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Montag, 2. Oktober 1837

 

Auf der großen Wiese vor dem Haus herrschte ein chaotisches Durcheinander. Emsig eilten Hauspersonal und Stallknechte zwischen Haus und Sattelplatz hin und her. Frederic Duvoisin unternahm eine Reise, und alle seine Bediensteten waren ihm mit Hingabe dabei behilflich. Zwei Pferde wurden aus dem Stall geführt und vor den nagelneuen Brougham gespannt. Paul hatte den zweisitzigen Wagen im letzten Winter in England in Auftrag gegeben, und vor einem Monat war er mit einem der Schiffe auf Charmantes eingetroffen. Während die letzten Schnallen geschlossen wurden, tänzelten die peinlich genau aufgezäumten Pferde so nervös herum, dass zwei Pferdeknechte nötig waren, um den Wagen vor der Säulenhalle zum Stehen zu bringen. Charmaine und die Kinder standen etwas abseits des Trubels, um nicht im Weg zu sein. Dann endlich war es so weit, und die Haustür öffnete sich ein letztes Mal.

Frederic verließ hinkend das Haus, und sein schwarzer Stock begleitete jeden Schritt mit einem vernehmlichen Klacken. Auf der ersten Stufe strauchelte er für Sekunden, doch er fing sich sofort und scheuchte seine besorgte Frau zur Seite, als sie ihm zu Hilfe eilen wollte. »Lass mir wenigstens diesen Stolz!«, zischte er fast unhörbar.

Als Agatha zurückfuhr, folgte ihr Frederics zorniger Blick. Da die Szene nicht unbemerkt blieb, sah Agatha sich nach allen Seiten um, wobei die Gouvernante und die Kinder in ihr Blickfeld gerieten. »Haben Sie nichts Besseres zu tun, als meinen Mann anzustarren, Miss Ryan? Die Mädchen haben um diese Zeit doch Unterricht, oder nicht? Oder ist diese frivole Zeitverschwendung nur der Auftakt zu einer ungestörten Woche, in der ich die Erfüllung Ihrer Pflichten nicht überwachen kann?«

»Es reicht, Agatha«, mahnte Frederic. »Miss Ryan betreut meine Kinder sehr gewissenhaft.«

»Was das angeht, so bist du nicht gut unterrichtet«, widersprach seine Frau, um vor den Angestellten ihr Gesicht zu wahren.

Frederic verbarg seinen wachsenden Zorn hinter honigsüßen Worten. »Was du nicht sagst? Und wer hat deiner Meinung nach etwas versäumt? Auf jeden Fall liebt Miss Ryan meine Kinder.«

Beleidigt reckte Agatha das Kinn in die Luft. Dann schritt sie hoheitsvoll die Stufen hinunter und bestieg den Wagen.

Charmaine wollte schon laut frohlocken, doch als sie bemerkte, dass der Herr des Hauses auf sie zukam, fasste sie sich rasch. »Ich möchte mich noch gern von meinen Kindern verabschieden, Miss Ryan. Pierre, gibst du mir einen Kuss?«

»Warum?«, fragte der Junge.

»Damit ich mich an dich erinnere.«

Frederic beugte sich hinunter, und Pierre küsste ihn auf die Wange. Bevor sein Sohn sich abwenden konnte, schlang sich der Arm des alten Mannes um seine Schultern. Einen Augenblick lang hielt Frederic Pierre an sich gedrückt, dann richtete er sich auf und sah Charmaine in die Augen. »Man weiß nie, wann der letzte Tag kommt.«

»Der letzte Tag? So etwas sollten Sie nicht sagen …«

»Doch, das muss ich, Miss Ryan. Ich bin dankbar für alles, was Sie für meine Familie tun. Meine Frau Colette hat Sie damals richtig eingeschätzt. Sie waren den Kindern immer eine wunderbare Mutter. Ich verspreche Ihnen hier und heute, dass ich Sie nie für Umstände verantwortlich machen werde, die nicht in Ihrer Macht liegen.«

»Sir?«

»Denken Sie einfach an mein Versprechen, wenn Sie in eine solche Lage kommen sollten.« Er nickte kurz und wandte sich ab, ohne daran zu denken, auch einen Kuss von seinen Töchtern einzufordern.

Als der Wagen durchs Tor davonfuhr, sah Charmaine John im Schatten der alten Eiche stehen. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht erkennen, aber sie beobachtete, wie er sich erregt mit der Hand durchs Haar fuhr. Dann macht er kehrt und war verschwunden.

Sie scheuchte die Kinder ins Haus. Da der Augenblick günstig war, erlaubte sie ihnen, frei das Haus zu durchstreifen. Es war kaum noch jemand da, nachdem auch die Thornfields den Duvoisins in einem kleineren Wagen zum Schiff gefolgt waren, wo sie bereits von Felicia und Anna erwartet wurden. Wo Paul sich im Augenblick befand, konnte Charmaine nur vermuten. Er hatte schon in aller Frühe das Haus verlassen, und sie bezweifelte, dass sie ihn vor Abfahrt des Schiffes noch einmal zu Gesicht bekommen würde.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie im Foyer mit George zusammenstieß. Während sie sich entschuldigte, starrte sie auf das Gepäck, das er bei sich trug. Zu ihrem großen Entsetzen musste sie hören, dass auch er abreiste.

»Wir haben das gestern beim Dinner besprochen«, sagte er. »Wir müssen alles Zuckerrohr pressen, dessen wir habhaft werden können, wenn wir keine Verluste hinnehmen wollen. Zeit ist in diesem Fall bares Geld, und ich erreiche mehr, wenn ich zusammen mit den Männern auf den Feldern kampiere. Frederic hat mir eine Prämie versprochen, wenn wir bis zu seiner Rückkehr mit der Ernte fertig sind.«

Charmaine wurde blass und bebte ein wenig. »Warum die Aufregung?«, fragte George verwundert und halb belustigt.

»Dann bin ich ja heute Nacht ganz allein.«

»Allein kann man das wohl kaum nennen. John ist doch da.«

»Genau. John und sonst niemand.«

Als George dämmerte, was sie meinte, brach er in schallendes Gelächter aus.

»Das ist überhaupt nicht lustig!«

Er erstickte beinahe. »Und wie!«

»Wie können Sie das sagen! Ich fühle mich nicht sicher und habe Angst, wenn John im Haus herumschleicht und jeden Moment …«

»Jeden Moment …?« Die Röte ihrer Wangen reizte seine Lachmuskeln.

»Ich dachte, Sie seien mein Freund!«

»Aber das bin ich doch.« Er wurde ernst. »Ärgern Sie sich nicht über mich, Charmaine, und machen Sie sich wegen John keine Sorgen. Er ist der letzte Mensch, vor dem Sie sich fürchten müssen.«

»Sie haben leicht reden.«

»Weil es die Wahrheit ist.« Sein Lachen begleitete ihn bis hinüber zu den Ställen.

Agatha betrachtete ihren Mann genauso eindringlich, wie er das Blattwerk entlang der Straße musterte. Seit er sich ihr gegenüber auf den Polstersitz hatte fallen lassen, hatte er sie keines Blickes gewürdigt. Aber das machte ihr nichts aus. Genauso wenig wie seine ewigen Nörgeleien vor den Dienstboten. Er meinte die Dinge nicht so, wie er sie sagte, wusste gar nicht, wie grausam seine Worte klangen. Seine Behinderung hatte seine schroffe Art nur noch verschärft – und machte es ihr leicht, ihm zu verzeihen. Wenn er besonders barsch zu ihr war, dachte sie daran, dass sie schließlich mit ihm verheiratet war. Sie war seine Frau, und diese Tatsache versüßte so manche Kränkung. Wenn das Leben zurzeit auch zuweilen schwierig und nur schwer zu ertragen war, so tröstete sie doch die Hoffnung auf eine leuchtende Zukunft, die ihr gehörte. Als Mrs. Frederic Duvoisin hatte sie jetzt Zeit genug, um seine Liebe zurückzugewinnen. Hatte sie nicht ihr Leben lang gewartet und in jeder wachen Minute geplant, um genau das zu erreichen, was sie nun besaß? Sie war seine Frau! Obgleich Robert ihren Ehrgeiz verspottet und ihn hatte auslöschen wollen, hatte sie niemals aufgegeben. In keiner Sekunde hätte sie auch nur an eine Niederlage gedacht. Wie denn auch, da es sie nur nach Frederic und sonst niemandem verlangte?

Seit ihrem ersten Kuss hatte sie gewusst, dass ihr kein anderer Mann je genügen würde, dass sie ohne ihn nie vollständig wäre. Guter Gott, wie sehr sie ihn liebte! Selbst nach so vielen Jahren sehnte sie sich wie verrückt nach ihm. Wenn es nötig wäre, würde sie sogar ihr Leben opfern, damit er ihr endlich die heiß ersehnten drei Worte zuflüsterte. Erst dann konnte sie sicher sein, dass nichts von alledem falsch gewesen war, was sie im Namen der Liebe getan hatte.

Frederic … Er sah noch immer bestens aus. Trotz seiner zweiundsechzig Jahre ließ er ihr Herz hämmern, ihre Glieder erzittern und sie an ihre frühere Leidenschaft denken. Seit ihrer Hochzeit hatten sie nur wenige intime Momente geteilt, doch seit zwei Monaten hatte er sie vernachlässigt. Sie aber sehnte sich nach den Berührungen von damals, bevor ihm der Schlaganfall die Manneskraft geraubt hatte. Konnte es je wieder so werden? Durfte sie hoffen? Mit einem schiefen Lächeln versprach sie sich selbst, weit mehr zu tun. Vor dreißig Jahren war sie, was das Liebesspiel anging, noch eine Novizin gewesen. Wenn sie damals schon die Erfahrung von heute gehabt hätte, hätte Frederic sie niemals so einfach aufgegeben und sich nicht so einfach von den Ränken ihrer fünf Jahre jüngeren Schwester einfangen lassen.

Elizabeth … die Quelle ihres Schmerzes, die ihr Leben zerstört hatte. Elizabeth … stets darauf bedacht, das zu bekommen, was ihr nicht gehörte. Elizabeth … im Handumdrehen mit Frederic verheiratet. Elizabeth … die England ohne Bedauern verließ, ohne sich um ihre verzweifelte Schwester zu sorgen. Doch der Allmächtige hatte eine schwere Strafe für Elizabeth vorgesehen. Trotz ihrer sogenannten Liebe hatte Elizabeth nicht überlebt … ein sicheres Zeichen dafür, dass diese Liebe keine wirkliche Liebe gewesen war.

Frederic … am liebsten würde sie sich neben ihn setzen, sich an ihn schmiegen, ihm das Haar aus der Stirn streichen und den düsteren Ausdruck vom Gesicht wischen. Er hatte so viel Kummer erlebt und so viel Schmerz erduldet. Zuerst Elizabeth und nun John. Wie die Mutter, so der Sohn. Wie sehr wünschte sie, Frederics Leben in Ordnung zu bringen. Doch in seiner Bitterkeit übersah er die einzige Person, die ihn mehr liebte als alle die, die er so verehrte: weder seine ihn anbetende Elizabeth, noch seine junge Colette, auch nicht sein alberner Pierre, seine verwöhnten Töchter, ja nicht einmal Paul liebte ihn so sehr wie sie. Eines Tages in naher Zukunft würde er das erkennen. Er würde erkennen, wie blind er gewesen war, wie sehr er sich geirrt hatte, indem er zuließ, dass John sie lächerlich machte, und dass es ein Fehler gewesen war, bei der Verteilung seines Vermögens die Pflicht und den Sittenkodex der Gesellschaft an die erste Stelle zu setzen. Eines Tages würde er sich ihr zuwenden, wie sich ein Mann seiner Frau zuwandte, und dann würde sie für ihn da sein.

Frederic lehnte sich in die Kissen zurück und tat so, als ob er schliefe. Dabei sah er seine Frau unter halb geschlossenen Lidern an. Mit einem Mal hielt die Vergangenheit in Brougham Einzug. Man schrieb das Jahr 1807. Mit zweiunddreißig Jahren war er damals ein vermögender Junggeselle am Beginn seines Lebens gewesen. Agatha war zweiundzwanzig Jahre alt und jung und schön, sehr schön sogar. Aber seine Augen hatten nicht sie angesehen, als der Wagen in den Hafen von Charmantes eingebogen war, sondern Elizabeth, die ihre Hände bescheiden im Schoß gefaltet hatte und ihm nach ihrer kurzen Begegnung im Stall mit leicht geröteten Wangen und gesenktem Kopf gegenübersaß.

Kühn hatte Elizabeth ihn im Stall angesprochen. »Sind Sie in meine Schwester verliebt, Mr. Duvoisin?«

Verblüfft hatte er die Gegenfrage gestellt. »Was hat Liebe denn mit einer geschäftlichen Entscheidung zu tun?«

Eigentlich hätte sie beleidigt sein müssen – doch er hatte etwas ganz anderes in ihren braunen Augen gelesen und war neugierig geworden.

»Aber meine Schwester liebt Sie, nicht wahr?«

Irritiert hatte er die Stirn gerunzelt. »Wie alt sind Sie, Elizabeth?«

»Ich bin gerade siebzehn geworden.«

»Und alles andere als erwachsen«, hatte er spöttisch angemerkt.

Im nächsten Moment hatte sie schüchtern ihren Blick abgewendet. Aber das hatte ihn nicht daran gehindert, sie weiterhin anzustarren, wie er das schon während der letzten zwei Wochen getan hatte. Sie war nicht halb so schön wie ihre Schwester, aber dafür hinreißend und lebendig. Anfangs hatte er ihre Fragen mit kindlicher Sorge um ihre große Schwester erklärt und die Macht, die sie über ihn hatte, völlig unterschätzt. Wofür er Gott heute noch dankte. Denn das war der Beginn ihrer Liebe gewesen. Gott, wie sehr hatte sie ihn seither verfolgt. Colette hatte dieselbe Wirkung auf ihn gehabt, was kein Wunder war, denn die beiden Frauen waren einander in vielem ähnlich. Er erinnerte sich an den Stall. Selbst ihre intimen Begegnungen waren ähnlich verlaufen. Geradezu unheimlich.

Es war nur traurig, dass ihm heute Agatha gegenübersaß. In Momenten wie diesen fühlte er großes Schuldbewusstsein. Vermutlich hatte er ihr Leben genauso ruiniert wie sein eigenes. Paul hatte recht. Er hätte Agatha niemals heiraten dürfen. Er betete, dass sein jetziges Vorhaben glücklicher endete als die damalige Brautwerbung, und er war bereit, die beiden als Sühne für seine vielen Sünden anzubieten.

»Aber Sie müssen mitkommen!«, bat John eindringlich. »Ich möchte, dass Sie mitkommen! Ich bitte Sie darum!«

»Es tut mir leid, John, aber ich kann das nicht machen. Es wäre nicht das, was Colette wollte. Außerdem haben Sie nicht an Yvette und Jeannette gedacht. Die Mädchen wären am Boden zerstört.«

»Nan …«

»Nein, John, ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht.«

Verzweifelt wandte Rose sich ab.

Wie angewurzelt blieb Charmaine unter der Tür stehen. »Es tut mir leid, ich wollte nicht …«

Mit schmerzverzerrtem Gesicht wie an dem Morgen, als er von Colettes Tod erfahren hatte, fuhr John herum. Rasch überspielte er seine Gefühle mit einem gezwungenen Lächeln. »Kommen Sie ruhig herein, Miss Ryan. Rose und ich haben schon alles besprochen.«

Der Rest des Tages verging in ähnlich unwirklicher Stimmung und steigerte Charmaines Bedenken nur noch. Nicht einmal Yvettes begeisterte Rufe »Wir haben das ganze Haus für uns allein!« und »Nur Johnny und wir! Und keine Auntie Agatha, die uns überall nachspioniert!« konnten daran etwas ändern.

Nur Johnny und wir … Da lag das Problem. Charmaine wollte keine Woche »nur Johnny und wir« – sie wollte ja nicht einmal diese eine Nacht erleben müssen. John hatte sich sonderbar benommen, aber die anderen genauso. Fatima hatte darauf bestanden, ihm beim Dinner unentwegt vorzulegen, als ob es morgen nichts mehr zu essen gäbe, und Rose hatte oben in ihrem Zimmer gespeist und sie mit John und den Kindern am Tisch allein gelassen. Obendrein hatte John sie ständig prüfend angestarrt, als ob er ihren wahren Wert schätzen wollte, bis Charmaine so unwohl zumute gewesen war, dass sie sich mit dem Essen beeilt und sich danach sofort mit den Kindern zurückgezogen hatte.

Inzwischen war es zehn Uhr, und die Kinder schliefen schon lange. Um wach zu bleiben, bis auch John zu Bett ging, brauchte Charmaine ein Buch. Doch als sie das Foyer erreichte, zögerte sie. Wollte sie den Mann wirklich stören?

Nach dem Dinner hatte sich John im Arbeitszimmer vergraben, wo er, wie sie hörte, noch immer unablässig auf und ab lief. Offenbar hatte sich der Aufruhr in seinem Inneren noch nicht gelegt. Es wäre verrückt gewesen, sich in dieser Stimmung in den Käfig des Löwen zu wagen, dachte sie und kehrte in ihr Zimmer zurück.

Für John verging die Nacht in großer Unentschlossenheit, gespickt mit Momenten der Verzweiflung. Sekunden addierten sich zu Minuten und zähen Stunden. Irgendwann schlug die große Uhr in der Halle zwei Mal. Die Wände vibrierten unter dem Schall, der noch lange im Treppenhaus nachhallte.

John lag auf dem Bett und lauschte seinem Atem. Zum ersten Mal seit endlosen Minuten war sein Kopf absolut leer. Viele Stunden hatte er über sein Problem nachgedacht, hatte alle Möglichkeiten abgewogen und zu guter Letzt wieder verworfen. Er hatte begriffen, und zwar vom ersten Moment dieses elenden Tages an, dass er sich nicht einfach nehmen konnte, was er bisher nie beansprucht hatte. Wenn er es tat, würde er die bescheidene und ihm so kostbare Zufriedenheit aufs Spiel setzen, die ihm in diesen wenigen Wochen geschenkt worden war.

Sein Glück hing von dem Glück anderer ab. Und da sich niemand mit ihm verschwören wollte, war es klüger, sich in die Hoffnungslosigkeit zu schicken und den vorgezeichneten Weg weiterzugehen. Sich mit der Strömung treiben lassen … dieser Kurs sollte auch in Zukunft sein Leben bestimmen.

Gott, wie sehr er dieses Verlies hasste, das ihn seit so vielen Jahren gefangen hielt! Er konnte weder vorwärts noch rückwärts gehen, konnte nur in der Erinnerung leben und den Himmel für das schlechte Blatt verfluchen, für das er sich entschieden hatte und mit dem er nun spielen musste. Wenn nichts geschah, musste er noch Stunden in diesem verdammten Bett zubringen und sich bis zur Erschöpfung hin und her wälzen …

Kurz entschlossen schleuderte er die Decke beiseite und sprang aus dem Bett. Doch als er seine unruhige Wanderung wieder aufnahm, stiegen auch die schmerzlichen Erinnerungen wieder empor. Lange hatte er sie gehegt und gehofft, dass die Zukunft sie eines Tages Wirklichkeit werden ließ. Aber die Zukunft war nicht gekommen, und die Vergangenheit war nie gestorben. Es war an der Zeit, dass er beide beerdigte. Vielleicht gelang ihm das ja, wenn er endlich seine Leidenschaft beschwor und seine Verzweiflung fahren ließ. Mit einem Mal wusste er genau, wohin er sich wenden musste. Er zog seinen Morgenmantel über und warf ohne Rücksicht auf die späte Stunde die Tür seines Zimmers heftig hinter sich ins Schloss.

Charmaine schrak aus tiefem Schlaf hoch und horchte ängstlich, wohin sich die Schritte am Ende des Korridors bewegten. Sie wusste, wer so spät durchs Haus ging, und strengte ihre Ohren an, um rechtzeitig zu hören, wenn die Schritte vielleicht verstohlen zurückkehrten. Zwar hatte sie ihre Tür verriegelt, aber trotzdem fürchtete sie, dass er über die Veranda, das unbenutzte Ankleidezimmer oder gar das Kinderzimmer hereinschleichen konnte. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten, und als ihr wild pochendes Herz endlich langsamer schlug, beruhigte sich auch ihr Atem. Nichts – keine gefährlichen Geräusche … Hatte er das Haus verlassen? Oder lief er in der Bibliothek auf und ab und überlegte, wie er sich der hilflosen Gouvernante bemächtigen konnte? Nein, so war John nicht, beruhigte sie sich selbst. Er hatte ihr zu keiner Zeit Grund gegeben, sich zu ängstigen, sich vor Gewalttätigkeiten zu ängstigen. Heute war sie genauso schutzlos wie in der Nacht, als er nach Hause gekommen war. Doch heute gab es keinen Paul, keine Dienerschaft, keinen, der ihr zu Hilfe eilen konnte, wenn sie schrie. Sie schauderte … Aber hätte er ihr nicht auch früher etwas antun können? Die Nacht war schon zur Hälfte vorbei, und sie war auch nicht anders als andere – bis auf die Tatsache, dass er keinen Schlaf fand.

Und dann hörte sie es. Die verbotene Melodie. Träume ich? Sie hob den Kopf, aber sie konnte nur entfernt einzelne Tonfolgen der Sonate vernehmen. Sofort war Charmaine aus dem Bett. Sie träumte keineswegs! Irgendjemand spielte vollendet und rief sie, um der Melodie zu lauschen. Hastig verließ sie das verbarrikadierte Zimmer, schlüpfte in ihren Morgenmantel und folgte den Tönen, die auf seidenen Schwingen zu ihr emporstiegen. Wenn nur Colette da wäre …

Ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war, stand sie plötzlich barfuß unter der Tür zum Wohnzimmer. John saß mit leicht geneigtem Kopf am Piano und drehte ihr den Rücken zu. Anfangs schienen seine Finger die Tasten zu liebkosen und entlockten ihnen Töne von herzzerreißender Einsamkeit und brennender Sehnsucht. Doch plötzlich hämmerte er zornig auf sie ein und weckte eine Welle der Leidenschaft. Magisch wurde Charmaines Blick vom Flackern der Kerzen im Kandelaber angezogen. Sie sah, wie die Flammen mit den Schwingungen der Luft zu tanzen begannen und dem Takt der Rhapsodie folgten, und fühlte sich dem Docht verwandt, der sich brennend verzehrte und verging, sich wandelte und schließlich zum Frieden fand wie das Wachs, das auf die schwarzglänzende Oberfläche des Pianos tropfte.

Auf dem Höhepunkt zögerte John, eine schrille Dissonanz hallte von den Wänden wider, und er sank wie ausgebrannt in sich zusammen. Dann hämmerte er auf die Tasten, als ob er den Fehler seines Lebens damit auslöschen könnte. Die Tasten blockierten, und brutale Missklänge erfüllten die Luft.

Unwillig verzog Charmaine das Gesicht, weil sie die Schönheit der Melodie zurücksehnte.

Ganz langsam legte John die Arme auf die Tasten, barg sein Gesicht in ihrer Beuge und lauschte dem Schlag seines gequälten Herzens. Er hatte gehofft, die entsetzliche Verlassenheit auszulöschen, sie nicht erneut zu beschwören. Er holte Luft und schauderte, als er den angehaltenen Atem wieder ausstieß. Aber die junge Frau im Schatten, die ihn betrachtete, sah er nicht.

Sehr viel später würde sie sich einmal fragen, warum sie in diesem Augenblick nicht in ihr Zimmer zurückgekehrt war. »Hören Sie nicht auf«, bat sie stattdessen und betrat den Raum.

John fuhr herum und starrte sie finster an. In dieser Nacht wollte er allein sein.

»Sie … Sie spielen einfach wunderbar.«

Er gab einen unwilligen Laut von sich. »Vermutlich das Einzige, was ich richtig mache.«

»Außer den letzten Takten.«

»Stimmt.« Das klang eher abweisend.

Aber Charmaine nahm es nicht übel. Er schien sich zu quälen. »Trotzdem sollten Sie wegen eines Fehlers nicht gleich aufgeben. Den größten Teil haben Sie wunderbar gespielt. Mrs. Harrington hat immer gesagt …«

»Ist es nicht schon reichlich spät für Sie, Mademoiselle?«, fiel er ihr heftig ins Wort.

»Die Musik hat mich geweckt.«

»Ich bitte um Verzeihung.«

»Das ist unnötig. Ich mag dieses Stück besonders gern.«

»Ist das wahr?«, spottete er. »Warum habe ich Sie es dann noch nie spielen hören?«

»Ich bin nicht gut genug. Colette hat mir zwar Mut gemacht, aber nach ihrem Tod wurde mir verboten …«

»Verboten?« Seine Verdrießlichkeit wandelte sich in Zorn. »Wer hat das verboten?«

Die Wahrheit hatte die ganze Zeit über hinter der Tür gelauert und nur darauf gewartet, dass Charmaine sie öffnete. Krachend stürzten jetzt Erkenntnis und Antworten auf sie nieder. Verboten … dieses Wort öffnete die Türen und erhellte ihre Fragen. Die Rhapsodie … verboten. Johns Namen erwähnen … verboten. Ihm einen Brief schreiben … verboten. Johns Umgang mit den Kindern … verboten. Weitere Kinder bekommen … verboten. John und Colette … verboten! Alles, was sie vermutet hatte, entsprach der Wahrheit! Musste einfach wahr sein! Gib Gott, dass dem nicht so war! »Ich … ich hätte nicht herunterkommen sollen«, stammelte sie.

Bevor sie weglaufen konnte, packte John sie am Arm. »Nicht so eilig!« Er zog sie zu sich herum. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«

Charmaine zuckte weder zurück, noch entzog sie ihm ihre Hand, und ihr melancholischer Blick besänftigte seinen Wutausbruch. »Bitte … gehen Sie nicht«, flüsterte er und ließ sie los. »Es war mein Vater, nicht wahr? Er hat Ihnen verboten, dieses Stück zu spielen, stimmt es?«

»Ja. Es tut mir leid.«

»Warum? Warum sollte Ihnen das leidtun?«

»Ich möchte das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Vater nicht noch mehr belasten.«

Er schnaubte verächtlich. »Das hat Colette auch immer gesagt, aber Sie haben noch weniger Einfluss auf die Lage als sie. Und sie hatte schon wenig genug. Wie ich bereits sagte, dauert es seit neunundzwanzig Jahren an. Nichts kann ein so grauenhaftes Verhältnis zwischen Vater und Sohn noch verschlechtern.«

»Und dennoch schmerzt es Sie, auch wenn Sie das bestreiten.«

»Ich bestreite gar nichts, außer dass Sie oder Colette irgendwelche Schuld daran tragen.«

»Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Es tut mir leid, dass ich Ihnen wehgetan habe.«

John schien verblüfft. »Weshalb sollten Sie Mitleid mit mir haben?«

»Keine Ahnung«, antwortete Charmaine der Wahrheit entsprechend. »Vielleicht, weil ich Ihre Vergangenheit allmählich besser verstehe? Ich weiß zwar nicht, was vor vielen Jahren hier auf Charmantes vorgefallen ist, aber ich denke, dass es Ihre Kindheit verändert hat und …« Sie zögerte.

»Und?«

»In gewisser Weise mag ich Sie, John. Ja, ich habe gelernt, Sie zu respektieren. Jedenfalls haben Sie nicht verdient, dass man Ihnen wehtut.«

»Niemand verdient das, Charmaine. Am wenigstens ein unschuldiges Kind.«

Zuerst dachte sie, dass er von sich selbst und seinem Vater sprach, aber in seinem Blick konnte sie keine Spur von Selbstmitleid oder Hass entdecken. Stattdessen schien er Frieden gefunden zu haben, so als ob er endlich begriffen hätte, was ihm entgangen war. Als er wieder sprach, war Charmaine vollkommen überrascht. »Möchten Sie gern das ganze Stück hören?«

Als sie nickte, kehrte er zum Piano zurück, und sie folgte ihm. Er setzte sich und legte die Hände auf die Tasten.

Sein erster Anschlag war weich, aber prägnant. Und dann explodierte der Klang im Raum. Seine Finger irrten sich nicht ein einziges Mal, folgten seinem Willen und entlockten dem Piano in fein abgestimmten Kadenzen eine unergründliche Sehnsucht, die anschwoll und abebbte wie die Brandung des Ozeans. Ohne Vorwarnung schrien die letzten Akkorde auf, bevor der letzte Ton erklang.

Nachdem John geendet hatte, war Charmaine traurig und beglückt zugleich und brachte kein Wort heraus, sondern seufzte nur tief.

»Sie scheinen unzufrieden, my charm

Es dauerte einen Moment, bis sie überhaupt merkte, dass er etwas gesagt hatte.

»Unzufrieden? Aber nein, ganz und gar nicht. Höchstens traurig, dass es schon zu Ende ist.«

»Ich spiele es gern immer wieder, sooft Sie möchten.« Ein schiefes Lächeln spielte um seine Lippen. »Falls Sie meine besondere Version ertragen können.«

»Und wie ich das kann!« Sie war begeistert. »Die letzten Takte sind ungewöhnlich schwer, aber ich bin sicher, dass der Komponist mit Ihrem Schluss zufrieden wäre.«

»Es ist der einzige, der mir möglich ist.«

Bevor sie noch über seine bizarre Bemerkung nachdenken konnte, trat er auf sie zu.

»Ich möchte mich gern für mein Benehmen entschuldigen«, sagte er, nur einen Atemzug von ihr entfernt. »Es hat Ihnen vermutlich Angst gemacht.«

Charmaine atmete ganz langsam ein. »Im Moment fühle ich mich durchaus sicher.«

Er lachte leise, als ihm plötzlich ihre Weiblichkeit bewusst wurde, die in ihrer Unschuld seine Sinne betörte. In diesem Moment erschien sie ihm begehrenswerter denn je. »Was womöglich leichtsinnig ist.«

Dann lag sie in seinen Armen, und sein Mund suchte ihre Lippen. Als seine Lippen ihr verführerisches Spiel begannen und im Wechsel geschmeidig und fordernd zugleich ihren Mund eroberten, raubte es ihr den Atem. Sie wehrte sich nicht, aber sie erwiderte seinen Kuss auch nicht. Eher suchte sie einfach nur Halt an ihm. Ihr Herz schmerzte, und jeder Nerv in ihrem Körper vibrierte bis in die Fingerspitzen. Als ihre Beine sie nicht mehr trugen, klammerte sie sich fester an ihn und überließ sich seinem Willen. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, dabei war es in Wirklichkeit nur ein winziger Augenblick, dachte sie. Und unerwartet obendrein. Wenn sie gewarnt gewesen wäre, hätte sie den Überfall vielleicht abgewehrt – erfolgreich abgewehrt. Doch jetzt überließ sie sich seinen Armen, schloss die Augen vor jeder Vernunft und der Wirklichkeit und öffnete sich den Empfindungen, die er in ihr weckte, fühlte seine warme Hand an ihrer Wange, den muskulösen Arm, an dem ihr Kopf lehnte, und den harten Brustkorb, der sich gegen ihre Brüste drückte. Er bedeckte ihre Kinnlinie mit winzigen Küssen, bis sich sein Kopf zwischen Hals und Haar vergrub. Und als seine Lippen die Haut ihres Halses liebkosten und seine Zähne sacht an ihrem Ohrläppchen knabberten, meinte sie das Klopfen ihres Herzens hören zu können. Sie stand wie gelähmt da und schwankte sogar ein wenig, als er plötzlich den Kopf hob und die Arme sinken ließ.

»Wir sollten es lieber dabei belassen«, flüsterte er.

Atemlos sah er sie an und forschte nach einem kleinen Zeichen der Hoffnung. Doch als sie schwieg, lächelte er. So unschuldig, wie sie war, ahnte sie nichts von den Stürmen, die sie in ihm ausgelöst hatte, von dem Blut, das heftig in seinen Adern und seinen Lenden pochte … Sich näher auf einen wie ihn einzulassen, hatte sie wirklich nicht verdient.

»In ein paar Stunden dämmert es bereits«, fuhr er fort, »und wir brauchen beide noch ein wenig Schlaf. Das dürfte uns jetzt kaum schwerfallen.«

Sie war enttäuscht, dass er den Kandelaber löschte und eine Kerze entzündete, aber klugerweise hielt sie den Mund. Als er ihren Arm nahm, wollte sie etwas sagen, doch er legte den Finger auf die Lippen. »Sagen Sie nichts, my charm. Worte würden den wunderbaren Augenblick nur zerstören.«

Sie durchquerten die große Halle und stiegen die Treppe empor, was Charmaine wie eine Ewigkeit vorkam.

»Ist Ihnen kalt?«, fragte er, als sie den Morgenmantel enger um sich raffte. »Keine Angst. Unter Ihrer Decke wird Ihnen gleich warm werden.«

Offenbar hatte er nicht die Absicht, sie dorthin zu begleiten. Aber sie misstraute sich selbst und sah bang zu ihm empor, als sie vor ihrer Tür ankamen. Mit einem Blick voll ungewohnter Wärme und Herzlichkeit beugte er sich nach vorn und drückte ihr einen väterlichen Kuss auf die Stirn. »Danke«, sagte er leise und strich sanft eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.

»Danke wofür?«

»Für diese Augenblicke – für diesen Abend. Er hat zwar nicht die Lösung gebracht, die ich zu Beginn dieses Tages angestrebt habe, aber ich kann mit ihr leben. Sie haben mir heute etwas sehr Wertvolles geschenkt, was ich allein nicht erlangt hätte.«

Sie war neugierig. »Und was soll das sein?«

»Sie haben mir Hoffnung geschenkt – Hoffnung auf die Zukunft. Ich lasse mich jetzt mit der Strömung treiben und arbeite nicht mehr dagegen an. Und dann … eines Tages wird sich alles fügen. Gute Nacht, my charm

Mit diesen Worten ging er davon, und Charmaine sah ihm nach, bis sich seine Tür hinter ihm schloss. Im Gegensatz zu ihm würde sie bestimmt keinen Schlaf finden. Mit einem tiefen Seufzer betrat sie ihr Zimmer. Doch kaum dass sie unter die Decke geschlüpft war, ging ihr wieder die Melodie durch den Kopf, und sie fühlte sich in Johns Armen wie in einem Kokon der Zufriedenheit geborgen.

Dienstag, 3. Oktober 1837

 

Charmaine stöhnte nur und hätte sich am liebsten vor ihren Pflichten gedrückt, doch angesichts des Tageslichts und des energischen Klopfens an der Tür musste sie wohl oder übel die Augen öffnen. »Herein.« Sie rappelte sich hoch und griff nach ihrem Morgenmantel.

Zu ihrer Überraschung marschierte Mrs. Faraday mit einem Stapel frischer Wäsche ins Zimmer. Verschlafen sah sie zu, wie die Haushälterin die Lampe löschte, die Vorhänge aufzog und sich dann stumm dem Bett zuwandte.

»Bemühen Sie sich nicht, Mrs. Faraday. Wie ich schon mehrmals gesagt habe, bin ich durchaus in der Lage, mein Bett selbst zu machen.«

»Das mag sein«, entgegnete die Haushälterin in scharfem Ton, »aber ich habe es eilig. Heute ist Waschtag, und ich muss die Wäsche wechseln.«

»Auch das kann ich selbst tun.«

»Dann hätten Sie es längst erledigen können, Miss Ryan. Nur weil Sie ausschlafen müssen, lasse ich mir meinen Stundenplan nicht durcheinanderbringen.«

Charmaine runzelte die Stirn. »Wie spät ist es denn?«

»Fast elf Uhr.«

»Aber das ist unmöglich! Die Kinder hätten mich doch geweckt.«

»Das hätten sie sicher getan, wenn Master John sie nicht daran gehindert hätte.« Mrs. Faraday schnalzte mit der Zunge und zerrte entrüstet die Laken vom Bett. »Warum Master John die Kinder hütet, obwohl sein Vater eine Gouvernante bezahlt, entzieht sich meiner Kenntnis. Mir erscheint es zumindest verwunderlich, dass Sie – wie hat er das so schön gesagt? – Ihren Schlaf verdienen, während Master John längst aufgestanden und munter ist? Höchst seltsam, wenn Sie mich fragen.«

Charmaine stöhnte innerlich, weil ihre geröteten Wangen womöglich zu falschen Schlüssen verleiteten. »Ich frage Sie aber nicht, Mrs. Faraday, und ich bedauere, dass Sie Master Johns Freundlichkeit so obszön missdeuten.«

»Ich bin nicht dumm, Miss Ryan«, spottete Mrs. Faraday, »aber Ihre Bemerkung beim Dinner hat inzwischen im Haus die Runde gemacht. Bisher dachte ich, dass Sie Master Paul eifersüchtig machen wollten, aber nun … nun bin ich mir nicht mehr sicher.«

Jetzt reichte es Charmaine endgültig. »Nehmen Sie Ihre Wäsche, Mrs. Faraday, und verlassen Sie auf der Stelle mein Zimmer!«

Das stopfte der Haushälterin den Mund. Schweigend bündelte sie die Laken und rauschte beleidigt davon.

»Und wenn ich das nächste Mal länger schlafe, dann wecken Sie mich gefälligst nicht! Ich werde nicht dafür bezahlt, mir Ihre Gemeinheiten anzuhören.«

Als die Tür ins Schloss knallte, stand Charmaine mit geballten Fäusten mitten im Zimmer und biss vor Wut die Zähne aufeinander. Sie war stolz darauf, wie sie sich geschlagen hatte. Was diese Person sich herausnahm! So gesehen war sie noch schlimmer als Agatha.

Es dauerte eine Weile, bis ihr Zorn etwas abflaute. Als sie sich schließlich anschickte, ihr Bett zu beziehen und sich anzukleiden, erinnerte sie sich an John und an die wunderbaren Gefühle, die er in ihr geweckt hatte. Sie hatte selig geschlafen, und ohne dass sie sich an Einzelheiten erinnern konnte, wusste sie, dass sie fast die ganze Nacht von ihm geträumt hatte. Wie würde er sie heute begrüßen? Und wie sie ihn? Im Gegensatz zu ihrem ersten Kuss am Abend seiner Ankunft konnte sie sich dieses Mal nicht hinter Entrüstung verschanzen. Sie hatte seine Umarmung genossen, und schon die Erinnerung daran ließ ihr Herz heftiger schlagen. Sie betete und hoffte, dass er seine Worte wahr machte und nichts davon erwähnte, aber wie sie John kannte, befürchtete sie das Gegenteil.

»Egal, wie?«

»Egal, wie, jedoch in vernünftigem Rahmen«, antwortete John und sah Yvette über den Tisch hinweg an. Sie saßen bereits beim Lunch!

Pierre entdeckte Charmaine als Erster und rutschte von Johns Schoß herunter. »Mainie ist da!« Er fasste sie an der Hand und zog sie zum Tisch. »Es geht um die Woche!«

Charmaine mied Johns Blick. »Um welche Woche denn?«

»Um unsere.« Kichernd kletterte der Kleine auf seinen Stuhl und sah John an. »Also los«, sagte er und stützte wie sein großes Vorbild den Kopf in die Hand.

»Ich habe den Kindern diese Woche geschenkt, Miss Ryan«, erklärte John.

Überrascht sah Charmaine ihn an. Ihr Herz machte einen Satz, als kein spöttisches Grinsen zu sehen war.

John wandte sich wieder den Kindern zu. »Euer Wunsch ist mir Befehl. Wir werden jeden Tag ganz nach euren Wünschen gestalten. Damit es gerecht zugeht, bekommt jeder einen eigenen Tag. Pierre darf anfangen. Heute ist sein Tag. Morgen ist Jeannette an der Reihe. Der Donnerstag gehört Yvette, und am Freitag darf Mademoiselle Charmaine entscheiden. Wie hört sich das an?«

»Warum muss ich bis Donnerstag warten?«, nörgelte Yvette.

»Ich dachte, dass du Zeit brauchst, um dir den schönsten Ausflug auszudenken.«

»Hm.« Der Gedanke schien Yvette zu gefallen. »Genau das mache ich, und ich verspreche, dass sich das keiner träumen lässt.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte John. »Also, Pierre, was machen wir heute?«

»Ich will lieber den Freitag«, jammerte der Kleine. »Ich kann mich nicht so schnell entscheiden.«

John schmunzelte. »Das können wir gern machen, wenn Mainie mit dir tauscht.«

John sah Charmaine an. Sie nickte hastig und merkte zu spät, dass sie nun Pläne für den Nachmittag machen musste. Aber welche?

John verschränkte die Arme und legte gähnend die Füße hoch. Dann kippte er den Stuhl nach hinten und balancierte auf den hinteren Beinen.

»Hör auf damit, Johnny!«, schimpfte Jeannette. »Cookie wird dir den Hintern versohlen, wenn sie dich erwischt.« Yvette und Pierre kicherten.

Aber er machte ungeniert weiter. »Miss Ryan, wir warten auf Ihren Vorschlag.«

»Ich schlage vor, dass Sie sich erst einmal ordentlich hinsetzen«, entgegnete Charmaine. »Sie geben den Kindern ein schlechtes Beispiel. Wenn Sie nicht aufpassen, fallen Sie noch um und verletzen sich womöglich.«

Wie auf ein Stichwort geriet der Stuhl plötzlich ins Wanken, dann kippte er, und John fiel auf den Boden. Die Kinder quietschten vor Vergnügen. Charmaine eilte an seine Seite. »Sind Sie verletzt?«

»Ich glaube, ich habe mein Rückgrat gebrochen«, stöhnte er mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Habe ich es nicht gesagt!«, rief sie. Sie hockte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schultern. »Glauben Sie, dass Sie aufstehen können?«

»Ich … ich weiß es nicht.«

»Bitte, versuchen Sie es«, ermunterte sie ihn und war so beschäftigt, ihm aufzuhelfen, dass sie gar nicht merkte, als er ihr einen Kuss gab. Hereingefallen! Er lachte, und ihre Wangen brannten.

»Johnny hat Mademoiselle Charmaine geküsst!«, rief Jeannette begeistert.

»Direkt auf die Lippen!« Yvette wäre beinahe erstickt.

Charmaine schoss in die Höhe. »Psst! Wollt ihr denn, dass das ganze Haus es hört?«

»Was geht hier vor?«, fragte Fatima Henderson, als sie mit wogendem Busen ins Esszimmer eilte. »Was haben Sie wieder angestellt, Master John?«

»Überhaupt nichts, Cookie«, versicherte er und hob seinen Stuhl auf. »Es gab ein kleines Unglück, aber mir ist nichts passiert.«

So leicht war die Köchin nicht zu überzeugen. »Ich weiß nicht, was Sie wieder in Ihrem Kopf ausbrüten, Master John. Ich würde vorschlagen, dass Sie endlich an die Arbeit gehen. Hat Master Paul Sie nicht gebeten, ihn zu vertreten?«

»Das hat er, aber ich habe ihm nichts versprochen.«

Die Kinder lachten, aber Fatima funkelte ihn nur an.

»Später«, sagte er rasch. »Im Moment warten wir jedoch alle auf Miss Ryan …«

»Lassen Sie Miss Charmaine in Ruhe. Sie hat noch nicht einmal gegessen, und schon setzen Sie ihr zu!«

»Ich setze ihr zu? Ich? Das war nicht meine Absicht. Sobald sie uns endlich verrät, wie sie heute machen möchte, kann sie in Ruhe essen.«

»Eine Schaukel«, platzte Charmaine heraus und zog alle Blicke auf sich.

John war völlig verblüfft. »Wie bitte?«

»Ich möchte gern eine Schaukel bauen.«

»Eine Schaukel?«

»Genau. Eine Schaukel. S-C-H-A-U-K-E-L«, wiederholte sie zum dritten Mal und lächelte, als sie sich John hoch oben in den alten Eichen vorstellte, damit sie endlich vor seinen Streichen sicher war.

»Im Buchstabieren sind Sie gut, aber welchen Spaß soll uns eine Schaukel …«

»Heißt das, dass Sie sie nicht machen wollen?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß nur nicht …«

»Ob Sie es können?«

»Auch das habe ich nicht gesagt.« Langsam verging ihm die Lust. Sie beherrschte das Spiel einfach zu gut.

»Was dann?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und erntete ein beifälliges Schnalzen, als die Köchin in der Küche verschwand.

»Wenn Sie mich hätten ausreden lassen, hätte ich gefragt, wo wir sie aufhängen sollen?«

»An einer der Eichen vor dem Haus. Das ist ein guter Platz … Eine wunderbare Art, den Tag zu verbringen.«

John schnaubte nur. »Ich halte das eher …«

»Im Grunde ist Ihre Meinung gleichgültig. Sie haben gesagt, dass dieser Tag mir gehört und wir ihn nach meinen Wünschen verbringen. Das stimmt doch, oder nicht?«

»Ja, genau.«

»In diesem Fall würde ich schon einmal das Material zusammensuchen: ein möglichst glattes Brett und ein Tau von beträchtlicher Länge. Sobald ich gegessen habe, komme ich mit den Kindern nach draußen.«

Yvette wurde ungeduldig. »Ich bin schon fertig. Ich will Johnny begleiten.«

»Ich auch!«, rief Pierre. »Ich will auch bauen.«

Charmaine lachte. »Sehen Sie, den Kindern gefällt die Idee!«

»Also gut«, entgegnete John charmant, »dann bauen wir eben eine Schaukel.«

Er zwinkerte dem Jungen zu, als ob er das schon immer hätte tun wollen, und nahm die Kinder mit nach draußen.

Schon eine Stunde später hing die Schaukel an einer der Eichen. Dank der Hilfe einiger Stalljungen war die Sache weniger schwierig gewesen, als Charmaine erwartet hatte. Sie saß auf der Veranda vor dem Haus und sah zu, wie die Kinder eines nach dem anderen an der Reihe waren. Yvette hatte schnell heraus, wie man das Brett in schwindelnde Höhen trieb, und quietschte jedes Mal laut, wenn sie der Erde entgegenstürzte. Als Nächste war Jeannette an der Reihe und zum Schluss ihr kleiner Bruder. Ihn musste man noch sacht anschieben, was Jeannette mit Wonne übernahm, da Yvette sich ein Stück weit entfernt ins Gras geworfen hatte.

»Wollen Sie Ihre Schaukel nicht auch ausprobieren, my charm?«, fragte John, als er die Stufen zur Veranda emporstieg und sich zu ihr setzte.

»Später, wenn die Kinder genug davon haben.«

Er sah sie an, und sein Blick verweilte so lange auf ihren Lippen, dass sie innerlich erschauerte.

»Ich danke Ihnen, dass Sie mir den Wunsch erfüllt haben«, sagte sie, um ihn abzulenken, und war erleichtert, als er den Blick hob und sie ansah. »Ich möchte gleich noch einen weiteren anfügen.«

»Als da wäre?«

»Dass Sie sich in Zukunft mit Beweisen Ihrer Zuneigung zurückhalten.«

»Beweise meiner Zuneigung? Falls Sie auf den leidenschaftlichen Kuss von heute Morgen anspielen …«

»Genau das meine ich.«

»Ein Ausbruch von Leidenschaft war das wahrlich nicht, my charm, sondern nur ein ganz unschuldiger Kuss.«

»Mag sein, dass Sie das so sehen«, beharrte sie, »aber was wissen Kinder schon von Unschuld und Leidenschaft? Für sie ist das doch dasselbe.«

»Und für Sie, Charmaine?«

Sie gab das Gefecht verloren. Als sie fühlte, wie ihr die Wärme in die Wangen stieg, wandte sie den Blick ab.

»Also gut, my charm. Um unsere gemeinsame Woche nicht zu verderben, müssen Sie keine Überfälle meinerseits mehr fürchten – ganz gleich, ob leidenschaftlich oder harmlos.«

»Danke«, flüsterte sie und sah auf ihre Hände hinunter.

»Ich kann auch gern mit Mrs. Faraday sprechen, falls Sie das möchten.«

Verblüfft starrte sie ihn an. »Woher wissen Sie …«

»Ich wusste es nicht, jedenfalls nicht sicher. Aber so, wie sie mich heute Morgen angesehen hat, als ich verbot, Sie zu stören … nun gut, ich habe meinen Fehler sofort bemerkt. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Charmaine, sie wird Paul nichts sagen. Und falls doch, so kann das nur zu Ihrem Vorteil sein.«

Charmaine ärgerte sich zwar, doch als sie das Glitzern in seinen Augen bemerkte, biss sie sich auf die Zunge.

»Ein bisschen Eifersucht wirkt manchmal Wunder, um meinen Bruder herumzukriegen.«

»Um ihn herumzukriegen?«

»Zum Heiraten, Charmaine. Das ist doch Ihr geheimer Wunsch, oder nicht?«

Schweigend blickte sie über die Wiese und die Koppeln. John wartete und sah sie dabei lange an. Dann ließ er das Thema fallen. »Was fangen wir jetzt mit dem Rest des Tages an? Wie wäre es mit einem kleinen Ausflug in die Stadt?«

»Sie könnten auch für mich Klavier spielen … und für die Kinder natürlich auch.«

Er lächelte, als ob er ihr ein Geständnis entlockt hätte, aber dann winkte er ab. »Sie spielen jeden Tag für die Kinder. Es gibt sicher noch etwas anderes …«

»Aber ich spiele nicht annähernd so gut wie Sie. In der vergangenen Nacht habe ich begriffen, warum Sie …«

»Warum ich Ihre Fähigkeiten kritisiert habe?«

Sie schwieg.

»Sie spielen wunderschön, Charmaine, und ich höre sehr gern zu, wenn die Kinder zu Ihrer Begleitung singen. In den ersten Tagen muss ich Ihnen wie ein Monster erschienen sein, aber ich habe Sie falsch eingeschätzt. George hat versucht, mich von meinem Irrtum zu überzeugen, und Paul auch, aber ich wollte es nicht glauben. Vielleicht, weil es von meinem Bruder kam.«

»Warum ist das so? Warum trauen Sie einander nicht? Warum streiten Sie in einem fort?«

»Dafür gibt es mehrere Gründe. Die meisten haben mit meinem Vater zu tun.«

»Sind Sie wütend, weil er Ihrem Bruder die Insel Espoir geschenkt hat?«

»Nein. Wütend bin ich nicht, zumindest glaube ich das.«

Charmaine runzelte die Stirn. »Oder ärgert Sie seine Begeisterung für Pauls Arbeit? Sicher haben Sie in Virginia auch Projekte, die Anerkennung verdienen.«

»Wenn mein Vater von meinen Fortschritten in Virginia wüsste, würde er Paul vermutlich auch dort mit der Leitung betrauen.«

Die spöttische Bemerkung musste sie erst verdauen. »Es bedeutet Kindern sehr viel, wenn die Eltern sich für ihre Fortschritte interessieren. Ich weiß, was es heißt, nie gelobt und nur missachtet zu werden.«

»Sie wurden missachtet?«

»Ja, von meinem Vater.«

»Wie es aussieht, haben wir einiges gemeinsam, my charm.« Er schwieg eine Weile. »Was ist mit Ihrer Mutter geschehen?«

Charmaine musste die Luft anhalten. Selbst nach zwei Jahren war die Erinnerung noch immer schmerzlich. Seltsam, aber zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, als ob sie die Wahrheit nicht länger geheim halten müsste. Mit John konnte sie darüber reden. Er würde sie verstehen.

»Mein Vater war tagaus, tagein betrunken und hat meine Mutter so schrecklich verprügelt, dass sie daran gestorben ist. Danach ist er verschwunden, und seitdem hat ihn niemand mehr gesehen.« Ohne Vorwarnung stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Es war alles meine Schuld.« Aufschluchzend wandte sie ihr Gesicht ab.

»Ihre Schuld?«

»Ja. Ich habe ihm meinen Lohn verweigert. Mein Vater war ein Taugenichts, der nur selten gearbeitet hat. Und wenn, dann hat er seinen Lohn in Schnaps umgesetzt. Meistens hat meine Mutter ihm Geld geben müssen. Als die Harringtons mich eingestellt haben, wollte er auch meinen Lohn. In einer Nacht hat er sich besonders viel Mut angetrunken und wollte meinen Lohn bei den Harringtons kassieren. Als er nichts erreicht hat, hat er sich über meine Mutter hergemacht, weil er glaubte, dass sie meinen Lohn vor ihm versteckte. Wenn ich ihm mein Geld gegeben hätte, hätte er sie vielleicht nicht angerührt.«

»Trotzdem war es nicht Ihre Schuld, Charmaine. Es gibt keine Entschuldigung dafür, eine Frau zu prügeln«, sagte er verächtlich. »Ich kenne eine Menge solcher Männer. Wenn es nicht ums Geld gegangen wäre, hätte es einen anderen Grund gegeben. Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen.«

Seine ruhigen Worte trösteten sie. Bis heute hatte sie noch niemandem anvertraut, dass sie sich für den Tod ihrer Mutter verantwortlich fühlte. Warum war es so einfach, John davon zu erzählen? Und warum erleichterte seine Reaktion ihre Last?

»Wie heißt Ihr Vater?«

»Wie er heißt? Warum fragen Sie?«

John zuckte die Schultern. »Vermutlich aus Neugier.«

»John Ryan.«

Ein leises Grinsen spielte um seine Lippen. »John, hm?«

Aus Furcht, dass er nun auch noch ihre Seele ergründen könnte, lenkte sie ab. »Ihr Vater verachtet Sie doch auch, nicht wahr?«

Er wurde ernst. »Sie waren beim Dinner zugegen, Charmaine. Was muss ich da noch sagen? Das ist auch einer der Gründe, warum Paul und ich uns nicht verstehen.«

Langsam dämmerte es Charmaine. »Und es ist der Grund dafür, dass die Geschäfte der Familie Sie so wenig interessieren. Ohne die Liebe und Anerkennung Ihres Vaters verspüren Sie wenig Lust, Pauls Projekte zu unterstützen.« Als er nicht reagierte, fuhr sie fort. »Paul besitzt die Liebe seines Vaters, aber er sehnt sich nach Legitimität. Sie dagegen möchten die Liebe Ihres Vaters erlangen, doch Ihre legitime Geburt hat keine Bedeutung für Sie.«

John war beeindruckt, wie klar sie die Dinge sah. »Paul will alles haben, aber das gelingt ihm nicht! Wie Sie erlebt haben, lässt Vater ihn zuweilen genauso gern zappeln.«

»Zappeln?«

»Das ist schwer zu verstehen, Charmaine. Frederic Duvoisin ist ein Meister der Manipulation. Ein begeisterter Puppenspieler.«

Seine Einschätzung stimmte sie traurig. »Ich habe Ihren Vater eigentlich als sehr direkten Menschen kennengelernt.«

»Das beweist nur, wie naiv Sie sind«, spottete John mit säuerlicher Miene. Charmaine war verärgert, aber John ging es genauso. »Ich will uns den Tag nicht mit Gerede über meinen Vater verderben. Wir sollten unseren Pakt lieber auf Paul beschränken. Möchten Sie irgendetwas über ihn wissen?«

John hatte recht. Paul war viel interessanter, und doch fürchtete sie, dass John ihr unliebsame Tatsachen berichten könnte. Eine Frage jedoch schien unverfänglich zu sein. »Wer von Ihnen ist eigentlich der Ältere? Sie oder Paul?«

John zog die Brauen in die Höhe und sah sich grinsend nach allen Seiten um. Dann flüsterte er verstohlen, als ob die Wände Ohren hätten. »Das, my charm, ist das große Geheimnis der Familie! Das weiß nämlich keiner genau. Manche sagen, dass das Baby – also Paul – mitten in der Nacht vor meiner Geburt zu meinem Vater gebracht wurde. Woher, das ist unbekannt.« Er richtete sich auf und sprach ganz normal weiter. »Ich glaube das allerdings nicht. Ich habe mich oft gefragt, wie meine Mutter wohl auf Pauls Ankunft reagiert hat. Mir erscheint es logischer, dass Paul erst nach ihrem Tod geboren wurde. So würde auch der Lebenswandel meines Vaters nicht ins Gewicht fallen. Egal. Er hat sich die Hörner jedenfalls gründlich abgestoßen, wenn ich das so sagen darf.«

»Und Pauls Mutter?«

John zuckte die Schultern. »Nach Auskunft meines Vaters ist sie tot. Aber er hat nie bezweifelt, dass Paul sein Sohn ist, auch wenn er ein Bastard ist.«

Die harten Worte ließen Charmaine zusammenzucken.

»Seien Sie nicht so empfindlich, Charmaine. Paul hat die Tatsache akzeptiert. Sie müssen ihn nicht bedauern. Viele würden liebend gern mit ihm tauschen und sich einen Bastard nennen lassen, wenn ihnen das einen Teil des Duvoisin-Vermögens eintrüge. George würde das zum Beispiel sofort machen.«

Pierre kam angerannt. »Diesmal will ich ganz hoch fliegen!« Er zerrte John an der Hand, bis er endlich aufstand.

Charmaine erhob sich ebenfalls und schlenderte über die Wiese zu den Mädchen hinüber, die gerade den zwei Monate alten Sultan streichelten.

»Dürfen wir die Ponys aus dem Stall holen?«, riefen sie schon von weitem.

Donnerstag, 5. Oktober 1837

 

»Ich bin nicht damit einverstanden«, protestierte Charmaine ein weiteres Mal, während sie im schaukelnden Wagen in die Stadt fuhren. Die Zwillinge hatten darauf bestanden, oben auf der Bank neben dem Kutscher sitzen zu dürfen, während Pierre und die Gouvernante zusammen mit John im gepolsterten Inneren Platz genommen hatten.

»Dafür gibt es wirklich keinen Grund, Charmaine«, versicherte John noch einmal.

»Warum ist ein Tag wie gestern nicht schön genug? Der Ausritt war herrlich, das Picknick eine Freude, selbst der Regen konnte uns den Ausflug nicht verderben und …«

»Yvette wäre niemals mit einer bloßen Wiederholung zufrieden«, unterbrach er sie. »Sie ist nun einmal keine Jeannette. Die einzige Ähnlichkeit der Mädchen beschränkt sich auf ihr Aussehen. Das sollten Sie eigentlich wissen. Ganz nebenbei finde ich die Idee, im Dulcie’s zu essen, großartig.«

»Großartig, fürwahr! Und was wird Ihr Vater sagen, wenn er erfährt, dass Sie Ihre Schwestern ins Dulcie’s ausgeführt haben? Ich weiß« – sie hob die Hand, um seinen Einwand abzuwehren –, »dass Ihnen das egal ist!«

»So direkt wollte ich es nicht sagen, aber dem Sinn nach ist es richtig.«

»Sie können sich solchen Leichtsinn leisten, aber ich bin für das Wohlergehen der Kinder verantwortlich. Ich bereue den Tag, an dem ich mich zu diesem Kompromiss bereitgefunden habe.«

»Welche moralische Gefahr lauert schon beim Essen in einem Saloon? Ich verbürge mich dafür, dass nur Dulcie uns bedient.«

»Ein Saloon? Ist die Bezeichnung nicht etwas großzügig? Es ist doch eher eine Spielhölle, gar nicht zu reden von …«

»Nun?«

Charmaine mochte nicht aussprechen, was ihr durch den Kopf ging. Sie dachte an Felicias Geschichten über die Barmädchen, die sich in den Zimmern im oberen Stockwerk mit den Seeleuten vergnügten.

»Sorgen Sie sich nicht unnötig, Charmaine. Schließlich verkehrt auch Paul im Dulcie’s.«

»Aber Ihr Bruder ist ein erwachsener Mann!«

»Genau! Und als solcher ist er auch empfänglicher für die Sünden eines Bordells als ein harmloses Kind.«

Charmaines Wangen brannten. »Sie haben auch auf alles eine Antwort!«, schimpfte sie.

»Für gewöhnlich ist das so«, erwiderte er. »Vielleicht sollten Sie sich die Antworten merken, damit Sie nie in Verlegenheit kommen.«

Aber die gerunzelte Stirn passte nicht so recht zu den lockeren Sprüchen. »Seien Sie jetzt nicht böse, Charmaine. Wir haben zwei wunderschöne Tage mit den Kindern verbracht, und wenn Sie sich einen Ruck geben, wird es heute genauso schön. Ich verspreche, dass ich unseren Plan ändere, falls im Dulcie’s irgendetwas nicht so ist, wie wir das gutheißen. Einverstanden, Pierre?«

»Aber klar.«

»Ich bin trotzdem nicht begeistert.«

Ich werde Sie nie für Umstände verantwortlich machen, die nicht in Ihrer Macht liegen. Denken Sie einfach an mein Versprechen, wenn Sie in eine solche Lage kommen sollten.

Seufzend lehnte sich Charmaine in die Polster zurück. Was Yvettes Ausflug anging, konnte sie Frederics Sohn keine Vorschriften machen. Aber entband sie das von ihrer eigenen Verantwortung? Sie konnte es nur hoffen.

John sollte wieder einmal recht behalten. Als sie den Saloon betraten, wurden sie bereits von Dulcie erwartet. Sie führte sie zu einem Tisch, stellte Limonade vor sie hin und servierte ihnen eine köstliche Mahlzeit. Grund zur Sorge gab es keinen, aber zu Yvettes großem Kummer herrschte auch nicht der wilde Trubel, auf den sie gehofft hatte. Um diese Tageszeit war der große Gastraum so gut wie leer, und die Spieltische wurden noch nicht benutzt.

John erklärte seinen Geschwistern die Regeln eines Kartenspiels, das er Poker nannte. Angeblich hatte George die Regeln aus einigen europäischen Pokerspielen gemischt, die sie damals an der Universität gespielt hatten. Die Zwillinge sahen skeptisch drein, weil John ihnen sicher wieder eine seiner Geschichten auftischte. Dann erzählte er ihnen, dass jeden Freitag bei Dulcie’s Poker gespielt wurde, und machte es ihnen vor. Er warf eine imaginäre Münze in die Mitte des Tischs und tat so, als ob er jeder seiner Schwestern fünf Karten austeilte. Ganz gegen die Regel war dieses Mal Jeannette die Schnellere und blieb in fünf Spielen gleich vier Mal siegreich. Aber da sie keine echten Münzen gewinnen konnte, langweilte selbst sie sich schon bald.

»Ich wüsste gern, was dort oben passiert«, sagte sie irgendwann treuherzig. »Dürfen wir uns das ansehen?«

Misstrauisch kniff John die Augen zusammen und musterte das Kind. »Was ist das für ein Spiel – Yvette

Das Mädchen zuckte die Schultern.

»Macht ihr das öfter?«, fragte er.

»Was denn?«, fragte sie unschuldig.

Verblüfft sah Charmaine zu, wie Yvette mit süßlichem Lächeln auf John zuging. »Ich bin Jeannette, Johnny«, sagte sie, ohne ihre Komplizin zu beachten, die sie mit finsterer Miene am Zopf zog. »Nein, wir machen das nicht sehr oft.«

Die perfekte Täuschung machte Charmaine sprachlos und ärgerlich.

Die echte Yvette stampfte wütend auf, weil nichts so lief, wie sie es geplant hatte. »Ich will trotzdem wissen, was dort oben ist.« Ein netter Versuch, aber leider umsonst. John runzelte die Stirn und lehnte ab. Sie musste sich schon eine andere List ausdenken, um ihre Neugier zu befriedigen.

Kurz darauf verließen sie die Bar und spazierten auf dem hölzernen Gehweg entlang, der sie unweigerlich zum Hafen und zur Raven führte. Die Mädchen baten, an Bord gehen zu dürfen, und Charmaine erlaubte es ihnen gern. Vielleicht würde sie ja sogar Kapitän Wilkinson wiedersehen. Was würde er denken, wenn sie am Arm von John Duvoisin über das Schiff spazierte? Ob er sich überhaupt an sie erinnerte?

Mit gemischten Gefühlen ging sie über die Gangway. Seit sie die Harringtons zum Schiff nach Virginia gebracht hatte, hatte sie kein Schiff mehr betreten. Das lag jetzt ein Jahr zurück. Ein ganzes Jahr! Wie viel war seitdem geschehen, und wie sehr hatte sie sich verändert!

Auf dem Schiff herrschte verschlafene Ruhe. Nach Johns Angaben wartete die Raven nur noch auf die Melassefässer der Zuckerernte, bevor sie nach New York ablegte. Da bis dahin nichts zu tun war, hatte der Kapitän sein Schiff verlassen und die Mannschaft beauftragt, in seiner Abwesenheit die Decks zu scheuern und zu kalfatern, die Masten zu teeren und die zerrissene Leinwand der Segel zu flicken.

Übermütig rannten die Zwillinge zwischen den arbeitenden Matrosen hinüber zur Steuerbordseite. Dort beugten sie sich weit über die Reling und versuchten, eine der Möwen zu fangen. Dann kletterten sie auf das Vorderdeck empor und bewunderten ihre Umgebung aus luftiger Höhe.

Inzwischen schlenderten John und Charmaine über das Deck und blieben stehen, sobald es etwas zu sehen gab oder sie Pierre etwas Interessantes zeigen konnten. Die Männer grüßten John respektvoll, und er nickte ihnen zu. Auf dem Achterdeck zog er eine Kiste für Pierre unter das Ruder. Charmaine lehnte sich an die Reling und beobachtete, wie er dem kleinen Mann erklärte, wie man das große Rad bewegte und das Schiff steuerte. Auch wenn John sein Erbe oft verleugnete, so war er doch unverkennbar stolz darauf, ein Duvoisin zu sein.

»Jetzt bin ich dran!«, verlangte Pierre und spielte den Steuermann. Dabei ließ er schmatzende Geräusche hören, als ob Wasser gegen das Schiff schwappte, während er es aus dem Hafen manövrierte.

John tätschelte dem Jungen den Rücken und ging dann zu Charmaine, die wegen seiner zärtlichen Gesten leise vor sich hinschmunzelte. »Worüber freuen Sie sich?«

»Über Sie. Sie werden einmal ein guter Ehemann.«

Jetzt musste er lächeln. »Warum sagen Sie das?«

Verlegen berichtigte sie sich. »Ein guter Vater, wollte ich sagen.«

»Ich fürchte, dieser Weg ist mir verschlossen.«

»Aber Sie verstehen sich so gut mit Kindern.« In ihrer Begeisterung entging ihr die Veränderung seiner Stimmung. »Sie könnten doch eine Menge Kinder haben.«

»Haben Sie meinen schlechten Einfluss vergessen?«

»Was das angeht, so habe ich mich gründlich geirrt. Sie überschütten Pierre und die Mädchen mit so viel Liebe, wie ich das keinem Mann jemals zugetraut hätte.«

Er zwang sich zu einem Lächeln, sagte aber nichts.

»Es tut mir leid …«, murmelte sie. »Jetzt habe ich Sie beleidigt.«

»Nein, my charm. Zwar schätze ich Ihre Anerkennung, aber Sie irren trotzdem. Als Vater bin ich bestenfalls ein jämmerlicher Ersatz.« Als sie widersprechen wollte, kam er ihr zuvor. »Zum Glück habe ich Pierre und meine Schwestern.«

»Die Kinder werden Sie vermissen, wenn Sie wieder fortfahren.« Sie erschrak darüber, wie sehr ihr Herz plötzlich schmerzte.

»Dazu kommt es ja vielleicht gar nicht.« Sein Blick schweifte über die Halbinsel. »Ich habe durchaus vor, noch eine Weile hierzubleiben. Bevor ich nach Charmantes gekommen bin, war mir gar nicht bewusst, wie einsam ich in Richmond und in New York lebe.«

»Wirklich?«

»Es sei denn, mein Vater erlaubt mir, dass ich die Kinder für einen Besuch nach Richmond mitnehme.«

»Wollen Sie ihn darum bitten?«

Er sah sie eindringlich an. »Würden Sie denn mitkommen, wenn mein Vater einverstanden wäre? Die Kinder brauchen Sie unbedingt. Vor allem Pierre. Außerdem könnten Sie Ihre Freunde besuchen.«

Das klang so hoffnungsvoll und begeistert, als ob sein Glück von ihrer Zustimmung abhinge. Doch so blitzschnell wie Quecksilber änderte sich seine Stimmung. Mit spöttischem Lachen wischte er den Gedanken beiseite. »Keine Sorge, Charmaine, wir reisen nirgendwohin. Die Antwort meines Vaters kenne ich bereits – warum also sollte ich ihn fragen?«

Sie schwieg bedrückt, weil er recht hatte.

Kurz darauf verließen sie die Raven und spazierten die Hauptstraße entlang. Charmaine spürte die Blicke der Leute und war stolz, dass John an ihrer Seite ging. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie sich noch vor den missgünstigen Spekulationen der Inselbewohner gefürchtet. Doch heute war das anders. Sie hatte John lange Unrecht getan, aber heute war sie zum ersten Mal froh, dass sie ihn kannte.

Freitag, 6. Oktober 1837

 

Das Lachen der Kinder schallte über den See, während die nachmittägliche Brise Charmaines Haar erfasste und einige Strähnen unter ihrem Hut hervorzerrte. Die kleinen Löckchen umrahmten ihr Gesicht. Sie ahnte nicht, welch hübsches Bild sie abgab, als sie dort am Ufer auf der Decke saß. Lächelnd sah sie zu John hinüber, der ungefähr hundert Fuß von ihr entfernt in Pierres Ruderboot saß und, den Jungen auf dem Schoß, so tat, als ob Pierre seine Schwestern zur Mitte des Sees ruderte. Schließlich trieb das Boot langsam über das Wasser, und John beugte sich hinunter und nahm die Angeln, die er beim Einsteigen achtlos ins Boot geworfen hatte. Charmaine konnte nur Bruchstücke ihrer Unterhaltung hören, aber anhand der Gesten war schnell klar, dass sich die Leinen verheddert hatten. Sie hatte ihn gewarnt, doch wegen der Aufregung der Kinder hatte er kaum zugehört. Nun musste er büßen, indem Yvette an dem einen Ende und Pierre am anderen zerrte. Ihr fröhliches Lachen erstickte, als das Boot plötzlich wie wild schaukelte. Aber John brachte es mit weit ausgestreckten Armen wieder ins Gleichgewicht und drohte Yvette mit dem Finger. Charmaine schmunzelte und war heilfroh, dass sie nicht mit ins Boot gestiegen war. Dort, wo sie saß, war sie in Sicherheit. Irgendwann waren die Angeln ausgeworfen, und als sich keiner mehr bewegte, blieb ihr endlich Zeit, sich in der Gegend umzusehen.

Sie befanden sich auf einer idyllischen Lichtung am Rand eines Süßwasserspeichers. Vor mehr als siebzig Jahren hatten Johns Großvater und fünfzig Männer einen kleinen See zu diesem Speicher erweitert. Sie war überrascht, als sie keine fünfzig Yards hinter dem Haus in den Pinienwald einbogen und nach kaum zehn Minuten Fußweg vor diesem See standen. Bis auf ein kleines Haus und den schmalen Steg war die Natur unberührt.

Charmaine holte tief Luft. Im Augenblick staksten zwei Flamingos am Ufer entlang. Ein so wunderbarer See und so nahe beim Haus … Sie dachte an das Picknick am Strand und an das erste oberhalb der Klippen. Durch John hatte sie die ganze Schönheit von Charmantes kennengelernt. John. Wieder wanderten ihre Blicke zu seiner Gestalt. Wie oft war das während dieser Woche geschehen? Sie dachte an den weiten Weg, den sie in den vergangenen zwei Monaten zurückgelegt hatten – und ahnte nicht, dass die Reise soeben erst begonnen hatte.

Es war schon spät, als die Falcon im Licht des Halbmonds mit gerefften Segeln in die Bucht von Charmantes einlief. Wortlos und aufrecht stand Frederic an der Reling. Die Raven war verschwunden, und an ihrer Stelle hatte ein fremdes Schiff am Kai festgemacht. Doch Frederic konnte sich nicht freuen. Was geschehen war, war geschehen. Was er zu Beginn dieser Woche in Gang gesetzt hatte, hatte sich vollendet. Ob er seinen Sohn jemals wiedersehen würde? Er versuchte, den Kloß hinunterzuschlucken, der ihm die Kehle verschloss und jedes Wort unmöglich machte.

»Vater, wir können jetzt an Land gehen.«

Frederic vermied es, seinen Sohn anzusehen. »Geh du voran.« Er hustete.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis man einen Wagen aus dem Stall herbeigeschafft hatte und das Gepäck verladen war. In der Zwischenzeit nahm Frederic den neuen Handelssegler in Augenschein.

»Das ist die Wanderlust«, bemerkte Paul und schlug voller Stolz gegen das Holz. »Das erste Schiff unserer neuen Flotte. Einhundertfünfzig Fuß feinster weißer Eiche, die die Staaten zu bieten haben. Morgen Vormittag werde ich den Kapitän aufsuchen. Möchtest du mich begleiten und das Schiff genauer ansehen?«

Verwundert sah Paul Frederic nach, als dieser wortlos kehrtmachte und davonhinkte. Während der letzten fünf Tage hatte sein Vater großes Interesse an allem gezeigt und seine Begeisterung nicht verborgen. Und nun das. Offenbar war er erschöpft.

Frederic lehnte es ab, den für ihn bestimmten Platz neben Agatha und der Dienerschaft einzunehmen. »Der Wagen ist mir zu voll. Fahrt ihr schon voraus. Ich warte im Dulcie’s.«

Agatha widersprach. »Aber das Dulcie’s ist doch …«

»Mir sind die Etablissements meiner Insel durchaus vertraut, liebe Agatha. Paul und ich warten im Dulcie’s auf die Rückkehr des Wagens.«

Der Wagen fuhr an, und Frederic drehte sich zu seinem sichtlich verwirrten Sohn um. »Machst du dir etwa Sorgen, dass ich in schlechte Gesellschaft geraten könnte?«

Paul lachte. »Wirklich nicht, aber die letzten Tage waren lang und anstrengend. Du musst müde sein …«

»Ich bin immer noch der Herr dieser Insel«, fiel ihm sein Vater ins Wort. »Ich will erfahren, was in unserer Abwesenheit geschehen ist, und was eignet sich dazu besser als das Getratsche in einer Bar?«

Der Lärm im Dulcie’s drang bis hinaus auf den Gehweg: schrille, rhythmische Musik und dazwischen das brüllende Gelächter der Matrosen, das übermütige Kreischen der Mädchen und das Geräusch des Glücksrads, das die Spieler an die Spieltische lockte.

Müde und erschöpft betrat George Richards die Bar und freute sich auf ein kaltes Ale. Eine lange und anstrengende Woche lag hinter ihm: zuerst die Ernte des Zuckerrohrs und danach das Verladen der Fässer. Die Raven hatte erst spät am Nachmittag ablegen können, und unmittelbar danach hatte er beim Festmachen des neuen Schiffs geholfen. Anschließend war er zur Sägemühle geritten und hatte sich davon überzeugt, dass alles zur Zufriedenheit lief. Trotzdem war er froh, wenn Paul wieder da war. Die Arbeit auf Charmantes war für einen Mann allein kaum zu schaffen. John war zwar auf der Insel, doch auf seine Hilfe konnte George nicht zählen, da er ihm schon zu Beginn der Woche mitgeteilt hatte, dass Paul für die Unternehmungen ihres Vaters auf Charmantes zuständig war und nicht er. Folglich war alles an ihm hängen geblieben.

Er drehte sich mit seinem Barhocker herum und sah, wie einer der Seeleute ein Barmädchen in seine Arme zog und sie unwirsch reagierte, als er nicht sofort die geforderte Münze herausrückte. Obgleich der Mann fester zupackte, stieß ihn die Frau so heftig gegen die Brust, dass sein Hocker kippte. Anschließend klatschte sie in die Hände und erklärte seinen Kumpanen hochnäsig: »Wer nicht bezahlt, wird nicht bedient.« Mit diesen Worten schlenderte sie zu einem anderen Tisch hinüber, auf dem sich der Münzenberg in der Mitte soeben verdoppelt hatte. George musste lächeln, als das Mädchen sich an die Schultern des Mannes lehnte, der als Nächster an der Reihe war. Aber der schob sie unwillig zur Seite, was nur heißen konnte, dass er verlor. Während George seinen Humpen an die Lippen hob, sah er zu, wie die Frau langsam den Tisch umkreiste. Er nahm einen langen Schluck – und im nächsten Augenblick prustete er das Ale in einem Hustenanfall quer über den Tisch.

Inmitten der Spieler saß Yvette Duvoisin und presste die Spielkarten fest gegen ihre Brust. Sie saß mit dem Rücken zur Tür und sah in den abgerissenen Sachen wie ein Gassenkind aus. Genau wie ihre Schwester, die schüchtern neben ihr stand und an diesem Ort ganz offensichtlich nichts verloren hatte.

George sprang vom Hocker und war Sekunden später am Tisch. »Was, zum Teufel, habt ihr hier verloren, Yvette?«, brüllte er.

Das Mädchen erholte sich rasch von seinem Schreck und reckte trotzig das Kinn empor. »Ich spiele Poker – Five Card Draw, um genau zu sein. So heißt das doch, oder?«, fragte sie in die Runde.

Allgemeines Gemurmel, man wartete auf ihr Gebot.

»Ich erhöhe um zehn«, verkündete Yvette und stapelte die Münzen aufeinander, bevor sie den Turm in die Mitte des Tischs schob.

George packte das Mädchen am Arm und zog sie auf die Füße. »Das Spiel ist aus! Wirf die Karten auf den Tisch! Wir gehen nach Hause.«

»Ich denke nicht daran!« Yvette riss sich los. »Ich gehe erst, wenn das Spiel zu Ende ist. Ich habe zehn Dollar gewettet.«

Wegen Georges Wutanfall war Yvette ein wenig verunsichert, drückte die Karten aber weiter fest gegen ihre Brust.

»Immer mit der Ruhe, mein Freund«, fuhr einer der Spieler auf. »Lassen Sie die kleine Lady in Ruhe! Sie kann sehr gut auf sich selbst aufpassen, hat eine Menge gewonnen. Das würden wir gern zurückgewinnen …«

Ungläubig starrte George ihn an. Offenbar waren die Männer neu auf Charmantes, gehörten vermutlich zur Besatzung des neuen Seglers und hatten keine Ahnung, wer Yvette war. Ihre schlampige Kleidung ließ ebenfalls keine Schlüsse zu. Trotzdem war das Mädchen deutlich zu jung. »Seid ihr denn alle verrückt geworden?«, brüllte er in die Runde. »Sie ist gerade einmal neun Jahre …«

»Jetzt halt aber die Luft an!«, warnte der Geber. »Sie kam mit einer dicken Börse herein und hat verlangt, dass sie mitspielen darf. Wer genügend Geld mitbringt, darf spielen – so sind die Regeln in jedem anständigen Haus. Zuerst hielten wir das für einen Scherz, aber sie hat eine Hand nach der anderen gewonnen, und jetzt spielen wir ernsthaft. Also, warum lassen Sie uns nicht einfach in Ruhe?«

»Ihr solltet euch zum …«

»George, bitte!«, fiel ihm Yvette ins Wort. »Nur noch diese eine Hand! Anschließend gehen Jeannette und ich sofort nach Hause. Das schwöre ich!«

Wütend und misstrauisch sah George das Mädchen an, aber dann gewann die Vernunft die Oberhand. Angesichts ihrer Verluste waren die Mitspieler nicht gerade gut aufgelegt, und eine Prügelei war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Auf jeden Fall würde er John den Hals umdrehen. Als dieser ihm neulich bei einem Besuch im Lager vom Ausflug ins Dulcie’s erzählt hatte, hatte er ihn gewarnt und gesagt, dass er das eines Tages noch bereuen würde. Aber John hatte ihn nur ausgelacht und gespottet, dass er wie Charmaine klinge. Höchstwahrscheinlich saß der Urheber all dieser Schwierigkeiten in Ruhe zu Hause und hatte keine Ahnung, womit sein Freund sich hier herumschlagen musste. Wo, um alles in der Welt, war Dulcie? Wusste denn keiner, wer die Mädchen waren?

»Also gut – nur noch ein einziges Spiel, aber nicht mehr!« Er drehte sich auf dem Absatz um und kehrte zu seinem Bier zurück. Es war ein kleines Wunder nötig, wollte er die Kinder ohne Skandal nach Hause bringen. »Einen Whisky, und zwar einen doppelten!«, bestellte er, während er das Ale in einem Zug trank.

Dann drehte er sich wieder um und beobachtete die Szene am Tisch. Jeannette beugte sich zu Yvette und flüsterte ihr offenbar eine dringende Bitte ins Ohr. Doch ihre Schwester schüttelte nur den Kopf und legte zwei ihrer ursprünglichen fünf Karten auf den Tisch. Drei gleiche, dachte George, als er sah, wie sie zwei weitere Karten vom Geber forderte.

Ein Schwall kühler Nachtluft verriet die Ankunft neuer Gäste. Als urplötzlich Stille eintrat, spähte auch George durch den Dunst zum Eingang hinüber und gewahrte Dulcies Wohltäter. Frederic Duvoisin.

In seiner Panik war er in drei Schritten an der Tür. Frederic und Paul standen noch auf der Schwelle und ließen ihren Blick über die versammelten Gäste gleiten, als sie sich einer nach dem anderen wieder ihrer Beschäftigung zuwandten. »Frederic … ah, Paul …« George hüstelte und dankte dem Himmel, als beide Männer ihn erstaunt ansahen. »So früh habe ich das Schiff noch gar nicht zurückerwartet.«

»Ach nein?« Paul runzelte die Stirn. »Ich habe immer gesagt, dass wir am Wochenende zurückkommen.«

»Das hast du, das hast du.« Mit falschem Lachen nahm er Pauls Arm und versuchte ihn herumzuziehen. »Vermutlich bin ich überarbeitet. Ich habe gar nicht gemerkt, dass die Woche schon vorbei ist. Es ist tatsächlich schon Freitag! Du lieber …«

»George, ist etwas los?«, unterbrach ihn Paul.

»Was soll denn los sein? Nichts ist los.« Sein Lachen klang hohl. »Wie kommst du denn auf so etwas?«

»Weil du mich so am Arm zerrst.«

»Unsinn.« George ließ den Arm los, als ob er sich verbrannt hätte. Er wollte Paul nicht misstrauisch machen. »Ehrlich gesagt, gab es ein kleines Problem, Sir. Aber hier drinnen ist es schrecklich stickig. Sollen wir einen Moment nach draußen gehen?«

Frederic betrachtete George mit gemischten Gefühlen. »Wenn Sie uns etwas zu sagen haben, George, so können Sie es uns genauso gut hier sagen.«

»Sir?« George schluckte verlegen, und es war klar, dass er etwas zu verbergen hatte.

Mit einem Mal durchschnitt ein schriller Aufschrei die Luft. George zuckte zusammen und fluchte leise. »Betrüger!« Wütend schoss Yvette in die Höhe und wies mit ausgestrecktem Finger auf den Geber. »Das Ass haben Sie aus dem Ärmel gezogen!«

Der Mann lachte verschlagen. »Beweise es!«

»Hier!« Yvette spuckte förmlich aus und schleuderte dieselbe Karte auf den Tisch. »Ich habe das Pik-Ass in der Hoffnung behalten, dass ich ein höheres Paar ablegen kann!«

Die Matrosen schossen hoch, dass ihre Stühle krachend umfielen. Im ersten Moment fürchtete Yvette, dass die Männer sie verschlingen würden, aber ein Blick in ihre Gesichter und auf die Karten, die sie auf den Tisch geworfen hatten, sagte ihr, dass sie gewonnen hatte. Sie hatte den Geber überführt, und nun konnte sie mit Georges Hilfe ihren Gewinn einsammeln und nach Hause gehen. »Der Gewinn gehört mir!«, rief sie triumphierend in die Runde. »Sag es ihnen, George.«

Aus dem Nichts knallte urplötzlich ein schwarzer Stock so heftig zwischen die silbernen und goldenen Münzen, dass sie in alle Richtungen davonspritzten. Einige rollten über die Tischplatte, bis sie ebenfalls zu Boden fielen. Eine Sekunde lang war Yvette völlig verdutzt, aber in der nächsten erkannte sie den Stock und erspähte aus dem Augenwinkel auch die breite Hand mit den hervortretenden Adern. Das Gemurmel der Umstehenden bestätigte, was sie dachte. »Frederic Duvoisin.«

Ganz langsam hob sie den Blick und sah zu ihrem Vater auf, obwohl sie sich am liebsten verkrochen hätte. Sie registrierte die schmalen Lippen, den starren Blick und die scharfen Falten zwischen den Brauen. Aber am schlimmsten war die lähmende Stille, die einen schrecklichen Ausbruch befürchten ließ. Noch nie zuvor hatte sie ihren Vater so wütend erlebt. Und jetzt war ausgerechnet sie sein Opfer.

»Sir?«, stieß sie mit größter Willensanstrengung hervor.

»Was hast du hier verloren, Tochter, noch dazu in diesem Aufzug?«

Die leise gestellte Frage wirkte umso vernichtender. Aus dem Augenwinkel nahm Yvette die bleichen Gesichter ihrer Mitspieler wahr.

Schließlich fasste sich einer der Männer ein Herz. »Mr. Duvoisin, wir haben sie für ein Gassenkind gehalten. Wir hatten ja keine Ahnung, dass sie Ihre Tochter …«

»Halten Sie den Mund!« Wieder donnerte Frederic seinen Stock auf den Tisch. »Sie lassen ein Kind spielen, noch dazu ein Mädchen, und dann markieren Sie den Unschuldigen … Sie bewegen sich auf gefährlichem Terrain, Mann!« Wieder fuhr der Stock über den Tisch und wischte auch den letzten Teil der Beute zu Boden. Dann richtete sich Frederics finsterer Blick auf seine Tochter. »Und du, junge Lady, du wartest draußen!«

Yvette nickte nur und flitzte davon.

Sein Gesichtsausdruck wurde sanfter, als er Jeannette entdeckte. »Geh«, bedeutete er ihr mit einem Nicken. Bekümmert senkte das Mädchen den Kopf und verließ deutlich langsamer als ihre Schwester die Bar.

Yvette war schon fast am Ende der Straße angekommen, als Jeannette ihr nachrief, doch sie rannte weiter, bis sie den Stall erreichte. »Vater hat doch gesagt, dass wir vor der Bar warten sollen«, schimpfte Jeannette, als sie ihre Schwester endlich eingeholt hatte.

»Ich weiß, was er gesagt hat.« Keuchend hielt sie sich ihre Seite. Dann wandte sie sich dem Mann zu, der mit trübem Blick aus dem Stall herauskam. »Wir brauchen unsere Ponys.«

Brummend verschwand der Schmied im Stall.

»Warum hast du bloß nicht auf ihn gehört?«, fragte Jeannette. »Das macht alles doch nur schlimmer.«

»Schlimmer? Wie kann es denn noch schlimmer werden? Den morgigen Tag werde ich nicht mehr erleben – aber kampflos ergebe ich mich nicht!«

»Lieber läufst du weg?«

»Verstehst du das denn nicht?« Yvette deutete nach hinten. »Dort hätte er mich erschlagen, aber zu Hause kann ich mich hinter Charmaine verstecken!«

»Das darfst du nicht! Du weißt doch, wie schlimm es zwischen Papa und Johnny steht. Vater wird Mademoiselle Charmaine vielleicht entlassen, wenn du sie in den Streit hineinziehst! Bitte …«

»Und was ist mit mir? Zähle ich denn gar nicht? Willst du vielleicht zusehen, wie man mich umbringt?«

»Aber, Yvette. Ich glaube nicht, dass Papa dich …«

»Himmel! Wo bleibt der Mann?« Yvette rang die Hände. »Wenn er nicht bald kommt, bin ich erledigt, bevor ich überhaupt weglaufen konnte!«

Kaum dass Agatha das Haus betreten hatte, rief sie auch schon Befehle und sah zu, wie die Dienerschaft ihren Wünschen nachkam. Doch die Freude dauerte nicht lang. Plötzlich stand John mit einem Papier in der Hand unter der Tür.

»Oh, wie ich sehe, sind Sie heimgekehrt, Auntie.« Er lehnte sich gegen den Rahmen.

»Ja, in mein Zuhause«, antwortete sie stolz.

»Sagen Sie, ist mein Vater ebenfalls zurückgekommen, oder hatte er die Nase voll und ist auf Espoir geblieben?«

»Dafür gibt es keinen Grund«, erwiderte sie mit einer gewissen Würde. »Dein Vater liebt mich, und er ist auch zusammen mit mir zurückgekommen.«

»Wirklich? Nun gut, ich wusste ja, dass das Paradies nicht ewig dauert. Trotzdem hatte ich gehofft, der Hölle zu entgehen. Wo ist er denn?«

»Ich habe nicht die Absicht, auf dein kleines Spielchen einzugehen«, erwiderte sie hochmütig. »Die Woche auf Pauls Insel war viel zu schön, als dass du sie nachträglich verderben könntest. Gute Nacht, John.«

Sie hatte gerade den Treppenabsatz erreicht, als von draußen lautes Rufen zu hören war, gefolgt von stampfenden Schritten auf der Veranda. Ein Hämmern an der Tür – dann stürmte Yvette herein, als ob der Teufel hinter ihr her sei. Jeannette folgte ihr auf dem Fuß.

»Johnny! Charmaine!«, schrie Yvette. »Hilfe! Bitte, helft mir!« Als sie John erblickte, warf sie sich in seine Arme und heulte zum Erbarmen. »Er ist mir auf den Fersen.«

John wollte sich losmachen. »Was, zum Teufel, geht hier vor?«

Yvette gab keine Erklärungen ab, sondern klammerte sich nur fester an ihn. »Johnny! Oh, Johnny!«

Dies ist kein Theater, entschied John und wandte sich an Jeannette. »Was ist los? Wo wart ihr, und warum seid ihr so spät noch auf? Was soll die Aufmachung, und wo ist überhaupt Mademoiselle Charmaine?«

»Hier!«, ertönte die Stimme der Gouvernante von oben. Noch auf der Treppe knotete sie ihren Bademantel zu. »Das Geschrei hat mich geweckt.« Voller Sorge sah sie die Mädchen an. »Was ist denn los, Kinder?«

»Das will ich gerade herausfinden. Yvette?«

Das Mädchen hörte nicht auf zu jammern. »Du musst mich retten, Johnny. Er wird mich umbringen! Zumindest lässt er mich auspeitschen!«

»Wer denn? Wer sollte so etwas tun?«

Alle verstummten, als Frederic plötzlich auf der Schwelle stand. Yvette unterdrückte ihre Tränen und schniefte zum Gotterbarmen. Sie verkroch sich hinter ihrem Beschützer und sah flehend zu Paul und George hinüber, die hinter ihrem Vater auftauchten.

»Ich hatte gesagt, dass du vor dem Dulcie’s warten sollst!«, schimpfte Frederic.

»Dulcie’s?«, fragte John erschrocken. »Sie war im Dulcie’s?«

Frederics Blick schoss zu John hinüber, und seine Wut flammte wieder auf. »Weshalb bist du überhaupt noch da?«

Diese Frage überraschte alle bis auf John. Der lächelte seinen Vater kampfeslustig an.

Da wandte sich Frederic seiner zitternden Tochter zu. »Du bist mir noch einige Antworten schuldig, junge Lady. Komm her zu mir!«

»Nein!« Als Frederic einen Schritt auf Yvette zuging, lief sie an ihrer Schwester vorbei die Treppe hinauf und flüchtete sich hinter Charmaines Rücken. »Erlauben Sie nicht, dass er mich anfasst, Mademoiselle!«

»Miss Ryan, bringen Sie Yvette herunter!«, verlangte Frederic.

Jetzt hatte John genug. »Bringen Sie meine Schwester in ihr Zimmer, Charmaine.«

»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind, Miss Ryan!« Frederics Augen waren nur auf sie gerichtet – und nicht auf den Sohn, der seine Autorität untergrub. »Ich mache Sie für all das verantwortlich! Bringen Sie Yvette herunter … und zwar sofort!«

Diesmal meldete sich Paul zu Wort. »Tun Sie einfach, was John sagt, Charmaine. Bringen Sie Yvette ins Kinderzimmer.«

»Verdammt!«, bellte Frederic. »Dies ist noch immer mein Haus! Miss Ryan tut, was ich sage! Verschwindet, und zwar alle! Die Sache geht nur meine Tochter, ihre Gouvernante und mich etwas an.«

»Sehr gut, Vater, schwing nur die Peitsche!«, schimpfte John. »Aber erwarte nicht, dass ich mich vor dir fürchte.«

Mit erhobenem Stock fuhr Frederic herum, doch John wich nicht zurück. Sein spöttisches Grinsen schnitt Frederic ins Herz, sodass er seinen Vorsatz aufgab und langsam den Stock sinken ließ. »Geh mir aus den Augen!«, krächzte er. »Du willst ein Mann sein, dabei hast du nicht einmal Rückgrat genug, um dein Eigentum einzufordern.«

Das spöttische Grinsen verschwand, und John wurde so bleich, als ob er tödlich verletzt worden wäre. Mit gesenktem Kopf verließ er das Haus.

Bevor sich Frederic erneut der Gouvernante zuwenden konnte, meldete sich George zu Wort. »Wie ich schon im Wagen sagte, können Sie diesen Vorfall nicht Miss Ryan anlasten, Sir. Sie hat sicher schon geschlafen, als …«

Frederic unterbrach ihn. »Ich habe nicht die Absicht, die Angelegenheit weiter zu diskutieren. Zumal ich die näheren Umstände nicht kenne. Immerhin waren Sie auch im Dulcie’s, als meine Tochter dort gespielt hat. Außerdem haben Sie auf jede nur mögliche Art versucht, meine Aufmerksamkeit abzulenken. Versuchen Sie Ihr Glück nicht, George. Ziehen Sie sich lieber zurück.«

»Vater …«, sagte Paul.

»Dasselbe gilt für dich!«

»Nein, Vater, ich bin damit nicht einverstanden. Ich gestehe zu, dass Yvette sich ungehörig benommen und eine Strafe verdient hat. Aber deine Wut überschreitet jedes Maß, wenn du jetzt auch noch Miss Ryan dafür verantwortlich machst. Sie konnte nichts wissen. Dasselbe gilt für George, wenn du ihn beschuldigst, mit Yvette unter einer Decke zu stecken. Er hat sicher sein Bestes gegeben, um die Mädchen zu beschützen.«

Pauls Argumente wirkten, aber die Situation entspannte sich erst, als Jeannette einen Schritt auf Frederic zuging. »Paul hat recht, Vater«, flüsterte sie. »Yvette und ich haben gewartet, bis Mademoiselle Charmaine geschlafen hat. Dann haben wir die Sachen angezogen, die Yvette im Stall gefunden hat, und sind davongeschlichen. Wir wussten, dass wir etwas Verbotenes tun, aber wir haben nicht gedacht, dass man uns erwischt. In dieser Verkleidung erst recht nicht. Wir wollten doch nur sehen, was nachts im Dulcie’s passiert. Als George uns entdeckt hat, war er furchtbar wütend, aber Yvette hatte gute Karten und hat ihm versprochen, dass wir nach diesem Spiel nach Hause gehen.«

Charmaine hielt die Luft an und war erleichtert, als Frederic sich zu beruhigen schien und sogar so etwas wie Verständnis erkennen ließ. »Und das hat deine Schwester mir nicht sagen können? Es war ihre Idee, nicht wahr?«

»Ja.«

»Warum kommt sie dann nicht? Ist sie so feige, dass sie die Verantwortung nicht übernehmen und nicht für sich selbst sprechen kann?«

»Sie hatte Angst, dass du sie umbringst«, antwortete Jeannette geradeheraus. »Ich glaube das nicht, und deshalb fürchte ich mich auch nicht, es dir zu sagen.«

Frederic sah zu Yvette hinauf und begriff, wie sehr sein Wutanfall die kleine Rebellin eingeschüchtert hatte. Zumal ihm das nicht zum ersten Mal passiert war, bedauerte er es umso mehr.

»Wir beide werden uns morgen unterhalten«, sagte er. »Du musst zwar nicht um dein Leben fürchten, aber eine Strafe hast du verdient.«

Dann wandte er sich an Charmaine. »Bringen Sie die Kinder in ihr Zimmer und sorgen Sie dafür, dass sie auch dort bleiben, bis ich sie rufen lasse.«

»Gewiss, Sir.« Charmaine wartete auf Jeannette, bevor sie zusammen die letzten Stufen hinaufgingen.

»Es tut mir leid, Papa«, rief Jeannette. »Es tut mir wirklich leid.«

Aber Frederic schien sie nicht mehr zu hören, als er müde ins Arbeitszimmer hinkte.

»Oh, Mademoiselle, was habe ich nur getan?« Sie saßen auf Charmaines Bett, und Yvette hatte den Kopf im Schoß ihrer Gouvernante vergraben. »Ich war so böse, und jetzt mag mich keiner mehr.«

»Nur ruhig, mein Kind.« Tröstend strich sie dem Mädchen über das Haar. So zerknirscht hatte sie Yvette noch nie erlebt und war sichtlich beeindruckt. »Es ist alles nicht so schlimm, wie du glaubst.«

»Doch, das ist es! Besonders für Johnny. Ich wollte ihm keine Schwierigkeiten machen, aber genau das habe ich getan. Jeannette hat mich gewarnt, aber ich wollte nicht hören. Sie hat sich auch um Sie gesorgt, aber ich hätte nie gedacht, dass Vater so wütend wird! Und erst Paul und George! George wird mir das nie verzeihen! Er hat Vaters Zorn wirklich nicht verdient. Er wollte mich doch nur beschützen, und jetzt verliert er womöglich seine Arbeit. Und Jeannette hasst mich, weil ich sie in die Sache hineingezogen habe.«

»Ich hasse dich nicht, Yvette«, versicherte Jeannette.

»Das solltest du aber.« Langsam hob Yvette den Kopf. »Morgen wirst du bestraft, und das nur wegen mir!«

Wieder brach sie in Tränen aus. »Ich weiß nicht, warum ich immer so schlimme Dinge tue. Ich weiß nicht einmal, warum sie mir überhaupt einfallen! Warum wollte ich unbedingt heute ins Dulcie’s gehen? Warum ist es mir nicht gestern eingefallen, als Vater noch auf Espoir war?«

»Weil du wusstest, dass am Freitag am meisten los ist«, sagte Jeannette. »Du wolltest doch unbedingt Poker spielen, erinnerst du dich?«

Charmaine war bestürzt. Demnach bereute Yvette ihr Benehmen nicht im Geringsten, sondern war nur enttäuscht, dass man sie erwischt hatte.

»Dabei habe ich gewonnen!«, jammerte sie. »Ich habe meinen Einsatz fast verdreifacht.«

»Aber das ist doch gut«, sagte Jeannette.

»Gut?« Yvette war entsetzt. »Wie kannst du das sagen! Ich bin davongerannt und habe alles liegen lassen! Fast achtzig Dollar! Wenn du den letzten Einsatz dazuzählst, waren es sogar hundert! Und die stinkenden Matrosen haben alles eingesackt, als Vater die Bar verlassen hat. Unsere zwanzig Dollar sind auch weg!«

George fand seinen Freund im Stall, wo er Phantoms Flanken striegelte und bürstete, bis sie glänzten. Als ob die Arbeit den Eiter aus der Wunde entfernen könnte, die sein Vater ihm geschlagen hatte.

»Ist das nicht ein bisschen spät dafür?«

»Für eine Menge Dinge ist es ein bisschen spät«, entgegnete John bitter. »Ich bin ein Narr, George! Ein verdammter Narr!«

»Unsinn, John, du bist kein Narr. Du hast getan, was am besten war. Und lass dir von deinem Vater nichts anderes einreden. Du hast das einzig Richtige getan.«

»Wirklich?«

»Das weißt du. Diese Nacht gehört Yvette – und du gebärdest dich gefälligst nicht wie ein verwöhntes Kind, nur weil du einmal nicht im Mittelpunkt stehst.«

John musste lächeln, obwohl ihm nicht danach zumute war.

»Sieh her!« George wog eine pralle Börse in der Hand, bevor er sie John zuwarf.

»Was ist das?«

»Zähl nach.« Er sah zu, wie John den Inhalt befingerte. »Es sind mehr als hundert Dollar. Meiner Schätzung nach ein Gewinn von mehr als fünfundachtzig Dollar.«

»Ein Gewinn?«

»Ja, Yvettes Gewinn, um genau zu sein. Nach den Angaben der Pokerspieler hat sie mit zwanzig Dollar angefangen. Den Rest hat sie gewonnen.«

John sah George ungläubig an. »Willst du damit etwa sagen, dass sie den Matrosen das ganze Geld abgeknöpft hat?«

»So wahr ich hier stehe. Vermutlich hat ihre Art zu spielen die Männer getäuscht. Sie hat mehrmals drei Karten behalten, in der Hoffnung, noch ein weiteres Paar zu ziehen. Das haben die Männer unterschätzt und angenommen, dass sie drei gleiche Karten in der Hand hielt. Wenn dein Vater nicht dazwischengefunkt hätte, wäre es sicher sehr unterhaltend geworden.«

»Wieso warst du überhaupt dort, Georgie?«

»Ich wollte eigentlich nur ein Bier trinken, aber ich hätte mir fast in die Hose gemacht, als plötzlich Paul und dein Vater hereinkamen.«

»Das glaube ich gern.« John lachte. »Am besten erzählst du mir die Geschichte von Anfang an.«

George meinte: »Ich wüsste nicht, was ich lieber täte.«