Krondor
Die Stadt schlief.
Vom Bitteren Meer hatte sich eine undurchdringliche Nebeldecke über Krondor geschoben und verbarg alles unter dichtem Grauweiß.
Die Hauptstadt des westlichen Landesteils ruhte nie völlig, doch dieser schier allesverhüllende Dunst dämpfte die üblichen nächtlichen Geräusche und raubte die Sicht, selbst jenen, die sich um diese Stunde noch im Freien aufhielten. Die ganze Stadt wirkte stiller, ruhiger als sonst, als stünde sie im Frieden mit sich selbst.
Für einen bestimmten Bewohner der Stadt war dieser Zustand geradezu ideal. Der Nebel hatte jede Straße in einen schmalen, dunklen Tunnel verwandelt und jeden Häuserblock in eine abgeschiedene Insel. Die schier endlose Düsternis war nur da und dort von Straßenlaternen durchbrochen: begrenzte Haltestellen mit Wärme und beruhigender Helligkeit für Vorübergehende, ehe sie wieder in die feuchtkalte und dunkle Nacht eintauchen mußten. Doch zwischen diesen tröstlichen Häfen fand jener, der die Dunkelheit für seine Arbeit brauchte, zusätzlichen Schutz, da die Geräusche, die er verursachen mochte, vom Nebel gedämpft wurden, und er selbst zufälligen Blicken entging. Jimmy die Hand ging seinen Geschäften nach.
Obgleich erst fünfzehn, zählte Jimmy doch bereits zu den begabtesten Angehörigen der Spötter, der Gilde der Diebe. Jimmy war fast sein ganzes, wahrlich noch nicht langes Leben ein Dieb: ein Straßenjunge, der damit angefangen hatte, flink Obst von den Karren von Straßenhändlern zu entwenden, hatte sich zum vollwertigen Mitglied der Spötter hochgearbeitet. Jimmy hatte seinen Vater nie gekannt, und seine Mutter war Freudenmädchen im Armenviertel gewesen, bis ein betrunkener Seemann ihrem Leben jäh ein Ende gemacht hatte. Seither war der Junge ein Spötter, und sein Aufstieg in der Gilde war überraschend schnell vonstatten gegangen. Doch das Erstaunlichste an Jimmys Vorwärtskommen war nicht sein Alter, denn bei den Spöttern war man der Ansicht, daß ein Junge, sobald er zu stehlen bereit war, auch auf die Menschheit losgelassen werden sollte. Ungeschicktheit brachte ihre eigenen Folgen. Ein schlechter Dieb war bald ein toter Dieb. Solange dabei kein anderer Spötter in Gefahr geriet, galt der Tod eines ungeschickten Diebes nicht als großer Verlust. Nein, die erstaunlichste Tatsache bei Jimmys schnellem Aufstieg war die, daß er wirklich nahezu so gut war, wie er sich einbildete.
Mit katzenhafter Unauffälligkeit bewegte Jimmy sich in der Kammer. Nur das Schnarchen des ahnungslosen Ehepaars brach die nächtliche Stille. Der schwache Schein einer Straßenlaterne, der durch das offene Fenster fiel, war sein einziges Licht. Jimmy schaute sich um. Alle seine Sinne unterstützten die Augen bei der Suche.
Eine plötzliche Veränderung im kaum vernehmbaren Geräusch seiner Schritte auf den Bodenbrettern verriet dem jungen Einbrecher, daß er gefunden hatte, was er suchte. Mit lautlosen Handgriffen öffnete er das doppelte Bodenstück, und seine Finger steckten auch schon im Versteck, das Trig, der Tuchwalker, für so sicher gehalten hatte.
Trig schnaufte schwer und wälzte sich herum, was ein rasselndes Schnarchen seines Weibes zur Folge hatte. Jimmy erstarrte und wagte kaum zu atmen, bis die beiden wieder gleichmäßig schnauften.
Dann erst holte er einen schweren Beutel aus dem Bodenkästchen. Er steckte ihn unter seinen Kittel, und zwar so, daß er durch den Gürtel festgehalten wurde. Dann setzte er geräuschlos das Stück Bodenbrett wieder ein, und kehrte zum Fenster zurück. Wenn er Glück hatte, würde der Verlust erst in Tagen entdeckt werden.
Er stieg durchs Fenster, drehte sich um und griff nach der Dachrinne, an der er sich hochzog. Er legte sich so aufs Dach, daß sein Oberkörper über den Rand hing. Ein sanfter Stoß genügte, die Fensterläden zu schließen. Dann rüttelte er vorsichtig an Haken und Schnur, bis der innere Riegel einrastete. Schnell zog er die Schnur zurück und lachte insgeheim über die Verblüffung des Walkers, wenn er sich den Kopf darüber zerbrach – was er bestimmt tun würde –, wie sein Gold hatte verschwinden können. Einen Augenblick blieb Jimmy noch reglos liegen und lauschte auf mögliche Geräusche, die auf ein Erwachen der beiden in der Kammer hindeuten mochten. Als nichts zu hören war, entspannte er sich.
Er stand auf und machte sich auf den Weg über die Straße der Einbrecher, wie man in gewissen Kreisen die Dächer nannte. Er sprang von Trigs Haus zum Dach des anschließenden, wo er sich auf den Dachziegeln niederließ, um seine Beute zu begutachten. Der Beutelinhalt war Beweis für des Walkers Sparsamkeit. Er mußte wohl immer eine schöne Summe seiner Einnahmen zur Seite gelegt haben. Jimmy würde sich dafür monatelang ein gutes Leben leisten können, wenn er nicht alles verspielte.
Ein kaum vernehmbares Geräusch veranlaßte Jimmy, sich lautlos flach auf dem Dach auszustrecken. Ein zweiter Laut war zu hören: ein leichtes Scharren auf den Ziegeln auf der anderen Seite einer Gaube, etwa in der Mitte des Daches, auf dem er lag. Der Junge verfluchte sein Pech und strich durch sein nebelfeuchtes braunes Lockenhaar. Denn daß ein anderer sich auf dem Dach befand, konnte ihn nur in Schwierigkeiten bringen. Jimmy arbeitete nämlich ohne Erlaubnis des Nachtmeisters der Spötter, eine Angewohnheit, die ihm die paar Male, da er dabei erwischt worden war, Rügen und Prügel eingebracht hatte. Doch wenn er jetzt etwa auch noch die Arbeit eines anderen Spötters in Gefahr brachte, mußte er mit mehr als bloß ein paar harten Worten und einem versohlten Hintern rechnen. Jimmy wurde von den anderen in der Gilde als Erwachsener behandelt, und er hatte sich diese Stellung durch Geschicklichkeit und Klugheit schwer verdient. Dafür erwartete man von ihm jedoch, daß er Verantwortung zeigte, ohne Rücksicht auf sein Alter. Indem er das Leben eines anderen Spötters in Gefahr brachte, mochte er sein eigenes leicht verwirken.
Die andere Möglichkeit konnte sich als nicht weniger folgenschwer erweisen. Wenn ein freier Einbrecher in der Stadt ohne die Erlaubnis der Spötter arbeitete, war es Jimmys Pflicht, herauszufinden, wer er war, und ihn zu melden. Dadurch würde Jimmys eigenes Vergehen gegen die Bestimmungen der Gilde für nicht ganz so schlimm erachtet werden, vor allem dann nicht, wenn er die üblichen zwei Drittel seiner Beute ablieferte.
Er kletterte über den First und schlich auf der anderen Dachseite entlang, bis er sich dem Ursprung des Geräusches gegenüber befand.
Nun mußte er sich den freien Einbrecher nur genau ansehen und ihn melden. Falls der Mann nicht bekannt war, würde der Nachtmeister seine Beschreibung weitergeben, und früher oder später würden ein paar kräftige Gildenhüter ihn aufspüren und ihm beibringen, wie ein diebischer Besucher in der Stadt sich der Gilde gegenüber zu benehmen hatte. Jimmy lugte vorsichtig über den First. Er sah nichts.
Erst als er sich vorsichtig umschaute, bemerkte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln und wandte den Kopf in diese Richtung.
Doch auch jetzt sah er nichts. Jimmy machte sich bereit zu warten.
Hier war etwas, was seine Neugier reizte.
Diese immer wache Neugier war eine von Jimmys Schwächen, wenn es um seine Arbeit ging – Neugier und dann und wann der Arger darüber, daß er seine Beute mit der Gilde teilen mußte, der sein Zögern in dieser Beziehung mißfiel. Seine Erziehung bei den Spöttern hatte in ihm seine eigene Art von Lebenseinstellung geweckt – sein Skeptizismus grenzte an Zynismus –, die für einen Burschen seines Alters ungewöhnlich war. Er war ungebildet, aber klug. Und dies wußte er ganz sicher: Ein Geräusch kommt nicht aus leerer Luft – außer natürlich, wenn Magie im Spiel ist.
Jimmy grübelte über das, was er nicht sehen konnte. Entweder kroch ein unsichtbares Gespenst über die Dachziegel, was zwar möglich, aber doch höchst unwahrscheinlich war; oder etwas durchaus Stoffliches war gut im Schatten auf der anderen Seite der Gaube verborgen.
Jimmy schlich auf der anderen Dachseite entlang, bis er die Höhe der Gaube erreicht hatte. Wieder lugte er vorsichtig über den First. Er spähte in die Dunkelheit, und als er ein neuerliches schwaches Scharren hörte, wurde er auch mit dem Schatten einer Bewegung belohnt. Jemand befand sich im tiefen Dunkel und trug einen nicht weniger dunklen Umhang. Jimmy konnte ihn nur ausmachen, wenn er sich bewegte. Jimmy schlich hinter dem First noch ein Stück weiter, um einen besseren Blickwinkel zu erlangen. Als er unmittelbar hinter dem kaum Sichtbaren war, spähte er erneut über den First. Der Fremde bewegte sich gerade: Er rückte den Umhang über den Schultern zurecht. Die Härchen auf Jimmys Nacken stellten sich auf. Der Mann vor ihm war völlig in Schwarz gekleidet und trug eine schwere Armbrust. Das war kein Einbrecher, sondern ein Nachtgreifer!
Jimmy rührte keinen Muskel mehr. Über ein Mitglied der Gilde des Todes zu stolpern, erhöhte nicht gerade die Aussicht, es selbst auf ein hohes Alter zu bringen. Doch da bestand der Befehl für alle Spötter, daß jegliche Neuigkeit über die Bruderschaft der Assassinen sofort gemeldet werden mußte. Und dieser Befehl kam vom Aufrechten selbst, dem Allerobersten der Gilde der Diebe. Jimmy beschloß abzuwarten und sich auf seine Geschicklichkeit zu verlassen, sollte er entdeckt werden. Ihm mochten zwar die nahezu legendären Eigenschaften der Nachtgreifer fehlen, doch verfügte er dafür über das unerschütterliche Selbstvertrauen eines Fünfzehnjährigen, der zum jüngsten Meisterdieb in der Geschichte der Spötter aufgestiegen war. Falls er entdeckt wurde, würde es nicht seine erste Flucht über die Straße der Einbrecher sein.
Die Zeit verging. Jimmy wartete mit einer Geduld, die ungewöhnlich für einen Jungen seines Alters war. Ein Einbrecher, der sich nicht stundenlang ruhig verhalten kann, wenn es nötig ist, bleibt nicht lange am Leben. Hin und wieder hörte und sah Jimmy den Mann, wenn er sich bewegte. Seine bisherige Ehrfurcht vor den legendären Nachtgreifern schwand zusehends, denn dieser Bursche bewies wenig Geschick im Stillhalten. Jimmy dagegen hatte längst gelernt, die Muskeln unmerklich zu spannen und zu entspannen, um zu verhindern, daß sie steif wurden oder sich gar verkrampften. Nun ja, dachte er, Geschichten wie die über die Nachtgreifer werden gern überbewertet, und für die Arbeit dieser Männer war es nur von Vorteil, wenn man Furcht vor ihnen hatte.
Plötzlich bewegte der Meuchler sich wieder. Er ließ den Umhang völlig von den Schultern rutschen, als er die Armbrust hob. Jimmy hörte sich nähernden Hufschlag. Reiter trabten unten vorüber, und der Nachtgreifer senkte die Waffe wieder. Offenbar hatte sein Opfer sich nicht unter diesen Reitern befunden.
Jimmy hob sich auf den Ellbogen über den First um den Mann vielleicht besser erkennen zu können, nachdem er nun den Umhang nicht mehr trug. Der Assassine drehte sich leicht, um den Umhang aufzuheben, und wandte dadurch Jimmy das Gesicht zu. Der junge Dieb zog die Beine an, um sofort losspringen zu können, falls es sich als nötig erwies, und studierte den Mann. Leider konnte er kaum mehr erkennen, als daß er dunkles Haar und ziemlich helle Haut hatte. Und dann schien der Meuchler den Jungen geradewegs anzublicken.
Jimmy pochte das Blut in den Ohren, und er fragte sich, wieso der Bursche das nicht hörte, denn er wandte sich wieder ab, um weiter auf sein Opfer zu warten. Jimmy zog sich lautlos hinter den First zurück. Er atmete langsam und tief und kämpfte gegen das plötzliche, verrückte Bedürfnis an, laut zu lachen. Als er sich beruhigt hatte, wagte er wieder einen Blick.
Immer noch wartete der Meuchler. Also faßte sich auch Jimmy in Geduld. Er wunderte sich über die Waffe des Nachtgreifers. Die schwere Armbrust war eine unhandliche Waffe für einen Schützen und bei weitem nicht so genau wie ein Bogen. Andererseits allerdings brauchte man weniger Übung in ihrem Umgang, denn ein mit ihr abgeschossener Bolzen traf, was auch immer, mit ungeheurer Wucht, und so war eine durch ihn verursachte Wunde meistens tödlich, während es bei einer Pfeilwunde häufig noch Hilfe geben mochte, wenn nicht gerade das Herz getroffen wurde. Jimmy hatte einmal einen stählernen Harnisch in einer Schenke ausgestellt gesehen. Die dicke Brustplatte wies ein Loch von der Größe einer Faust auf. Es war durch den Bolzen einer schweren Armbrust hervorgerufen worden. Der Harnisch war nicht wegen der Größe des Loches zur Schau gestellt worden – die bei dieser Waffe nicht ungewöhnlich war –, sondern weil sein Träger wie durch ein Wunder lebend davongekommen war. Trotzdem hatte die Waffe ihre Nachteile. Abgesehen davon, daß ihre Genauigkeit über eine Entfernung von mehr als etwa dreißig Fuß zweifelhaft war, ließ sich mit ihr auch nicht sehr weit schießen.
Jimmy verrenkte sich beinahe den Hals, um den Nachtgreifer im Blick zu behalten, und spürte ein Muskelzucken im rechten Arm. Er verlagerte sein Gewicht leic ht nach links. Plötzlich gab ein Ziegel unter seiner Hand nach und zerbrach mit lautem Krachen. Die einzelnen Stücke rutschten klappernd über die Schräge und schlugen noch weiter berstend unten auf der Straße auf. Für Jimmy klang es wie Gewitterdonner, der Unheil für ihn ankündigte.
Mit schier unmenschlicher Flinkheit wirbelte der Meuchler herum und schoß. Jimmy glitt aus, das rettete ihm das Leben, denn er hätte sich nicht schnell genug ducken oder ausweichen können, um dem Bolzen zu entgehen. Die Schwerkraft verlieh ihm glücklicherweise die nötige Geschwindigkeit. Er schlug auf dem Dach auf und hörte den Bolzen knapp über seinem Kopf hinwegpfeifen. Einen Augenblick malte er sich aus, daß sein Kopf wie eine reife Melone platzte, und dankte hastig Banath, dem Schutzgott der Diebe.
Als nächstes retteten seine Reflexe ihn, denn statt sich aufzurichten, rollte er nach rechts. Wo er noch einen Herzschlag zuvor gelegen hatte, krachte ein Schwert auf die Dachziegel. Er wußte, daß er nicht genug Vorsprung bekommen konnte, um sich dem Assassinen durch Flucht zu entziehen, also sprang er geduckt hoch und zog gleichzeitig seinen Dolch aus dem rechten Stiefelschaft. Er kämpfte wahrhaftig nicht gern, aber er hatte schon früh in seinem Gewerbe gelernt, daß sein Leben sehr wohl von seinem Geschick im Umgang mit der Klinge abhängen mochte, und so hatte er fleißig damit geübt, wann immer sich ihm die Gelegenheit bot. Er wünschte sich jetzt nur, sein Ausflug über die Dächer hätte die Mitnahme seines Degens nicht unklug erscheinen lassen.
Der Nachtgreifer drehte sich zu dem Jungen herum. Jimmy sah, daß er sekundenlang Schwierigkeiten hatte, sein Gleichgewicht zu halten. Der Bursche mochte zwar flinke Reflexe haben, aber er war es nicht gewöhnt, sich auf einem Giebeldach zu bewegen. Jimmy grinste, sowohl um seine Furcht zu überdecken als auch seiner Belustigung über die Unsicherheit des anderen Ausdruck zu geben.
Zischelnd wisperte der Assassine: »Bete zu den Göttern, welche auch immer dich hier herführten, Knabe!«
Jimmy fand diese Bemerkung seltsam, denn sie lenkte doch eigentlich nur den Sprecher ab. Der Mann hieb die Klinge herab. Sie zerschnitt die Luft, wo der Junge sich gerade noch befunden hatte.
Doch inzwischen raste Jimmy bereits am Dach entlang und sprang zurück zu dem Haus, in dem Trig, der Tuchwalker, wohnte. Einen Augenblick hörte er auch den Aufprall des Nachtgreifers auf demselben Dach. Leichtfüßig rannte Jimmy weiter, bis er sich einem gähnenden Spalt gegenübersah. In seiner Hast hatte er vergessen, daß sich eine breite Gasse zwischen diesem und dem Nachbarhaus befand. So weit konnte er unmöglich springen. Er wirbelte herum.
Der Meuchler näherte sich langsam, die Klingenspitze auf Jimmy gerichtet, dem plötzlich ein Einfall kam. Er begann heftig auf dem Dach herumzustampfen. Augenblicke später schrillte eine wütende Stimme aus dem Haus: »Diebe! Man hat mich beraubt!«
Jimmy konnte sich gut vorstellen, wie Trig sich weit aus dem Fenster beugte und nach der Stadtwache brüllte. Er hoffte, der Nachtgreifer sah es ebenso. Das Gebrüll würde sicher zu einer schnellen Umstellung des Hauses führen. Er betete zu seinen Göttern, der Assassine möge fliehen, statt ihn zu bestrafen, da er die Durchführung seines Auftrags unmöglich gemacht hatte.
Doch der Nachtgreifer achtete nicht auf das Geschrei des Tuchwalkers und kam weiter auf Jimmy zu. Erneut schwang er das Schwert herab. Jimmy duckte sich und brachte sich dadurch in die Reichweite des Meuchlers. Schnell stach er mit dem Dolch zu und spürte, wie die Klinge in den Schwertarm des Nachtgreifers drang.
Die Waffe entglitt dem Burschen, rutschte klappernd über das Dach und landete krachend auf der Straße. Ein Schmerzgeheul echote durch die Nacht und ließ den Walker verstummen. Jimmy hörte die Fensterläden zuschlagen. Er fragte sich, was der arme Trig sich wohl bei dem Heulen direkt über ihm dachte.
Der Assassine wich einem zweiten Stoß Jimmys aus und zog einen Dolch aus der Gürtelscheide. Wieder kam er heran, stumm und mit der Waffe in der Linken. Von der Straße erklangen aufgeregte Rufe, und Jimmy mußte das Verlangen unterdrücken, um Hilfe zu schreien. Er hatte keine große Hoffnung, des Nachtgreifers Herr zu werden, obwohl der nun mit der zweifellos ungeübteren Hand kämpfen mußte. Aber der Gedanke, seine Anwesenheit auf des Walkers Dach erklären zu müssen, gefiel ihm auch nicht. Außerdem, selbst wenn er um Hilfe rief, würde die Sache bereits entschieden sein, ehe Unterstützung ins Haus gelangte und das Dach erreichte.
Jimmy wich zum Dachrand zurück, bis seine Fersen schon über der Kante standen. Der wieder näherkommende Assassine sagte:
»Jetzt hast du dir selbst den Fluchtweg abgeschnitten, Knabe!«
Jimmy wartete und machte sich zu einem Verzweiflungsschritt bereit. Der Nachtgreifer spannte sich an – genau darauf hatte der Junge gewartet. Jimmy duckte sich, wich gleichzeitig rückwärts und ließ sich fallen. Der Assassine hatte bereits seinen Vorwärtsschwung begonnen. Als seine Klinge nun den erwarteten Widerstand nicht fand, verlor er das Gleichgewicht und stürzte nach vorn. Jimmy bekam den Dachrand zu fassen, renkte sich bei dem heftigen Ruck jedoch fast die Schultergelenke aus. Er spürte es mehr, als daß er es sah, wie der Nachtgreifer an ihm vorbeifiel und durch die Dunkelheit stürzte. Mit einem erschreckenden Platschen schlug er auf dem Kopfsteinpflaster auf.
Einen Augenblick hing Jimmy vom Dachrand. Hände, Arme und Schultern brannten vor Schmerz. Es wäre so einfach, loszulassen und sich in die weiche Dunkelheit fallen zu lassen! Er schüttelte Erschöpfung und Schmerz ab und zwang die widerstrebenden Muskeln, ihn aufs Dach zurückzustemmen. Keuchend blieb er einen Moment auf dem Bauch liegen, dann rollte er sich herum und blickte hinunter auf die Straße.
Der Meuchler lag reglos auf dem Pflaster. Sein unnatürlich verdrehter Kopf verriet, daß er nicht mehr lebte. Jimmy atmete tief und spürte die Eiseskälte der Furcht, die er sich jetzt erst eingestand.
Er kämpfte dagegen an, drückte sich flach aufs Dach, als er zwei Männer in die Gasse huschen sah. Sie drehten den Toten um, dann hoben sie ihn hoch und trugen ihn eilig fort. Jimmy überlegte. Daß Genossen des Assassinen sich in der Nähe aufgehalten hatten, war Beweis, daß es sich wirklich um ein Unternehmen der Gilde des Todes gehandelt hatte. Die Frage war: Wen hatten sie zu dieser Stunde hier auf der Straße erwartet? Er schaute sich um und wog das Risiko, noch eine Weile auszuharren, um seine Neugier zu befriedigen, gegen die sichere Ankunft der Stadtwache in zweifellos wenigen Minuten ab. Die Neugier gewann.
Hufschlag dröhnte durch den Nebel, und bald kamen zwei Reiter in den Schein der Laterne vor Trigs Haus. In diesem Augenblick beschloß der Walker, die Fensterläden wieder zu öffnen und sein Geschrei fortzusetzen. Jimmys Augen weiteten sich, als die Reiter zu Trigs Fenster hoch blickten. Einen davon hatte er mehr als ein Jahr nicht mehr gesehen, aber er kannte ihn gut. Er schüttelte den Kopf, als ihm die Bedeutung des Ganzen klar wurde, und hielt es für das Beste, sich jetzt schnell zurückzuziehen. Doch nun, da er den Mann unten gesehen hatte, war es unmöglich für ihn, dieses nächtliche Geschäft als abgeschlossen zu betrachten. Vermutlich würde es noch eine sehr lange Nacht werden! Er stand auf und machte sich auf den Weg über die Straße der Einbrecher zum Spötterschlupf.
Arutha zugehe sein Pferd und blickte zu dem Mann hoch, der im Nachthemd aus einem Fenster brüllte. »Laurie, verstehst du, worum es hier geht?«
»Nach allem, was ich seinem Geschrei und Gejammere entnehmen kann, schließe ich, daß der gute Mann vor kurzem das Opfer einer Missetat wurde.«
Arutha lachte. »Soviel folgerte ich ebenfalls.« Er kannte Laurie noch nicht sehr gut, aber ihm gefielen des Sängers Humor und Schlagfertigkeit. Er wußte, daß es Unstimmigkeiten zwischen Laurie und Carline gab und daß der Spielmann ihn deshalb gebeten hatte, ihn nach Krondor begleiten zu dürfen. Carline würde eine Woche später mit Anita und Lyam nachkommen. Aber Arutha mischte sich nicht in Carlines Angelegenheiten, wenn sie sich ihm nicht von selbst anvertraute. Außerdem tat ihm Laurie leid, falls er wirklich bei Carline in Ungnade gefallen war. Nach Anita war seine Schwester die letzte, mit der er es sich verderben wollte.
Arutha schaute sich um, als ein paar verschlafene Nachbarn aus Fenstern und Türen starrten und sich erkundigten, was hier vorging.
»Nun, die Stadtwache dürfte wohl bald auftauchen. Sehen wir zu, daß wir weiterkommen.«
Kaum hatte er ausgesprochen, als eine unerwartete Stimme aus dem Nebel ihn und Laurie unwillkürlich zusammenzucken ließ.
»He, ihr da!« Aus dem dichten Grauweiß tauchten drei Männer in den grauen Filzkappen und gelben Waffenröcken der Stadtwache auf. Der linke Wächter, ein stämmiger Bursche mit buschigen Brauen, hielt in einer Hand eine Laterne und in der anderen einen dicken Knüppel. Der Wächter in der Mitte war schon älter, und würde, so, wie er aussah, bestimmt bald in den Ruhestand gehen. Der dritte war noch ein Jüngling, schien jedoch bereits über Erfahrungen zu verfügen. Letztere hatten eine Hand um Dolche in ihren Gürteln.
»Was geht hier vor?« erkundigte sich der älteste Wächter mit einer Stimme, die gutmütigen Humor und Autorität verriet.
»Irgend etwas muß wohl in jenem Haus passiert sein.« Arutha deutete auf den Tuchwalker. »Wir kamen gerade vorbei.«
»O wirklich? Nun, ich glaube nicht, daß ihr es mir abschlagen würdet, noch eine Weile zu bleiben, bis wir festgestellt haben, was hier los ist.« Der ältere bedeutete dem jungen Wachmann, sich umzusehen.
Arutha nickte stumm. In diesem Moment stürmte eine rotgesichtige Kugel von Mann aus dem Haus. Mit den Händen fuchtelnd schrie er: »Diebe! Sie sind in meine Kammer, meine höchstpersönliche Schlafkammer eingebrochen und haben mir meine Ersparnisse geraubt! Es geht zu weit, wenn ein gesetzestreuer Bürger nicht mehr sicher in seinem Bett, seinem eigenen Bett, ist!« Da fiel sein Blick auf Arutha und Laurie. »Sind dies die Diebe, die gemeinen Diebe?« Er bemühte sich um so viel Würde, wie er im Nachtgewand aufbringen konnte. »Was habt ihr mit meinem Gold gemacht, meinem schwerverdienten Gold?«
Der stämmige Wachmann packte den Aufgebrachten am Arm und wirbelte den Walker fast völlig herum. »Genug des Geschreis, Flegel!«
»Flegel!« brüllte Trig. »Darf ich fragen, was Euch das Recht gibt, einen Bürger, einen gesetzestreuen Bürger, einen…« Er hielt offenen Mundes inne und starrte ungläubig auf einen Trupp Reiter, die aus dem Nebel anrückte. An ihrer Spitze ritt ein hochgewachsener Schwarzer im Waffenrock der Leibgarde des Fürsten. Als er die Versammlung auf der Straße bemerkte, bedeutete er seinen Männern anzuhalten.
Kopfschüttelnd sagte Arutha zu Laurie: »So also sieht unsere unauffällige Rückkehr nach Krondor aus!«
Der schwarze Offizier salutierte. »Wachmann, was geht hier vor?«
Der älteste der drei Wächter erwiderte den Gruß. »Ich war gerade dabei, das herauszufinden, Hauptmann. Wir nahmen diese beiden fest…« Er deutete auf Arutha und Laurie.
Der Hauptmann ritt näher und fing zu lachen an. Der Wächter blickte den hochgewachsenen Offizier schräg an und wußte nicht, was er von dessen Gelächter halten sollte. Gardan, ehemals von der Garnison in Crydee, grüßte Arutha zackig. »Willkommen in Eurer Stadt, Hoheit!« Bei diesen Worten setzten die anderen Gardisten sich stramm im Sattel auf und salutierten ihrem Fürsten.
Arutha erwiderte den förmlichen Gruß, ehe er Gardan die Hand schüttelte. Die Männer der Stadtwache und der Walker starrten ihn sprachlos an.
»Sänger«, sagte Gardan, »es freut mich, auch Euch wiederzusehen.« Laurie dankte mit einem Lächeln und einem Kopfnicken. Er hatte Gardan nur eine kurze Weile gekannt, ehe Arutha ihn nach Krondor abgeordnet hatte, um dort den Befehl über die Stadtwache und die fürstliche Leibgarde zu übernehmen, aber er mochte den grauhaarigen Recken.
Arutha wandte den Blick wieder den Wachleuten und dem Walker zu. Die Wächter hielten ehrerbietig die Kappen in der Hand, und der Dienstälteste murmelte: »Verzeiht, Eure Hoheit, der alte Bert kannte Euch nicht. Eine mögliche Kränkung war unbeabsichtigt, Sire.«
Arutha schüttelte den Kopf. Trotz der späten Stunde und der nächtlichen Kälte fand er das Ganze belustigend. »Keine Kränkung, Wachmann Bert. Ihr tatet nur Eure Pflicht und so, wie es sich gehört.« Er drehte sich zu Gardan um. »Wie, bei allen Göttern, ist es Euch gelungen, mich zu finden?«
»Herzog Caldric ließ uns wissen, daß Ihr von Rillanon zurückkehrtet und schickte uns einen genauen Reiseplan, nach dem Ihr morgen hier ankommen müßtet. Aber ich sagte zu Graf Volney, so, wie ich Euch kenne, würdet Ihr vermutlich schon in der Nacht versuchen, die Stadt unauffällig zu betreten. Und da Ihr aus Salador kommen mußtet, gab es eigentlich nur ein Tor, das für Euch in Frage kam…« Er deutete die Straße entlang zum Osttor, das im Nebel nicht auszumachen war. »… und hier sind wir. Ihr kamt sogar noch früher, als wir erwarteten. Wo ist der Rest Eurer Begleitung?«
»Die Hälfte meiner Wachmannschaft geleitet Prinzessin Anita zum Familiensitz ihrer Mutter. Die andere Hälfte lagert etwa einen Sechsstundenritt vor der Stadt. Ich hatte keine Lust, noch eine Nacht im Freien zu verbringen. Außerdem gibt es eine Menge zu tun.«
Gardan blickte den jungen Fürsten fragend an, doch Arutha sagte nur: »Mehr, wenn ich mit Volney gesprochen habe. Aber zunächst…« Er blickte den Tuchwalker an. »Wer ist dieser Mann, der mit seinem Geschrei die ganze Stadt aufweckt?«
»Er ist Trig, der Walker, Eure Hoheit«, antwortete der rangälteste Wachmann. »Er behauptet, jemand sei in seine Schlafkammer eingebrochen und habe ihm etwas gestohlen. Er sagt, auf dem Dach seines Hauses habe ein Kampf stattgefunden, durch den er geweckt wurde…«
Trig unterbrach ihn. »Sie kämpften geradewegs über meinem Kopf, meinem müden Kopf…« Er verstummte, als ihm bewußt wurde, zu wem er hier sprach. »Eure Hoheit«, fügte er plötzlich über die Maßen verlegen hinzu.
Der Wachmann mit den buschigen Brauen warf ihm einen strengen Blick zu. »Er sagt, er habe einen gräßlichen Schrei gehört und daraufhin wie eine Schildkröte seinen Kopf eingezogen – er hatte aus dem Fenster geschaut.«
Trig nickte heftig. »Als beginge jemand einen Mord, einen blutigen Mord. Eure Hoheit, es war grauenvoll!«
Der stämmige Wachmann stupste dem Dicken bei dieser Unterbrechung einen Ellbogen in die Rippen.
Der jüngste Wächter eilte aus der Seitenstraße herbei. »Das lag mitten im Abfall auf der Straße an der anderen Hausseite, Bert.« Er hielt das Assassinenschwert in der ausgestreckten Hand. »Am Griff klebte etwas Blut, aber keines an der Klinge. Auch ist eine Blutlache auf der Gasse, doch keine Leiche weit und breit.«
Arutha bedeutete Gardan, sich das Schwert geben zu lassen. Der junge Wächter, der nun auf die Gardisten aufmerksam wurde und Gardan als Offizier erkannte, reichte ihm das Schwert hoch und nahm achtungsvoll die Kappe ab.
Gardan reichte das Schwert an Arutha weiter, der es kurz betrachtete, und als er nichts von Bedeutung daran bemerkte, dem jungen Wachmann zurückgab. »Laßt Eure Männer umkehren, Gardan. Es ist spät und zum Schlafen nicht mehr viel Zeit.«
»Aber was ist mit dem Diebstahl?« rief der Walker, aus seinem Schweigen gerüttelt. »Es waren meine Ersparnisse, meine ganzen Ersparnisse! Was soll ich tun?«
Der Fürst wendete sein Pferd und hielt es vor den Wachleuten an.
Zu Trig sagte er: »Ich bedauere Euren Verlust, guter Mann, aber seid versichert, daß die Stadtwache ihr möglichstes tun wird, Eure Ersparnisse wiederzubeschaffen.«
Nun wandte Bert sich an Trig. »Ich schlage vor, Ihr zieht Euch für die Nacht zurück. Am Morgen könnt Ihr dann beim Wachhabenden Anzeige erheben. Er wird eine genaue Beschreibung des Gestohlenen brauchen.«
»Des Gestohlenen? Gold, Mann! Das haben sie gestohlen. Meine ganzen Ersparnisse, meine versteckten Ersparnisse!«
»Ah, Gold! Dann…«, sagte Bert mit der Stimme der Erfahrung,
»kann ich Euch nur raten, ruht Euch jetzt aus und fangt morgen an, auf einen neuen Schatz zu sparen, denn so sicher, wie Nebel über Krondor liegt, seht Ihr Euer Gold nicht wieder. Aber nehmt es nicht zu schwer, guter Herr. Ihr seid ein tüchtiger Mann, und bei Handwerkern von Ansehen, Geschicklichkeit und Fleiß sammelt sich schnell wieder Gold an.«
Arutha unterdrückte ein Lachen, denn trotz der persönlichen Tragödie des Walkers stellte der Mann doch eine komische Figur dar in seinem Nachtgewand und der Nachtmütze, die ihm so weit in die Stirn gerutscht war, daß sie fast die Nase berührte. »Guter Mann, ich werde Euch Euren Verlust ersetzen.« Er nahm den Dolch aus seinem Gürtel und reichte ihn Bert, dem Wachmann. »Diese Waffe trägt mein Familienwappen. Die einzigen anderen gleichartigen sind im Besitz meiner Brüder, des Königs und des Herzogs von Crydee.
Bringt den Dolch morgen ins Schloß, dann bekommt Ihr dafür einen Beutel Gold. Ich habe nicht gern unglückliche Tuchwalker in Krondor am Tag meiner Heimkehr. Nun wünsche ich euch allen eine gute Nacht.« Arutha drückte seinem Pferd die Knie in die Flanken und ritt mit seinen Begleitern zum Schloß.
Als Arutha und seine Gardisten im Nebel verschwunden waren, wandte Bert sich an Trig. »Das ist ein glückliches Ende für Euch, guter Mann.« Er reichte dem Walker des Prinzen Dolch. »Und vielleicht bereitet es Euch Stolz zu wissen, daß Ihr einer der wenigen Bürgerlichen seid, die behaupten können, mit dem Fürsten von Krondor gesprochen zu haben, obgleich unter etwas seltsamen Umständen.« Dann zu seinen Männern gewandt: »Wir wollen unsere Streife fortsetzen. In einer Nacht wie dieser ist in Krondor bestimmt noch mehr los.« Er führte seine Untergebenen in die Nacht hinaus.
Trig blieb allein zurück. Nach einer Weile erhellte sich seine Miene, und er rief hinauf zu seiner Frau und den vielen anderen, die noch aus ihren Fenstern schauten: »Ich habe mit dem Fürsten gesprochen! Ich, Trig, der Tuchwalker!« Mit fast etwas wie freudiger Erregung kehrte Trig in sein Haus zurück. Aruthas Dolch hielt er ganz fest umklammert.
Jimmy nahm den Weg durch die engsten unterirdischen Gänge.
Der, durch den er gerade hastete, gehörte zu dem wahren Labyrinth der Kanalisation und anderen Anlagen unter diesem Teil der Stadt.
Jeder Fuß dieser unterirdischen Gänge stand quasi unter der Aufsicht der Spötter. Jimmy kam an einem Brauscher vorüber – einer, der sich seinen Lebensunterhalt mit dem verdiente, was er Verwertbares aus den Abwässern fischte. Er benutzte einen Stock, um eine größere Masse anzuhalten, die dahintrieb. Dieses Treibgut nannte man hier Brausch: eine lässige Zusammenfügung von ›brauchbares Schwemmgut‹. Der Brauscher stocherte in dem Zeug, in der Hoffnung, auf eine Münze oder sonst etwas von Wert zu stoßen.
Tatsächlich war der Mann ein Posten der Spötter. Jimmy gab ihm das für diesen Fall erforderliche Zeichen und duckte sich unter einem tiefhängenden Balken hindurch, vermutlich ein ehemaliger Stützbalken eines aufgegebenen Kellers. Gleich darauf kam er zu einer großen Halle, die zwischen den Gängen aus dem Stein gehauen war. Hier war das Herz der Diebesgilde: der Spötterschlupf.
Jimmy holte seinen Degen aus dem Waffenschrank und suchte sich eine ruhige Ecke. Er befand sich in einem Dilemma. Von Rechts wegen müßte er jetzt sein unerlaubtes Eindringen im Haus des Walkers gestehen, die zwei Drittel der Beute abliefern und sich mit der Strafe abfinden, die der Nachtmeister ihm auferlegen würde. Bis morgen nachmittag würde die Gilde spätestens erfahren, daß Trig bestohlen worden war. Sobald danach feststand, daß kein freier Dieb seinem Handwerk nachging, würde der Verdacht auf Jimmy und die paar anderen fallen, die hin und wieder ein nächtliches Unternehmen ohne Genehmigung durchführten. Jegliche Strafe, die ihn dann träfe, wäre doppelt so schlimm, weil er jetzt nicht gestanden hatte.
Trotzdem konnte Jimmy nicht nur an sich denken, da er nun wußte, daß der Fürst von Krondor höchstpersönlich das Opfer der Nachtgreifer hätte werden sollen! Und Jimmy hatte genug Zeit mit Arutha verbracht, als die Spötter ihm und Prinzessin Anita Zuflucht vor du Bas-Tyras Männern gewährt hatten, daß sich fast etwas wie Freundschaft zu ihm entwickelt hatte. Den Degen an seiner Seite hatte Arutha ihm geschenkt. Nein, Jimmy konnte den Anschlag nicht einfach unbeachtet lassen, aber ihm war auch nicht klar, was das Beste wäre, das er tun konnte.
Nach längerer Überlegung faßte Jimmy einen Entschluß. Er würde als erstes versuchen, den Fürsten zu warnen, und dann Alvarny dem Flinken, dem Tagesmeister, über den Assassinen Bericht erstatten.
Alvarny war ein Freund und erlaubte Jimmy ein wenig mehr Freiheiten als Caspar daVey, der Nachtmeister. Alvarny würde dem Aufrechten die Verzögerung in der Berichterstattung nicht melden, falls Jimmy sich nicht zu viel Zeit ließ.
Was bedeutete, daß Jimmy Arutha schnell erreichen und umgehend zurückkehren mußte, um mit dem Tagesmeister zu sprechen, allerspätestens vor dem morgigen Sonnenuntergang.
Danach könnte nicht einmal Alvarny mehr ein Auge zudrücken.
Alvarny war zwar wahrhaftig großzügig in seinem fortgeschrittenen Alter, aber er blieb ein Spötter. Und Ungehorsam gegenüber der Gilde ließ er nicht zu.
»Jimmy!«
Jimmy blickte auf und sah Golddase herankommen. Obwohl noch ziemlich jung, hatte der fast schön zu nennende Dieb reiche Erfahrung, wohlhabende ältere Damen auszunehmen. Er verließ sich mehr auf sein gutes Aussehen und seinen Charme als darauf, unbemerkt zu bleiben. Golddase führte Jimmy stolz seine prächtige neue Kleidung vor. »Na, was meinst du?« fragte er.
Jimmy nickte beifällig. »Du raubst wohl jetzt Schneider aus?«
Golddase schlug halbherzig nach Jimmy, der sich schnell duckte, und setzte sich neben ihn. »Nein, du Ausgeburt einer streunenden Katze, das tue ich nicht. Meine gegenwärtige ›Gönnerin‹ ist die Wittib des berühmten Meisterbrauers Fallon.« Jimmy war dieser Name nicht unbekannt. Das Bier dieses Namens war mit so vielen Preisen ausgezeichnet, daß es sogar auf Prinz Erlands Tafel Würdigung gefunden hatte. »Und aufgrund des weitbekannten Geschäfts ihres verstorbenen Gatten hat sie sogar eine Einladung zum Empfang bekommen.«
»Empfang?« Jimmy ahnte, daß Golddase auf seine Weise einige Neuigkeiten anbringen wollte.
»Ah, ja, habe ich denn vergessen, die Vermählung zu erwähnen?«
Jimmy rollte die Augen zur Decke, machte jedoch Dases Spiel mit. »Was für eine Vermählung, Goldener?«
»Die königliche, natürlich! Wir werden zwar nicht an des Königs Tafel sitzen, aber doch auch nicht an dem hintersten Tisch.«
Jimmy richtete sich hoch auf. »Der König? In Krondor?«
»Aber ja!«
Jimmy faßte Golddase am Arm. »Fang mal von vorn an!«
Grinsend erzählte der schöne, aber nicht besonders kluge junge Spitzel: »Die Wittib Fallon erfuhr von keinem Geringeren als dem Einkäufer des Schlosses – ein Mann, den sie seit siebzehn Jahren kennt –, daß innerhalb eines Monats zusätzlich Vorräte angeschafft werden müßten, und zwar wörtlich: ›für die königliche Vermählung.‹ Da sollte man doch wohl annehmen, daß der König bei seiner eigenen Hochzeit anwesend ist.«
Jimmy schüttelte den Kopf. »Nein, Dummkopf! Nicht der König heiratet, es wird Anitas und Aruthas Hochzeit sein!«
Dase schien sich über den ›Dummkopf‹ zu ärgern, aber seine plötzliche Neugier überwog. »Wie kommst du denn darauf?«
»Nun, weil der König in Rillanon heiraten würde, der Fürst dagegen in Krondor.« Golddase nickte, das sah er ein. »Ich war dabei, als Anita und Arutha sich bei uns verstecken mußten. Ich dachte mir schon, daß es dazu kommen würde. Deshalb ist er auch zurück.« Als er die Reaktion des anderen darauf bemerkte, fügte er schnell hinzu: »Oder wird bald zurückkommen.«
Jimmys Gedanken überschlugen sich. Nicht nur Lyam würde zur Vermählung in Krondor sein, sondern jeder bedeutende Edle aus dem Westen und sicher nicht wenige aus dem Osten. Und wenn Dase von der Hochzeit wußte, dann wußte halb Krondor es ebenfalls, und die andere Hälfte würde es bis zum nächsten Sonnenuntergang erfahren.
Lachjack, Nachthüter und rechte Hand des Nachtmeisters, riß Jimmy aus seinen Gedanken. Der Mann mit den schmalen Lippen stemmte die Hände vor Jimmy und Dase auf die Hüften und sagte:
»Du siehst aus, als hättest du Probleme, Junge.«
Jimmy mochte Jack nicht sonderlich. Er war ein mürrischer Mann mit verkniffenem Mund, leicht aufbrausend und neigte zu unnötiger Grausamkeit. Der einzige Grund seiner hohen Stellung in der Gilde war die Tatsache, daß er die Schläger und Hitzköpfe unter den Spöttern schnell zur Räson bringen konnte. Er erwiderte Jimmys Abneigung, denn es war der Junge gewesen, der den Spitznamen Lachjack aufgebracht hatte. In all den Jahren, die Jack bei der Gilde war, hatte noch niemand ihn lachen gehört. »Nicht wirklich«, antwortete Jimmy nun.
Jack kniff die Augen leicht zusammen und musterte den Jungen, dann Dase. »Ich habe gehört, daß sich in der Nähe des Osttors was getan hat heute nacht. Du warst doch nicht zufällig dort?«
Jimmy bemühte sich um eine gleich gültige Miene und blickte Dase an, als hätte Jack ihn gemeint. Golddase schüttelte den Kopf.
Jimmy fragte sich, ob Jack bereits etwas vom Tod des Nachtgreifers gehört hatte. Wenn ja und falls irgend jemand Jimmy in der Nähe gesehen hatte, konnte der Junge keine Gnade von Jacks Schlägern erwarten. Aber wenn Jack etwas gewußt hätte, würde er ihn sich gleich vorgeknüpft und nicht erst auf den Busch geklopft haben, denn Jack handelte gewöhnlich, ehe er überlegte. Jimmy täuschte Gleichgültigkeit vor. »Haben sich wieder einmal ein paar Besoffene in die Haare gekriegt? Also, ich habe nichts davon gehört. Ich bin früh ins Bett und erst vor kurzem aufgewacht.«
»Gut, dann dürftest du ja jetzt ausgeruht sein.« Mit einem Kopfzucken bedeutete er Dase zu verschwinden. Golddase zog sich wortlos zurück, und Jack setzte einen Fuß auf die Bank neben Jimmy. »Wir haben Arbeit heute nacht.«
»Heute nacht?« echote Jimmy. Er hatte die Nacht schon so gut wie für beendet gehalten, schließlich waren bis zum Sonnenaufgang kaum noch fünf Stunden.
»Sonderauftrag, von ihm persönlich«, brummte Jack und meinte den Aufrechten. »Im Schloß tut sich was. Der keshanische Gesandte wird erwartet. Spät am Abend kam ein vollbeladener Wagen an: Hochzeitsgeschenke. Spätestens morgen mittag werden sie in das Schloß geschafft. Also ist heute nacht unsere einzige Gelegenheit, gefahrlos an sie heranzukommen.« Sein Ton ließ keinen Zweifel in Jimmy aufkommen, daß er gar keine andere Wahl hatte, als mitzumachen. Dabei hatte er gehofft, noch ein paar Stunden schlafen zu können, ehe er sich ins Schloß stahl. Daraus wurde jetzt nichts mehr. Leicht bedrückt erkundigte er sich: »Wann und wo?«
»In einer Stunde am großen Lagerhaus. Die Parallelstraße, dem Hafen zu, vom Gasthaus zur Winklerkrabbe.«
Jimmy wußte, welches Lagerhaus er meinte. Er nickte und verließ Jack ohne ein weiteres Wort. Düster dachte er, während er die Stufen zur Straße hochstieg, daß die Sache mit den Assassinen, und was damit zusammenhing, noch ein paar Stunden warten mußte.
Immer noch hüllte Nebel Krondor ein. Das Hafenviertel war um diese frühe Morgenstunde ruhig wie üblich, aber irgendwie haftete heute der Gegend um die Lagerhäuser fast etwas Überirdisches an, empfand Jimmy, der sich durch hohe Stapel von Waren hindurchwand, deren geringer Wert eine Lagerung im Innern überflüssig machte – sie waren für Diebe von keinem Interesse.
Schwere Baumwollballen, Säcke mit Viehfutter zum Verschiffen und Bretterstapel bildeten ein vielschichtiges Durcheinander, durch das der Junge lautlos schlich. Er hatte ein paar Hafenwächter gesehen, doch die feuchtkalte Nacht und großzügige Bestechungsgelder hielten sie bei ihrem Wachhaus, wo in einem Kohlebecken ein prasselndes Feuer brannte, das das neblige Dunkel erträglicher machte. Nichts, wenn nicht ein Aufruhr, würde sie von der wohligen Wärme weglocken können. Ehe diese gleichgültigen Wächter sich dazu aufrafften, es zu verlassen, würden die Spötter sich mit ihrer Beute längst aus diesem Viertel zurückgezogen haben. Am Treffpunkt angekommen, schaute Jimmy sich um. Offenbar war er der erste hier, also machte er sich zum Warten bereit. Er kam immer gern ein bißchen früher, wenn er mit anderen zusammenarbeiten mußte, damit er sich in Ruhe sammeln konnte, bevor es losging. In diesem Fall war außerdem etwas an Lachjacks Befehl, das sein Mißtrauen geweckt hatte. Ein so wichtiges Unternehmen wurde gewöhnlich nicht so überstürzt durchgeführt. Und ungewöhnlich war auch, daß der Aufrechte sich auf etwas einließ, was den Zorn des Fürsten erregen mochte – und der Diebstahl von Hochzeitsgeschenken würde das zweifellos. Aber Jimmy hatte noch keine so hohe Stellung in der Gilde, um wissen zu können, ob ein Befehl wirklich von ganz oben kam oder nicht. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als wachsam zu sein.
Jimmys Anspannung wuchs, als er jemanden näher kommen hörte. Dieser Jemand war äußerst vorsichtig, doch außer den verstohlenen Schritten hatte Jimmy noch ein eigenartiges Geräusch vernommen. Es war das leichte Klicken von Metall auf Holz. Sobald er erkannte, was es verursacht hatte, sprang Jimmy hastig zur Seite.
Mit einem stumpfen Krachen und dem Splittern von Holz drang ein Armbrustbolzen durch die Seite einer großen Kiste, wo Jimmy gerade noch gestanden hatte.
Einen Herzschlag später rannten zwei Gestalten – dunkle Umrisse in der grauen Nacht – auf ihn zu.
Stumm stürzte sich Lachjack mit einem Schwert in der Hand auf den Jungen, während sein Begleiter hastig seine Armbrust zu einem weiteren Schuß bereitmachte. Jimmy zog seine Waffen. Er wehrte das herabsausende Schwert mit dem schweren Dolch ab und schwang gleichzeitig mit der anderen Hand den Degen. Jack sprang zur Seite.
»Jetzt werden wir ja sehen, wie gut du mit diesem Krötenspieß umgehen kannst, du eingebildeter kleiner Hundesohn!« knurrte Jack.
»Vielleicht bringt es mich zum Lachen, wenn ich dich verbluten sehe!«
Jimmy schwieg, er ließ sich nicht auf ein ablenkendes Palaver ein.
Seine Erwiderung war ein flinker Angriff, der Jack zurücktrieb. Er machte sich keine falschen Hoffnungen, ein besserer Fechter als der Altere zu sein, sondern wollte nur so lange am Leben bleiben, bis sich eine Möglichkeit ergab, Reißaus zu nehmen. Hin und her tänzelten sie, wechselten Hieb und Stich und suchten eine Lücke in der Verteidigung des anderen, um den Zweikampf zu beenden.
Jimmy versuchte einen Gegenstoß und schätzte seine Stellung falsch ein. Plötzlich schien seine Seite in Flammen zu stehen. Es war Jack gelungen, ihm eine schmerzhafte und schwächende Schnittwunde zuzufügen, nicht tödlich, jedenfalls noch nicht. Jimmy suchte nach mehr Bewegungsfreiheit und fühlte sich übel von den Schmerzen, während Jack seinen Vorteil nutzte. Jimmy mußte vor einem heftigen Hieb zurückweichen, als Jack mit seiner weit schwereren Klinge seine Verteidigung durchbrach.
Ein leiser Ruf, der Jack warnte, aus dem Weg zu gehen, verriet Jimmy, daß der andere seine Armbrust wieder geladen hatte. Jimmy hüpfte von Jack weg und bemühte sich, ihn zwischen sich und dem anderen zu halten. Jack schwang nach Jimmy und drängte ihn dadurch rasch zurück, dann hieb er das Schwert herab. Die Gewalt des Schlages warf Jimmy auf die Knie.
Plötzlich sprang Jack rückwärts, als hätte die Faust eines Riesen ihn am Genick gepackt und zurückgerissen. Er prallte heftig gegen eine große Kiste. Einen Herzschlag verrieten seine Augen entsetzten Unglauben, dann verdrehten sie sich, und das Schwert entglitt den schlaffen Fingern. Jacks Brust war eine blutige Masse, wo ein Armbrustbolzen hindurchgedrungen war. Ohne Jacks wütenden Angriff hätte Jimmy den Bolzen in den Rücken gekriegt. Ohne einen Laut sackte Jack zusammen, und der Junge erkannte, daß er durch den Bolzen an die Kiste genagelt war. Jimmy sprang aus seiner Kauerstellung auf und wirbelte herum zu dem Unbekannten, der fluchend seine Armbrust von sich geworfen hatte. Er zog jetzt sein Schwert und stürmte auf den Jungen los. Er schwang die Klinge nach Jimmys Kopf. Der Junge duckte sich so heftig, daß er auf den Fersen wippend aufs Gesäß fiel, während der Fremde durch seinen Schwung leicht das Gleichgewicht verlor. Schnell schleuderte Jimmy seinen Dolch. Die Spitze der langen Klinge drang dem Armbrustschützen in die Seite. Der Mann blickte auf die Wunde hinab, die eher ärgerlich als gefährlich war. Aber die kurze Ablenkung war alles, was Jimmy brauchte. Verblüffung überzog das Gesicht des Fremden, als Jimmy sich auf ein Knie hob und ihm den Degen in die Brust stach.
Als der Mann stürzte, riß Jimmy die Klinge zurück. Dann zog er auch seinen Dolch aus der Seite des Toten. Er säuberte beide Klingen und steckte sie in ihre Scheiden zurück. Nun erst kam er dazu, seine eigene Verletzung zu untersuchen. Sie blutete, würde ihn jedoch nicht das Leben kosten.
Gegen seine Übelkeit ankämpfend, trat er vor Jack, der an der Kiste hing. Er blickte den Nachthüter an und versuchte seine Gedanken zu sammeln. Er und Jack hatten sich nie gemocht, aber weshalb diese ausgetüftelte Falle? Er fragte sich, ob es vielleicht irgendwie mit dem Anschlag auf den Fürsten zusammenhing. Doch darüber konnte er in Ruhe nachdenken, sobald er mit Arutha gesprochen hatte. Wenn es wirklich einen Zusammenhang gab, sah es nicht gut für die Spötter aus. Die Möglichkeit des Verrats durch einen so Hochgestellten wie Lachjack würde die Gilde bis in die Grundfesten erschüttern.
Trotz allem verlor Jimmy seinen Sinn für das Praktische nicht. Er erleichterte Jack und seinen Kumpan von ihren Beuteln und fand sie zufriedenstellend gefüllt. Als er mit dem Fremden fertig war, fiel ihm etwas um seinen Hals auf.
Jimmy bückte sich danach und löste ein Goldkettchen, an dem ein schwarzer Greifvogel hing. Er betrachtete den Anhänger eingehend, dann steckte er ihn in seinen Kittel. Nach kurzem Umsehen entdeckte er ein Versteck für die Leichen, wo sie zumindest nicht beim ersten Blick gesehen würden. Er riß Jack vom Bolzen und somit der Kiste, und zerrte ihn mit dem anderen in eine von Kisten gebildete Nische, dann hob er schwere Säcke davor und darüber, und schließlich drehte er die beschädigten Kisten so, daß die geborstenen Seiten nicht zu sehen waren. Auf diese Weise mochten Tage vergehen, ehe die Toten entdeckt wurden. Erschöpfung und die schmerzende Seite mißachtend, vergewisserte Jimmy sich, daß er unbemerkt geblieben war, bevor er in die neblige Dunkelheit tauchte.