zu sagen.

»Ihre Arbeit gefällt Ihnen, nicht wahr?«

»Ja. Ich liebe die Kinder.«

»Ist das wahr?«

Obgleich er das nett und liebenswert sagte, war Charmaine irritiert. »Aber ja. Glauben Sie mir nicht?«

»Doch, ich glaube Ihnen. Ich wollte es nur noch einmal von Ihnen hören. Vielleicht, um mich zu vergewissern.«

»Sie wollen sich vergewissern? Das klingt seltsam, finden Sie nicht auch?«

»Warum sollte das angesichts der Lebensumstände der Kinder seltsam sein? Mein Vater lebt wie ein Einsiedler, ihre Mutter ist tot, und ihre Stiefmutter hasst sie. Die Kinder brauchen unbedingt jemanden, der sie liebt.«

Nachdenklich sah John zum Waldrand hinüber und schwieg. Nach diesen verstörenden Bemerkungen war Charmaine für die Stille dankbar. Mit Sicherheit wusste sie nur eines: Selbst in einer Million Jahren würde dieser Mann ihr noch immer ein Rätsel sein.

John Duvoisin. Der Mann war wirklich ein Rätsel und meistens auch ein Dorn in ihrer Seite. Seit seiner Ankunft war das Leben im Haus und auf der Insel nicht mehr normal verlaufen. Zugegeben: Die großen Stürme, die das Haus während der ersten Woche erschüttert hatten, waren vorüber. Und doch beeinflusste seine Gegenwart jedermann.

Seine Abreise schien mit jedem Tag unwahrscheinlicher zu werden, dachte Charmaine, aber genau kannte sie seine Pläne nicht. »Wann wollen Sie eigentlich wieder abreisen?«, fragte sie auch schon, bevor sie nachgedacht hatte.

Mit scharfem Blick sah er sie an. »Ich wette, Sie können den Tag gar nicht mehr abwarten, was?«

»So … so sollte das aber nicht klingen.«

»Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen das nicht glaube.« Er lachte. »Ich wette, dass Sie jedes einzelne Wort genau so gemeint haben.«

»Ich wollte nur wissen …«

»Was denn? Wann auf Charmantes alles wieder so wird wie früher? Wann Sie und mein Bruder Ihre Liebesaffäre fortsetzen können?«

»Wir haben keine Liebesaffäre!«

»Ach nein? Habe ich mir die leidenschaftliche Szene bei meiner Ankunft etwa nur eingebildet? Die Frage ist nur, wie weit die Sache schon gediehen ist.«

Charmaine war so verlegen, dass sie sich abwandte.

»Ihre Reaktion lässt mich das Schlimmste befürchten. Doch meine wachsende Sympathie für Sie widerspricht dem.« Er tat, als ob er nachdenken müsse. »Weil ich heute großzügig bin, möchte ich Sie wenigstens vor meinem Bruder warnen.«

»Geben Sie sich keine Mühe!«

»Ich fürchte, das ist meine Pflicht.«

»Ihre Pflicht?« Sie wollte es nicht glauben. »Seit wann sind Sie denn so edel? Oder wollen Sie sich selbst in den Vordergrund schieben, indem Sie Ihren Bruder verleumden?«

»Ich bin der Erste, der mich als hoffnungslosen Fall bezeichnet, Miss Ryan.« Er lachte leise vor sich hin. »Aber lenken Sie nicht ab. Wir haben gerade von Paul gesprochen und …«

»Und ich habe gesagt, dass es mich nicht interessiert.«

»Interessiert trifft genau den Punkt. Es sollte Sie interessieren, dass Paul nur ein Interesse an Ihnen hat.«

Mit offenem Mund starrte sie ihn an.

»Seien Sie nicht beleidigt. Ich zähle nur die Tatsachen auf.«

»Tatsachen? Was wissen Sie denn darüber?«

»Eine ganze Menge. Und falls Sie hören möchten …«

»Ich möchte gar nichts hören. Ich glaube Ihnen ohnehin kein Wort.«

»Diese Tatsachen sind weder erfunden noch übertrieben«, fuhr er fort. »Aber vielleicht bevorzugen Sie verlässlichere Quellen. Vielleicht jemanden, der Ihnen den Beweis liefern kann. Sicher können die Hausmädchen Geschichten erzählen, die selbst mich noch überraschen. Paul hat nun einmal eine Vorliebe für junge Hausmädchen. Für ihn ist die höhere Stellung einer Gouvernante sicher eine ungewohnte Hürde und womöglich entmutigend.«

»Was soll das heißen?«

»Muss ich noch deutlicher werden, my charm? Mein Bruder ist ein Don Juan mit einem unstillbaren Appetit für Frauen. Nicht, dass ich ihn deshalb moralisch verurteile. Was soll ein Mann denn tun, wenn sein Haus so gut bestückt ist? Bevor ich Charmantes verlassen habe, hat es sich ständig ein Mädchen, das eigentlich brav in seinem Bettchen schlafen sollte, einen Stock tiefer im Bett meines Bruders bequem gemacht. Ich bezweifle, dass sich das inzwischen geändert hat. Erst recht, falls er bei Ihnen nicht zum Zug kommt.«

»Falls?«, stieß sie empört hervor, obwohl sie sich an eine solche Szene erinnern konnte. »Falls Sie hoffen, dass ich Ihre Spekulationen bestätige, so will ich sie augenblicklich im Keim ersticken! Ich habe nicht die Absicht, diese Unterhaltung fortzusetzen.«

»Ich spekuliere nicht – ich weiß es. Ich bin mit ihm aufgewachsen. Mein Bruder ist vieles, aber ein zölibatärer Mensch ist er sicher nicht. Er hat schon immer alle Früchte genossen, derer er habhaft werden konnte.«

»Ach ja? Und woher wissen Sie das? Haben Sie auch mit einem Glas an der Wand gelauscht?«

»Das musste ich gar nicht.« Er lachte leise. Ihre kecke Antwort gefiel ihm. »Paul hat seine Affären niemals geheim gehalten. Im Gegenteil. Er hat sogar oft damit geprahlt.«

»Viele Menschen prahlen, aber in meinen Augen ist das noch kein Beweis.«

»Wollen Sie ihn jetzt auch noch verteidigen?«

»Ich verteidige ihn nicht!«

»Nein?«

»Nein!«

»Warum wollen Sie meine Warnung dann nicht beherzigen?«

»Was zwischen Paul und sonst wem passiert ist, geht mich nichts an.«

»Warum sprechen Sie in der Vergangenheit?«

Es stieß sie ab, wie er über seinen Bruder redete. »Ich weigere mich, Ihre Lügen zu glauben.«

»Glauben Sie, was Sie wollen, aber heulen Sie später nicht! Ich habe Sie gewarnt«, schnaubte er. So naiv war diese Frau bestimmt nicht!

»Ich brauche keine Warnungen.«

»Dieses Hausmädchen … diese Millie Thornfield …«

Rasch sah Charmaine ihn an.

»Früher war die üppige Felicia seine Favoritin, aber so, wie die sich mir gegenüber benimmt, vermute ich, dass Paul dieses Feld im Augenblick nicht beackert. Ich wette, dass Millie Thornfield die Nächste ist, wenn er bei Ihnen nicht weiterkommt.«

»Aber Millie ist erst sechzehn!«

»Genau das richtige Alter – keine Krankheiten.«

»Das reicht!«, empörte sich Charmaine. »Ich habe genug gehört!«

Verwundert drehten sich die Zwillinge im Sattel um. Aber John lächelte nur und winkte. Einen Moment später waren sie wieder vergessen.

»Bestimmt wird es für Paul schwierig, Millie unter den Augen ihres Vaters zu verführen. Deshalb sollten Sie sich in Acht nehmen. Es sei denn, Sie möchten …«

»Seien Sie nicht unverschämt!«, zischte sie. »Und was Ihre galante Warnung betrifft, so war sie unnötig. Ich bin keine Schlampe, die sich ohne priesterlichen Segen an einen Mann verschenkt. Also sparen Sie sich Ihre Anspielungen!«

»Eine Hochzeit?« Er lachte spöttisch. »Sie glauben, dass Paul Sie heiratet?«

Sein Ausbruch trug ihm erneut die fragenden Blicke der Zwillinge ein.

Charmaine ließ den Kopf sinken, als ihre heimlich gehegten Träume so plötzlich zerschellten. Wie kindisch sie ihr plötzlich vorkamen! Eine Hochzeit. Natürlich würde Paul keine kleine Angestellte heiraten. Nun ja, sie war immerhin die Gouvernante – und doch, wie Felicia ganz richtig bemerkt hatte, nur eine Bedienstete wie alle anderen.

»Es tut mir leid, falls Sie getäuscht wurden«, fuhr John fort. »Doch selbst wenn mein Bruder wollte, könnte er Sie nicht heiraten. Geld heiratet immer Geld, und das erst recht, wenn das Vermögen begrenzt ist. Paul ist nicht der Erbe meines Vaters. Jedenfalls noch nicht. Wenn er also heiratet, muss er sein Vermögen schon in eine reiche Frau investieren.«

Charmaines Schmerz ließ ein wenig nach. Trotz seiner klugen Analysen hatte dieser Mann keine Ahnung von Liebe und all ihren wunderbaren Möglichkeiten. Er war unfähig zu lieben, hatte niemals geliebt und betrachtete eine Frau nur als Geldanlage, so wie andere sich eine Stute oder ein Schiff kauften. Er konnte nicht auf starke Gefühle hoffen, die einen Mann manchmal dazu bewogen, mit den Regeln der Gesellschaft zu brechen und sich mit einem Menschen von einfacher Herkunft zusammenzutun, der vielleicht arm, aber dafür reich an Liebe war.

»Der liebe Paul wird sich wohl oder übel eine reiche Frau suchen müssen«, fuhr John fort. »Ich dagegen kann heiraten, wen ich will.« Er lachte wehmütig.

Charmaine bemerkte die Ironie sehr wohl. Fürchtete er, dass sein Vater ihn enterben könnte? Als sie in seiner Miene nach Antworten suchte, wandte er sein Gesicht ab und ließ sie über seine düstere Bemerkung grübeln.

Yvettes Rufe lenkte ihre Blicke nach vorn. »Sieh nur, Johnny, ein Reiter.«

»Wenn man vom Teufel spricht …«, murmelte er.

Während Paul auf seinem Schimmel heranritt, fragte sich Charmaine, wie er wohl reagieren würde. Sicher missfiel ihm, dass John mit den Kindern einen Ausflug machte, obwohl sie um diese Zeit eigentlich lernen sollten. So gesehen war sie erleichtert, als Yvette ihren Bruder lauthals begrüßte.

»Guten Tag, Paul! Na, wie gefallen dir unsere Geschenke?«

»Sehr hübsch«, antwortete er mit verkniffenen Lippen, als er zu Phantom aufschloss.

»Johnny hat sie uns geschenkt.«

»Das habe ich mir gedacht.« Kalt sah er John an.

Charmaine hielt die Luft an. Schweigen war im Moment sicher das Klügste, aber John war solche Weitsicht nicht gegeben.

»Was bringt unseren Paulie denn schon so zeitig nach Hause?«, fragte er.

»Genau«, echote Yvette begeistert. »Was bringt Paulie denn so früh nach Hause?«

Hör einfach nicht hin, dachte Paul und wandte sich ab. »Guten Morgen, Miss Ryan«, begrüßte er Charmaine.

Sie war sichtlich erleichtert. »Guten Morgen.«

John äffte ihn nach und verbeugte sich. »Guten Morgen, Miss Duvoisin.«

Yvette schaltete schnell. »Guten Morgen.«

John war zufrieden, als sich Pauls Blicke wieder auf ihn richteten. »Du hast noch nicht geantwortet, lieber Bruder. Fühlst du dich nicht wohl?«

»Ich fühle mich bestens, John.«

»Warum kommst du dann so zeitig nach Hause? Sicher warten eine Menge Projekte auf – wie hast du so schön gesagt? – auf erfahrene Hände.«

»Die sind längst erledigt. Ich habe schon vor Tau und Tag das Haus verlassen …«

»Aha. Das nenne ich eifrig.«

»… um heute Nachmittag Geburtstag zu feiern.« Er sah zu Charmaine hinüber, und in seinem Blick lag so etwas wie ein Versprechen.

»Wie schade.« John schnippte mit den Fingern und seufzte.

»Und warum das?«

»Ist das denn nicht offensichtlich? Du kommst ein paar Stunden zu spät. Aber du bist natürlich eingeladen. Nicht einmal ich bin so herzlos, dich von unserem Ausflug auszuschließen.« Paul und die Gouvernante zu beobachten war sicher aufschlussreich.

»Bis später im Haus«, sagte Paul mit Blick auf Charmaine. Dann gab er seinem Hengst die Sporen und galoppierte davon.

Bedauernd sah sie ihm nach. Die Vertrautheit mit ihm war ihr entglitten. Aber über vergossene Milch weinte man nicht.

»I think someone’s in trouble«, sang John leise, doch Charmaine achtete nicht auf ihn.

Sie verließen die unbefestigte Straße und ritten in südlicher Richtung über eine große Wiese mit hohem Gras und wilden Blumen. Yvette fragte, ob sie galoppieren dürfe, doch John schlug ihr die Bitte ab. Womöglich trat Spook in ein Loch und brach sich ein Bein.

»Wie Charity?«, fragte die Kleine.

»Möglich.«

»Aber Charity hat sich doch nicht wirklich das Bein gebrochen«, bemerkte Jeannette. »Ich weiß noch, wie Mama geweint und gesagt hat, dass Dr. Blackford ihr Pferd grundlos ruiniert hätte.«

»Das hast du mir nie erzählt, Jeannette. Ist das wahr, Johnny?«

»Ja«, bestätigte er. »Genauso war es.«

»Und warum? Warum hat Dr. Blackford das gemacht?«

»Weil er ein schwachsinniger Wichtigtuer ist. Er nennt sich Arzt, kann aber nicht einmal einen Bruch richtig erkennen … Selbst wenn ich im Sterben läge, würde ich ihn nicht an mich heranlassen«, murmelte er.

Charmaine war froh, dass die Mädchen die letzte Bemerkung nicht gehört hatten. Immerhin hatte John den Arzt kritisiert, der ihre Mutter behandelt hatte. Aber die Geschichte interessierte sie trotzdem. Anfangs hatte sie angenommen, dass die Stute gemeint sei, die gerade erst gefohlt hatte, aber inzwischen war klar, dass es um ein völlig anderes Tier ging.

John erzählte ihr, dass Paul Chastity als Ersatz für Charity gekauft hätte. »Aber Colette hat ihr Pferd geliebt. Chastity hat Charity nie ersetzen können.«

Als sie kurz darauf waldiges Gelände erreichten, bogen sie auf einen schmalen Pfad ein. John ritt mit Phantom an der Spitze, während Charmaine hinter den Mädchen blieb. Rundherum umschloss sie dichtes Laubwerk. Obwohl es angenehm kühl war, hätte Charmaine die pralle Hitze der Wiese vorgezogen. In der Enge musste sie höllisch aufpassen, damit ihr Pferd nicht über einen toten Ast stolperte. Außerdem behinderten niedrige Zweige ihr Fortkommen, kratzten über ihr Gesicht, verfingen sich in den Kleidern oder hakten sich in ihren Haaren fest. Und irgendwann vergaß sie ihre Stute, bis diese plötzlich stehen blieb. Charmaine drückte ihr die Knie in die Flanken, aber das Tier rührte sich nicht vom Fleck und knabberte unbeeindruckt an einem Strauch. Charmaine sah nach vorn, doch die anderen waren bereits um die nächste Biegung verschwunden.

»Na los, dummes Pferd, du kannst doch nicht einfach fressen!« Aber das Tier war nicht zu beeindrucken, sodass Charmaine kurz an den Zügeln zog. Die Stute wieherte – und widmete sich wieder dem Busch. »O nein, hör auf damit!« Diesmal ruckte sie fester und hackte dem Tier gleichzeitig mit den Steigbügeln in die Flanken. Unwillig schüttelte die Stute den Kopf, dass die Mähne nur so flog, und machte einen Schritt rückwärts. Charmaine erstarrte. Im nächsten Moment begann das Tier zu tänzeln und neigte trotz der Enge den Kopf, bis sie schließlich eine ganze Drehung vollführt hatte und ihr Kopf in die Richtung zeigte, aus der sie gekommen waren.

»John! Guter Gott, John!«, rief Charmaine.

Er sah sich um. »Herr im Himmel, wo ist sie?«

Die Zwillinge zuckten die Schultern.

»Bleibt, wo ihr seid, und rührt euch nicht von der Stelle. Ich bin gleich wieder da.«

Er wendete sein Pferd und ritt in scharfem Tempo zurück, als Charmaine erneut um Hilfe rief. Die Stute stand inzwischen auf den Hinterbeinen und trat mit den Vorderhufen in die Luft. »Lassen Sie die Zügel los!«, rief John.

Aber Charmaine war wie gelähmt und hörte ihn nicht.

Pierre hatte großen Spaß und lachte wie wild. John sprang aus dem Sattel, hob den Kleinen vom Pferd und stellte ihn in sicherer Entfernung auf den Boden. »Bleib hier!«

Er wich den Hufen aus und näherte sich der Stute. »Packen Sie die Mähne, Charmaine! Lassen Sie die Zügel los und halten Sie sich an der Mähne fest.«

Erst als sich ihre Blicke trafen, nahm Charmaine auch seine Befehle wahr. Doch als sie die Zügel losließ, bäumte sich die Stute erneut auf. John stöhnte, als Charmaines Hände in die Luft griffen und die Mähne verfehlten. Sie segelte über den Rumpf des Pferdes und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Waldweg. Zuerst war sie viel zu verdutzt, um sich zu rühren. Ihre Kämme waren verrutscht, die Locken zerzaust, und von ihrer aufrechten Haltung war nicht mehr viel übrig. Die Stute dagegen knabberte wieder eifrig an den Büschen, die ursprünglich das Elend verschuldet hatten.

Rasch sank John neben ihr auf die Knie. »Geht es Ihnen gut, Miss Ryan?«

Die Fältchen um Augen und Mundwinkel widersprachen seiner besorgten Stimme. Misstrauisch sah Charmaine auf, als er ihr die Locken aus dem Gesicht strich. »Das ist überhaupt nicht lustig! Ich hätte mich verletzen können.«

»Demnach ist Ihnen nichts passiert?«

»Sieht so aus.« Er streckte ihr die Hände hin, um ihr aufzuhelfen. Die Kämme lösten sich, und die Locken fielen ihr wie ein Wasserfall über die Schultern. Wütend stampfte sie auf. »Das ist alles Ihre Schuld.«

John schlug sich auf die Brust. »Meine Schuld?«

»Ja, Ihre Schuld. Sehen Sie nur mein Haar an!«

»Das tue ich – und es gefällt mir.«

»Das kann ich mir denken.«

»Was soll das heißen?«

»Vergessen Sie es. Dafür will ich meinen Atem nicht verschwenden. Warum haben Sie mich nicht einfach zu Hause gelassen? Warum mussten Sie mich … diesem … diesem …«

»Abenteuer?«, bot er an.

»Ziehen Sie doch nicht alles ins Lächerliche!«

»Machen Sie mich nicht für alle Ihre Fehler verantwortlich! Dass Sie abgeworfen wurden, war Ihre eigene Schuld. Ich habe Ihnen erklärt, dass Sie nicht an den Zügeln zerren dürfen. Mag sein, dass die Stute Sie erschreckt hat, aber Sie sind in Panik geraten und haben das Tier erst dazu gebracht, Sie abzuwerfen. Es war eindeutig Ihre Schuld.«

»Meine Schuld?« Sie geriet in Wut. »Ich habe gesagt, dass ich nicht reiten kann, aber Sie haben darauf bestanden und versprochen, dass mir nichts passiert! Was ist jetzt mit dem armen Tier? Und was wird aus mir?«

Er grinste, noch bevor sie mit Schimpfen fertig war, und plötzlich wandelte sich ihre Wut in Erleichterung. Sie brachen in Lachen aus, und Charmaine streichelte den kleinen Pierre, der angelaufen kam und seine Arme um ihre Beine schlang.

»Was soll ich jetzt mit meinen Haaren machen?«

John hob die Kämme auf. »Damit können Sie es aus der Stirn zurückstecken. Der strenge Knoten steht Ihnen sowieso nicht.«

»Aber für langes Haar ist es viel zu heiß. Ich hätte einen Hut aufsetzen sollen, doch wer konnte schon ahnen, dass der kleine Ausflug einen ganzen Tag dauert.«

»Möchten Sie sich vielleicht meine Kappe leihen?« Er grinste über das ganze Gesicht. »Läuse habe ich bisher noch keine entdeckt.«

Sie biss die Zähne zusammen und schwieg.

»Keine Sorge. An unserem Ziel ist es angenehm kühl. Und mit offenen Haaren gefallen Sie mir ohnehin besser.«

Als er mit ausgestreckten Armen auf sie zugehen wollte, nahm sie ihm die Kämme aus der Hand. »Vielen Dank, das mache ich lieber allein.«

Anschließend streifte sie kleine Zweige und Blätter von ihrem Kleid und war sehr erleichtert, dass es nicht völlig verdorben war. Als sie aufsah, führte John die graue Stute heran. »Bereit für einen zweiten Versuch?«

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

»O doch.«

»Nein, Sir. Nicht für eine Million Dollar steige ich noch einmal in den Sattel.«

»Und warum nicht?«

»Warum nicht? Sie haben doch gesehen, was passiert ist. Dazu ist mir mein Leben zu kostbar!«

»Sie haben nur zwei Möglichkeiten, Miss Ryan. Entweder steigen Sie wieder auf, oder wir setzen Pierre auf Ihre Stute und Sie müssen mit meinem Sattel vorliebnehmen.«

»Oh! Ich bekomme ein eigenes Pferd!«, jubelte Pierre.

»Ich entscheide mich für die dritte Möglichkeit«, sagte Charmaine. »Ich gehe zu Fuß!«

»Zu Fuß? Dann gibt es aber heute kein Picknick mehr!«

»Das bezweifle ich.« Sie drängte sich an ihm vorbei und ging einfach los.

John fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Dann setzte er Pierre auf die Stute. »Halte dich fest«, ermahnte er ihn, bevor er Phantoms Zügel packte und Charmaine mit großen Schritten folgte.

»Woher kennen Sie eigentlich diesen Weg?«, fragte Charmaine nach einiger Zeit.

»George und ich haben ihn als kleine Jungen entdeckt. Damals haben wir überall gejagt und dabei den Pfad gefunden. Die Sträflinge benutzen ihn manchmal.«

»Manchmal? Warum nur manchmal?«

Als er erklären wollte, dass der Pfad für vierrädrige Karren zu schmal war, kam ihm ein Gedanke. »Wenn die Männer es eilig haben, benutzen sie den Weg manchmal als Abkürzung. Aber nur auf einem Pferd.«

»Und warum? Gibt es hier wilde Tiere?«

John schwieg.

»Aber sicher keine gefährlichen, wenn Sie hier gejagt haben, oder?«

»Doch.«

»Doch, was? Sind die Tiere gefährlich, oder haben Sie hier gejagt?«

»Beides. Wir haben hier in der Gegend ein paar Klapperschlangen gefangen und getötet.«

»Klapperschlangen?« Wie wild schossen ihre Blicke hin und her. »Was haben wir dann hier zu suchen?«

»Heute ist die Gegend ungefährlich«, beruhigte er sie. »Sie wurde schon vor Jahren gesäubert. Seit George seine Trophäe erlegt hat, wurde keine Schlange mehr gesichtet …«

»Warum benutzen die Sträflinge den Weg dann nicht öfter?«

»Diese Angsthasen fürchten sich sogar vor ihrem eigenen Schatten und erzählen gern vom alten Lavar, der angeblich gebissen wurde, bevor er starb. Nach Dr. Blackfords Angaben konnte von einem Schlangenbiss keine Rede sein.«

»Aber seinen Fähigkeiten kann man doch nicht trauen …«

»Das ist wahr. Wie dem auch sei – im Sattel hat man jedenfalls nichts zu befürchten. Zumindest sollte man feste Stiefel tragen. Gegen dickes Leder können Schlangen nichts ausrichten.«

Als Charmaine Johns Stiefel mit ihren dünnen Schuhen verglich, wollte sie plötzlich nur noch im Sattel sitzen. »Vielleicht sollte ich es ja noch einmal versuchen«, schlug sie vor. »Dann kämen wir auch schneller voran.«

Sie umrundeten die Biegung und erreichten die Stelle, wo die Zwillinge warteten. »Wurde sie abgeworfen?«, fragte Yvette.

»Genau wie du beim ersten Mal.«

Yvette zog eine Schnute, hielt aber den Mund.

Schmunzelnd half John der Gouvernante in den Sattel. Dieses Mal blitzten die Unterröcke nur für Sekunden auf. Dann setzte er Pierre auf den Sattel und führte Phantom nach vorn.

»Geht es Mademoiselle gut?«, fragte Jeannette.

»Aber ja. Ihr Pferd war nur hungrig.«

Anfangs beherzigte Charmaine Johns Ratschläge, doch nach einer Weile entspannte sie sich und sah sich um. Sie bewunderte die hohen Palmen und die weiß und blassgelb blühenden Sabadillpflanzen und Flaschenkürbisse zwischen den mächtigen Feigenbäumen mit ihren lianenartigen Bärten, die wie die Taue einer Takelage von den Ästen herabhingen und vielen tropischen Vögeln eine Heimat boten. Die sanfte Brise frischte auf, je länger sie ritten, und bald lichtete sich auch der Wald. Als sich der Weg verbreiterte, ließ sich John zu Charmaine zurückfallen. Die Luft roch nach Salz, und man konnte hören, wie sich die Wellen am Strand zu ihrer Rechten brachen.

Als Charmaine gerade fragen wollte, wie lange der Weg noch parallel zum Strand verlief, bemerkte sie, dass Pierre an Johns Brust lehnte und die Augen geschlossen hatte. John folgte ihrem Blick. »Ein unglaublicher Junge«, murmelte er und strich dem Kind über das Haar.

Die zärtliche Geste bewegte Charmaine zutiefst. »O ja, das ist er«, flüsterte sie.

Wenig später traten die Bäume zurück, und der Blick öffnete sich auf niedriges Gestrüpp, blendend weißen Sand und aquamarinblaues Wasser, so weit das Auge reichte. »Oh, mein Gott«, hauchte sie, und der Wind zauste ihr offenes Haar.

»Der beste Platz für ein Picknick«, sagte John. Als sie nicht sofort reagierte, sah er sie an. »Ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht.«

»Enttäuscht? Aber nein! Ich liebe den Ozean. Sie etwa nicht?«

»Das kommt darauf an, von wo aus man ihn betrachtet«, gab er zur Antwort und ließ den Blick nachdenklich über das Wasser gleiten.

Forschend sah Charmaine ihn an, doch er schwieg.

»Wohin jetzt?«, rief Yvette.

»Sucht einfach ein schönes Plätzchen, wo wir Picknick machen können«, schlug John vor.

Yvette war begeistert. »Wir reiten voraus.«

Sie ritten am Strand entlang, wobei die Hufe den trockenen Sand aufwirbelten. Nicht weit vor ihnen erstreckte sich eine ruhige Bucht, die von einer schmalen Halbinsel gegen den offenen Ozean abgeschirmt wurde. Jeannette deutete auf einen einzeln stehenden Baum, der seine Äste weit über die Bucht breitete und in der gleißenden Sonne angenehmen Schatten bot.

Die Mädchen sprangen ab und führten die Ponys in den lichten Wald hinter dem Strand, damit sie im Schatten grasen konnten. Charmaine blieb unentschlossen sitzen, weil sie nicht recht wusste, wie sie absteigen sollte.

»Je eher Sie sich ein Herz fassen, my charm, desto rascher kann ich Ihnen Pierre übergeben. Ich möchte ihn nicht gern aufwecken.«

Nach kurzem Zögern schwang Charmaine ein Bein über den Sattel und rutschte, für eine Anfängerin fast gekonnt, vom Pferd herab. John legte ihr den schlafenden Jungen in die Arme und führte ihre Pferde ebenfalls in den Wald.

Anschließend halfen ihm die Mädchen dabei, die Decke auszubreiten. Dann setzten sie sich und machten sich über den Korb mit den Köstlichkeiten her. Pierre schlief auf der einen Hälfte der Decke, während sich Charmaine und die Mädchen die andere teilten und John ein Stück weit von ihnen entfernt am Baumstamm lehnte. Es wurde nicht viel gesprochen, bis die Mädchen auch den Nachtisch verspeist hatten. »Warum sind wir früher nie hier gewesen, Johnny?«, fragte Jeannette. »Mama hätte es sicher sehr gefallen.«

Als er keine Antwort gab, hob Charmaine den Kopf. Würde er den Mädchen sagen, dass er ihre Mutter verabscheute? Oder reute es ihn, dass er Colette verhöhnt hatte?

»Ganz genau!«, rief Yvette dazwischen. »Warum waren wir nie hier, als ihr noch zusammen die Picknicks geplant habt?«

Die Aussage verblüffte Charmaine und hallte in ihren Ohren nach.

»Es war viel zu weit zu laufen.« Mit diesem Satz packte John seine Kappe, ging zum Wasser hinunter und starrte lange Zeit auf den Horizont.

»Aber wir sind doch oft viel weiter gelaufen«, rief Yvette ihm nach. Als er schwieg, zuckte sie die Schultern. »Komm, Jeannette, wir gehen Muscheln sammeln.« Die Zwillinge rannten über den Sand und achteten nicht auf die Ermahnungen ihrer Gouvernante, sich nicht zu weit zu entfernen. Wortlos sah Charmaine zu John hinüber.

Was dachte er wohl? Seine Gedanken konnten sicher viele Fragen beantworten. Statt zu grübeln, sammelte sie die Teller ein, doch ihr Kopf ließ sich nicht abschalten: Warum waren wir nie hier, als ihr noch die Picknicks geplant habt? Wir sind oft viel weiter gelaufen! Liebster John … John hat viele Menschen verletzt … Sogar Colette hat durch ihn gelitten … Manche empfinden ihn als Drohung … Ihr sollt nicht von ihm sprechen … Keiner mag ihn … Man hasst ihn, oder man liebt ihn … für gewöhnlich in dieser Reihenfolge …

Guter Gott, wohin führte das alles? Hass oder Liebe? Oder sonst etwas? Sie sah wieder zu ihm hinüber. Er hatte sich nicht bewegt. Dieser Mann hatte sicherlich einiges getan, aber hatte er auch die Frau seines Vaters verführt? Nein, Charmaine konnte es nicht glauben.

Colette hätte diesen Ort geliebt. Wie im Traum vermischte sich plötzlich das Türkis des Ozeans mit den wasserblauen Augen ihrer Freundin. Es war gerade ein Jahr her, seit Colette John Frederic gegenüber verteidigt hatte. Welche Geheimnisse hatte sie mit ins Grab genommen? Es war bestimmt besser … sicherer, es nicht zu wissen.

Und dann der Brief. Wusste Frederic, dass seine Frau einen Monat vor ihrem Tod an John geschrieben hatte? Welche geheime Botschaft verbarg sich auf diesen Seiten? Auf keinen Fall möchte ich dir noch größeren Schmerz zufügen …

Ja, er hatte Schmerzen gelitten. Ohne Zweifel. Nachdem er von Colettes Tod erfahren hatte, hatte er sich tagelang in seinem Zimmer vergraben und im Alkohol Vergessen gesucht.

Mein Gott! Charmaines Puls schlug rascher. Colette und John. John und Colette. Ein Liebespaar? Niemals. Eine platonische Liebe? Vielleicht. Aber wie und warum? Es machte keinen Sinn – und doch passte alles perfekt zusammen. Sie wollte es nicht glauben, war sicher, dass ihre Einbildung sie zum Narren hielt. Doch je weiter sie diese Bilder von sich schob, desto schneller kehrten sie zurück. Verwirrt schloss sie die Augen, um ihre Gedanken zu ordnen. Aber vergeblich. Ein Geräusch ließ sie aufsehen. John war zur Decke zurückgekehrt.

»Müde?«, fragte er.

»Ein bisschen«, murmelte sie, als er sich neben ihr niederließ.

»Reiten kann ganz schön anstrengend sein.« Er schlang die Arme um die Knie und blickte aufs Wasser hinaus.

Da er nichts von ihren Gedanken ahnte, konnte sie ihn in Ruhe betrachten. Die Brise spielte in seinem lockigen Haar, und das Sonnenlicht schimmerte auf den helleren rotblonden Strähnen, die sich über seinen Ohren und dem Kragen ringelten. Als er die Hand hob, um eine Strähne zurückzustreichen, fiel ihr Blick auf das Spiel seiner Muskeln unter dem Hemd. Sie musste kräftig einatmen, weil ihr Herz plötzlich klopfte und ein seltsames Gefühl in ihr emporstieg. Sie sah ihn an, wie eine Frau einen Mann ansieht und wie Colette ihn vielleicht angesehen hatte.

Er stützte sich auf die Ellenbogen, streckte die langen Beine aus und schlug sie übereinander. Erst jetzt wandte sie den Blick ab – aber das Bild des windzerzausten Haars haftete fest in ihrem Kopf. Sie wollte das Haar berühren, wollte es zwischen Daumen und Zeigefinger spüren und ihre Hände darin vergraben. Es war ungerecht, ihm so nahe zu sein und doch ihre Sehnsucht nicht ausleben zu dürfen. Seine Ausstrahlung raubte ihr den Atem, und das missfiel ihr. Zu denken, dass ich sein Haar streicheln möchte! Was ist nur mit mir los?

Pierre bewegte sich im Schlaf und öffnete kurz darauf die Augen. Er setzte sich auf, sah sich etwas benommen um und ließ dann seinen Kopf auf Charmaines Schoß sinken. »Mama.«

John lächelte. »Er liebt Sie sehr, nicht wahr?«

»Ein bisschen, aber er vermisst seine Mutter.« Charmaine strich dem Jungen über das Haar.

»Wirklich?«

»Sehr sogar. Colette hat ihre Kinder geliebt. Sie waren ihr Leben. Obgleich es ihre Gesundheit im letzten Jahr kaum noch zuließ, hat sie so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbracht – und wenn sie nur im selben Raum mit ihnen saß und Pierre auf dem Schoß hielt. Das vermisst er sehr.«

»Und die Zwillinge?«

»Ihre Wunden heilen allmählich, aber die Narben bleiben natürlich. Sie können sicher nachfühlen, welchen Schmerz die Mädchen erlitten haben. Ich kenne dieses Gefühl selbst nur zu gut.«

»Ich hatte nie eine Mutter, die ich verlieren konnte«, bemerkte er kühl. »Also kann ich mich nur schwer in die Kinder hineindenken.«

»Die Erfahrung ist nicht der einzige Lehrmeister. Mitfühlen ist einfach, aber dem Leid zu begegnen, das ist schon schwieriger. Die Zeit und das tägliche Leben haben den Mädchen über das Schlimmste hinweggeholfen. Inzwischen haben sie akzeptiert, dass ihre Mutter tot ist.«

»Und wie steht es mit Ihnen, Miss Ryan? Sicher haben Sie den Kindern alle Liebe gegeben, die sie brauchen. Ist das denn nicht genauso wichtig?«

»Das ist es, aber Colette kann ich nicht ersetzen.«

»Vielleicht haben Sie es schon getan. Die Kinder lieben Sie, und eines Tages könnten Sie so wichtig für sie werden wie ihre eigene Mutter.«

»Das bezweifle ich. Die Kinder halten sich an mich, weil sie sonst niemanden haben. Aber ich weiß, wohin sie laufen würden, wenn Colette noch lebte!« Mutig begegnete sie seinem Blick. »Colette war ein feiner, wunderbarer Mensch.«

Ein verhaltenes Lächeln glitt über sein Gesicht. »Und Sie sind das nicht?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Als sich sein Lächeln vertiefte, machte sie einen Rückzieher. »Ich meine … ich versuche, eine gute Christin zu sein, aber Colette … nun, Colette war perfekt.«

»Niemand ist perfekt, Charmaine.«

»Nicht einmal Sie?«

Seine Augen funkelten. »Ausnahmen gibt es immer.«

Sie schnalzte mit der Zunge und verdrehte die Augen. Pierre vergrub sein Gesicht in ihren Rockfalten und rief wieder nach seiner Mutter.

»Macht er das öfter?«

Charmaine streichelte seinen Rücken. »Nur im Schlaf. Ich denke manchmal, dass er seine Mutter mehr vermisst, als seine Schwestern das tun.«

»Aber seine Erinnerungen sind doch sicher schon ein wenig verblasst. Er ist so viel jünger.«

»Das ist richtig, aber Colette hat mit Pierre sehr viel mehr Zeit verbracht.«

»Und warum das? Was glauben Sie?«

»Pierre war noch klein und hat gern bei ihr gespielt, die Zwillinge gingen schon oft eigene Wege. Mit ihnen konnte Colette manchmal nicht mehr Schritt halten.«

Aber John schien die Antwort nicht zu genügen, und so erklärte Charmaine es ihm noch einmal. »Colette hat oft beklagt, wie sehr ihre Krankheit sie einschränkt. Deshalb bestand sie auch darauf, eine Gouvernante zu engagieren. Sie wollte nicht, dass sich ihre Schwäche auf die Kinder auswirkt. Sie wollte sie glücklich sehen. Sie sollten sich frei bewegen können, sollten toben und spielen …«

»Nur weiter«, sagte John. »Ich höre Ihnen sehr gern zu.«

»Ich glaube, ich rede viel zu viel.«

»Aber nein«, wehrte er ab. »Sie reden zum ersten Mal wirklich mit mir. Und das gefällt mir.«

»Für gewöhnlich verbieten das die Umstände, Sir«, sagte sie vorsichtig, weil sie spürte, dass sie unbekanntes Terrain betrat.

»Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben. Ich war sicher, dass ich Ihre korrekte Haltung eines Tages überwinden und die echte Charmaine Ryan entdecken würde.«

»Wirklich?« Es ärgerte sie, dass er ihr Verhalten kritisierte und glaubte, sie besser zu kennen, als sie selbst das tat.

»Wirklich.« John lächelte. »Aber wir sollten diesen Fortschritt nicht gleich wieder vernichten. Sprechen Sie einfach weiter, Mademoiselle.«

»Und worüber?«

»Über Mistress Colette und warum sie ihren Sohn den Zwillingen vorgezogen hat.«

»Vorgezogen? Das habe ich so nicht gesagt.« Warum verdrehte er ihre Worte? »Sie hat die Zwillinge genauso geliebt wie Pierre.«

»Aber Sie sagten, dass sie viel mehr Zeit mit ihm verbracht habe. Ist das keine Bevorzugung?«

»Nicht unbedingt. Ich habe auch gesagt, dass die Mädchen aktiver waren als ihr kleiner Bruder. Vermutlich spürte Colette, dass sie sterben musste, und wollte Pierre so viele gute Erinnerungen wie möglich hinterlassen. Bei den Mädchen war es leichter, da sie schon älter waren, aber was Pierre anging, so wollte sie sichergehen. Selbst kurz vor ihrem Tod, als Colette manchmal gar nicht mehr ganz bei sich war, fand sie noch die Kraft, um vor dem Zubettgehen ins Kinderzimmer zu kommen.«

»Fragt Pierre auch nach ihr, wenn er wach ist?«

»Das muss er wahrscheinlich gar nicht, weil er ihre Gegenwart spürt und glücklich ist.«

Mit ruhigem Blick sah John auf den schlafenden Jungen hinunter, und Charmaine spürte, dass er in Gedanken ganz woanders war.

Lautes Lachen schreckte sie auf, als die Mädchen um die Wette zur Decke rannten. Yvette erreichte sie als Erste. Außer Atem warf sie John eine hübsch geformte Muschel in den Schoß. »Sieh nur!«

»Sehr hübsch.« Er nahm das Fundstück näher in Augenschein. »Wie weit musstet ihr gehen?«

»Oh, nicht sehr weit. Vielleicht ein paar Meilen.«

»Ein paar Meilen?«, fragte er und erntete nur ein Schulterzucken.

»Wenn du dir die Öffnung ans Ohr hältst, kannst du die Brandung hören«, warf Charmaine ein.

»Und warum soll ich das tun, da ich sie doch hier am Strand hören kann?«

John lachte leise. »Ihr wart so lange fort und habt nur eine einzige Muschel gefunden?«

Triumphierend grinste Yvette ihre Schwester an. »Habe ich dir nicht gesagt, dass er das fragen würde?« Sie zog einen verbeulten Kelch aus den Falten ihres Rocks hervor. »Das ist unser echter Schatz!« Voll Stolz reichte sie John das Fundstück. »Ist er nicht prächtig?«

»O ja.« John drehte den unansehnlichen Kelch in der Sonne hin und her, bis es hier und da blitzte. »Wo habt ihr ihn gefunden?«

»Drüben beim Riff. Er steckte im Sand. Zuerst habe ich nur ein Glitzern gesehen, und dann haben wir gegraben. Glaubst du, dass er wertvoll ist?«

»Wertvoll? Vielleicht ist es sogar der Heilige Gral!«

»Keine Blasphemie, bitte«, mahnte Charmaine.

»Blasphemie? Den Gral zu erwähnen ist doch keine Blasphemie!«

»Was ist der Gral?«, wollte Jeannette wissen.

Charmaine erklärte ihnen, dass man den Kelch, den Christus beim Abendmahl benutzt hat, so nennt. Dieser Kelch dagegen war sicher nicht der Gral.

»Ist er trotzdem wertvoll?«, drängte Yvette.

»Wir sollten ihn George zeigen«, schlug John vor und schmunzelte. »Er kennt sich mit religiösen Gegenständen genauso gut aus wie mit Geld. Der Kelch interessiert ihn bestimmt sehr.«

»Wo kommt er wohl her, Johnny?«, fragte Yvette.

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe eine Idee.«

»Und welche?«

»Vielleicht stammt er aus dem Wrack, das vor etwa fünfzehn Jahren das andere Überbleibsel namens Father Benito an Land gespült hat.«

»Davon hast du uns noch nie erzählt!«

»Das war auch nicht so wichtig! Wenn Paul und ich nur gewusst hätten, wen wir da aus der Brandung fischen, hätten wir ihn glatt ertrinken lassen. Als wir gehört haben, dass der Mann Priester ist, war es zu spät.«

Jeannette kam ihrer Schwester zuvor. »Habt ihr ihm das Leben gerettet?«

»Leider ja.«

Charmaine verkniff sich eine weitere Ermahnung, denn was hätte es genützt? »Was geschah mit den anderen?«

»Außer Father Benito gab es keine Überlebenden.«

Johns Blick schweifte in die Ferne, als ob er die Szene wieder vor sich sah. »Es war eine schreckliche Nacht, überall auf der Insel herrschte Nebel, und außerdem zog ein Sturm auf. Die Wellen gingen hoch. Die Küste selbst war nicht auszumachen und der Leuchtturm praktisch nutzlos. Das Schiff zerschellte am Riff. Vermutlich nahe der Stelle, wo Yvette den Pokal entdeckt hat. Die Leute aus der Stadt gaben Alarm und kamen zur Farm, um Sträflinge als Helfer zu erbitten. Vater schloss sich den Männern an und verbot uns, den Besitz zu verlassen. Aber George, Paul und ich wollten uns die Aufregung natürlich nicht entgehen lassen. Was wussten wir denn schon von Unglück und Tod? Wir schlichen heimlich davon und waren vor den anderen am Strand. George sah ihn als Erster, wie er leblos in der Brandung trieb, und sprang ins Wasser, bevor wir ihn zurückhalten konnten. Da man mir den Kopf abgerissen hätte, wenn George ertrunken wäre, sprang ich ihm nach. Zusammen zerrten wir den reglosen Körper aus dem Wasser und hatten nur Angst davor, eine Leiche zu bergen. Als der Mann stöhnte, merkten wir, dass er noch lebte. Am nächsten Tag hat die Brandung die übrigen Toten an Land gespült. Von dem Wrack dagegen wurde bisher kaum etwas gefunden.« Er besah sich den Pokal von Neuem und schüttelte den Kopf. »Unser Vater hat Benito die Stellung als Kaplan angeboten, und als er sich erholt hatte, schrieb er an seinen Bischof in Rom und erhielt die Erlaubnis, die schwarzen Seelen der Insulaner zu betreuen.«

»Hm!«, schnaubte Yvette. »Ihr hättet ihn ertrinken lassen sollen.«

»Aber Yvette!«, schimpfte Charmaine und wandte sich an John. »Da sehen Sie, wohin Ihr Hohn führt!«

»Ich sehe alles ein.« Er rieb sich die Stirn. »Wir wechseln besser das Thema.«

Yvette riss ihm den Pokal aus der Hand und legte ihn in den Picknickkorb, um ihn sicher zu verwahren. Father Benito würde sie ihn jedenfalls nicht überlassen – so viel stand fest. »Wenn er ihn fünfzehn Jahre lang nicht vermisst hat, gehört er jetzt mir.«

»Wir haben einen Jungen im Wasser gesehen«, berichtete Jeannette.

»Das stimmt.« Yvette nickte. »Als ich auch ins Wasser wollte, hat Jeannette gedroht, mich zu verpetzen.«

»Das war gut so«, erklärte Charmaine. »Anständige junge Ladys schwimmen nicht.«

»Aber es macht doch Spaß«, widersprach Yvette. »Es ist unfair, dass anständige Ladys überhaupt keinen Spaß haben dürfen!«

»Möchtest du denn schwimmen lernen, Yvette?«, fragte John.

»Ja! O ja!«

»Also gut. Dann ziehe Schuhe und Strümpfe aus und auch das Kleid. Die Unterwäsche kannst du anbehalten.«

»Meinst du das ernst?« Yvette wartete nicht lange und stand kurz darauf nur in Unterwäsche auf der Decke. »Na los, komm schon!«, rief sie ungeduldig und rannte los.

»Yvette!« Charmaine ging der Spaß zu weit. »Komm zurück, Yvette. Du ruinierst deine Sachen und …«

»Wen stört das? Wir sind doch reich. Außerdem habe ich jede Menge Unterwäsche im Schrank!« Sie stand schon bis zu den Knien in der Brandung und quietschte, als die Wellen um ihre Beine schwappten. Sie ging noch einen Schritt weiter, woraufhin Charmaine unruhig wurde und aufstehen wollte.

Aber John hielt sie auf. »Lassen Sie sie«, mahnte er leise.

Charmaine hob den Kopf und riss die Augen auf. John war bereits aus dem Hemd geschlüpft und zog gerade die Stiefel aus. »Ist das Ihr Ernst?«

»Aber ja. Yvette geschieht nichts. Sie weiß genau, wie weit sie gehen kann.«

Er warf die Stiefel auf die Seite der Decke, gefolgt von Socken und Gürtel. Zu Charmaines Entsetzen nestelte er bereits an der Hose, als ob er sich direkt vor ihr ausziehen wollte. »Sir!«, stöhnte sie nur und wandte den Blick ab.

Er ließ ein diabolisches Lachen hören. »Na los, Charmaine, trauen Sie sich und sehen Sie her. Eigentlich möchten Sie das doch.«

»Von wegen!« Sie sah zu Jeannette hinüber, die ihren großen Bruder anstarrte und grinste. Sie zog das Mädchen neben sich und glaubte, vor Scham zu sterben. »Das werde ich Ihnen nie verzeihen!«

»Was denn, um Himmels willen?« Er trat vor sie hin und lachte, als sie die Hände vors Gesicht schlug. »Solche Schamhaftigkeit! Was machen Sie nur, wenn Sie eines Tages verheiratet sind?«

»Ziehen Sie Ihre Hose wieder an!«, flehte sie.

John hockte sich hin und zog ihr die Hände von den Augen. »Ich habe sie doch an!«

Ungläubig riss sie die Augen auf und sah eine kurze Hose, wie sie die Feldarbeiter trugen. »Vermutlich sind Sie jetzt stolz, dass Sie mich hereingelegt haben!«, schimpfte sie.

»Möglich, aber geplant war das nicht. Auch das haben Sie sich selbst zuzuschreiben, my charm. Sie haben das Schlimmste angenommen, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte. Halten Sie mich tatsächlich für so rüde, dass ich mich vor meinen Schwestern ausziehe?«

»Natürlich haben Sie das geplant, sonst hätten Sie diese … diese Hose nicht unter der anderen angezogen!«

»Ich habe sie angezogen, das stimmt, aber nicht, um Sie in Verlegenheit zu bringen. Ich wollte gern schwimmen gehen. Deshalb habe ich auch diesen Ort für das Picknick ausgesucht.«

Dem musste sich Charmaine geschlagen geben.

»Was ist mit dir, Jeannie?«, fragte John. »Möchtest du auch schwimmen lernen?«

»Ich weiß nicht recht«, sagte sie unsicher, um ihrer Gouvernante keine neuen Unannehmlichkeiten zu bereiten. Doch als Charmaine sie ermunterte, war sie sofort bei der Sache.

»Es ist schön warm!«, rief Yvette, der das Wasser inzwischen bis zu den Hüften reichte. »Ich kann Hunderte von Fischen sehen!«

Jeannette rannte zum Wasser hinunter, doch als die erste Welle über ihre Füße spülte, quietschte sie laut und lief wieder aufs Trockene. Dann hob sie die Arme über den Kopf und watete bis zu ihrer Schwester. John folgte ihr, und zusammen wagten sie sich noch weiter vor, bis den Mädchen das Wasser bis zu den Schultern reichte. In einer wahren Schlacht bespritzten sie sich gegenseitig, und als Yvette sah, dass Johns Haare noch immer trocken waren, stiftete sie Jeannette an: »Komm, wir tauchen ihn unter.« Aber John hechtete in die nächste Welle und kam ein Stück weiter wieder zum Vorschein. »Dir zeige ich es!«, rief Yvette, und schon war die nächste Wasserschlacht im Gange.

»Pass auf, Yvette, sonst tauche ich dich unter!«

»Ich fürchte mich nicht!«, rief sie und spritzte umso mehr. Als er zu ihr tauchte, wich sie ihm aus und lachte triumphierend. Doch er ließ nicht locker, bis sie sich gegen die starke Unterströmung auf den Strand retten musste. »Fang mich doch!«, rief sie übermütig. Aber John achtete nicht auf sie, sondern watete zu Jeannette hinüber. Es dauerte nicht lange, bis sich auch Yvette wieder zu ihnen gesellte.

Als zweiten Schritt führte John die Mädchen über die Brandung hinaus und hüpfte mit ihnen durch die anrollenden Wellen. Die Mädchen klammerten sich an ihn und quietschten, sobald eine Welle sie emportrug und sie in das Tal vor der nächsten hinabglitten. Sie schwammen zwar nicht wirklich, aber das Gefühl war dasselbe.

Als Pierre erwachte, war er hungrig und aß mit großem Appetit. Mit leuchtenden Augen sah er aufs Meer hinaus. Er deutete auf seine Geschwister. »Schau, Mainie.«

»Deine Schwestern lernen schwimmen.«

»Ich auch!« Er zog Schuhe und Strümpfe aus und rannte so schnell zum Wasser, wie seine Beinchen ihn trugen. Ebenso schnell jagten ihn die Ausläufer der ersten Welle wieder auf den Sand zurück. Auf der Linie zwischen feuchtem und trockenem Sand blieb er stehen und starrte aufgeregt zu seinen Geschwistern hinaus.

Yvette spritzte John Wasser ins Gesicht, weil sie sicher war, dass er sie nicht untertauchen würde. Charmaine musste lachen, als John sich der Angriffe kaum erwehren konnte und Wasser spuckte. Begeistert erwiderte sie Jeannettes Winken, als diese sie neben Pierre am Strand entdeckt hatte.

Als die Mädchen allmählich müde wurden, begann John mit der ersten Lektion. Yvette lernte die Bewegungen rasch, aber Jeannette war weniger begeistert und klammerte sich immer wieder an ihren Bruder. Es war ein unvergesslicher Anblick, als die drei schließlich umkehrten und mit nassen Haaren und durchweichten Sachen dem Strand zustrebten.

»Mademoiselle Charmaine, Sie hätten mitkommen sollen«, rief Jeannette schon von weitem. »Es war so schön!«

»Und ganz einfach!«, ergänzte Yvette.

»Das habe ich gesehen.« Ihr Blick wanderte zu John, der sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht strich.

»Yvette, ich glaube, du hast etwas vergessen!«, rief er und deutete zum Horizont.

Yvette kniff die Augen zusammen und starrte aufs Wasser hinaus. Im selben Augenblick packte John zu, zog sie in die Wellen zurück und tauchte sie unter. Prustend kam sie wieder hoch. Ihre blitzenden Augen erstickten das schadenfrohe Gelächter ihrer Schwester im Keim. Dafür lachte John umso lauter. »Das ist überhaupt nicht lustig!«, fauchte sie.

»Aber gerecht. Beim nächsten Mal spritzt du mir nicht mehr ständig Wasser ins Gesicht.«

»Aus deinem Mund klingt das wie eine Todsünde!«

»Ist das wahr? Dann sei sie dir vergeben.« Er hob die Hände zum Himmel empor. »Ich bereue und sündige nie wieder!«

»Wer, glaubst du, dass du bist – vielleicht Johannes der Täufer?« Damit machte sie kehrt und stapfte aus dem Wasser.

Charmaine sah zu John. Offenbar hatte er seinen Meister gefunden. Auf diese altklugen Reden fiel ihm nichts mehr ein. Lachend schüttelte er den Kopf. Doch als er ihrem Blick begegnete und zielstrebig auf den Strand zusteuerte, wandte sie rasch den Blick ab und sah zu Pierre hinunter, der mit den Fingern im nassen Sand malte. Sie nahm den Jungen auf den Arm und hielt den kleinen Körper wie eine Art Schild vor sich, als sie John gegenübertrat.

Er lächelte auf den Kleinen hinunter. »Was hast du denn da in der Hand? Etwa einen Schatz?« Pierre kicherte und schüttelte den Kopf. »Darf ich es sehen?« Er klopfte auf die kleine Hand.

Aber Pierre zog seine Faust weg, fuhr damit über Charmaines Gesicht und öffnete die Hand erst in ihrem Haar.

»Holen Sie es heraus!« Der schrille Schrei entlockte Pierre einen Lachanfall. Hastig setzte Charmaine den Jungen ab, und schon flogen ihre Hände zu ihren Haaren und suchten wie verrückt nach einem winzigen Etwas, das zurückwich, sobald sie es berührte. Sie zerrte an ihren Locken und stellte sich vor, dass ein Netz über ihrem Haar gewoben wurde. »Holen Sie es heraus! Bitte!«

Alle drehten sich um. »Was ist los?«, fragte Yvette.

»Miss Ryan hat einen kleinen Freund gefunden, der sich in ihrem Haar einnisten möchte.«

»Sie sind wahrlich keine Hilfe!«

»Ich dachte, ich darf Sie nicht berühren. Oder haben Sie Ihre Meinung inzwischen geändert?«

»Holen Sie es endlich heraus!«

»Na gut.« Er schmunzelte. »Mit Ihrer Erlaubnis sehe ich nach, wohin sich unser kleiner Freund geflüchtet hat …«

Ihr Blick glitt über die angespannten Muskeln seines Arms, und ihr Magen vibrierte, als er eine Hand gegen ihre Stirn legte und mit den Fingern durch ihre Locken glitt. Die Schmetterlinge spielten verrückt, als sein Daumen ihre Wange berührte. »Nein, weiter hinten!«, rief sie. Gleichzeitig suchte sie den quälenden Berührungen zu entkommen und konnte ihm nicht in die Augen sehen. John trat hinter sie und arbeitete sich gründlich von Strähne zu Strähne durch die zerzausten Locken.

»Da!«, rief Yvette. »Sieh nur, das Haar bewegt sich!«

Charmaine stöhnte auf, doch im nächsten Moment war die Qual vorüber. Die Zwillinge quietschten und machten einen Satz nach hinten, als der unerwünschte Eindringling auf den Sand plumpste und blitzschnell in der rettenden Brandung verschwand.

»Nur eine winzige Sandkrabbe.« John zuckte die Schultern. »Nichts, vor dem man sich fürchten muss.«

»Ich habe mich nicht gefürchtet«, widersprach Yvette.

»Nein? Warum bist du dann so hoch gehüpft?«

»Sicherheitshalber.«

»Miss Ryan ist jetzt ebenfalls in Sicherheit. Befreit von einem schwarzen Monster …« Mit einem Grinsen nahm er den Jungen auf den Arm. »Das war aber kein netter Streich«, sagte er mit sanftem Tadel.

Pierre kicherte.

»Willst du dich nicht entschuldigen?«, schlug John vor.

»Nein, das war doch lustig.«

»Wenn du dich nicht entschuldigst, muss ich dich aber bestrafen.«

Charmaine erstarrte. John trug den Jungen zur Decke zurück und setzte ihn dort ab. Das konnte unmöglich sein Ernst sein! Dabei sah er gar nicht wütend aus. Rasch lief sie den beiden nach.

Yvette drohte Pierre mit dem Finger. »Du hättest dich lieber entschuldigen sollen, solange noch Zeit war. Jetzt ist es zu spät.« Sie grinste, als ob sie sich bereits an seinen Qualen weidete. »Wie willst du ihn bestrafen?«

»Wie üblich.«

Charmaine begann zu zittern, als John sich zu Pierre hinunterbeugte, und sie war entsetzt, als Pierre lachend seine Hand beiseiteschlug.

»Du … suchst also Streit!«, stellte John finster fest und packte sein Opfer. Eine leichte Beute.

»Nein!«

Charmaines Aufschrei wurde von Johns »Habe ich dich endlich!« übertönt.

Er setzte sich auf die Decke, klemmte sich den Jungen zwischen die Beine und kitzelte ihn, bis sich der kleine Körper wand und drehte und sich Pierres Lachen zu schrillem Quietschen steigerte. Kaum dass er eine Stelle seines Körpers schützte, entblößte er eine andere. »Hör auf!« und »Mehr!« schrie der Kleine abwechselnd, bis er völlig außer Atem war. Endlich gelang es ihm, sich unter den Beinen herauszuwinden und in Sicherheit zu bringen. Aber John war viel zu erschöpft, um ihm zu folgen.

»Ich will auch bestraft werden!«, rief Jeannette.

»Ich bestrafe nur, wer Miss Ryan beleidigt hat.«

»Dann müssen wir Johnny kitzeln! Er beleidigt Miss Ryan ja andauernd«, schlug Yvette vor.

Schon fielen die beiden Mädchen über Johnny her, doch der wehrte sich tapfer, indem er die beiden Quälgeister abwechselnd kitzelte. Als Pierre sich wieder ins Getümmel stürzen wollte, konnte er keine Lücke entdecken. Also griff er sich zwei Hände voll Sand und streute sie John von hinten auf den Kopf. Als er die nächste Ladung holen wollte, sprang John auf. »Guter Gott im Himmel!« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Mein Kopf fühlt sich ja an wie ein Ameisenhaufen.«

Charmaine musste lachen.

John fuhr herum. »Und Sie finden das wohl lustig?«

»Als ich die Krabbe im Haar hatte, haben Sie auch gelacht.«

»Das stimmt, aber ich habe immerhin versucht, dass er sich bei Ihnen entschuldigt. Welche Ausrede haben Sie, dass Sie nicht eingegriffen haben?«

Sie lächelte schelmisch. »Keine. Ich denke, dass Sie genau das bekommen haben, was Sie verdienen.«

»Eine größere Beleidigung habe ich noch nie gehört. Was meint ihr, Kinder? Ich finde, dass Miss Ryan auch eine Strafe verdient hat.«

»O nein!«, protestierte Yvette. »Das macht dir doch nur Spaß!«

Charmaine errötete, was zum Glück niemand bemerkte, da John seine Schwester erstaunt ansah. »Es macht mir Spaß? Woher weißt du das?«

»Aus Erfahrung.«

John war sprachlos. »Erfahrung? Mit wem? Etwa Joseph?«

»Nein, nicht mit Joseph. Ich habe doch Augen und Ohren, und ich weiß genau, wann was passiert.«

»Hast du wirklich etwas gesehen oder gehört?«

»Ja.«

»Und wann?«

»Als wir allein in unserem Zimmer waren. Ungefähr vor einem Jahr. In der Woche, bevor Mademoiselle Charmaine zu uns kam.«

»Und was genau ist damals passiert?«

»Mama hatte uns gerade verlassen. Sie hatte wieder eine Verabredung mit Dr. Blackford. Er kam damals zu uns ins Haus … mindestens ein Mal in der Woche. Wenn er ging, fühlte Mama sich immer schlechter. Angeblich half seine Medizin, aber ich glaubte das nicht. Ich wusste, dass Mama uns nicht die Wahrheit sagte. Also wollte ich es genau wissen. Jeannette sollte allen sagen, dass ich auf der Toilette sei. In der Zeit bin in die Küche gerannt und habe ein Glas aus dem Schrank geholt, mit dem man gut lauschen konnte. Dann habe ich …«

»Was redest du da?«, fiel John ihr ins Wort.

»Lass mich doch ausreden!«, schimpfte sie. »Im Korridor war das Lauschen zu gefährlich, weil Auntie Agatha überall herumschnüffelte. Ich suchte mir also Pauls Schlafzimmer aus, weil es genau an Mamas Ankleidezimmer grenzt. Außerdem kommt er immer erst am Nachmittag nach Hause. Aber das war ein Irrtum. Paul war in seinem Zimmer, und Felicia war bei ihm! Nur im Hemd! Ich war so überrascht, dass ich einfach dastand und zugeschaut habe. Felicia hat gelacht, weil Paul sie überall gekitzelt hat. Und dann hat er sie umarmt und wie ein Vampir in den Hals gebissen.«

Charmaine war entsetzt und ahnte dunkel, dass John sich an ihren brennenden Wangen weidete.

»Oh, das war abscheulich!«, fuhr Yvette fort. »Und das habe ich auch gesagt. Besser hätte ich mich davonschleichen oder mich verstecken und von dort zusehen sollen. Aber das ist mir erst später eingefallen.«

John lachte laut, als er sich das entsetzte Gesicht seines Bruders ausmalte, wie er mitten im Liebestaumel erwischt wurde und seine Gier geweckt, aber noch nicht gestillt war.

Yvette war überzeugt, dass er über sie lachte. »Was ist denn?«

»Nichts, Yvette, gar nichts«, erwiderte John. »Erzähle einfach weiter. Ich bin auf Pauls Ausrede gespannt.« Leise kichernd schüttelte er den Kopf, als er sich den Wutanfall seines Bruders ausmalte.

»Dass er wütend wurde, ist ja klar, aber so wütend war er noch nie! Zuerst hat er mich ein paar Mal im Zimmer herumgejagt …«

»Bitte keine Ausschmückungen, Yvette. Erzähle nur einfach, was passiert ist.«

»Also gut. Er hat geflucht … alles Wörter, die ich noch nie gehört habe. Nicht einmal im Hafen. Ich habe versucht, sie mir zu merken, aber bei manchen wusste nicht einmal Joseph, was sie bedeuten. Egal. Mir war klar, dass ich abhauen musste, wenn mir mein Leben lieb war. Als Paul nach seinem Hemd griff, sauste ich aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Aber bevor ich mich verstecken konnte, hatte er mich schon eingeholt. War ich froh, als Auntie Agatha mit einem Tablett ins Foyer trat! Ich bin hinter ihr in Deckung gegangen, sodass Paul wohl oder übel aufgeben musste.«

»Und wieso?«

»Ich bin doch nicht dumm! Er wollte nicht, dass sie etwas erfuhr. Niemand sollte davon erfahren. Stattdessen erzählte er Auntie, dass ich einen kleinen Schaden in seinem Zimmer angerichtet hätte und er mich ins Kinderzimmer zurückbringen wolle. Als wir allein waren, hat er mich geschüttelt und mir verboten, auch nur einer Menschenseele davon zu erzählen. Er hat sogar gedroht, mir den Hintern zu versohlen. Ich habe ihn nur böse angesehen und nichts versprochen. Was kann er mir schon tun? Auch wenn ich es dir erzählt habe, kann er mir eigentlich nichts tun.«

»Unglaublich«, murmelte John und lachte noch immer. »Du hast wahrlich den Bogen raus, wie man undenkbare Sachen aufdeckt. Deine Geschichte kommt genau zur richtigen Zeit.«

»Und warum?«

»Miss Ryan und ich haben uns auf dem Weg hierher über etwas Ähnliches unterhalten, nicht wahr, my charm? Einen besseren Beweis gibt es wohl nicht.«

»Was soll das heißen?«, fragte Yvette.

»Vergiss es, mein Schatz. Was hätte ich dafür gegeben, Pauls Gesicht zu sehen!«

»Ich kann es ja noch einmal machen, und du wartest vor der Tür. Wie viel bekomme ich dafür?«

»Ich fürchte, ich muss das Angebot ablehnen.«

»Ich mache es auch billiger, wenn du mir die Bedeutung der Flüche verrätst.«

Er ging um die Decke herum und hob seine Sachen auf. »Auch dann nicht, liebe Schwester. Dein Wortschatz ist auch so schon umfangreich genug.«

»Du hast ja nur Angst, dass du die Wörter nicht kennst!«

»Vermutlich ist das so«, erwiderte John. »Ich hoffe, das war wenigstens das letzte Mal.«

»Nicht ganz. Beim nächsten Mal habe ich es von der Hintertreppe aus gemacht, die genau an Mamas Schlafzimmer vorbeiführt. Aber Dr. Blackford hat nichts Interessantes gesagt, also habe ich es nicht noch einmal versucht.«

Charmaine war ehrlich empört. »In der nächsten Zeit werde ich ein besonderes Auge auf dich haben, kleine Lady.«

Yvette sah sie von der Seite her an, während John nur schmunzelte.

Ohne ihn zu beachten, forderte Charmaine die Mädchen auf, die nassen Sachen auszuziehen. Yvette protestierte und wollte noch einmal ins Wasser, aber John schlug ihr die Bitte ab, weil die Wellen größer geworden waren und sich womöglich ein Sturm zusammenbraute. Die zweite Lektion musste bis zum nächsten Ausflug warten.

Charmaine beugte sich zu Pierre hinunter, der schon seit geraumer Zeit an ihrem Rockzipfel zerrte.

»Ich muss Pipi!«

Sie hatte überhaupt nicht daran gedacht, ihn zu fragen, und merkte erst jetzt, dass es auch sie nach Erleichterung verlangte. Doch bevor sie mit Pierre hinter den Büschen verschwinden konnte, nahm John den Jungen bei der Hand. »Lassen Sie mich das machen.«

»Aber nein, er muss doch nur verschwinden …«

»Genau wie ich. Also lassen Sie mich das machen.«

Da auch ihr damit geholfen war, war sie einverstanden, und gleich darauf verschwanden die beiden im Wald.

Die Mädchen zerrten sich die nasse Unterwäsche vom Leib und kicherten unentwegt, weil sie kaum etwas unter ihren Kleidern anhatten. Charmaine schlich sich für kurze Zeit davon, und als sie zurückkam, waren die Mädchen damit beschäftigt, ihre nassen Haarsträhnen zu entwirren.

John kam angekleidet zurück, und Pierre thronte auf seinen Schultern. Der Kleine lachte hemmungslos, als John ein Stück rannte und er auf und ab hopste. »Weißt du, was, Mainie? John hat einen echt großen …«

Seine Hand legte sich auf die kleinen Lippen und erstickte den Rest des Satzes. Erstaunt sah Charmaine, wie John errötete. Als sie endlich begriff, hätte sie beinahe laut gelacht. Sie hatte John Duvoisin noch nie verlegen erlebt. Doch als er den Kleinen von den Schultern hob und ihm »Das solltest du doch nicht sagen« ins Ohr flüsterte, wandte sie sich ab.

Die nächste halbe Stunde verbrachte Pierre am Strand und quietschte vor Vergnügen, wenn der salzige Schaum über seine Füße schwappte. Auch Charmaine streifte Schuhe und Strümpfe ab und genoss das kühle Nass, das um ihre Knöchel spülte. Als ob es die schmerzliche Vergangenheit wegwaschen wollte. Deutlich spürte sie die Gegenwart ihrer Mutter, doch statt Kummer empfand sie tiefe Zufriedenheit. Als sie noch klein war, hatten sie und ihre Mutter einmal eine alte Lady besucht, die nahe am Ozean lebte. Damals hatten sie viele Stunden am Strand verbracht und sich von ihrem schweren Schicksal erholt.

Irgendwann sah Charmaine zum azurblauen Himmel empor, wo sich im Südwesten dunkle Wolken sammelten. Schwerelos segelte eine Möwe mit ausgebreiteten Schwingen hoch über den Himmel, bis sie bei einem Windstoß mit lautem Kreischen auf die Wellen niederstieß. Kurz vor dem Eintauchen hob der nächste Windstoß den Vogel erneut in die Höhe, und nach heftigem Flügelschlagen segelte er auf den Ozean hinaus. Dem Verderben so nahe, haarscharf am Tod vorbei.

Tod. Wieder dachte Charmaine an ihre Mutter, an die trostlosen Tage, als sie ohnmächtig dagelegen hatte, bevor sie gestorben war. Tod. Sie dachte an Colette, an die Tage voller Angst, als alle gebetet und auf ein Wunder gehofft hatten. Tod. Ob die Möwe nur eine Warnung gewesen war und ihr Leben jederzeit wieder in Gefahr geraten konnte?

Johns Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Charmaine? Sie waren aber weit weg. Womöglich sogar in Richmond?«

Sie nickte nur stumm.

»Die Vergangenheit hinter sich zu lassen ist nicht leicht.« Seltsam, wie er ihre Gedanken las und ihre Unsicherheit durchschaute. Er hielt Pierre in seinen Armen, und dieses Bild gefiel ihr. Diesmal war die Gegenwart ihrer Mutter noch deutlicher und verscheuchte ihre Ängste.

Als Charmaine sich umsah, konnte sie die Zwillinge nirgends entdecken. »Wo sind die Mädchen?«

»Im Wald. Sie haben versprochen, dass sie gleich wieder da sind.«

»Im Wald? Guter Gott! Und die Klapperschlangen?«

»Schlangen? Du lieber Himmel, wie konnte ich das nur vergessen!« Er schlug sich gegen die Brust und sah besorgt drein, legte aber trotzdem keine Eile an den Tag.

Wütend lief Charmaine davon, aber John rannte ihr nach und hielt sie am Arm fest.

»Wie können Sie da nur lachen!«

»Charmaine, hier gibt es keine Schlangen«, sagte er, als sie sich losreißen wollte.

Sie erstarrte. »Wie bitte?«

Aber John ließ ihre Hand nicht los. »Es gibt hier weder Schlangen noch wilde Tiere. Ich habe mir das nur ausgedacht, damit Sie wieder aufs Pferd steigen.«

»Sie haben mich angelogen? Ich kann nicht glauben, dass Sie zu so etwas fähig sind!«

Er lachte leise. »Ach, meine liebe Charmaine, Sie haben ja keine Ahnung, was ich schon alles gemacht habe. Um Sie wieder in den Sattel zu bringen, hätte ich auch noch ganz andere Lügen aufgetischt.«

»Oh, Sie brutaler, Sie hinterhältiger …«

Ein Donnerschlag ließ John ernst werden. Besorgt sah er zum Himmel empor, während Charmaine weiter wütete. Erst der nächste Donnerschlag ließ auch sie verstummen. Der Himmel war gefährlich schwarz geworden.

»Packen Sie das Picknick zusammen«, befahl er. »Ich hole die Pferde. Der Sturm kommt schnell näher. Vor einer halben Stunde war der Himmel noch klar.«

»Und die Mädchen?«

»Die haben den Donner auch gehört«, rief er über die Schulter zurück. »Sie werden in Kürze hier sein.«

»Aber Yvette fürchtet sich doch vor gar nichts.«

»Ich wette jede Summe, dass sie schneller hier ist als Jeannette.«

Charmaine eilte zu Pierre, der noch immer im Sand spielte. Sie säuberte ihn, trug ihn zur Decke und zog ihm Schuhe und Strümpfe an. Nachdem auch sie wieder in Schuhe und Strümpfe geschlüpft war, räumte sie die Reste des Picknicks zusammen.

Gerade als die Mädchen angerannt kamen, erschütterte der nächste Donner die schwüle Luft. Ängstlich sah Yvette zum Himmel empor. »Das Unwetter wird sicher schlimm«, flüsterte sie.

Auf dem Rückweg durch den Wald war es rund um sie herum bedrohlich still, und nicht ein Blatt rührte sich. Als sie die Straße erreichten, zog am südöstlichen Himmel eine tintenschwarze Wolkenwand empor. Wind kam auf, wurde ständig stärker und zauste ihre Haare und die Mähnen der Pferde. Das Tageslicht war längst einer gespenstischen Dämmerung gewichen. Als es blitzte und ein naher Donnerschlag die Luft erzittern ließ, schrien die Mädchen auf. Die Pferde wurden unruhig und zuckten mit den Ohren. Gegen den Wind musste Pierre die Lider zusammenkneifen. Ängstlich sah Charmaine zu John hinüber, der sich besorgt umblickte und die Wolkenwand nicht aus den Augen ließ. Sein Kopfschütteln steigerte ihre Ängste noch.

In halsbrecherischem Tempo näherten sich ihnen zwei Reiter, und nur Sekunden später zügelten Paul und George ihre Pferde. Ohne Charmaine und ihre zerzausten Haare auch nur eines Blickes zu würdigen, beugte sich Paul zu John hinüber. »Bin ich froh, dass ihr schon auf dem Rückweg seid. Offenbar erwarten wir einen Hurrikan, und zwar einen von der üblen Sorte, wenn du mich fragst.«

»Ich bin gerade erst aus der Stadt zurückgekommen«, berichtete George. »Die Raven hat vor kaum zwei Stunden festgemacht. Jonah Wilkinson ist in halsbrecherischem Tempo vor dem Sturm hergesegelt. Wir hatten alle Mühe, das Schiff zu vertäuen. Das Meer ist sehr aufgewühlt.«

»George ist auf dem Weg zur Mühle, und ich will in die Stadt, um die anderen Boote und den Kai zu sichern. Kannst du mir helfen?«

»Was geschieht mit dem Haus?«

»Travis und Gerald kümmern sich darum. Ich brauche deine Hilfe nötiger als sie.«

»In Ordnung«, erwiderte John.

Wieder blitzte es grell, und die Pferde wieherten und scharrten mit den Hufen. Als es gleich darauf donnerte, schüttelten sie ihre Köpfe und begannen zu tänzeln.

»Und was soll aus den Kindern und mir werden?«, rief Charmaine.

»Sie reiten unverzüglich zum Haus zurück«, befahl Paul.

»Folgen Sie einfach der Straße«, ergänzte John mit sanfter Stimme.

»Was, wenn die Pferde in Panik geraten?«

John sah die Furcht in ihren Augen und wandte sich an George. »Könntest du sie nach Hause begleiten, bevor du zur Mühle reitest? Dann kann ich Paul helfen.«

George nickte wortlos und übernahm den kleinen Pierre. Dann trennten sich ihre Wege: Paul und John galoppierten zum Hafen, und George ritt zusammen mit den Kindern und der Gouvernante zum Herrenhaus.

Sie erreichten die Vorhalle keinen Augenblick zu früh. Erste Böen peitschten kleine Steinchen und Zweige durch die Luft, und selbst die Äste der mächtigen Eiche beugten sich den Naturgewalten. Am anderen Ende der Säulenhalle nagelten zwei Stallknechte die Fensterläden zu.

Travis Thornfield stand im Foyer. Seine sonst so stoische Miene spiegelte seine tiefe Sorge wider. »Sechs Männer sind damit beschäftigt, überall im Haus die Fenster zu sichern. Wenn sie fertig sind, kann der Himmel die Schleusen öffnen. Wir sind auf alles vorbereitet.«

George nickte. »Bestens.«

»Ist das wirklich ein Hurrikan?«, fragte Yvette mit großen, aber furchtlosen Augen.

»Wenn die Anzeichen nicht trügen, dann ja«, bestätigte George.

Yvette schien dem Ereignis förmlich entgegenzufiebern. »Das wird eine ziemlich unruhige Nacht, und Cookie wird uns wieder ihre abergläubischen Geschichten erzählen.« Dann zählte sie die Schäden auf, die es während des letzten Hurrikans im Jahr vor Charmaines Ankunft gegeben hatte.

»Sind diese Stürme wirklich so zerstörerisch?«, fragte Charmaine beunruhigt. »Verletzte wird es doch wohl nicht geben, oder?«

»Ein Hurrikan kann sehr zerstörerisch sein«, erklärte George. »Aber das muss nicht so kommen. Wir können nichts weiter tun, als warten und beten, dass uns der Sturm nicht direkt trifft.«

»Aber Paul … und John … sind doch immer noch draußen!«

»Bevor es richtig schlimm wird, bleibt noch genug Zeit, um die Hafenanlagen und die Schiffe zu sichern. John und Paul sind schließlich mit diesen Problemen aufgewachsen. Jetzt muss ich aber los und mich um die Mühle kümmern. Ich komme zurück, so schnell ich kann.«

Trotz der beruhigenden Worte war Charmaine zutiefst beunruhigt. Da war Ablenkung das richtige Mittel. Sie brachte die Kinder nach oben, damit sie baden und frische Sachen anziehen konnten. In ihrem Schlafzimmer war es so dunkel, dass sie die Lampen anzünden musste.

Pierre war als Erster an der Reihe. Nervös klammerte sich der Kleine an sie, sobald es donnerte oder der Wind ums Haus heulte. »Was hat dir bei unserem Picknick eigentlich am besten gefallen?«, fragte sie munter, um ihn ein wenig abzulenken.

»Mit Johnny zu reiten.« Als sie ihm die Kleider auszog, sah er an sich hinunter. Dann hob er den Kopf und strahlte seine Gouvernante an. Sie lächelte zurück. Offenbar war ihr Plan erfolgreich. »Jetzt weiß ich es. Das heißt Penis, Mainie.« Er deutete auf sein Geschlechtsteil, woraufhin Charmaines Lächeln erstarb.

»Was hat Pierre gesagt?«, fragte Yvette.

»Nichts«, beschwichtigte Charmaine. »Er hat nichts gesagt.«

Rasch wandte sie sich wieder an den Jungen. »Das Wort ist privat, Pierre. Das darf man nicht sagen.«

»Warum?«

»Es gehört sich nicht, darüber zu sprechen. Hast du das verstanden?«

»Was hat er denn gesagt?«, fragte Yvette noch einmal.

»Er wird es nicht wiederholen, nicht wahr, Pierre?«

Gehorsam schüttelte der Junge den Kopf. »Nein.« Damit war der Fall erledigt.

Die Mädchen hatten gerade ihr Bad beendet und kämmten sich die nassen Haare, als Travis Thornfield an der Tür klopfte. »Der Vater möchte seine Kinder sehen«, richtete er aus.

Charmaine wurde blass, aber Jeannette lächelte sie an. »Papa hat vielleicht ein Geschenk für uns.« Aber Charmaine war sich dessen nicht so sicher. Sie schämte sich, dass sie keinen Gedanken an den Vater verschwendet hatte, als sie die Kinder zu dem Picknick entführt hatte. Im letzten Jahr hatte er sich extra Zeit für die Kinder genommen. Letztes Jahr. Wenn sie an letztes Jahr dachte, war ihr nicht wohl zumute. Aber das war keine Entschuldigung, die Kinder heute nicht zu ihm zu bringen. Ob er böse war, dass sie den Tag mit ihrem großen Bruder verbracht hatten? Dass ihre Gouvernante dem Ausflug zugestimmt hatte?

Ein paar Minuten später waren sie alle in Frederic Duvoisins Ankleidezimmer versammelt. Zu Charmaines Kummer erzählten die Mädchen sofort von dem aufregendsten Geburtstag, den sie jemals erlebt hatten. »Wir haben sogar schwimmen gelernt!«, schloss Yvette.

Frederic nickte. »Also war es ein schöner Tag?«

»Es war lustig«, sagte Pierre, der auf Frederics Schoß saß. »Ich durfte auf Johnnys Pferd reiten!«

Frederic lächelte seinen Sohn an. Charmaine atmete erleichtert auf. Ein gutes Zeichen. Offenbar war er ihr nicht böse. »Hattest du denn keine Angst?«

»Aber nein. Johnny hat mich doch festgehalten. Ich liebe Johnny, Papa.« Zur Bekräftigung schlang der Junge die Ärmchen um seinen Vater. »Ich bin froh, dass Johnny wieder zu Hause ist.«

Melancholisch richtete Frederic den Blick in die Ferne.

»Die Ponys sind das beste Geschenk, das wir jemals bekommen haben!«, sagte Yvette mitten in seine Gedanken hinein.

»Das kann ich mir denken«, erwiderte ihr Vater. »Ich habe zwar auch ein Geschenk für euch, aber ich fürchte, dass es mit den Ponys nicht mithalten kann.«

»Was ist es denn?«, fragte Jeannette neugierig.

»Wenn ihr dort drüben in den Korb schaut, könnt ihr es sehen.«

Das ließen sich die Mädchen nicht zweimal sagen. Sie rannten in die Ecke und stürzten sich auf die kleinen Fellknäuel. Pierre rutschte vom Schoß seines Vaters herunter und lief begeistert hinter den Mädchen her. Im nächsten Moment wurden die Kätzchen aus dem Korb gehoben. »Sieh nur, Pierre, ein Kätzchen«, sagte Jeannette und setzte ihres auf den Boden.

Pierre streichelte über das Fell. »Es ist so weich!«, rief er.

Als das Tier schnurrte, riss er verwundert die Augen auf. »Was ist das?«

»Schnurren heißt«, erklärte seine Schwester, »dass das Kätzchen dich mag. Setz dich auf den Boden, dann darfst du es ein bisschen halten.«

Pierre gehorchte, und Jeannette legte ihm ihr Kätzchen auf den Schoß. Kichernd sah der Junge zu, wie sich das orangefarbene Tier mehrmals um sich selbst drehte, bevor es von seinem Schoß sprang. Im nächsten Moment jagten die beiden Fellknäuel durch den Raum, fielen übereinander her und spielten miteinander. Die Kinder hatten großen Spaß und lachten, und der Sturm war rasch vergessen.

Yvette schlang den Arm um ihren Vater. »Du hast recht, Papa. Die Kätzchen sind zwar nicht so schön wie die Ponys, aber sie sind viel besser als die Puppen, die du uns letztes Jahr geschenkt hast.«

Frederic drückte sie an sich. »Du bist ein wunderbares Mädchen, Yvette.«

Danach war Jeannette an der Reihe. »Ich mag die kleinen Katzen genauso gern wie die Ponys.« Sie gab Frederic einen Kuss. »Vielen Dank, Papa.«

Pierre beobachtete gebannt, wie die Kätzchen sich versteckten, und kicherte, wenn sie plötzlich hinter einem Stuhl hervorsprangen und weiter herumtobten.

Als sie ins Kinderzimmer zurückkehrten, schliefen die Kätzchen tief und fest in ihrem Korb. Doch Pierre nahm von alledem nicht mehr viel wahr. Charmaine hatte ihn kaum auf sein Bett gesetzt, als ihm auch schon die Augen zufielen und er trotz des Hurrikans einschlief.

Als Pierre schlief, wollten die Mädchen die Schatzsuche fortsetzen, und Charmaine war einverstanden, zumal sie sich eine Tasse Tee holen wollte.

Als sie das Foyer durchquerten, stürmte George völlig durchnässt ins Haus. »Die Mühle ist gesichert«, sagte er und schauderte. »Und wie geht es Ihnen?«

»Ich bin nur froh, dass ich nicht nach draußen muss«, erwiderte Charmaine. »Ist der Sturm sehr schlimm?«

»Das kann man wohl sagen, aber das Schlimmste kommt noch.«

»Ist das denn möglich?«

»Das war bisher nur der Anfang. Auf jeden Fall wird der Sturm noch schlimmer und dauert vermutlich die ganze Nacht. Ich bin von Kopf bis Fuß durchweicht und brauche dringend einen heißen Tee.«

»Genau den wollte ich mir gerade holen.«

»Sobald ich mir trockene Sachen angezogen habe, leiste ich Ihnen Gesellschaft.«

George kam herunter, als Charmaine sich gerade aus dem Teekessel bediente, den Fatima auf den Tisch gestellt hatte.

»Noch immer nervös?«, fragte er, als er ihr gegenüber Platz nahm.

»Und wie. Aus Virginia kenne ich solche Stürme nicht. Doch wenn ich sehe, wie wenig sich die Zwillinge davon beeindrucken lassen, komme ich mir wie ein kleiner Feigling vor. Ob ich mich jemals daran gewöhnen werde?«

»Daran kann man sich nicht gewöhnen. Ich lebe schon mein ganzes Leben hier, und selbst ich habe noch manchmal Bammel.«

Sie lächelte. »Wie lange dauert es, den Hafen abzusichern?«

»Kommt ganz darauf an. Aber Ihre Sorge ist unnötig. Wenn sich eine so hübsche Lady um ihn sorgt, setzt Paul sicher alles daran, um schnell und unversehrt nach Hause zu kommen.«

Verlegen senkte sie den Kopf.

»Außerdem hat er John als Verstärkung.«

»Wird er … ihm auch helfen?«

»Aber natürlich!« George runzelte die Stirn. »Glauben Sie mir das etwa nicht?«

Sie zuckte die Schultern, weil sie erst jetzt merkte, dass sie ihn verletzt hatte.

»Eine Antwort ist das aber nicht.«

»Es tut mir leid, George, aber ich habe die beiden beobachtet. Allzu viel Liebe scheint mir da nicht mehr übrig zu sein, oder?«

George stellte seine Tasse ab. »Die beiden wetteifern miteinander, seit ich sie kenne. Damals waren wir alle noch kleine Jungen.«

»Genau das meine ich. John lässt keine Gelegenheit aus, um Paul zu ärgern.«

»Das ist umgekehrt nicht anders«, bemerkte George.

»Wie soll ich das verstehen?«

»Paul provoziert auch gern, aber das ist schwerer zu durchschauen.«

»Soll das vielleicht heißen, dass John Sie auf seine Seite gezogen hat?«

»In diesem Fall gibt es keine Seiten. Ich kenne die beiden, solange ich zurückdenken kann. Sie sind mir so nahe wie Brüder, und ich verstehe ihre jeweiligen Beweggründe nur zu gut.« Charmaines Gesichtsausdruck spiegelte ihre Verwirrung wider, sodass George weiter ausholte. »Die beiden haben ihr Leben lang um die Anerkennung ihres Vaters gewetteifert, aber Paul hatte stets die Nase vorn.«

Charmaine war nicht sehr beeindruckt. »Ich verstehe durchaus, wenn ein Vater den Sohn vorzieht, der sich besser zu benehmen weiß.«

George schüttelte den Kopf. »Frederic war oft regelrecht gemein zu John. Stellen Sie sich doch nur vor, wie John sich gefühlt haben muss, wenn der adoptierte Sohn um die Liebe seines Vaters buhlte, während er als leiblicher Sohn Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr mit leeren Händen dastand. Vielleicht verstehen Sie seinen Zynismus dann besser.«

Charmaine war verunsichert und schwieg.

»Genauso weiß ich, dass John seinen Bruder nicht hasst und stets helfen würde, wenn Paul in Schwierigkeiten geriete. Umgekehrt würde Paul genau dasselbe für John tun. Es ist vielleicht schwer zu glauben, aber es hat Zeiten gegeben, in denen sich die beiden sehr nahestanden, in denen wir alle drei uns sehr nahestanden.«

»Wie erklären Sie sich dann diese Kämpfe?«

»Die sind größtenteils nicht so ernst gemeint, wie Sie vielleicht glauben. Sie kennen John inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er gern Unruhe stiftet. Und Paul ist seine bevorzugte Zielscheibe, weil er alles ernst nimmt und immer wieder auf John hereinfällt. Meistens reichen die Kabbeleien aber nicht tiefer.«

Im Laufe des Nachmittags versammelte sich die ganze Familie nach und nach im schwach erleuchteten Wohnraum. Plötzlich entstand Unruhe im Foyer, ein Windstoß fegte ins Haus. Sekunden später fiel die schwere Tür ins Schloss und sperrte das Toben der Elemente aus. Charmaine und die Zwillinge rannten zur Tür, und George folgte ihnen auf dem Fuß. Mitten im Foyer stand ein lachender John, der ebenso von Kopf bis Fuß durchnässt war wie in der Nacht seiner Ankunft. Das Einzige, was fehlte, war die Kappe.

»Was ist passiert?«, fragte Yvette.

»Und wo ist Paul?«, fügte Charmaine an.

Im selben Augenblick wurde die Tür fast aus den Angeln gerissen, als Paul hereinstolperte und alle Kraft aufbieten musste, um sie wieder ins Schloss zu drücken. Er war genauso übel zugerichtet wie John, aber auch er lachte über das ganze Gesicht.

Yvette platzte vor Neugier. »Was ist denn passiert?«

»Johnny wollte ein kleines Beiboot vertäuen und hat stattdessen ein Bad im Hafen genommen«, stieß Paul unter Lachen hervor. »Es ist mir ein Rätsel, warum du nicht auf mich gewartet hast.«

»Das habe ich doch gemacht«, übertönte John seinen Bruder. »Allerdings unter Wasser. Aber es hat sich gelohnt, weil du mir nachgesprungen bist.«

Paul schnaubte ein wenig. »Ich hätte dich ertrinken lassen sollen, aber dazu liegt mir zu viel an dir.«

»Wenn dir wirklich etwas an mir läge, hättest du meine Kappe gerettet! Die ist bei der Alberei nämlich verloren gegangen.«

»Das Bad war es wert, lieber Bruder.« Lachend schlug Paul John auf den Rücken. »Das Bad war es wirklich wert.«

»Dabei war das schon mein zweites Bad am heutigen Tag! Aber diesmal war ich angezogen.«

Paul gefror das Lachen auf den Lippen. »Ich wusste gar nicht, wie gern du badest. Ich dachte immer, dass es dich eher zu den Mühseligen und Beladenen zöge …«

»Geschmäcker ändern sich.«

Paul schwieg, doch seine Kiefer arbeiteten heftig, als er Charmaine ansah. Dann stürmte er die Treppe empor. Die anderen blieben im Foyer zurück und zuckten nur kurz zusammen, als seine Zimmertür ins Schloss knallte.

»Aller Spaß hat irgendwann ein Ende«, bemerkte John.

»Kein Wunder, wenn Sie ihn absichtlich ruinieren«, entgegnete Charmaine.

»In diesem Fall war das ganz spontan, my charm

Zornig trat sie auf ihn zu. »Oh … Wenn Sie das auch nur noch ein einziges Mal zu mir sagen … diese … diese dämliche Anrede … dann …«

»Was dann, my charm?« Er kam ebenfalls einen Schritt näher.

»Oh! Lassen Sie mich doch in Ruhe!« Sie fuhr herum und wäre fast mit George zusammengeprallt, der zum Gaudium der Zwillinge eilig einen Schritt zurückhüpfte.

John rannte hinter Charmaine die Treppe hinauf und amüsierte sich sichtlich über ihre zornige Reaktion. »Seien Sie lieber froh, dass ich Sie so nenne. Immerhin ist das eine individuelle Anrede – im Gegensatz zu den gewöhnlichen ie in Paulie, Auntie oder Cookie.«

Charmaine biss sich auf die Zunge, um jede unbedachte Äußerung zu vermeiden. Oben angekommen, stieß sie John beiseite und steuerte schnurstracks auf ihr Zimmer zu.

Doch so schnell gab John nicht auf. »Für Pierre ist Mainie in Ordnung, aber in meinen Ohren klingt es nicht erwachsen genug. Was meinen Sie?«

Als sie zu einer letzten Bemerkung herumfuhr, trafen sich ihre Blicke. Mit den Händen auf dem Rücken und völlig durchnässt, stand er einfach nur da und lächelte hinreißend wie ein ehrenhafter Gentleman, der seine Liebste zu einer Verabredung abholte. Plötzlich wusste Charmaine nicht mehr, wo ihre Wut geblieben war, und fand die Situation nur noch absurd und komisch.

»Nun? Muss ich in Zukunft auch Charmainie sagen, oder darf ich es bei my charm belassen?«

Unwillkürlich musste Charmaine kichern.

»Zum Glück sind Sie mir nicht wirklich böse.«

Er trat einen Schritt auf sie zu. Das Flackern der Wandlampen spiegelte sich in seinen braunen Augen. Als er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, spürte sie eine leichte Berührung auf ihrer Wange und erschauerte. Sie wich einen Schritt zurück, sodass seine Hand einen Moment lang bewegungslos in der Luft verharrte.

»Ich … ich muss nach Pierre sehen.« Rasch wandte sie sich zum Kinderzimmer um, und er folgte ihr.

»Es geht ihm doch gut?«

»Aber ja«, flüsterte sie, als sie auf Zehenspitzen ins Zimmer schlichen. »Er schläft bereits seit zwei Stunden.«

Beim Klang ihrer Stimme setzte Pierre sich auf und rieb sich die Augen.

»Du bist ja schon wach.« Charmaine setzte sich zu ihm und nahm ihn in die Arme. Dabei war sie überrascht, mit welcher Liebe John den Jungen betrachtete.

Sekunden später polterte Yvette herein und störte den Zauber des Augenblicks. »Cookie lässt ausrichten, dass das Dinner wie immer um sieben Uhr serviert wird.«

Aus der Küche war verheißungsvolles Geklapper zu hören, aber noch hatte man nicht mit dem Servieren begonnen. Agatha spitzte die Lippen, aber sie sparte sich die Bemerkung und zog nur eine Braue in die Höhe. Einige Stühle waren noch unbesetzt. John verspätete sich öfter, dachte Charmaine, doch was konnte Paul aufgehalten haben? Ob er ihr die Bemerkung seines Bruders über das Schwimmen zum Vorwurf machte?

Agatha ergriff als Erste das Wort. »Wie ich höre, haben Sie mit den Kindern ein Picknick gemacht, Miss Ryan.«

Voll böser Ahnungen sah Charmaine die Herrin des Hauses an. Der Satz klang harmlos, aber Agatha richtete nie ohne Absicht das Wort an sie.

»Hatten Sie denn einen schönen Tag?«

»O ja«, antwortete Charmaine kurz und knapp und hoffte, dass die Sache damit beendet war.

»Mein Neffe … Nun, John hat Sie begleitet?«

»Er hat den Kindern zwei Ponys zum Geburtstag geschenkt und sich auch das Picknick ausgedacht.«

»Aha«, sagte Agatha. »Und was haben Sie die lange Zeit über so ganz allein gemacht?«

»Wir waren ganz und gar nicht allein«, entgegnete Charmaine in scharfem Ton. Endlich wusste sie, wohin die Andeutung zielte. »Wir haben uns um drei Kinder gekümmert.«

»In meinen Augen ist das keine qualifizierte Aufsicht, Miss Ryan. Genauso gut hätten Sie die Kinder irgendwo auf der Insel aussetzen können und dann …« Geschickt ließ sie die Worte nachklingen.

Kochend vor Wut holte Charmaine zur Vergeltung aus. »Aber, aber, meine Liebe, also haben Sie es tatsächlich herausgefunden! Wir haben die Kinder zum Spielen im Wald ausgesetzt und den Nachmittag in enger Umarmung verbracht. Entspricht diese Beschreibung Ihren Vorstellungen besser, Mrs. Duvoisin?«

Agatha schnappte nach Luft, und ihr Unterkiefer sackte tiefer herunter als je zuvor. Die übrigen Dinnergäste, allen voran George, glucksten vor Lachen.

Charmaine bedauerte ihre unbedachte Bemerkung auf der Stelle. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Guter Gott, an die Folgen darf ich gar nicht denken! Sie errötete und senkte den Kopf. Als das Gelächter abflaute, fasste sie neuen Mut und sah zu George hinüber, dessen Blick ihr applaudierte. Sie lächelte ihm zu. Im selben Moment kam John leise summend ins Speisezimmer.

Er war zwar zwanglos gekleidet, doch die sorgfältig geschneiderte Hose und das weiße Hemd unterstrichen seine männliche Erscheinung. Sein Haar war noch feucht, aber ordentlich gekämmt und ringelte sich über Ohren und Kragen. Als er sich setzte, zwinkerte er Jeannette zu.

Wenig später waren Schritte im Foyer zu hören, und kurz darauf betrat auch Paul das Esszimmer. Charmaines Herz vollführte einen Satz angesichts der guten Figur, die er in Dinnerjackett, schwarzer Hose und blütenweißem Hemd abgab. Auch sein Haar war noch feucht und sorgsam geglättet – bis auf die schwarze Locke, die ihm in die Stirn fiel. Sein Mund wirkte verkniffen, und er blickte finster drein. Charmaine sah zu John hinüber, weil sie das Gefühl hatte, dass er sie beobachtete, doch sein Blick war auf Paul gerichtet.

»Nimm deine Füße von meinem Stuhl«, drohte Paul.

John richtete sich auf und lachte spöttisch.

Als Paul sich gesetzt hatte, wandte sich Agatha an John. »Wie man mir sagte, hast du den Tag mit Miss Ryan verbracht.«

»Man hat es Ihnen gesagt?«, fragte John. »Wer, wenn ich fragen darf? Na, Auntie, heraus mit der Sprache.«

»Es war Rose.«

»Aha …« Er nickte. »Dann hat sie Ihnen sicher auch gesagt, dass ich mit den Kindern Picknick gemacht habe und ihre Gouvernante mich unterstützt hat. Warum unterstellen Sie mir, dass ich den Tag allein mit Miss Ryan verbracht hätte?«

John bemerkte, dass George lachen musste. »Habe ich etwas Komisches gesagt?« Aber George schüttelte nur stumm den Kopf.

»Ich weiß, warum er lacht«, rief Yvette dazwischen, doch ihr Lächeln verschwand, als Charmaine ihr einen warnenden Blick zuwarf.

George öffnete den Mund, aber mehr als ein gebelltes »Autsch!« kam nicht heraus. Er rieb sich das Schienbein, wo Charmaine ihn getreten hatte.

Johns Blick wanderte zu ihr, doch sie setzte dieselbe unschuldige Miene auf, die er sonst zur Schau trug. Irgendetwas ging hier vor.

Aus dem Nichts erhob sich Pierres Stimmchen. »Wir haben ein Picknick gemacht, und Mainie hat gesagt, dass sie uns im Wald ausgesetzt hat …«

»… und ihr euch den ganzen Nachmittag umarmt habt«, ergänzte Yvette, um die ungeheuerliche Neuigkeit endlich loszuwerden.

John konnte es kaum glauben. »Mademoiselle Ryan hat das wirklich gesagt?«

Als er Charmaine ansah, damit sie die Sache bestätigte, bemerkte er Pauls stahlharten Blick. Er konnte sich nicht beherrschen und das Thema einfach fallen lassen. Dazu war es viel zu aufregend. Er beugte sich über den Tisch und ergriff zu Charmaines Entsetzen ihre Hand und presste sie an sein Herz. »Ich dachte, unser kleines Geheimnis gehöre nur uns allein, my charm«, murmelte er.

»Schluss mit dem Unsinn, John«, ging George dazwischen, um Paul nicht in die Enge zu treiben. »Charmaine hat sich nur einen harmlosen Scherz erlaubt. Selbst ihr muss das doch hin und wieder gestattet sein, oder nicht?«

»Ich bin immer zu jedem Scherz bereit«, erwiderte John mit leisem Lachen, ohne den Blick von ihrem gesenkten Kopf abzuwenden.

Wieder meldete sich der kleine Pierre zu Wort. »Weißt du, was, Georgie?«

Der arme George war für jede Ablenkung dankbar. »Was denn, Pierre?«

»Johnny hat einen großen Penis! So groß wird meiner auch einmal.«

»Guter Gott!« Agatha erstickte beinahe. »Welch unflätiger Ausdruck!«

Charmaine schlug die Hände vors Gesicht und wünschte, sich im nächstbesten Loch verkriechen zu können. Alles wäre besser, als sich anhören zu müssen, wie Agatha sich empörte, wie Paul mit der Faust auf den Tisch schlug, wie George vor Lachen brüllte und Yvette »Dieses Wort hat Mademoiselle dir also verboten!« rief und John »Es geht doch nichts über eine positive Sicht der Dinge« anfügte. Aber leider konnte sie nur dasitzen und warten, bis das Getöse abebbte.

Das Dinner wurde aufgetragen und in allgemeinem Schweigen eingenommen. Charmaine mochte Paul nicht ansehen. Sie hoffte und betete, dass er ihr die unbedachte Bemerkung verzieh und vielleicht als Scherz ansah, wenn er sich wieder beruhigt hatte. Aus Pierres Bemerkung konnte er ja erkennen, was wirklich geschehen war. Aber seine steife Haltung ließ sie auf nichts Gutes hoffen.

Vor dem Dessert schob Paul abrupt seinen Stuhl zurück und lehnte den Kaffee ab, den Felicia ihm anbot. Charmaines Magen revoltierte, als sie zu ihm aufsah und er in kaltem Ton »Ich möchte mit Ihnen unter vier Augen sprechen, Miss Ryan« sagte. Als sie schon aufstehen wollte, fügte er »später« hinzu.

Sie kam sich vor wie ein gescholtenes Kind und senkte den Kopf, weil sie niemanden ansehen wollte. Vor allem John nicht.

Paul war noch nicht lange fort, als Fatima einen riesigen Geburtstagskuchen für die Zwillinge hereintrug. »Alles Gute zum Geburtstag, Miss Yvette und Miss Jeannette. Ich habe euren Lieblingskuchen gebacken.« Sie stellte die Platte vor den Mädchen auf den Tisch und schnitt den Kuchen an. »O nein, Miss Yvette. Das erste Stück bekommt wie immer Master John.«

»Und warum das?«, fragte Charmaine verärgert.

John beugte sich nach vorn. »Ich muss alles probieren, was Cookies Küche verlässt. Sie wissen schon … Gift.«

Die Zwillinge kicherten, aber Charmaine fand das nicht lustig. »Eine nette Ausrede – aber die Mädchen gehen vor. Es ist schließlich ihr Geburtstag.«

Wieder kicherten die Zwillinge. »Und Johnny hat morgen Geburtstag«, erklärte Jeannette schließlich. »Wenn er zu Hause ist, feiern wir immer zusammen.«

»Das wusste ich nicht.« Charmaine sah John an. »Haben Sie wirklich morgen Geburtstag?«

»Aber natürlich.«

»Und warum haben Sie mir das nicht gesagt? Wir haben fast den ganzen Tag zusammen verbracht, und Sie haben es nicht einmal erwähnt.«

»Warum denn auch?«

»Weil ich so etwas wissen möchte.«

»Und warum? Wollen Sie mir vielleicht etwas schenken?«, neckte er sie. »Sie suchen doch gern etwas Besonderes aus.«

»Vielleicht möchte ich Ihnen wenigstens gratulieren.« Dann murmelte sie etwas von Vorbereitungen, die getroffen werden mussten.

»Welche Vorbereitungen?«, fragte John.

»Um den Tag so zu feiern, wie jeder Geburtstag hier im Haus gefeiert wird.«

»Jeannette hat bereits gesagt, dass wir die Geburtstage immer zusammenlegen. Ich bin doch kein Kind mehr, Miss Ryan. Weitere Feiern sind unnötig.«

Zum ersten Mal an diesem Abend wirkte John bedrückt, was Charmaines Verwunderung noch vergrößerte. Aber leider ließ sie die Sache nicht auf sich beruhen, was sie sicher getan hätte, wenn sie zu Rose oder George hinübergesehen hätte. »Ein Stück Kuchen kann man wohl kaum als Feier bezeichnen.«

»Mein Geburtstag wird nie gefeiert«, sagte er leise. »Ich wurde zwar an diesem Tag geboren, aber wichtiger ist, dass meine Mutter am selben Tag gestorben ist. Aus diesem Grund durfte ich nie Geburtstag feiern.«

»Aber das … das ist grausam«, entfuhr es Charmaine. »Ihr Geburtstag wurde nie gefeiert?«

»So ist es«, erklärte er kalt. »In den Augen meines Vaters wäre es reine Blasphemie, an diesen Tag zu erinnern. Ihm ist das Andenken meiner Mutter heilig.«

Charmaine konnte es nicht fassen. Ihr Herz schmerzte. Rose hielt den Kopf gesenkt, und George starrte stumm vor sich hin. Nur Agatha schien von alledem unberührt. Sie saß aufrecht am Tisch und reckte ihre Nase in die Luft.

Während sie den Kuchen aßen, sah Charmaine verstohlen zu John hinüber. Hatte er ihre Unterhaltung vergessen, oder versteckte er hinter dieser reglosen Maske nur seinen Schmerz?

Paul ließ die Gouvernante in die Bibliothek eintreten. Dann schloss er die Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Rahmen, als ob er eine Flucht verhindern wollte. Mit bangem Herzen hatte Charmaine nach dem Dinner im Kinderzimmer gewartet und insgeheim John verflucht. Ein Wort von ihm hätte das Feuer löschen können. Aber nein, ihm schien es Spaß zu machen, und zwar höllischen Spaß, die Situation auf die Spitze zu treiben.

Paul sah finster drein. Wie ein Vater, der sein ungezogenes Kind bestraft. In Charmaines Magen rumorte die Angst und verursachte ihr Übelkeit. Je länger er schwieg, desto klarer wurde ihr, dass das Urteil längst gefallen war. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in diese Lage kommen würde, aber Ihr Benehmen und das Beispiel, das Sie den Kindern gegeben haben, lässt mir keine andere Wahl.«

Charmaine war zu verletzt, um etwas zu entgegnen. Ob er sie entließ? In diesem Moment war ihr alles gleichgültig. Selbst der Verlust ihrer Stellung konnte nicht schlimmer sein als dieser vernichtende Blick.

Paul löste sich von der Tür. »Haben Sie nichts dazu zu sagen, Mademoiselle? Kein Wort der Verteidigung?«

»Sie lassen mir ja keine Wahl.«

»Ich lasse Ihnen keine Wahl? Sie machen mich verantwortlich? Wer hat sich denn ungebührlich betragen und sich stundenlang mit einem Mann herumgetrieben, der überall als Verführer bekannt ist? Ich nenne solches Betragen lasterhaft.«

»Lasterhaft? Das Ganze war doch nur ein unschuldiges Picknick!«

»Aber, aber, Mademoiselle. Tun Sie doch nicht so, als ob Sie mich nicht verstünden. Sie haben meine Warnungen in den Wind geschlagen und sich von John benutzen lassen, und das vor den Kindern … Und wie es aussieht, haben Sie es auch noch genossen!«

»Wie können Sie das sagen? Sie wissen selbst, dass ich ihm aus dem Weg gegangen bin!«

»Verzeihen Sie, wenn ich das nicht länger glaube. Ich bin kein Narr. Eine Menge Frauen lieben derartige Spielchen. Aber Ihr Ausrutscher heute war ein Fehler!«

»Genau. Was ich gesagt habe, war ein Ausrutscher! Sie glauben doch wohl nicht ernsthaft, dass das tatsächlich passiert ist? Ich schwöre …«

»Aber Sie haben den ganzen Tag mit ihm verbracht, Miss Ryan!«, fiel er ihr ins Wort.

»In Gesellschaft der Kinder, ja!«

»Und« – er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen – »Sie sind ihm keineswegs aus dem Weg gegangen.«

»Ich hatte gar keine andere Wahl! Er bestand darauf, dass ich für die Kinder verantwortlich bin. Also musste ich sie begleiten.«

»Genau das. Er hat Sie benutzt – und das mit Ihrem Einverständnis. Sie haben sogar Ihr Haar für ihn gelöst«, fügte er mit kindischem Triumph hinzu. »Glauben Sie nur nicht, dass ich das nicht bemerkt hätte. Sie brauchen es gar nicht abzustreiten, Miss Ryan. Sie hätten diese Bemerkung heute Abend niemals gemacht, wenn Sie sich nicht mit meinem Bruder einig wären. Sehr einig sogar.«

»Aber das ist nicht wahr!«

Ein Schrei drang durch die geschlossene Tür des Kinderzimmers. Als keiner auf Johns Klopfen reagierte, trat er ein. Pierre lag auf dem Boden und spielte mit den Kätzchen, während Jeannette zusammengekauert in einer Ecke hockte und Yvette etwas über ihren Kopf hielt.

»Tu das weg!«

»Yvette!«

Die Zwillinge fuhren herum. Blitzschnell ließ Yvette ihre Hand auf dem Rücken verschwinden. »Was hast du in der Hand?« Mit durchdringendem Blick ging John auf das Mädchen zu, das ihn verlegen ansah.

»Nur eine Spinne.« Sie hielt das arme Wesen an einem seiner Beine in die Höhe.

»Wirf sie auf den Balkon!«

Mit ärgerlichem Schulterzucken gehorchte Yvette.

John sah sich um. »Wo ist Mademoiselle Ryan?«

»Paul hat sie in die Bibliothek rufen lassen«, antwortete Jeannette.

»Um sie ins Verlies zu werfen«, murmelte John.

Jeannette starrte ihn an. »Hat er wirklich ein Verlies?«

»Aber nein, Jeannie. Das musst du nicht wörtlich nehmen. Aber wenn Paul wütend ist, kommt jedes Verhör einer Folter gleich. Wir müssen Miss Ryan helfen.«

»Aber wie?«

»Wir müssen sie aus seinen Klauen retten. Wer von euch würde mir denn bei einem solchen Abenteuer helfen?«

»Ich!« Yvette war sofort zu allem bereit. »Und wie viel bekomme ich dafür?«

»Seit wann muss ich für deine Hilfe bezahlen?«

»Also gut, dann mache ich es eben umsonst.«

Charmaine war den Tränen nahe. Das Schlimmste kam sicher noch. Jede Sekunde konnte er Pierres Bemerkung erwähnen … »Ich kann nicht glauben, dass Sie mir das zutrauen!«

»Wollen Sie das Schwimmen etwa abstreiten?«

»John hat seine Schwestern mit ins Wasser genommen. Außerdem waren alle bekleidet.«

Paul schnaubte verächtlich. »Und ich habe Sie immer für eine tugendhafte Person gehalten.«

»Und nun nicht mehr?«

»Ich glaube, dass Sie mich gründlich zum Narren gehalten haben! Viele Monate lang habe ich Ihre Wünsche respektiert, habe Sie wie eine Dame behandelt und mich aus Rücksicht auf Ihre Unschuld beherrscht! Ich war von Ihrer Tugend beeindruckt! Hätte ich mich etwa anders verhalten sollen? Hätten Sie den direkten Angriff bevorzugt? Hat mein Bruder Sie nur deshalb erobert, weil ich versagt habe?«

»Wovon … wovon, um Himmels willen, reden Sie da?«

»Wissen Sie das denn nicht? Verdammt, Charmaine, ich begehre Sie! Ich habe Sie vom ersten Augenblick an begehrt! Und ich hasse Sie, weil Sie diesen Tag lieber in Johns Armen verbracht haben!«

»Aber ich habe doch gesagt, dass das nicht so war! Ich habe mich über Mrs. Duvoisins Unterstellungen geärgert und mich zu einer sarkastischen Bemerkung hinreißen lassen. Ich schwöre, dass zwischen John und mir nichts vorgefallen ist! Das müssen Sie mir glauben!«

Es war einfach zu viel! Sie brach in Tränen aus.

»Verdammt!«, fluchte er leise und zerknirscht. »Heulen Sie doch nicht. Ich kann nicht ertragen, wenn Sie weinen.« Er zog ein frisch gebügeltes Taschentuch hervor und drückte es ihr in die Hand. Aber selbst diese Geste konnte Charmaine nicht beruhigen.

Sein Mitleid mit ihr wuchs. »Er hat es wieder getan, nicht wahr?«

»Was denn?«, schluchzte sie.

»Eine unschuldige Situation zu seinem Vorteil genutzt. Er wusste, dass seine Bemerkungen mich dazu bringen würden, das Schlimmste zu denken und Ihnen Vorwürfe zu machen. Ach, ich bin wahrscheinlich um kein Haar besser als er.« Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich habe mich bereits früher bei Ihnen entschuldigen müssen und tue es nun ein weiteres Mal, obgleich ich verstehen würde, wenn Sie mir nicht vergeben könnten.« Er umfasste ihre Schultern und sah ihr mit ernstem Blick ins Gesicht.

Im selben Moment flog die Tür auf, und Yvette stürmte herein. »Mademoiselle Charmaine«, sagte sie kleinlaut.

»Verdammt noch mal!«, fluchte Paul laut, ohne Yvettes Verzweiflung überhaupt wahrzunehmen.

Charmaine überging den Zornausbruch. »Was ist denn los, Yvette?«

»Na ja …« Das Mädchen nestelte an ihrem Kleid.

»Na los!«, bellte Paul. »Heraus mit der Sprache!«

»Pierre hatte einen Unfall!«

»Einen Unfall?« Charmaine war schon halb aus dem Zimmer, bevor Yvette es näher erklärte.

»In seiner Hose.«

»Herr im Himmel!«, zischte Paul. »Ist dieser Unfall so wichtig, dass du deshalb unsere Unterredung unterbrechen musst?«

»Wenn du oben im Kinderzimmer wärst, würdest du nicht so reden«, entgegnete Yvette. »Es stinkt fürchterlich!«

»Dann musst du den Gestank wohl oder übel ertragen, bis deine Gouvernante und ich das Gespräch beendet haben. Also, geh jetzt gefälligst zurück in dein Zimmer und rühre dich nicht vom Fleck!«

»Aber alles ist schmutzig«, jammerte Yvette. »Jeannette wollte ihm eine frische Hose anziehen, aber Pierre hat nur gelacht und ist in dein … in dein Ankleidezimmer gerannt. Er hat sich eingeschlossen und will die Tür nicht aufmachen«, fügte sie nach kurzem Zögern hinzu, als ob sie sich besinnen müsste.

»In meinem Zimmer! Was, zum Teufel, hat er da zu suchen?«

»Er versteckt sich, nehme ich an!«

»Was soll das heißen … nehme ich an? Ich gebe dir genau zwei Minuten … ganz genau zwei Minuten, um den Stinker dort herauszuholen. Hast du mich verstanden, junge Lady?«

»Aber …«

»Kein Aber!«, brüllte er. »Tu gefälligst, was ich dir sage!«

»Paul«, unterbrach ihn Charmaine, »die Kinder waren viel zu lange ohne Aufsicht. Ich muss dringend nach oben.«

»Nein! John macht schon Probleme genug. Ich lasse nicht zu, dass uns jetzt auch noch die Kinder stören.«

Er starrte Yvette an. »Du gehst jetzt nach oben und sorgst dafür, dass dein Bruder auf der Stelle mein Zimmer verlässt, und zwar samt seiner stinkenden Hose!«

Im Gefühl, eine überzeugende Vorstellung geliefert zu haben, verließ Yvette den Raum. Vor der Tür traf sie John, der sich auf die Knöchel biss, um nicht laut zu lachen.

»Du musst das unbedingt wiedergutmachen«, flüsterte sie. »Er schnappt sonst noch über.«

John verkniff sich das Lachen und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann klopfte er an den Türrahmen. »Darf ich eintreten?«

»Was willst du?«, knurrte Paul.

Charmaine ging einen Schritt zur Tür. »Ich werde Sie beide allein lassen. Ich muss mich um Pierre kümmern.«

John war derselben Meinung. »Nach allem, was ich gerade von Yvette gehört habe, hat er Miss Ryans Fürsorge dringend nötig.«

Pauls Miene verdüsterte sich, und sein Groll steigerte sich umso mehr, als John sich zu amüsieren schien, bis er schließlich eine wahre Kanonade französischer Flüche vom Stapel ließ.

»Immer mit der Ruhe, lieber Bruder«, sagte John. »Was soll denn Miss Ryan denken, zumal sie die Sprache ja nicht versteht? Man könnte meinen, dass wir hinter ihrem Rücken über sie redeten.«

»Sehr richtig, John, lass dich bloß nicht entmutigen!«, zischte Paul und bleckte die Zähne.

»Das liegt nicht in meiner Absicht.«

»Du lüsterner, verabscheuungswürdiger …«

»Wie verabscheuungswürdig muss ich sein, bis du wieder davonrennst?«

»Du … du willst also, dass ich gehe? Ist es das?«

»Ich will einzig, dass du Miss Ryan in Frieden lässt«, sagte John. »Wir haben alle miterlebt, wie du sie heute Abend unter Druck gesetzt hast und unter vier Augen mit ihr sprechen wolltest. Ich nenne das Einschüchterung, und dem will ich ein Ende setzen.«

»Seit wann bist du ihr Ritter?«

»Sagen wir lieber, dass ich sie inzwischen schätzen gelernt habe«, antwortete John.

»Lassen wir das, John, und kommen wir auf den Punkt.«

»Der Punkt ist, dass du eifersüchtig bist«, stellte sein Bruder fröhlich fest. »Das festzustellen können wir uns sparen. Klar?«

»Wunderbar, John, ganz wunderbar.« Paul hob die Hände und ging zur Tür.

»Wohin gehen Sie denn?«, rief Charmaine. Alles, was sie geordnet glaubte, schien erneut aus dem Gleichgewicht geraten.

»Vor die Tür!«, rief Paul. »Ich muss an die Luft!«

»Aber, Paulie, draußen wartet ein Hurrikan.«

»Diese Gesellschaft ist mir jedenfalls lieber als deine!« Mit diesen Worten war er fort.

»Er geht doch nicht wirklich nach draußen, oder?«, fragte Charmaine besorgt.

»Ich wünschte, er täte es«, erwiderte John kühl.

Ihre Bestürzung wandelte sich in Zorn. Der grausame Ton krönte noch das Elend, das dieser Mann ihr heute angetan hatte. »Oh, wie sehr ich Sie verachte!«

»Eines Tages wird sich das ändern.«

Das klang wie ein Versprechen, doch sie ballte nur zornig die Fäuste.

Er trat dicht vor sie hin. »Wissen Sie eigentlich, wie dunkel Ihre Augen werden, wenn Sie wütend sind? Wie Ihre Nasenspitze bebt, wenn Sie sich ereifern?« Er berührte ihre Nase mit dem Finger.

Als sie ihn wegschubste, schlossen sich seine Finger um ihr Handgelenk und bogen ihr den Arm auf den Rücken. Dabei zog er sie an sich, bis sich ihre Körper an den geheimsten Stellen berührten. Charmaine stemmte sich gegen seine Brust und wandte ihr Gesicht ab. Doch er schlang ihre Haarsträhnen um seine Hand und zog ihren Kopf sanft nach hinten. Quälend langsam senkten sich seine Lippen herab, bis sie die ihren berührten – ein unendlich sanfter, fordernder Kuss in einer eisernen Umarmung, der sie nicht entkommen konnte. Seine Lippen wanderten weiter zu ihrem Hals, und sie fühlte, wie er Luft holte und ihren Duft einatmete. Wieder versuchte sie, sich zu befreien … und stolperte nach hinten, als er sie plötzlich losließ.

»Genauso köstlich, wie ich es mir vorgestellt habe«, murmelte er.

Dieses Gefühl wurde jedoch nicht erwidert. Charmaine holte aus, aber trotz ihrer Schnelligkeit fing John ihr Handgelenk ein zweites Mal. »Sie wollen mich doch wohl nicht schlagen, my charm? Am Vorabend meines Geburtstags ist das nicht gerade nett!«

Charmaine riss sich los und funkelte ihn trotzig an. »Tun Sie das nie wieder!«

»Wollen Sie sich etwa für Paul aufbewahren?«

»Wenn Sie so wollen.« Sie rieb ihre Handgelenke und wischte sich mit dem Unterarm über die Lippen. John grinste über das ganze Gesicht, doch sie biss die Zähne zusammen und rannte zur Tür.

»Wohin so eilig, my charm

»Ich muss nach den Kindern sehen. Sie haben mich von meinen Pflichten abgehalten.«

»Von welchen Pflichten? Es gibt keine Pflichten.«

Sie blieb stehen und sah misstrauisch über die Schulter zurück. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Es gibt keine Pflichten«, wiederholte er. »Die Sache mit Pierre war nur eine kleine List.«

»Eine List?«

»Eine List, um Sie aus den Klauen meines zornigen Bruders zu retten.«

»Damit ich in Ihre Klauen falle?«

»Brillant beobachtet, my charm«, bemerkte er. »Aber war es die Sache denn nicht wert? Jetzt können Sie besser vergleichen.«

Nach einer kurzen Phase der Ruhe setzte der Sturm von Neuem mit voller Wucht ein. Nachdem Charmaine die Kinder ins Bett gesteckt hatte, blieb sie noch bei ihnen sitzen. Doch als keine Ruhe einkehrte, ging sie in ihr Zimmer hinüber und nahm den kleinen Pierre mit. Auf Bitten der Mädchen ließ sie die Verbindungstür offen, woraufhin das Geflüster nebenan allmählich verstummte.

Pierre schlief augenblicklich ein, aber Charmaine war in Morpheus’ Armen noch lange nicht willkommen. Das Haus ächzte und stöhnte unter den heftigen Windböen. Und sie konnte John nicht aus dem Kopf bekommen, so sehr sie sich auch bemühte: seinen Hohn, seine seltsame Anziehungskraft, seinen Kuss! Ihr Puls beschleunigte sich, als sie an die Berührung seines Körpers dachte, an die Zärtlichkeit seiner Lippen, die ihr nicht unangenehm gewesen war. Doch sie hatte ihn nicht merken lassen, wie sehr er sie beeindruckt hatte. Zumindest konnte er nicht behaupten, dass sie es genossen hätte.

Sie machte sich Vorwürfe, dass sie überhaupt versucht hatte, seine Seele zu ergründen und zu begreifen, was ihn bewegte. Sie dachte an seinen Streit mit Paul. Ob er Tag und Nacht darauf sann, wie er seinen Gegnern eine Falle stellen konnte? Allerdings kannte sie auch andere Seiten an ihm, und sie kannte niemanden, der alle Gefühle von Hass bis Liebe in sich vereinte.

In diesem Haus darf mein Geburtstag nicht gefeiert werden … Hatte Frederic seinen Sohn wirklich von sich gestoßen? Was war damals geschehen? Was war den Brüdern widerfahren? Sie standen einander früher sehr nahe … wirklich sehr nahe … Und wie passte Colette in dieses Bild? Mistress Colette war ganz anders als die Frau, die Sie gekannt haben … Sie hätte niemals Mrs. Duvoisin werden dürfen …

Ja, Johns Hass existierte und äußerte sich in Zynismus und Bitterkeit. Aber genauso war er auch zur Liebe fähig. Heute Morgen hatte sie ihm die Fähigkeit noch abgesprochen, doch inzwischen war ihre Überzeugung ins Wanken geraten. John liebte seine kleinen Geschwister. Sie brauchen jemanden, der sie liebt. Diese Worte hatte er in vollem Ernst gesagt.

Sie schlang ihren Arm um Pierre.

John wurde die Liebe vorenthalten, und doch ließ er seine Geschwister nicht dafür büßen. Im Gegenteil. Er hatte sich große Mühe gegeben, um ihnen einen außergewöhnlich schönen Tag zu bereiten, hatte sich die Schatzsuche, die Ponys und auch den Ausflug ausgedacht und ihnen seine ungeteilte Aufmerksamkeit gewidmet. Kein Wunder, dass sie John so sehr liebten.

Keinesfalls durfte sein Geburtstag mit diesem einen Stück Kuchen erledigt sein. Die Kinder sollten ihm etwas von ihrer Freude zurückgeben … sollten ihm zeigen, wie sehr sie ihn liebten. Rasch fasste Charmaine einen Plan und schmiegte sich dann zufrieden an Pierre.

Die Uhr schlug elf, als John vom Schreibtisch aufstand, wo er die Berichte von Stuart Simons, seinem Geschäftsführer in Virginia, durchgesehen hatte. In der Halle traf er mit einem finster dreinschauenden Paul zusammen. »Nach dir«, lud er ihn am Fuß der Treppe mit einer Handbewegung ein. Als Paul ein paar Stufen hinaufgestiegen war, hielt er ihn auf. »Du hast im Arbeitszimmer etwas verloren.« Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er ein zerknülltes Taschentuch mit Pauls Initialen. Wortlos riss Paul es ihm aus den Fingern und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.

»Bring Charmaine nicht sooft zum Weinen, Paulie. Eine solche Kostbarkeit willst du doch wohl nicht verlieren.«

»Das habe ich durchaus nicht vor.« Johns Grinsen reizte Paul mehr als alle Worte. »Wenn du jetzt sogar Pierre für deine Pläne benutzt, erreichst du gar nichts. Oder das Gegenteil«, fügte er hinzu.

Einen Moment lang war John irritiert, aber dann lachte er in sich hinein. »Was ist los mit dir, Paulie? Hast du Angst, dass du nicht mithalten kannst?«

»Lass sie nur einfach in Ruhe«, drohte Paul, »oder ich sehe mich gezwungen …«

»Wozu, Paulie? Willst du etwa Vater erzählen, dass sein böser Sohn ein Auge auf die Gouvernante geworfen hat? Ich fürchte, das kann mit meinen anderen Verfehlungen nicht mithalten.«

»Es gibt noch andere Möglichkeiten, lieber Bruder«, entgegnete Paul. »Lass es dir nur als Warnung dienen.«

Aber John gähnte nur und stieg an seinem Bruder vorbei die Treppe zum Nordflügel empor. Paul wählte die andere Seite, doch gerade als er die Hand auf seinen Türknauf legte, tönte Johns Stimme durch die Stille. »Pass auf, wenn du die Tür aufmachst. Vor einer Stunde hat es in deinem Zimmer noch entsetzlich gestunken.« John lachte in sich hinein und betrat sein Zimmer.

Aber dort stank es wirklich, und zwar nach billigem Parfüm. Mit einladendem Lächeln lag Felicia in seinem Bett und presste die Decke gegen ihre Brust. Als sie sich aufsetzte, um die Nadeln aus den Haaren zu ziehen, glitt ihr die Decke bis zur Taille herab und enthüllte für Sekunden die großen Brüste, bis die schwarze Haarpracht sie wieder verhüllte.

Ohne die Frau auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, ging John auf sie zu. Sie schüttelte ihre Mähne und ließ ihn erneut ihre Vorzüge sehen. »Guten Abend, Master John«, hauchte sie.

Mit angehaltenem Atem sah er zu, wie sie die Hände in den Nacken legte, verführerisch ihr Haar in die Höhe hob und ihm alles darbot, was sie zu bieten hatte. Er trat noch einen Schritt näher. »Hast du dich vielleicht im Zimmer geirrt, Felicia?« Er versuchte, ihre aufregende Pose zu übersehen, und ärgerte sich über sich selbst, dass er tatsächlich in Versuchung geriet. In jüngeren Jahren hätte er nicht lange überlegt. Doch seit ihm das Leben einige Lektionen erteilt hatte, lernte sogar er aus seinen Fehlern.

»Ich habe solche Angst vor dem Sturm.« Das Mädchen zog eine Schnute und kicherte ein wenig. »Ich habe gehofft, dass Sie mich beschützen.«

Johns Miene verfinsterte sich. Aus dem Augenwinkel sah er sich um und entdeckte ihre Kleidung auf einem entfernt stehenden Stuhl. Mit drei Schritten war er dort, packte die Sachen und warf sie aufs Bett. Felicia zuckte zusammen. »Es tut mir leid, dich zu enttäuschen. Aber ich verspüre keine Lust, ein furchtsames Hausmädchen vom Sturm abzulenken.«

»Ich dagegen würde Sie gern ein wenig ablenken«, schnurrte sie.

»Danke, Felicia, aber solch billige Unterhaltung ist nicht nach meinem Geschmack. Pauls Zimmer ist ja nicht weit von hier. Vielleicht hat er Interesse. Nur eine kleine Warnung am Rande: Wenn er eine Frau satthat, lädt er sie nur selten ein zweites Mal in sein Bett ein.«

Die offenen Worte verletzten sie, und sie verstummte.

»Ich verlasse jetzt das Zimmer, und wenn ich in fünf Minuten zurückkomme, bist du fort. Wenn nicht, müsste ich dich gewaltsam hinauswerfen, und der Lärm würde das ganze Haus alarmieren. Diese Blamage willst du dir doch sicher ersparen, oder nicht?«

Im Kinderzimmer war es ruhig und friedlich. Außer dem regelmäßigen Atmen der Kinder waren die Geräusche des Sturms nur entfernt zu hören. John trat näher an die Betten und sah auf seine Schwestern hinunter. Dann wanderte sein Blick zu Pierres Bett, doch bis in diese Ecke des Raums reichte der schwache Lampenschein nicht. Leise schlich John hinüber und tastete mit der flachen Hand über die Decke, tastete nach einer Schulter oder dem Kopf. Aber das Bett war leer. Besorgt drehte er sich um. Vielleicht lag Pierre ja bei einem der Mädchen? Aber sein erster Blick hatte ihn nicht getäuscht. Die Zwillinge waren allein.

Vermutlich hat sich der Junge bei Charmaine verkrochen, dachte er. Leise trat er an die offen stehende Tür und war erleichtert, als er im flackernden Lichtschein zwei Körper auf dem großen Bett ausmachte.

Pierre drückte sich mit dem Rücken an Charmaines Busen und Bauch und schnarchte leise. Mit besitzergreifender Geste hielt Charmaines Arm den kleinen Körper umfasst. Ihr Gesicht wirkte entspannt, und ihre Locken ringelten sich über Schultern und Kissen.

Sie war hübsch, hübscher noch als damals in der Nacht, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, und mit Sicherheit auch begehrenswerter. Ah, my charm, dich hätte ich bestimmt nicht aus dem Bett geworfen. Er betrachtete ihr Gesicht: so unschuldig. Die Versuchung, sich an Pierres Stelle in ihre einladenden Arme zu schmiegen, war groß, aber auch diesen Fehler würde er nicht machen. Charmaine Ryan gehörte zu den Mädchen, die man heiratete, bevor man mit ihnen schlief. Dennoch war es ein wunderbarer Traum. Und der tat niemandem weh, solange es beim Träumen blieb.

Als ob Charmaine seine Gedanken gehört hätte, seufzte sie plötzlich im Schlaf.

Erst jetzt merkte John, wie nah er den beiden war, und zog sich geräuschlos zurück. In seinem Zimmer zeugte nur noch ein Hauch des billigen Parfüms von Felicias Anwesenheit. Und die zerknüllten Laken, die sie auf den Boden geworfen hatte.

In dem Augenblick, als Paul seine müden Glieder auf dem Bett ausstreckte, wusste er, dass er keinen Schlaf finden würde. Und das trotz der vielen Arbeit, die am Morgen nach einem Sturm auf ihn wartete. Aber das Bild der jungen Frau verfolgte ihn: die großen Augen, die um Vertrauen warben, die bebenden Lippen, die seinen Kuss ersehnten, und ihre offenen Locken … Ja, Charmaine Ryan war eine Verführerin, ohne dass ihr das bewusst war. Und er war ein Ochse, jemals etwas anderes geglaubt zu haben! Aber sie hatte ihn bis aufs Blut gereizt, als sie John ihre Verletzlichkeit offenbart hatte. John würde sie nur benutzen, sie nur verletzen.

Er schüttelte das Kissen auf und drehte sich auf die Seite. Warum berührte ihn das so sehr, dass er keinen Schlaf fand? Bisher hatte ihm noch keine Frau schlaflose Nächte bereitet, aber bisher war er auch immer Herr der Situation gewesen. Aber mit Charmaine war das anders, so völlig anders.

Es war eigenartig, doch in ihrer Unschuld reizte ihn Charmaine weit mehr als alle erfahrenen Frauen. Er begehrte sie bis zur Verzweiflung, und entsprechend schmerzte es ihn, wenn ihre Begegnungen ständig gestört wurden. Trotz aller Lust musste er sich jedoch eingestehen, dass ihm Charmaine mehr bedeutete als die einfachen Hausmädchen, die ihm seine einsamen Stunden versüßten. Charmaine war alles andere als einfach. So klug und lebensfroh, wie sie war, würde sie die Leidenschaft jedes Mannes erwidern, solange er sie wirklich liebte.

Er warf sich von einer Seite auf die andere. Das Wort machte ihn unruhig. Liebe … In seinem Wortschatz kam es nicht vor, um sein Leben nicht unnötig zu verkomplizieren. Er hatte erlebt, was eine Frau mit dem Kopf eines Mannes anrichten, welche Wunden sie seinem Herzen schlagen konnte – und diese Vorstellung lockte ihn überhaupt nicht. Lieber behielt er das Heft in der Hand, probierte die Früchte, die sich ihm boten, und machte sich beizeiten wieder davon.

Ob ihm eine Kostprobe von Charmaine genügte? Wollte er, dass sie ihm genügte? Wenn er früher überzeugt war, dass eine Eroberung ausreichte, so war er jetzt unsicher und ahnte, dass seine Sehnsucht nach Charmaine nicht so schnell abflauen würde. Im Gegenteil. Er wusste schon jetzt, dass sie ihm besser gefallen würde als alle anderen Frauen vor ihr. War das Liebe? Tief in seinem Inneren ahnte er, dass so etwas möglich war. Aber wie konnte er das wissen, da er doch noch nie geliebt hatte?

Er musste auch an seinen Bruder denken. Seit Paul um Charmaines Aufmerksamkeit buhlte, erschien sie ihm noch viel verlockender. Er hätte sie damals in der Nacht verführt, wenn ihn die Ankunft seines Bruders nicht gestört hätte. Damals hatte das Spiel begonnen. Heute Abend hatte er wegen John die Geduld verloren. Das durfte sich nicht wiederholen.

Paul war überzeugt, dass Charmaine sich von Menschen wie John nicht angezogen fühlte, ganz gleich, wie gut er seine Karten auch ausspielte. Früher oder später würden seine Spielchen sie abschrecken. Dann musste John aufgeben. Ja, auf Dauer war John der Verlierer. Wie immer. Falls er noch immer nicht begriffen haben sollte, wer am Ende alles bekam, wollte Paul seine allerletzte Karte ausspielen. Es war immer dasselbe Spiel, und seit ihrer Kindheit hatte John kein einziges Mal gewonnen. Er musste sich nur zurücklehnen und zusehen, wie John sich unmöglich machte – und schon konnte er darauf warten, dass Charmaine zu ihm zurückkam. Und wenn er ihr schließlich eine Affäre ohne weitere Verpflichtungen anbot, so hatte John, ohne es zu ahnen, alle Probleme seines Bruders gelöst – seine Angst vor der Liebe und ihren Verwicklungen eingeschlossen.