Enthüllungen


Tirilierend hießen Vögel den neuen Tag willkommen.

Arutha, Laurie, Jimmy, Volney und Gardan saßen im kleinen Privataudienzsaal des Fürsten und warteten darauf, das Neueste über das Befinden von Vater Nathan und der Hohenpriesterin zu hören.

Die Tempelwächter hatten die Priesterin in ein Gästegemach getragen und hielten davor Wache, während aus dem Tempel herbeigeeilte Heiler sie behandelten. Sie waren schon die ganze Nacht bei ihr. Nathan befand sich in seinen eigenen Gemächern und wurde von Angehörigen seines Ordens umsorgt.

Alle hier Versammelten hatten die Schrecken der Nacht so mitgenommen, daß sie noch davor zurückscheuten, davon zu sprechen. Laurie überwand seine Benommenheit als erster. Er schob seinen Stuhl zurück und trat an ein Fenster.

Aruthas Blick folgte ihm, aber in Gedanken rang er mit Dutzenden von unbeantwortbaren Fragen. Wer oder was wollte seinen Tod? Und warum? Doch wichtiger als seine eigene Sicherheit war für ihn die Frage, inwieweit Lyam, Carline und die anderen, die bald ankommen würden, durch diese Sache gefährdet sein würden –

und vor allem Anita. Dutzendmal hatte Arutha sich während der vergangenen Stunden gefragt, ob er die Hochzeit nicht lieber verschieben sollte.

Laurie setzte sich auf einen Diwan neben den halbschlafenden Jimmy. Leise fragte er: »Jimmy, woher hast du gewußt, daß Vater Nathan helfen könnte, wo doch die Hohepriesterin hilflos war?«

Jimmy streckte sich und gähnte. »Ich erinnerte mich an etwas aus meiner Jugend.« Gardan mußte bei diesen Worten unwillkürlich lachen. Dadurch lockerte sich die allgemeine Anspannung. Selbst Arutha lächelte leicht. Jimmy fuhr fort. »Ich wurde eine Zeitlang in den Unterricht von Vater Timothy geschickt, einem Geistlichen von Astalon. Hin und wieder wird der eine oder andere Junge dafür ausgewählt. Es ist ein Zeichen, daß die Spötter große Hoffnung in ihn setzen«, erklärte er stolz. »Ich sollte dort nur lesen und schreiben und ein bißchen rechnen lernen, aber so nebenbei lernte ich noch ein wenig mehr.

Ich erinnere mich an einen Vortrag über das Wesen der Götter, den Vater Timothy einmal hielt – obgleich ich dabei fast eingeschlafen wäre. So, wie dieser Priester es darlegte, gibt es widerstreitende Kräfte, nämlich positive und negative, die manchmal auch gut und böse genannt werden. Gutes kann gegen Gutes nichts ausrichten, genausowenig wie Böses gegen Böses. Um gegen einen Vertreter des Bösen anzukommen, braucht man einen Vertreter des Guten. Die Hohepriesterin wird von den meisten als Dienerin der finsteren Mächte angesehen. Sie konnte diese Kreatur nicht bezwingen, ja nicht einmal in Schach halten. Ich hoffte, der Vater könnte es, da Sung und ihre Diener zu den ›Guten‹ gerechnet werden. Ich wußte natürlich nicht wirklich, ob es möglich war, aber ich konnte doch nicht bloß dastehen und zusehen, wie dieses Ungeheuer einen Palastwächter nach dem anderen zerfleischte!«

»Es hat sich als richtige Überlegung erwiesen.« Aus Aruthas Tonfall sprach nicht geringe Hochachtung.

Ein Gardist betrat den Saal und meldete: »Hoheit, der Priester hat sich erholt und läßt Euch bitten, zu ihm zu kommen.« Arutha sprang fast von seinem Stuhl auf und eilte durch die Tür. Die anderen folgten ihm dichtauf.

Seit mehr als einem Jahrhundert gehörte zum Schloß von Krondor ein Tempel mit einem eigenen Altar für jede Gottheit, damit ein Gast die Möglichkeit hatte, gleichgültig welche der Hauptgottheiten er verehrte, hier geistigen Trost zu finden. Der Orden, dem die Sorge für den Tempel oblag, wechselte dann und wann mit den verschiedenen Ratgebern des Fürsten. Unter Aruthas Verwaltung waren Nathan und seine Akolythen für den Tempel verantwortlich, wie bereits unter Prinz Erland. Die Unterkünfte der Geistlichen lagen im hinteren Teil des Tempels, den Arutha durch die große Halle mit dem Sterngewölbe betrat. Am Ende des Mittelschiffs war hinter der Abtrennung mit den Altären für die vier größeren Götter eine Tür zu sehen. Auf sie eilte Arutha zu. Seine Stiefelsohlen klackten auf dem Fliesenboden, als er an den Altären der niedrigeren Götter zu beiden Seiten des Hauptschiffs vorüberschritt. Schon aus einiger Entfernung bemerkte er, daß die Tür zu Nathans Gemächern offenstand und sich mehrere Personen darin befanden.

Die Akolythen machten ihm sofort Platz. Arutha staunte über die Nüchternheit von Nathans Kammer, die mehr einer Zelle ohne persönlichem Eigentum und Zierrat glich. Außer den nötigen Gebrauchsgegenständen bemerkte Arutha nur eine Statuette Sungs, die als liebreizende junge Frau in langem weißen Gewand abgebildet war. Sie stand auf einem Tischchen neben Nathans Bett.

Der Priester sah mitgenommen und schwach aus, war aber bei wachem Verstand. Kissen stützten seinen Rücken, so daß er halb saß.

Sein Unterpriester stand in der Nähe, um sofort helfend einspringen zu können, wenn es erforderlich war. Der Leibarzt des Fürsten wartete neben dem Bett. Er verbeugte sich und berichtete: »Er ist körperlich völlig gesund, nur sehr geschwächt und erschöpft. Bitte faßt Euch kurz, Hoheit.« Arutha nickte, als der Arzt sich mit allen Akolythen zurückzog. Als sie die Kammer verlassen hatten, bedeutete er Gardan und den anderen, vor der offenen Tür zu warten.

Er trat an Nathans Seite. »Wie geht es Euch?«

»Ich werde am Leben bleiben, Hoheit«, antwortete der Priester schwach.

Arutha warf einen Blick zur Tür und bemerkte Gardans erschrockenes Gesicht. Das bestätigte seinen Eindruck, daß der grauenvolle Kampf den Priester verändert hatte. Sanft sagte er: »Ihr werdet mehr als nur am Leben bleiben, Nathan. Ihr werdet bald wieder Euer altes Selbst sein.«

»Ich habe ein Grauen erlebt, wie kein Mensch sich ihm stellen dürfte, Hoheit. Ihr werdet verstehen, daß ich Euch etwas anvertrauen muß.« Mit einem Kopfnicken deutete er zur Tür.

Der Unterpriester schloß sie und kehrte zu Nathans Bett zurück.

»Ich werde Euch etwas erzählen, was außerhalb des Tempels nicht bekannt ist, Hoheit. Ich nehme große Verantwortung auf mich, indem ich davon zu Euch spreche, aber ich halte es für unbedingt erforderlich.«

Arutha beugte sich vor, um des erschöpften Priesters schwache Stimme überhaupt zu vernehmen. »Es gibt eine höhere Ordnung, ein Gleichgewicht der Kräfte, von Ishap auferlegt, dem Einen-über-allen.

Die größeren Gottheiten herrschen durch die geringeren, denen die Priester dienen. Jeder Orden hat seine Aufgabe. Es mag vielleicht so aussehen, als stünde einer im Widerstreit zum ändern. Die für den Außenstehenden nicht so leicht erkennbare Wahrheit ist jedoch, daß ein jeder Orden seinen bestimmten Platz in der großen Gesetzmäßigkeit hat. Selbst jene von niedrigerem Rang in den Tempeln wissen davon nichts. Das ist der Grund für gelegentliche Streitigkeiten zwischen den Orden. Daß ich gestern meinen Abscheu vor den Riten der Hohenpriesterin offen zeigte, das geschah nicht nur, weil sie mir wirklich mißfallen, sondern meiner Akolythen wegen. Wieviel ein einzelner zu verstehen imstande ist, bestimmt, wieviel der Wahrheit ihm durch die Orden offenbart wird. Viele brauchen ganz einfach die simple Vorstellung von Gut und Böse, von Licht und Finsternis, um ihr tägliches Leben zu meistern. Ihr gehört nicht zu ihnen.

Ich wurde in der Lehre des Einen Pfades unterwiesen, dem Orden, der meinem Wesen am nächsten ist. Aber wie alle anderen, die eine höhere Stellung erreichten, kenne ich Wesen und Erscheinungsarten aller anderen Götter und Göttinnen. Doch was sich vergangene Nacht offenbarte, war mir völlig fremd.«

Arutha sah ihn an. »Was meint Ihr damit?«

»Während ich gegen die Kraft kämpfte, die den Moredhel erfaßt hatte, vermochte ich etwas ihres Wesens zu spüren. Es ist fremdartig, finster, furchtbar: etwas absolut Erbarmungsloses. Es wütet und versucht, alles zu beherrschen oder zu vernichten. Selbst jene Gottheiten wie Lims-Kragma und Guis-wa, die man zu den finsteren zählt, sind nicht wahrhaft böse, wenn man die Wahrheit kennt. Doch dieses Fremdartige löscht selbst das Licht der Hoffnung aus. Es ist die verkörperte Verzweiflung.«

Der Unterpriester bedeutete Arutha, daß es Zeit zum Gehen sei.

Als der Fürst zur Tür schritt, rief Nathan ihm nach: »Wartet, Ihr müßt noch etwas wissen! Es verschwand nicht, weil ich es bezwungen hatte, sondern weil ich ihm den Diener nahm, dessen Leib es benutzte. Dadurch hatte es keine Möglichkeit mehr, seinen Angriff fortzuführen. Ich besiegte nur sein Hilfsmittel. Es – es enthüllte in jenem Augenblick etwas von sich selbst. Es ist noch nicht bereit, sich meiner Lady des Einen Pfades zu stellen, aber es empfindet Geringschätzung für sie und die anderen Gottheiten.« Er war sichtlich verstört. »Hoheit, es empfindet Geringschätzung, ja Verachtung für die Götter!« Nathan setzte sich höher auf und streckte fast hilfesuchend die Hand aus. Arutha eilte zum Bett zurück und nahm sie in seine. »Hoheit, es ist eine Macht, die sich allen und allem überlegen fühlt! Sie kennt nur Haß und Hohn, und beabsichtigt alle zu vernichten, die sich ihr widersetzen. Wenn…«

»Beruhigt Euch, Priester«, mahnte Arutha sanft.

Nathan nickte und legte sich zurück auf die Kissen. »Hoheit, sucht nach größerem Wissen als meinem. Denn etwas spürte ich: Dieser Feind, diese Finsternis, die alles zu verschlingen droht, nimmt an Kraft zu.«

»Schlaft, Nathan«, rief Arutha. »Seht all dies als bösen Alptraum an, der vergeht.« Er nickte dem Unterpriester zu und verließ die Kammer. Als er an dem Leibarzt vorüberschritt, sagte er: »Helft ihm!« Es war mehr Bitte, denn Befehl.

 

Stunden vergingen, während Arutha darauf wartete, etwas über das Befinden der Hohenpriesterin zu erfahren. Er saß allein, während Jimmy auf einem niedrigen Diwan schlief. Gardan war unterwegs, um nach seinen Wachen zu sehen, und Volney war mit Verwaltungsarbeiten beschäftigt. Arutha bewegten wieder die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er hatte sich dagegen entschieden, Lyam davon zu unterrichten, solange er noch nicht in Krondor angelangt war. Wie er bereits den anderen gegenüber bemerkt hatte, gehörte angesichts Lyams Begleitschutz von über hundert Mann schon eine kleine Armee dazu, den König zu gefährden.

Arutha hielt in seinen Überlegungen inne, um Jimmy zu betrachten. Wie er so friedlich schlummerte, sah er wie ein Kind aus.

Er hatte über die Gefährlichkeit seiner Verletzung nur gelacht, doch kaum war einigermaßen Ruhe eingekehrt, hatte der Schlaf ihn gleich überwältigt. Behutsam hatte Gardan ihn auf den Diwan gelegt.

Arutha schüttelte den Kopf. Der Junge war ein gemeiner Verbrecher, ein Schmarotzer an der Gesellschaft, der noch nicht einen Tag seines jungen Lebens mit ehrlicher Arbeit verbracht hatte. Obwohl kaum älter als vierzehn oder fünfzehn, war er ein Großmaul, ein Lügner, ein Dieb und mehr. Trotz allem aber war er auch ein echter Freund.

Arutha seufzte und fragte sich, was er mit dem Jungen machen sollte.

Ein Page kam mit einer Botschaft von der Hohenpriesterin, mit der Bitte um seinen sofortigen Besuch. Arutha verließ das Gemach leisen Schrittes, um den Jungen nicht zu wecken, und folgte dem Pagen zu dem Raum, wo die Heiler die junge Frau behandelten.

Aruthas Gardisten standen außerhalb der Gemächer Posten und Tempelwachen im Inneren. Das hatte der Fürst genehmigt, nachdem ein Priester aus dem Tempel, der zur Hohenpriesterin geeilt war, ihn darum ersucht hatte. Dieser Priester begrüßte Arutha nun kühl, als sei der Fürst verantwortlich für den Zustand seiner Herrin. Er führte ihn in das Schlafgemach, wo eine Priesterin sich um die Frau im Bett bemühte.

Arutha erschrak zutiefst über den Anblick der Hohenpriesterin Auch ihr hatte man Kissen in den Rücken geschoben, damit sie im Bett sitzen konnte. Ihr blaßblondes Haar rahmte ein Gesicht ein, aus dem jegliche Farbe gewichen war. Man konnte meinen, sie sei in dem einen Tag um zwanzig Jahre gealtert. Doch als sie den Blick auf Arutha richtete, ging immer noch eine Aura der Macht von ihr aus.

»Habt Ihr Euch wieder erholt, Lady?« Besorgnis sprach aus Aruthas Stimme, als er sie anblickte.

»Meine Herrin hat noch Arbeit für mich, Hoheit. Sie wird mich in nächster Zeit noch nicht zu sich rufen.«

»Das freut mich zu hören. Ich bin gekommen, wie Ihr es wünschtet.«

Die Frau setzte sich höher, gegen die Kissen gestützt, auf. In Gedanken versunken, strich sie das fast weiße Haar zurück, und wieder stellte Arutha fest, daß sie trotz ihrer grimmigen Miene von ungewöhnlicher Schönheit war, doch von einer Schönheit, an der nichts weich und sanft war. Mit angespannter Stimme sagte die Hohepriesterin: »Arutha conDoin, unserem Königreich droht Gefahr und mehr. Im Reich unserer Herrin des Todes steht nur eine über mir. Sie ist unsere Große Mutter in Rillanon. Außer ihr dürfte niemand meine Macht im Reich des Todes herausfordern. Doch nun ist da etwas, das die Göttin selbst herausfordert. Etwas, das, obwohl es noch schwach ist und seine Kräfte erst noch sammeln und lernen muß, mit ihnen umzugehen, imstande ist, mir meine Macht über einen in meiner Herrin Reich zu nehmen.

Versteht Ihr das Ausmaß der Bedeutung meiner Worte? Es ist, als wäre ein Säugling geradewegs von der Brust seiner Mutter in Euer Schloß gekommen, nein, in das Schloß Eures Bruders, des Königs, und habe sein gesamtes Gefolge, seine Leibgarde, ja selbst das Volk gegen ihn aufgebracht, so daß er völlig hilflos auf seinem Thron sitzt.

Etwas von dieser Art hat sich gegen uns gestellt. Und es wächst!

Während wir uns hier unterhalten, nimmt es an Kraft und Wut zu.

Und es ist uralt…« Ihre Augen weiteten sich, und Arutha las einen Hauch von Wahnsinn in ihnen. »Es ist sowohl neu wie alt… Ich – ich verstehe es nicht!«

Arutha winkte den Heiler herbei und wandte sich zu dem Priester um, der zur Tür deutete. Als Arutha sie erreichte, hörte er, wie, die Priesterin heftig zu schluchzen anfing.

Im Vorgemach sagte der Priester: »Hoheit, ich bin Julian, Oberpriester des Inneren Kreises. Ich habe unseren Muttertempel in Rillanon von den Geschehnissen hier unterrichtet. Ich…« Offenbar sprach er nur ungern weiter. »Höchstwahrscheinlich werde ich in wenigen Monaten zum Hohenpriester von Lims-Kragma ernannt.

Wir werden ihr…« Er blickte zur geschlossenen Tür zurück. »… jede nur mögliche Pflege angedeihen lassen, aber sie wird nie mehr befähigt sein, uns im Dienst unserer Herrin zu leiten.« Er blickte wieder Arutha an. »Ich habe von den Tempelwachen erfahren, was sich vergangene Nacht zutrug, und soeben hörte ich der Hohenpriesterin Worte. Wenn der Tempel helfen kann, tut er es gern!«

Arutha dachte über das Angebot des Priesters nach. Es war üblich, daß zu den Ratgebern des höheren Adels ein Priester eines der Orden gehörte. Es gab zu vieles von Bedeutung, was dem Übernatürlichen zugerechnet werden konnte, als daß der Adel auf geistlichen Beistand verzichten konnte. Deshalb war Aruthas Vater auch der erste gewesen, der sich seinen üblichen Ratgebern einen Magier hinzugefügt hatte. Doch gedeihliche Zusammenarbeit zwischen Orden und weltlicher Obrigkeit, ja selbst zwischen Regenten untereinander, war selten. Schließlich antwortete Arutha: »Habt Dank, Julian. Wenn wir ein bißchen mehr über das wissen, womit wir es hier zu tun haben, werden wir um Euren Rat ersuche n. Mir ist eben erst klargeworden, wie begrenzt mein Weltbild ist. Ich nehme an, Ihr werdet uns von wertvoller Hilfe sein können.«

Der Priester verbeugte sich. Als Arutha sich anschickte zu gehen, flüsterte er: »Hoheit?«

Arutha blickte über die Schulter und sah die besorgte Miene des Priesters. »Ja?«

»Findet, was immer dieses Etwas auch ist, Hoheit. Findet und vernichtet es mit Stumpf und Stiel.«

Arutha vermochte nur zu nicken. Er kehrte in sein Gemach zurück. Leise setzte er sich in einen Sessel, um Jimmy nicht zu wecken, der noch immer tief und fest auf dem Diwan schlief. Arutha sah, daß man inzwischen eine Schale mit Früchten, Käse und gekühlten Wein für ihn auf ein Tischchen gestellt hatte. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß er den ganzen Tag noch keinen Bissen gegessen hatte. Er schenkte sich ein Glas Wein ein, schnitt ein Stück Käse ab und setzte sich wieder. Er legte die Beine auf den Tisch, lehnte sich zurück und ließ seine Gedanken schweifen. Die Erschöpfung zweier Nächte mit wenig Schlaf überwältigte ihn schier, doch zu sehr beschäftigten ihn die Geschehnisse der letzten beiden Tage, als daß er sich Schlummer gegönnt hätte. Eine übernatürliche Wesenheit trieb sich in seinem Landesteil herum, eine mit magischen Kräften, die selbst in den Vertretern der beiden mächtigsten Tempel des Königreichs Furcht hervorrief. Lyam würde in nicht ganz einer Woche ankommen, und fast jeder Edle des Königreichs würde zur Vermählung in Krondor anwesend sein. In seiner Stadt! Und ihm fiel nichts ein, wie er ihre Sicherheit gewährleisten könnte.

Eine Stunde saß Arutha da und sann nach. Er aß und trank, während seine Gedanken Meilen entfernt waren. Er grübelte überhaupt viel, wenn er allein war, und sah er sich einem Problem gegenüber, ging er es von allen Seiten an und schüttelte es wie ein Terrier eine Ratte. Dutzende verschiedener Möglichkeiten, die zu einer Lösung führen mochten, ließ er sich durch den Kopf gehen, und immer wieder prüfte er eingehend selbst den geringsten möglichen Hinweis. Schließlich, nachdem er eine Reihe von Plänen verworfen hatte, wußte er, was er tun mußte. Er nahm die Füße vom Tisch und griff nach einem reifen Apfel aus der Schale vor sich.

»Jimmy!« rief er laut. Der Junge war sofort wach. Mit den Jahren seines gefährlichen Lebens hatte er sich einen leichten Schlaf zu eigen gemacht. Arutha warf dem Jungen den Apfel zu. Mit erstaunlicher Flinkheit setzte Jimmy sich auf und fing ihn wenige Zoll vor dem Gesicht. Arutha konnte nun verstehen, was ihm den Beinamen ›die Hand‹ eingetragen hatte.

»Ja?« Jimmy biß in den Apfel.

»Ich brauche dich, um deinem Meister eine Botschaft zukommen zu lassen.« Jimmy hielt mitten im Abbeißen inne. »Ich möchte, daß du ein Treffen zwischen mir und dem Aufrechten vereinbarst.«

Jimmys Augen weiteten sich voller Unglauben.

 

Wieder hatte sich vom Bitteren Meer her dichter Nebel nach Krondor gewälzt, der die Stadt nun in eine dicke graue Decke hüllte.

Zwei Gestalten hasteten an den wenigen Schenken vorüber, die noch geöffnet waren. Arutha folgte Jimmy, der ihn durch die Stadt führte, hinaus aus dem Kaufmannsviertel in weniger vornehme Gegenden, bis sie sich tief im Armenviertel befanden. Schließlich bogen sie in eine Sackgasse ein und blieben an ihrem Ende stehen. Wie durch Zauberei tauchten drei Männer aus der Dunkelheit auf. In Sekundenschnelle hatte Arutha seinen Degen gezogen, doch Jimmy sagte nur: »Wir sind Pilger, die Führung erbitten.«

»Pilger, ich bin der Führer«, antwortete der vorderste Mann.

»Nun sag deinem Freund, er soll seinen Krötenspieß einstecken, oder wir liefern ihn in einem Sack ab.«

Falls die Männer wußten, wer Arutha war, zeigten sie es jedenfalls nicht. Langsam schob der Fürst die Klinge in die Scheide zurück. Die beiden anderen Männer kamen herbei, sie hielten gefaltete Tücher hoch, um sie ihnen vor die Augen zu binden.

»Was soll das?« fragte Arutha scharf.

»Nur so nehmen wir euch mit«, erklärte der Führer. »Wenn Ihr Euch dagegen auflehnt, kommt Ihr keinen Schritt weiter.«

Arutha unterdrückte seinen Ärger und nickte. Er sah noch, wie Jimmy die Augen verbunden wurden, dann legte man ihm bereits das Tuch um. Er mußte dagegen ankämpfen, es nicht herunterzureißen, und hörte, wie der Mann sagte: »Ihr werdet nun zu einem Ort gebracht, wo andere euch weiterführen werden. Viele Hände mögen Euch noch leiten, bis Ihr Euer Ziel erreicht. Also erschreckt nicht, wenn Ihr unbekannte Stimmen im Dunkeln hört. Ich weiß nicht, was Euer endgültiges Ziel ist, denn es ist nicht nötig, daß ich davon weiß.

Genausowenig ist mir bekannt, wer Ihr seid, Mann. Doch Befehl kam von einem ganz oben, daß Ihr schnell geführt und unbeschädigt ankommen müßt. Aber seid gewarnt: Wenn Ihr die Augenbinde abnehmt, kann ich für nichts garantieren. Von nun an dürft Ihr nicht mehr wissen, wo Ihr Euch befindet.«

Arutha spürte, wie man ein Seil um seine Mitte schlang, und der Führer mahnte: »Haltet Euch an dem Strick gut fest und achtet auf Eure Schritte. Wir werden ziemlich schnell marschieren.«

Ohne ein weiteres Wort wurde Arutha in die Nacht geführt.

 

Länger als eine Stunde, so zumindest erschien es dem Fürsten, war er durch die Straßen Krondors geführt worden. Zweimal war er gestolpert, und als Erinnerung an die sorglose Behandlung seiner Führer würden ihm Blutergüsse bleiben. Mindestens dreimal hatten die Führer gewechselt, infolgedessen hatte er keine Ahnung, wen er sehen würde, sobald man ihm das Tuch von den Augen nahm. Zu guter Letzt stiegen sie eine Treppe hoch. Er hörte das Öffnen und Schließen mehrerer Türen, ehe kräftige Hände ihn auf einen Stuhl drückten. Endlich wurde Arutha die Binde abgenommen, und er blinzelte in das helle Licht.

Auf einem Tisch waren dicht aneinander Laternen aufgereiht, mit Spiegeln dahinter, die nicht nur blendeten, sondern es unmöglich machten, irgend jemanden hinter dem Tisch zu sehen.

Arutha blickte nach rechts und sah Jimmy auf einem Hocker sitzen. Nach einer endlos erscheinenden Zeit erklang eine tiefe Stimme hinter den Spiegeln. »Seid gegrüßt, Fürst von Krondor.«

Wieder blinzelte Arutha in das grelle Licht, doch dahinter war nichts zu erkennen. »Spreche ich mit dem Aufrechten?«

Eine lange Pause ging der Antwort voraus. »Es genügt, wenn Ihr wißt, daß ich die Vollmacht habe, zu einer Einigung mit Euch zu kommen. Ich spreche mit des Aufrechten Stimme.«

Arutha überlegte kurz. »Ich bin an einem Bündnis interessiert.«

Ein schmunzelndes Lachen war zu hören. »Wozu könnte der Fürst von Krondor die Hilfe des Aufrechten brauchen?«

»Ich möchte die Geheimnisse der Gilde des Todes erfahren.«

Ein langes Schweigen folgte diesen Worten. Arutha wußte nicht, ob der Mann mit der tiefen Stimme sich mit einem anderen besprach oder lediglich überlegte. Schließlich sagte der Unsichtbare: »Schafft den Jungen hinaus und haltet ihn fest.«

Zwei Männer erschienen aus dem Dunkel. Sie packten Jimmy grob und zogen ihn aus dem Raum. Als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, sagte die Stimme: »Die Nachtgreifer sind auch eine Quelle der Besorgnis für den Aufrechten, Fürst von Krondor.

Sie bedienen sich unerlaubt der Straße der Einbrecher, und ihr Meucheln erregt die Bevölkerung. Das wirft ein unwillkommenes Licht auf die vielen Tätigkeiten der Spötter. Kurz gesagt, sie schaden unseren Geschäften. Ihr Ende würde uns nützen, doch welchen Grund habt Ihr über den hinaus, der einen Herrscher üblicherweise bewegt, wenn seine Untertanen heimtückisch im Schlaf ermordet werden?«

 

»Sie stellen eine Bedrohung für meinen Bruder und mich dar.«

Wieder hielt ein längeres Schweigen an. »Dann stecken sie ihre Ziele hoch. Aber Könige verdienen manchmal nicht weniger den Tod als Bürgerliche, und ein Mensch muß sich schließlich seinen Lebensunterhalt verdienen, so gut er es kann, auch wenn er ein Assassine ist.«

»Es dürfte Euch jedoch klar sein, daß Fürstenmord nicht besonders förderlich fürs Geschäft ist. Die Spötter würden sich gewiß etwas eingeengt fühlen, müßten sie in einer Stadt unter Kriegsrecht arbeiten.«

»Das stimmt. Nennt Eure Bedingungen.«

»Keine Bedingungen, ich verlange Eure Mitarbeit. Ich brauche Auskunft. Ich muß wissen, wo sich das Herz der Nachtgreifer befindet.«

»Uneigennützigkeit ist keine Hilfe für jene, die kalt in der Gosse enden. Der Arm der Gilde des Todes ist lang.«

»Nicht länger als meiner«, gab Arutha zu bedenken. »Ich kann die Einbußen der Spötter deutlich sehen. Ihr wißt genau wie ich, was geschähe, wenn der Fürst von Krondor Eurer Gilde den Krieg erklärte.«

»In einer Unstimmigkeit zwischen der Gilde und Eurer Hoheit gäbe es wohl keinen Gewinn.«

Arutha beugte sich vor. Seine Augen glänzten in dem grellen Licht. »Gewinn interessiert mich nicht.«

Einem Augenblick des Schweigens folgte ein tiefer Seufzer. »So ist es wohl«, sagte die Stimme nachdenklich. Dann lachte der Mann wieder schmunzelnd. »Das ist einer der Vorteile einer erblichen Stellung. Es würde recht ungut sein, eine Gilde hungernder Diebe leiten zu müssen. Nun gut, Arutha von Krondor. Doch für dieses Risiko braucht die Gilde eine Sicherstellung. Ihr habt die Knute gezeigt, was ist mit dem Zucker?«

»Nennt Euren Preis.« Arutha lehnte sich wieder zurück.

»Ihr sollt wissen, daß der Aufrechte völlig auf Eurer Seite steht, was das Problem der Bedrohung Eurer Hoheit durch die Gilde des Todes betrifft. Die Umtriebe der Nachtgreifer dürfen nicht geduldet werden! Die Assassinen müssen ausgerottet werden. Aber das birgt große Gefahren in sich und hohe Ausgaben. Es wird ein sehr kostspieliges Unternehmen werden.«

»Euer Preis?« drängte Arutha.

»Angesichts des Risikos für uns alle, sollten wir kein Glück haben: zehntausend Goldkronen.«

»Das würde ein großes Loch in den fürstlichen Säckel reißen.«

»Das bezweifle ich nicht, aber bedenkt die Alternative.«

»Abgemacht!«

»Was die Zahlungsweise anbelangt, werde ich Euch die Wünsche des Aufrechten später übermitteln.« Überraschende Weichheit klang aus der Stimme. »Zunächst jedoch möchte ich über etwas anderes mit Euch sprechen.«

»Und das wäre?« fragte Arutha erstaunt.

»Jimmy die Hand hat seinen Eid gegenüber den Spöttern gebrochen und so sein Leben verwirkt. Er wird noch in dieser Stunde sterben!«

Augenblicklich sprang Arutha auf. Kräftige Hände drückten ihn auf den Stuhl zurück, als ein stämmiger Spötter aus der Dunkelheit trat. Er schüttelte lediglich rügend den Kopf.

»Wir haben keineswegs vor, Euch auch nur eine Schramme zuzufügen«, versicherte die Stimme hinter den Laternen. »Doch wenn Ihr in diesem Raum eine Waffe zieht, werdet Ihr in einem Sarg zum Palast zurückgebracht, und um die Folgen kümmern wir uns später.«

»Aber Jimmy…«

»Hat seinen Eid gebrochen«, wiederholte die Stimme, ihn unterbrechend. »Er war bei seiner Ehre verpflichtet, uns sofort von dem Unternehmen des Nachtgreifers zu unterrichten, und ebenso von Lachjacks Verrat. O ja, Eure Hoheit, wir wissen darüber Bescheid.

Jimmy verriet die Gilde, indem er Euch vor uns verständigte. So manches kann ihm seiner Jugend wegen verziehen werden, doch dieses nicht!«

»Ich werde nicht zulassen, daß Jimmy gemordet wird!«

»Dann hört zu, Fürst von Krondor, denn ich habe Euch eine Geschichte zu erzählen. Einst lag der Aufrechte bei einer Dirne, wie bei Hunderten zuvor. Doch diese Hure gebar ihm ein Kind. Es besteht kein Zweifel, daß Jimmy die Hand des Aufrechten Sohn ist, obgleich er nichts davon ahnt. Dies bringt den Aufrechten in eine sehr unangenehme Zwickmühle. Will er nach den Gesetzen handeln, die er selbst erlassen hat, muß er die Hinrichtung seines eigenen Sohnes befehlen. Tut er es nicht, wird er bei jenen, die ihm dienen, an Achtung verlieren. Eine fatale Entscheidung. Schon so herrscht Unruhe in der Gilde der Diebe, da sich Lachjack als Spitzel der Nachtgreifer entpuppt hat. Das Vertrauen, das ohnehin üblicherweise dünn wie Eis ist, scheint momentan ganz zu schwinden. Hättet Ihr einen anderen Ausweg?«

Arutha lächelte, denn er wußte einen. »Vor noch gar nicht so langer Zeit war es nicht unüblich, sich Pardon zu erkaufen. Nennt Euren Preis.«

»Für Verrat? Nicht weniger als weitere zehntausend Goldkronen.«

Arutha schüttelte den Kopf. Da würde so gut wie nichts mehr in der fürstlichen Schatzkammer übrigbleiben. Aber Jimmy mußte gewußt haben, welches Risiko er einging, als er ihn gewarnt hatte, noch ehe er den Spöttern Meldung erstattete. Das war ihm hoch anzurechnen und selbst diese Summe wert. So meinte er schließlich säuerlich: »Einverstanden.«

»Dann müßt Ihr den Jungen bei Euch behalten, Fürst von Krondor, denn er darf kein Spötter mehr sein. Dafür werden wir ihn in Ruhe lassen und nicht versuchen, ihm etwas anzutun – außer er verstößt wieder gegen unsere Gesetze. Dann allerdings werden wir mit ihm wie mit jedem freien Dieb verfahren, ohne Erbarmen!«

Arutha erhob sich. »Ist das nun alles?«

»Nur noch eines.«

»Ja?«

»Vor nicht so langer Zeit war es auch nicht unüblich, für Gold einen Adelstitel zu erstehen. Welchen Preis würdet Ihr von einem Vater fordern, der seinen Sohn gern als Junker am Hof sehen möchte?«

Arutha lachte. Jetzt verstand er plötzlich diesen ganzen Handel.

»Zwanzigtausend Goldkronen.«

»Einverstanden! Der Aufrechte mag Jimmy. Zwar hat er noch andere nichtanerkannte Kinder in die Welt gesetzt, aber Jimmy ist für ihn etwas Besonderes. Der Aufrechte wünscht, daß der Junge nichts von seiner Vaterschaft erfährt, aber es ist ihm eine Freude, daß sein Sohn nach den Verhandlungen dieser Nacht eine angenehmere Zukunft haben wird.«

»Er wird in meinen persönlichen Dienst übernommen werden, ohne zu wissen, wer sein Vater ist. Werden wir uns wieder treffen?«

»Ich glaube nicht, Fürst von Krondor. Der Aufrechte hütet bedachtsam seine Identität. Selbst einem nahe zu kommen, der mit seiner Stimme spricht, birgt Gefahr für ihn. Aber wir werden Euch Bescheid geben, sobald wir das Versteck der Nachtgreifer kennen. Und wir würden uns freuen, von ihrer Vernichtung zu hören.«

 

Zapplig lief Jimmy hin und her. Seit über drei Stunden hatte Arutha eine Besprechung mit Gardan, Volney, Laurie und einigen Beratern. Jimmy war ersucht worden, das Gemach nicht zu verlassen, das man ihm zugeteilt hatte. Die Anwesenheit von zwei Wachen vor der Tür und zwei weiteren unterhalb des Balkons, der zu seinem Gemach gehörte, bestätigte Jimmys Vermutung, daß man ihn, aus welchem Grund auch immer, als Gefangenen betrachtete. Jimmy war überzeugt, daß er des Nachts unbemerkt fliehen könnte, befände er sich in besserer Verfassung. Nach den Ereignissen der vergangenen Tage fühlte er sich falsch behandelt. Er verstand nicht, weshalb er mit dem Fürsten ins Schloß hatte zurückkehren müssen.

Das alles machte ihm schwer zu schaffen. In seinem Leben hatte sich etwas verändert, nur wußte er nicht so recht, was oder weshalb.

Die Tür schwang auf, und ein Gardist steckte den Kopf herein. Er winkte dem Jungen. »Du sollst zu Seiner Hoheit kommen.« Eilig folgte Jimmy dem Mann durch die Korridore zur Ratskammer.

Arutha blickte von einem Schriftstück auf. Um den Tisch saßen Gardan, Laurie und einige andere Männer, die Jimmy nicht kannte.

Graf Volney stand bei der Tür. »Jimmy, ich habe etwas für dich.«

Der Junge schaute sich in dem kleinen Saal um. Er wußte nicht, was er sagen sollte. »Das ist eine Urkunde: deine Ernennung zum Junker am Fürstenhof.«

Mit großen Augen starrte Jimmy Arutha sprachlos an. Laurie lachte leise, Gardan grinste. Schließlich fand Jimmy die Stimme wieder. »Ihr macht Euch einen Spaß mit mir, nicht wahr?« Als Arutha ernst den Kopf schüttelte, murmelte der Junge: »Aber… ich, ein Junker?«

»Du hast mir das Leben gerettet, und das ist deine Belohnung.«

»Eure Hoheit, ich – ich danke Euch, aber – aber mein Treueeid gegenüber den Spöttern…«

Arutha beugte sich vor. »Das ist erledigt, Junker. Du bist kein Mitglied der Diebesgilde mehr. Der Aufrechte ist damit einverstanden. Es ist alles beschlossen.«

Jimmy kam sich vor wie in einer Falle. Es hatte ihm nie übermäßig Spaß gemacht, ein Dieb zu sein, wohl aber hatte es ihn mit großem Stolz erfüllt, ein sehr guter Dieb zu sein. Was ihn besonders angespornt hatte, war, allen zu beweisen, daß Jimmy die Hand der beste Dieb der Gilde war – oder es zumindest eines Tages sein würde. Doch nun gehörte er dem Fürstenhof an, und mit dieser neuen Stellung waren Pflichten verbunden. Und wenn der Aufrechte sich damit einverstanden erklärt hatte, war Jimmy der Zugang zur Gesellschaft der Straße für immer verwehrt.

Als Laurie sah, wie wenig erfreut der Junge war, fragte er: »Darf ich, Hoheit?«

Arutha nickte. Der Sänger setzte sich neben den Jungen und legte eine Hand auf dessen Schulter. »Jimmy, Seine Hoheit sorgt nur dafür, daß dein Kopf über Wasser bleibt – im wahrsten Sinne des Wortes. Er mußte um dein Leben handeln. Ohne ihn würdest du schon jetzt tot im Hafen treiben. Der Aufrechte wußte, daß du deinen Treueeid der Gilde gegenüber gebrochen hast.«

Jimmy sank sichtlich in sich zusammen, und Laurie drückte tröstend seine Schulter. Irgendwie hatte der Junge sich immer eingebildet, über den Gesetzen zu stehen und frei von der Verantwortung zu sein, die andere band. Er hatte nie gewußt, weshalb er so oft glimpflich davongekommen war, während andere für die gleiche Übertretung schwer hatten bezahlen müssen. Doch diesmal war er zu weit gegangen. Nicht im geringsten zweifelte er daran, daß der Sänger die Wahrheit sprach. Widerstreitende Gefühle plagten ihn, während er darüber nachdachte, wie knapp er der Hinrichtung entkommen war.

»Das Leben am Hof ist gar nicht so übel«, sagte Laurie nun. »Im Schloß brauchst du nie zu frieren, für stets saubere Kleidung wird gesorgt, und an gutem Essen mangelt es nie. Außerdem wirst du dich bestimmt nicht langweilen.« Laurie blickte Arutha an und fügte trocken hinzu. »Schon gar nicht, wie die Dinge jetzt stehen. «

Jimmy nickte. Laurie führte ihn um den Tisch herum und hieß ihn niederzuknien. Der Graf las ihm die Ernennungsurkunde vor:


»An alle meine Untertanen!


Hiermit sei kund und zu wissen getan, daß Jimmy, ein Waise der Stadt Krondor, dem Reich einen wertvollen Dienst erwies, indem er den Fürsten von Krondor vor körperlichem Schaden bewahrte, wodurch der Unterzeichnete für immer in seiner Schuld steht. Es ist der Wunsch des Unterzeichneten, daß Jimmy als geschätzter und getreuer Diener im ganzen Reich anerkannt und als Junker am Hof von Krondor mit allen Rechten und Pflichten als solcher aufgenommen wird. Außerdem sei kund und zu wissen getan, daß der Herrensitz Haverford am Welandel mit den dazu gehörenden Ländereien, einschließlich Gesinde, in seinen erblichen Besitz übergeht. Bis zu seiner Volljährigkeit übernimmt die Krone die Verwaltung. Unterzeichnet und besiegelt an diesem Tag: Arutha conDoin, Fürst von Krondor, Marschall des westlichen Reichs und der königlichen Streitkräfte des Westens, und Thronerbe des Königreichs der Inseln.«

 

Volney blickte Jimmy an. »Bist du willens anzunehmen?«

»Ja«, antwortete Jimmy. Volney rollte die Urkunde zusammen und händigte sie dem Jungen aus. Offenbar war nichts weiter vonnöten, um aus einem Dieb einen Junker zu machen.

Jimmy hatte keine Ahnung, wo Haverford am Welandel lag, aber Landbesitz bedeutete Einkommen, und sofort fühlte er sich ein bißchen wohler. Während er sich umdrehte, musterte er heimlich Arutha, der ganz offensichtlich wieder einmal mit seinen Gedanken weit entfernt war. Zweimal hatte der Zufall sie zusammengeworfen, und zweimal hatte Arutha sich als bisher einziger erwiesen, der ihn nicht ausgenutzt hatte. Selbst seine paar Freunde unter den Spöttern hatten sich irgendwelche Vorteile durch ihn erhofft, zumindest bis er ihnen gezeigt hatte, daß er sich nicht mißbrauchen ließ. So fand Jimmy sein Verhältnis zu Arutha einmalig. Während der junge Fürst stumm einige Papiere studierte, sagte sich Jimmy, wenn das Schicksal sich schon wieder einmal einmischte, fühlte er sich an Aruthas Seite und der seiner Getreuen wohler als irgendwo anders.

Außerdem würde er ein sicheres Einkommen und angenehmes Dasein haben, solange Arutha lebte. Doch dann dachte er düster, daß es gar nicht so leicht sein würde, dafür zu sorgen, daß er auch am Leben blieb.

Während Jimmy nun seine Urkunde betrachtete, musterte Arutha seinerseits ihn. Er war ein Straßenjunge, zäh, anpassungsfähig, einfallsreich und hin und wieder skrupellos. Unwillkürlich lächelte der Fürst. Er würde sich am Hof gut zurechtfinden.

Jimmy rollte seine Urkunde zusammen, da sagte Arutha: »Dein früherer Meister arbeitet schnell.« An alle gewandt, fuhr er fort:

»Hier teilt er mir mit, daß er dem Versteck der Nachtgreifer auf die Spur gekommen ist. Sobald er Genaueres weiß, was er sich in Kürze erhofft, gibt er uns Bescheid. Aber er bedauert, daß er keine direkte Hilfe bei der Ausrottung der Assassinen zusagen kann. Jimmy, was hältst du davon?«

Jimmy grinste. »Der Aufrechte ist gerissen. Sollte es Euch gelingen, die Nachtgreifer unschädlich zu machen, können seine Geschäfte wieder ihren ungestörten Gang nehmen. Schlägt Euer Vorgehen fehl, fällt kein Verdacht auf ihn, daß er die Hand im Spiel gehabt haben könnte. Er ist also in keinem Fall schlechter dran.«

Ernsteren Tons fügte er hinzu: »Er macht sich Sorgen über eine weitere Einschleusung von Spitzeln. Durch sie würde eine Beteiligung der Spötter das Unternehmen in Gefahr bringen.«

Arutha verstand. »Glaubst du, daß es schon so schlimm sein könnte?«

»Höchstwahrscheinlich, Hoheit. Es gibt nicht mehr als drei oder vier Verbindungsmänner, die den Aufrechten persönlich kennen. Sie sind die einzigen, denen er voll und ganz vertrauen kann. Ich bin sicher, er hat seine eigenen Spitzel außerhalb der Gilde, die nur seinen zuverlässigsten Unterführern bekannt sind, und vielleicht nicht einmal ihnen. Zweifellos benutzt er sie, um die Nachtgreifer aufzuspüren. Es gibt über zweihundert Spötter und doppelt so viele Bettler und Straßenjungen, von denen ein jeder der Gilde des Todes als Augen und Ohren dienen kann.«

Arutha verzog die Lippen zu seinem schiefen Lächeln. Volney lobte: »Ihr versteht Euren Verstand zu gebrauchen, Junker James. Ihr dürftet wahrhaftig eine Bereicherung für den Fürstenhof sein.«

Jimmy schaute drein, als habe er auf eine saure Traube gebissen.

»Junker James?«

Arutha gab vor, als sei ihm Jimmys säuerlicher Ton nicht aufgefallen. »Wir könnten alle ein bißchen Schlaf gebrauchen. Das beste, was wir tun können, bis wir vom Aufrechten hören, ist, uns auszuruhen und von den Anstrengungen der vergangenen Tage zu erholen.« Er erhob sich. »Ich wünsche euch allen eine gute Nacht.«

Arutha verließ die Ratskammer. Volney sammelte eilig alle Papiere auf dem Tisch ein und folgte alsbald dem Fürsten. Laurie wandte sich an Jimmy: »Wir sollten dich wohl unter unsere Fittiche nehmen und dafür sorgen, daß dir jemand beibringt, wie man sich als feiner Herr benimmt.«

Gardan trat zu ihnen. »Dann ist der Junge so gut wie dazu verdammt, den Fürsten in ständige Verlegenheit zu bringen.«

Laurie seufzte. »Das ist wieder einmal ein Beweis«, wandte er sich an Jimmy, »daß man einem Orden und Rangabzeichen anheften kann, aber einmal Kasernenfeger, immer Kasernenfeger.«

»Kasernenfeger!« schnaubte Gardan und täuschte Empörung vor.

»Nur damit Ihr es wißt, Sänger, ich entstamme einem alten Geschlecht von Helden…«

Jimmy seufzte ergeben, als er den beiden einander hänselnden Männern auf den Korridor folgte. Im großen und ganzen war sein Leben noch vor einer Woche einfacher gewesen. Er bemühte sich um eine zufriedenere Miene, trotzdem erinnerte er im besten Fall an eine Katze, die in ein Faß Sahne gefallen ist und nicht so recht weiß, ob sie es ausschlecken oder um ihr Leben schwimmen soll.