Verschwörungen


Arutha griff heftig an.

Mit lauten Zurufen spornte Laurie Gardan an, als der Fürst seinen Partner im Übungskampf zurückdrängte. Gern hatte der Sänger die Ehre des ersten Kampfes heute Gardan überlassen, denn während der Reise von Salador nach Krondor hatte er jeden Morgen die Klinge mit Arutha gemessen. Obwohl die Übungskämpfe seine Geschicklichkeit wieder verbessert hatten, war er es doch überdrüssig geworden, ständig gegen den behenden Fürsten zu verlieren. Heute morgen würde er wenigstens jemanden haben, der seine Gefühle mit ihm teilte. Aber der alte Recke war noch nicht besiegt, und plötzlich bedrängte Gardan Arutha und trieb ihn zurück.

Laurie schrie begeistert, als ihm klar wurde, daß der Hauptmann den Fürsten bisher mit Absicht in Sicherheit gewiegt hatte. Doch nach einer heftigen Folge von Hieben und Stichen ging der Fürst wieder zum Angriff über, und Gardan rief: »Haltet an!«

Grinsend wich Gardan zurück. »In meinem ganzen Leben gab es nur drei Männer, die mich im Fechten besiegen konnten, Hoheit: Schwertmeister Fannon, Euer Vater, und nun Ihr.«

»Ein würdiges Trio«, sagte Laurie. Arutha wollte ihm gerade einen Übungskampf vorschlagen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte.

In einer Ecke des Übungsplatzes wuchs ein mächtiger Baum.

Seine Aste hingen über die Mauer, die den Schloßhof von einer Gasse und der Straße dahinter abtrennte. Etwas rührte sich zwischen den Zweigen. Arutha machte ein Zeichen. Ein Palastwächter, der durch des Fürsten Blick darauf aufmerksam geworden war, ging bereits auf den Baum zu.

Plötzlich sprang jemand von den Ästen und landete leichtfüßig auf dem Boden. Arutha, Gardan und Laurie standen abwartend mit der Klinge in der Hand. Der Wächter nahm den Jungen, denn als solcher war der Eindringling nun deutlich zu erkennen, am Arm und führte ihn zum Fürsten.

Als sie näher kamen, blinzelte Arutha. »Jimmy?«

Jimmy verbeugte sich, wobei ihn der Schmerz in seiner Seite jedoch zusammenzucken ließ. Er hatte die Wunde am Morgen selbst und nicht sonderlich geschickt verbunden. Gardan fragte: »Ihr kennt diesen Jungen, Hoheit?«

Arutha nickte. »Ja. Er ist zwar ganz offensichtlich ein Stück gewachsen und auch etwas älter, aber doch unverkennbar. Er ist Jimmy, genannt die Hand, und bereits Legende unter den Dieben und Einbrechern dieser Stadt. Er war es, der Anita und mir bei der Flucht aus der Stadt geholfen hat.«

Laurie musterte den Jungen, dann lachte er. »Ich habe ihn nie deutlich gesehen, denn es war dunkel im Lagerhaus, als Kasumi und ich von den Spöttern aus Krondor gebracht wurden. Aber bei meinen Zähnen, es ist derselbe Junge. ›Mutter gibt eine Gesellschaft.‹«

Jimmy grinste. »›Und alle werden eine schöne Zeit verbringen‹«

»So kennt ihr euch also ebenfalls?«

»Als Kasumi und ich die Friedensbotschaft des tsuranischen Kaisers an König Rodric überbringen sollten – ich erzählte davon –, führte ein Junge uns aus einem Lagerhaus zum Stadttor und lenkte die Stadtwache ab, während wir aus Krondor flohen. Das war dieser Junge hier, nur konnte ich mich nicht an seinen Namen erinnern.«

Arutha steckte die Klinge ein, genau wie die anderen. »Nun, Jimmy, ich freue mich zwar, dich wiederzusehen, aber daß du einfach über die Mauer in mein Schloß kletterst, ist eine andere Sache.«

Jimmy zuckte die Schulter. »Ich hielt es für möglich, daß Ihr bereit wäret, einen alten Bekannten zu empfangen, Hoheit, doch bezweifelte ich, daß ich den Hauptmann der Wache dazu veranlassen könnte, mein Gesuch an Euch weiterzuleiten.«

Gardan lächelte über diese kecke Antwort und bedeutete dem Gardisten den Arm des Jungen loszulassen. »So, wie du aussiehst, Junge, dürftest du recht haben.«

Jetzt erst wurde Jimmy bewußt, welch einen Eindruck er auf diese gutgekleideten und gepflegten Schloßbewohner machen mußte. Von seinem ungeschickt gestutzten Haar bis zu den schmutzigen Barfüßen sah er wahrhaftig wie ein Betteljunge aus. Doch da bemerkte er Gardans freundlich verschmitzten Blick.

»Laßt Euch von seinem Aussehen nicht täuschen, Gardan. Er ist weit geschickter, als man nach seiner Jugend schließen würde.« Zu Jimmy gewandt, sagte Arutha: »Dein Eindringen auf diese Weise wirft ein schlechtes Licht auf Gardans Männer. Ich nehme an, du hast einen Grund, mich aufzusuchen?«

»Jawohl, Hoheit, einen sehr ernsten und dringenden.«

Arutha nickte. »Und was ist dieser ernste und dringende Grund?«

»Jemand hat einen Preis auf Euren Kopf ausgesetzt.«

Gardan erschrak sichtlich, und Laurie stammelte: »Wa-as – wie?«

»Wie kommst du darauf?« fragte Arutha.

»Weil jemand ihn sich bereits verdienen wollte.«

 

Außer Arutha, Laurie und Gardan hörten noch zwei weitere des Jungen Geschichte in der fürstlichen Ratskammer an. Graf Volney von Landreth war früher der Stellvertreter von Lord Dulanic gewesen, dem Kanzler des Fürstentums, ehe dieser während der Regentschaft von Guy du Bas-Tyras verschwunden war. Neben Volney saß Vater Nathan, ein Priester der Weißen, der Göttin des Einen Pfades. Er war einer von Prinz Erlands Hauptratgebern gewesen und auf Gardans Bitte hier. Arutha kannte diese beiden Männer nicht, doch während seiner Abwesenheit hatte Gardan ihr Urteilsvermögen schätzen gelernt, und Arutha hielt viel von Gardans Meinung. Während Arutha weggewesen war, hatte Gardan quasi die Stellung des Feldmarschalls übernommen, genau wie Volney die des Kanzlers.

Beide Arutha noch fremden Männer waren untersetzt, doch während Volney aussah, als hätte er nie körperlich gearbeitet, sondern wäre immer wohlbeleibt gewesen, wirkte Nathan eher wie ein Ringkämpfer, der Fett ansetzt. Doch die Kraft unter der Fettschicht war immer noch spürbar. Keiner von ihnen sprach ein Wort, ehe Jimmy nicht mit seinem Bericht über seine beiden Kampfe in der vergangenen Nacht geendet hatte.

Volney musterte den Jungen einen Augenblick eingehend und zog die buschigen, sorgsam gekämmten Brauen zusammen. »Einfach unvorstellbar! Ich möchte nicht glauben, daß es ein solches Komplott geben kann!«

Arutha hatte die Hände vor dem Gesicht so zusammengelegt, daß sie ein Zelt bildeten, das in ständiger leichter Bewegung war. »Ich wäre nicht der erste Fürst, auf den man Meuchler ansetzt, Graf Volney.« Zu Gardan gewandt: »Laßt die Wache sofort verdoppeln, doch so unauffällig wie möglich und ohne Erklärung. Ich möchte nicht, daß sich Gerüchte im Schloß verbreiten. Innerhalb von zwei Wochen werden wir jeden höheren Edlen des Königreichs hier haben, ganz zu schweigen von meinen Brüdern.«

»Vielleicht sollten wir Seine Majestät warnen?« meinte Volney.

»Nein, Lyam wird von einer ganzen Kompanie seiner Leibgarde begleitet. Wir schicken ihm einen Trupp krondorianischer Lanzer bis Malacs Cross entgegen, doch kein Wort darüber, daß es mehr als ein Ehrengeleit ist. Wenn hundert Soldaten ihn während des Rittes nicht beschützen können, kann nichts es. Nein, unser Problem liegt hier in Krondor. Und wir haben keine freie Entscheidung.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Eure Hoheit verstehe«, gestand Vater Nathan.

Laurie verdrehte die Augen zur Decke, während Jimmy grinste.

Arutha lächelte grimmig. »Ich glaube, unsere beiden mit dem einfachen Leben vertrauten Freunde verstehen genau, was getan werden muß.« Er wandte sich Jimmy und Laurie zu: »Wir müssen einen Nachtgreifer fangen.«

 

Arutha blieb ruhig sitzen, während Volney im Speisesaal hin und her stapfte. Laurie, der Jahre des Hungers erlebt hatte, hatte gelernt zu essen, wenn es zu essen gab. So hielt er sich auch nicht zurück, während der beleibte Graf von Landreth ruhelos durch den Saal stiefelte. Müden Tons fragte Arutha: »Mein Lord Graf, müßt Ihr ständig hin und her laufen?«

Aus seinen Gedanken gerissen, blieb der Graf abrupt stehen. Er verneigte sich vor Arutha, war jedoch sichtlich gereizt. »Tut mir leid, Hoheit, wenn ich Euch gestört habe…« Sein Ton verriet jedoch, daß es ihm keineswegs leid tat, und Laurie grinste hinter einem großen Stück Braten. »…doch diesem Dieb zu trauen, ist reiner Wahnsinn.«

Aruthas Augen weiteten sich. Er schaute Laurie an, der seinen erstaunten Blick erwiderte. Der Sänger warf ein: »Mein teurer Graf, Ihr braucht nicht so bedacht in Eurer Wortwahl gegenüber dem Fürsten zu sein. Sprecht offen aus, was Ihr meint.«

Bei diesem sanften Spott wurde dem Grafen erst bewußt, was er gesagt hatte. »Ich bitte um Verzeihung…« Er errötete tief, und seine Verlegenheit war unübersehbar.

Arutha verzog die Lippen zu seinem schiefen Halblächeln.

»Schon verziehen, Volney, doch nur Eure Unhöflichkeit.« Er betrachtete Volney nachdenklich, dann fügte er hinzu. »Ich finde Eure Offenheit erfrischend. Sprecht weiter.«

»Hoheit«, sagte Volney jetzt fest. »Wie leicht könnte dieser Junge nur benutzt werden, um Euch in eine Falle zu locken oder zu vernichten, wie er behauptet, daß andere es vorhaben.«

»Und was schlagt Ihr vor, daß ich tue?«

Volney schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Hoheit. Aber den Jungen allein auf Erkundung zu schicken, ist… Ich weiß es nicht.«

Arutha wandte sich an den Sänger: »Laurie, versichere meinem Freund und Ratgeber, dem Grafen, daß alles gut und richtig ist.«

Laurie schluckte seinen Mundvoll Wein und sagte: »Alles ist richtig, Graf.« Als dieser dem Spielmann einen finsteren Blick zuwarf, fügte Laurie hinzu: »Wirklich, Graf, was getan werden kann, wird getan. Ich kenne mich in der Stadt aus, so gut es eben einer kann, der nicht zu des Aufrechten Männern gehört. Jimmy ist ein Spötter. Er findet vielleicht einen Weg zu den Nachtgreifern, wo ein Dutzend Sicherheitsleute daneben tappen würde.«

»Vergeßt nicht«, warf nun Arutha selbst ein, »ich lernte Guys obersten Sicherheitsmann, Jocko Radburn, kennen. Er war ein bedenkenloser, mit allen Wassern gewaschener Bursche, der vor nichts zurückschreckte, nur um Anita ins Schloß zurückzubringen.

Die Spötter erwiesen sich jedoch als ihm überlegen.«

Volney schien ein wenig kleiner zu werden, dann bat er den Fürsten, sich setzen zu dürfen. Arutha deutete auf einen Stuhl. Als er Platz genommen hatte, sagte der Graf: »Vielleicht habt Ihr recht, Sänger. Es ist nur, daß ich ganz einfach nicht weiß, wie ich dieser Bedrohung am besten begegnen könnte. Der Gedanke, daß Meuchler frei herumlaufen, macht mich krank.«

Arutha beugte sich über den Tisch. »Euch macht er krank? Habt Ihr vergessen, daß es ganz so aussieht, als wären sie hinter mir her?«

Laurie nickte. »Ich glaube auch nicht, daß der Anschlag mir galt.«

»Wer weiß, vielleicht steckt ein Musikliebhaber dahinter?« sagte Arutha trocken.

Volney seufzte. »Es tut mir leid, daß ich mich in dieser Sache so ungeschickt benehme. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, frei von der Verwaltung des Fürstentums zu sein.«

»Unsinn«, beruhigte ihn Arutha. »Ihr habt hier großartige Arbeit geleistet. Als Lyam darauf bestand, daß ich mit ihm die Reise durch die östlichen Landesteile unternehme, wehrte ich mich dagegen, weil ich der Meinung war, der Westteil würde ohne meine lenkende Hand nicht zurechtkommen – und das deshalb, weil viel wiedergutzumachen war, das Bas-Tyras angerichtet hatte, und das hatte nichts mit Euren Fähigkeiten zu tun. Doch nun freue ich mich, daß ich mich getäuscht hatte. Ich bin überzeugt, kein anderer hätte das Fürstentum so gut verwalten können wir Ihr, Graf.«

»Ich danke Eurer Ho heit.« Das Lob hatte Volney offenbar ein wenig besänftigt.

»Tatsächlich wollte ich Euch bitten weiterzumachen. Nachdem Dulanic auf geheimnisvolle Weise verschwunden ist, haben wir keinen Kanzler. Lyam kann dieses Amt nicht neu besetzen, jedenfalls nicht innerhalb der nächsten zwei Jahre, ohne sicher zu sein, daß Dulanic wirklich tot ist, obwohl wir alle annehmen, daß er durch Guys oder Radburns Hand den Tod fand. Also solltet Ihr weiter stellvertretender Kanzler bleiben.«

Volney schien darüber nicht sehr erfreut zu sein, aber er nahm es ergeben hin und antwortete: »Ich danke Euch für Euer Vertrauen, Hoheit.«

Ein weiteres Gespräch wurde durch die Ankunft von Gardan, Vater Nathan und Jimmy unterbrochen. Die Muskeln von Nathans Stiernacken spannten sich, als er Jimmy mehr trug als stützte. Das Gesicht des Jungen war totenbleich und schweißüberströmt. Alle Förmlichkeit mißachtend, deutete Arutha auf einen Sessel, und der Priester setzte Jimmy dort ab.

»Was ist passiert?« erkundigte sich Arutha.

Gardan lächelte, schüttelte jedoch rügend den Kopf. »Dieser junge Held hier, läuft seit gestern nacht mit einer häßlichen Wunde in der Seite herum. Er hat sie selbst verbunden und dabei mehr verkehrt als gut gemacht.«

»Sie begann zu schwären«, fügte Nathan hinzu, »also sah ich mich gezwungen, sie auszuwaschen und zu versorgen. Ich bestand darauf, sie zu behandeln, ehe wir zu Euch kamen, da der Junge bereits Fieber hatte. Es gehört keine Magie dazu, eine Wunde vor dem Brandigwerden zu bewahren, aber jeder Straßenjunge bildet sich ein, sich selbst behandeln zu können. Also fängt die Verletzung zu eitern an.« Er blickte auf Jimmy hinunter. »Er ist ein bißchen mitgenommen, da ich schneiden mußte, aber in ein paar Stunden wird er sich besser fühlen – solange er die Wunde nicht aufreißt«, fügte er für Jimmy gedacht hinzu.

Jimmy schaute verlegen drein. »Tut mir leid, daß Ihr soviel Mühe mit mir hattet, Vater, aber unter anderen Umständen hätte ich die Wunde natürlich sogleich versorgen lassen.«

Arutha blickte den Jungen fragend an. »Was hast du herausgefunden?«

»Einen Assassinen zu fangen, mag schwieriger sein, als wir dachten, Hoheit. Es gibt eine Möglichkeit, Verbindung aufzunehmen, aber über Umwege.« Arutha bedeutete ihm mit einem Nicken fortzufahren. »Ich mußte den Bettlern arg um den Bart streichen, bis ich wenigstens so viel erfuhr, wie ich jetzt weiß. Wenn jemand die Dienste der Gilde des Todes beanspruchen will, muß er sich zum Tempel von Lims-Kragma begeben.« Volney vollführte hastig ein Schutzzeichen bei der Erwähnung der Todesgöttin. »Er muß ein Gebet sprechen und etwas in die Opferschale werfen, die für diesen Zweck gekennzeichnet ist. Doch muß das Gold in ein Pergament mit dem Namen des Bittstellers genäht sein. Dann tritt die Gilde nach Belieben innerhalb eines Tages mit ihm in Verbindung. Er nennt den Namen des Opfers, sie geben den Preis an. Dann bezahlt er oder auch nicht. Wenn er zu zahlen bereit ist, erfährt er, wohin er das Gold bringen soll. Wenn nicht, verschwinden sie, und es gibt keine Möglichkeit mehr für ihn, sie zu erreichen.«

»Einfach.« Laurie nickte. »Sie bestimmen das Wann und Wo.

Also ist es nicht leicht, ihnen eine Falle zu stellen.«

»Unmöglich, würde ich sagen«, meinte Gardan.

»Nichts ist unmöglich«, widersprach Arutha. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, war er tief in Gedanken versunken.

Nach einer Weile rief Laurie: »Ich habe es!«

Arutha und die anderen blickten den Sänger an. »Jimmy, du hast gesagt, sie setzen sich innerhalb eines Tages mit dem in Verbindung, der das Gold mit seinem Namen hinterläßt.« Jimmy nickte. »Dann brauchen wir bloß dafür zu sorgen, daß derjenige, der das Gold abgibt, an einem bestimmten Ort bleibt – einen, den wir überwachen können.«

»Keine schlechte Idee, wenn man erst darauf gekommen ist«, lobte Arutha. »Aber welcher Ort?«

Jimmy sagte: »Es gäbe einige, die wir eine Weile übernehmen könnten, Hoheit, nur sind ihre Besitzer unzuverlässig.«

»Ich wüßte einen!« Laurie blickte Jimmy an. »Wenn unser junger Freund bereit wäre, das Gebet aufzusagen, damit die Nachtgreifer keinen Verdacht schöpfen.«

»Ich weiß nicht recht«, entgegnete Jimmy. »Es ist nicht alles so einfach in Krondor. Verdächtigt man mich, würden wir vielleicht keine zweite Gelegenheit bekommen.« Er erinnerte sie an den Überfall durch Lachjack und dessen unbekannten Begleiter mit der Armbrust. »Möglicherweise war es eine reine Rachehandlung. Ich kenne Leute, die aus einem viel geringeren Grund durchdrehten, als eines Spitznamens wegen, aber wenn es nicht deshalb war… Wenn Jack irgendwie eine Verbindung zu diesem Assassinen hatte…«

»Dann«, warf Laurie ein, »hatten die Nachtgreifer einen Spötterführer für ihre Sache gewonnen.«

Jimmy blickte zutiefst besorgt drein, als er plötzlich seine Maske des unerschrockenen Helden ablegte. »Dieser Gedanke hat mir kaum weniger zu schaffen gemacht, als der, daß jemand Seine Hoheit mit der Armbrust töten wollte. Ich habe mich einer Nachlässigkeit gegenüber meinem Eid als Spötter schuldig gemacht. Ich hätte schon vergangene Nacht alles melden müssen, aber jetzt ist wirklich allerhöchste Zeit dafür.« Er wollte aufstehen.

Volney drückte eine Hand auf Jimmys Schulter. »Anmaßender Knabe! Willst du damit vielleicht sagen, daß eine Bande von Halunken auch nur einen Gedanken der Berücksichtigung wert ist, und das angesichts der drohenden Gefahr für deinen Fürsten und möglicherweise auch deinen König?«

Jimmy öffnete schon den Mund zu einer Erwiderung, als Arutha einwarf: »Das ist genau, was der Junge meinte, Volney. Er hat einen Treueeid geleistet.«

Laurie trat schnell zu dem Jungen. Er schob Volney zur Seite und beugte sich hinab, daß sein Gesicht in gleicher Höhe mit dem Jimmys war. »Ich weiß, daß du dir deshalb Gedanken machst, Junge, aber im Augenblick scheinen die Dinge sich geradezu zu überschlagen. Wenn die Spötter unterwandert wurden, wäre es vermutlich gar nicht so gut, wenn du jetzt darüber sprechen würdest, weil das den Spitzeln die Möglichkeit gäbe, ihre Spuren zu verwischen. Wenn wir einen dieser Nachtgreifer zu fassen bekommen…« Er ließ den Gedanken in der Luft hängen.

Jimmy nickte. »Wenn der Aufrechte sich Eurem Gedankengang anschlösse, würde ich vielleicht am Leben bleiben, Sänger. Doch viel Zeit bleibt mir nicht mehr, meine Handlungsweise mit einem entschuldbaren Grund zu erklären. Bald werde ich mich zur Abrechnung stellen müssen. Aber gut, ich bringe ein Pergament zum Tempel der Netzspinnerin. Und ich werde nicht bloß schauspielern, wenn ich zu ihr bete, mir einen Platz freizuhalten, sollte meine Zeit gekommen sein.«

»Und ich muß mich auf den Weg zu einem alten Freund machen, um ihn zu fragen, ob er uns seine Schenke zur Verfügung stellt.«

»Gut.« Arutha nickte. »Dann werden wir die Falle morgen zuschnappen lassen.«

Volney, Nathan und Gardan sahen Jimmy und Laurie nach, die beim Gehen ihre Pläne besprachen. Arutha folgte ihnen alsbald.

Seine dunklen Augen verbargen die in ihm tobende Wut. Nach so vielen Jahren fast ständiger Kämpfe während des Spaltkriegs hatte er auf ein langes, friedliches Leben in Krondor mit Anita gehofft. Und das stellte jemand jetzt in Frage. Doch dafür würde dieser Jemand teuer bezahlen!

 

Im Bunten Papagei ging es ruhig zu. Die Läden waren geschlossen, weil vom Bitteren Meer ein stürmischer Wind hereinfegte, so lag der Schankraum unter einer Decke blauen Rauchs vom offenen Kamin und den Pfeifen der etwa ein Dutzend Gäste. Für einen ahnungslosen Neuankömmling hätte es hier auch nicht anders ausgesehen als sonst in einer regnerischen Nacht. Der Wirt, Lucas, und seine beiden Söhne standen hinter dem langen Schanktisch.

Einer verschwand dann und wann durch die Tür in die Küche, um Speisen zu holen und sie den Gästen vorzusetzen. In der Ecke beim Kamin, gegenüber der Treppe zum ersten Stock, saß ein blonder Spielmann und sang von einem Seemann fern seiner Heimat.

Einem aufmerksameren Beobachter wäre aufgefallen, daß die Männer an den Tischen ihr Bier kaum anrührten. Obgleich sie durchwegs harte, rauhe Gesellen waren, sahen sie doch nicht wirklich wie Hafenarbeiter oder Seeleute auf Landurlaub aus. Ihre unverkennbaren Narben hatten sie sich durch Verwundungen im Krieg zugezogen, nicht bei Raufereien in Wirtshäusern.

Alle gehörten zur fürstlichen Leibgarde unter Gardans Befehl.

Einige zählten zu den erfahrensten Spaltkrieg-Veteranen der Westarmeen. In der Küche arbeiteten heute fünf neue Köche und Küchenjungen. Im ersten Stock, in der der Treppe nächsten Kammer, warteten Arutha, Gardan und fünf Gardisten geduldig. Insgesamt hatte der Fürst vierundzwanzig Mann im Bunten Papagei versammelt, und sie waren die einzigen im Haus, denn die letzten echten Gäste hatten sich kurz vor Anbruch des Sturms auf den Heimweg gemacht.

In der am weitesten von der Tür entfernten Ecke saß Jimmy die Hand. Etwas beunruhigte ihn heute schon den ganzen Abend, nur konnte er sich nicht klarwerden, was genau es war. Eines wußte er sicher: Würde er jetzt die Gaststube betreten, hätte seine durch Erfahrung erwachsene Vorsicht ihn sofort umkehren lassen. Er konnte nur hoffen, daß der Vertreter der Nachtgreifer nicht ein ähnliches Gespür wie er hatte. Etwas hier stimmte nicht.

Er lehnte sich zurück, kaute unlustig an einem Stück Käse und zerbrach sich den Kopf darüber, was falsch war. Es war eine Stunde nach Sonnenuntergang und noch immer hatte sich niemand hier sehen lassen, der zu den Nachtgreifern gehören könnte. Jimmy war geradewegs vom Tempel hierhergekommen und hatte dafür gesorgt, daß ihn mehrere Bettler sahen, die ihn gut kannten. Wenn jemand in Krondor ihn finden wollte, konnte er mühelos und billig erfahren, wo er zu suchen war.

Die Tür zur Straße öffnete sich. Zwei Männer kamen aus dem Regen und schüttelten das Wasser von ihren Umhängen. Beide schienen Söldner zu sein. Vielleicht hatten sie sich als Karawanenwächter einen prallen Beutel Silber verdient. Sie waren gleich gekleidet: Lederharnisch, wadenhohe Stiefel. Jeder trug ein Breitschwert an der Seite und hatte sich unter dem Umhang einen Schild um den Rücken geschlungen.

Der größere der beiden, ein Mann mit grauer Strähne im dunklen Haar, bestellte Bier. Der andere, ein hagerer Blonder, schaute sich in der Schankstube um: Jimmy erschrak, als er sah, wie seine Augen sich verengten. Also war auch ihm aufgefallen, daß hier etwas nicht stimmte. Der Blonde sprach leise zu seinem Kameraden. Der Mann mit der grauen Strähne nickte und griff nach dem Bier, das der Wirt ihnen zuschob. Die beiden bezahlten mit Kupferstücken und gingen auf den einzigen freien Tisch zu, der neben Jimmys stand.

Der Grausträhnige wandte sich an den Jungen und fragte: »Ist es in dieser Schenke immer wie in einer Grabkammer?«

Jetzt erst wurde Jimmy klar, was hier falsch war. Die Gardisten waren im Warten in ihre alte Gewohnheit gefallen, leise zu sprechen.

Es fehlte hier an dem in einer Schenke üblichen Stimmengewirr.

Jimmy drückte einen Finger an die Lippen und flüsterte: »Es ist wegen des Sängers.«

Der Grausträhnige wandte den Kopf in die Richtung und hörte Laurie einen Augenblick zu. Laurie war ein begnadeter Unterhalter und war trotz des anstrengenden Tages bei guter Stimme. Als er ein Lied beendete, klopfte Jimmy mit dem Bierkrug auf die Tischplatte und rief: »He, Spielmann, mehr! Mehr!« Er warf ein paar Münzen auf das Podest, auf dem Laurie saß. Einige andere stimmten in seinen Ruf ein, als ihnen nun ebenfalls klar wurde, daß sie sich viel zu ruhig verhalten hatten. Auch weitere Münzen landeten bei Laurie. Als der Sänger daraufhin ein lebhafteres, etwas gewagtes Lied zum besten gab, kam es bald zu dem Stimmengewirr und scheinbar angeregten Gesprächen, wie es in einer Gaststube üblich ist.

Die beiden Fremden lehnten sich zurück, lauschten und wechselten hin und wieder ein Wort. Sie entspannten sich sichtlich, als es in der Schenke offenbar so zuging, wie man es erwarten konnte.

Heimlich beobachtete Jimmy diese Männer am Nebentisch.

Etwas an ihnen paßte nicht und quälte ihn, weil er nicht hätte sagen können, was es war, genau wie es ihm zuvor mit der falschen Stimmung in der Gaststube ergangen war.

Wieder schwang die Tür auf, und ein weiterer Gast trat ein. Er schaute sich um und schüttelte ebenfalls das Wasser vom Kapuzenumhang, nahm das weite Kleidungsstück jedoch nicht ab, ja warf nicht einmal die Kapuze zurück. Er entdeckte Jimmy in der Ecke und schritt auf ihn zu. Ohne gebeten zu werden, rückte er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu dem Jungen. Gedämpfter Stimme sagte er: »Hast du einen Namen?«

Jimmy beugte sich vor, als wollte er antworten. Während er es tat, wurde ihm plötzlich viererlei klar. Trotz ihrer unauffälligen Haltung hatten die beiden Männer ihre Schwerter und Schilde dicht bei der Hand und konnten in Sekundenschnelle danach greifen. Sie tranken auch nicht wie Söldner, die nach einer langen Karawanenreise endlich in eine Stadt kommen – tatsächlich hatten sie ihre Krüge kaum berührt. Der neue Gast Jimmy gegenüber hielt eine Hand unter dem Umhang verborgen, und das, seit er die Schenke betreten hatte.

Doch am bedeutungsvollsten von allem war die Tatsache, daß alle drei Männer an ihrer Linken große schwarze Ringe trugen, in die ein Greifvogel graviert war, von derselben Art wie der Anhänger von Lachjacks Begleiter. Jimmys Gedanken überschlugen sich. Er hatte ähnliche Ringe schon gesehen und kannte ihre Verwendung.

Scheinbar umständlich zog Jimmy ein Pergament aus dem Stiefelschaft und schob es über den Tisch, weit rechts von dem Mann, daß dieser etwas unbeholfen die Linke danach ausstrecken mußte, während er seine Rechte weiterhin versteckt hielt. Als seine Finger das Pergament berührten, zog Jimmy seinen Dolch, stach zu und nagelte des Mannes Hand auf die Tischplatte. Der Vermummte erstarrte bei diesem plötzlichen Angriff, dann riß er die Rechte heraus, in der er einen Dolch hielt. Er stach damit nach Jimmy, der sich zurückwarf. Jetzt erst spürte der Mann den Schmerz, und er heulte vor Pein auf. Jimmy, der mit seinem Stuhl nach hinten kippte, brüllte beim Aufschlagen: »Nachtgreifer!«

Plötzlich tat sich was in der Gaststube. Lucas’ Söhne, beide Veteranen der Westarmeen, sprangen über den Schanktisch und landeten auf den vermeintlichen Söldnern, gerade als diese aufspringen wollten. Jimmy lag rückwärts auf dem umgekippten Stuhl und bemühte sich, sich hochzuziehen. Aus seiner Lage sah er, wie die Wirtssöhne mit dem Grausträhnigen rangen, während der zweite falsche Söldner die Linke zu den Lippen gehoben hatte und den Ring an den Mund drückte. »Giftringe!« schrie Jimmy. »Sie haben Giftringe!«

Gardisten hielten den Vermummten fest, der verzweifelt versuchte, den Ring von der festgenagelten Hand zu ziehen. Doch nach einem Augenblick sorgten die drei Gardisten dafür, daß er sich nicht mehr rühren konnte.

Der Grausträhnige trat nach den Wirtssöhnen, rollte zur Seite, sprang hoch, raste auf die Tür zu und warf zwei Männer um, die nicht mit seinem Ansturm gerechnet hatten. Einen Augenblick war der Weg zur Tür frei, während Verwünschungen von Soldaten die Luft erfüllten, die um das Durcheinander von Tischen und Stühlen herumhasteten. Der Nachtgreifer näherte sich der Tür und damit der Freiheit, als ein schlanker Mann sich ihm in den Weg stellte. Der Assassine sprang zur Tür. Doch mit schier unmenschlicher Flinkheit eilte Arutha vorwärts und schlug dem Grausträhnigen den Degengriff auf den Kopf. Der derart Betäubte schwankte, dann sackte er bewußtlos zu Boden.

Hochaufgerichtet sah Arutha sich in der Gaststube um. Der Assassine lag auf dem Boden, die starren Augen zur Decke gerichtet.

Er war ganz offensichtlich tot. Des Vermummten Umhang wurde zurückgezogen. Er war bleich vor Schmerzen, als man ihm den Dolch, der seine Hand auf den Tisch nagelte, herauszog. Drei Gardisten hielten ihn fest, obgleich es schien, als wäre er selbst zu schwach, ohne Hilfe zu stehen. Als ein Soldat ihm grob den schwarzen Ring von der verwundeten Hand zog, schrie der Nachtgreifer auf und verlor die Besinnung.

Jimmy trat vorsichtig um den Toten zu Arutha. Er sah zu, wie Gardan dem Mann am Boden ebenfalls den schwarzen Ring abnahm.

Dann grinste der Junge den Fürsten an, hob die Hand und zählte zwei Finger ab.

Arutha, mit vom Kampf noch gerötetem Gesicht, nickte lächelnd.

Keiner seiner Männer schien verletzt zu sein, während sie zwei Gefangene hatten machen können. Er wandte sich an Gardan: »Paßt gut auf sie auf und achtet darauf, daß kein Außenstehender sie sieht, wenn Ihr sie in das Schloß bringt. Ich möchte nicht, daß Gerüchte die Runde machen. Lucas und seine Söhne könnten schon genug in Schwierigkeiten sein, falls andere von der Gilde des Todes in der Nähe waren und diese drei sich nicht zurückmelden. Ein Teil unserer Männer soll bis zur Sperrstunde bleiben, damit hier der übliche Betrieb zu herrschen scheint. Und bezahlt Lucas für den Schaden doppelt, mit meinem Dank.«

Gardans Leute waren inzwischen bereits dabei, wieder Ordnung herzustellen. Sie brachten den beschädigten Tisch fort und stellten die anderen um, damit sein Fehlen nicht auffiel.

»Bringt die beiden zu den vorbereiteten Kammern, und beeilt Euch. Wir werden noch heute nacht mit der Vernehmung beginnen.«

 

Wachen versperrten den Zugang zu einer Tür im entlegenen Flügel des Schlosses. Die Gemächer hier wurden nur selten benutzt und lediglich von unwichtigeren Besuchern. Der Flügel war ein Neuanbau. Man gelangte aus dem Hauptgebäude nur durch einen kurzen Verbindungsgang dorthin, und er hatte bloß eine einzige Tür ins Freie. Diese Tür war von innen verschlossen, und außen standen zwei Posten davor, die den Befehl hatten, niemanden, gleichgültig wen, ein- oder herauszulassen.

Im Flügel waren alle an der Außenwand gelegenen Räumlichkeiten gesichert. In der Mitte des größten Gemachs betrachtete Arutha eingehend seine zwei Gefangenen. Beide waren mit festen Stricken an schwere Holzbetten gebunden. Arutha wollte kein Risiko eingehen, das ihnen den Freitod ermöglichte. Vater Nathan schaute nach seinen Akolythen, die die Wunden der beiden Assassinen versorgten.

Plötzlich wandte einer der Jungpriester sich vom Bett des Grausträhnigen ab. Verwirrt bat er: »Vater, kommt, seht!«

Jimmy und Laurie folgten dem Priester und Arutha. Nathan trat hinter den Akolythen, und alle hörten, wie er laut die Luft einsog.

»Sung, weise uns den Weg!« hauchte er erschrocken.

Man hatte dem Grausträhnigen den Lederharnisch aufgeschnitten, und darunter war ein schwarzes Wams zum Vorschein gekommen, das mit einem silbrigen Fischernetz bestickt war.

Nathan zog dem anderen Gefangenen das Gewand zur Seite.

Darunter befand sich ein zweites, ebenfalls nachtschwarz und mit Silbernetz über dem Herzen. Des Mannes Hand war verbunden, und er hatte die Be sinnung wiedererlangt. Mit unverhohlenem Haß blickte er zu dem Sung-Priester auf.

Nathan winkte den Fürsten zur Seite. »Diese Männer tragen das Zeichen von Lims-Kragma in ihrer Gestalt als Netzspinnerin, die letztendlich alles an sich zieht.«

Arutha nickte. »Das paßt. Wir wissen, daß die Nachtgreifer durch den Tempel zu erreichen sind. Selbst wenn die Tempelhierarchie nichts von dieser Sache weiß, muß es einen Verbündeten der Nachtgreifer im Tempel geben. Kommt, Nathan, wir müssen diesen anderen befragen.« Sie kehrten zum Bett des Mannes zurück, der die Besinnung wiedererlangt hatte. Arutha blickte auf ihn hinab. »Wer bezahlt den Preis für meinen Tod?«

Nathan wurde zu dem Bewußtlosen gerufen. »Wer bist du?«

fragte der Fürst den anderen. »Antworte, oder deine bisherigen Schmerzen werden nur eine harmlose Kostprobe jener sein, die dich erwarten.« Arutha gefiel der Gedanke, jemanden foltern zu müssen, gar nicht, aber er würde vor nichts zurückschrecken, um herauszufinden, wer für den Anschlag auf ihn verantwortlich war.

Doch sowohl Frage wie Drohung hatten Schweigen zur Antwort.

Nach einer kurzen Weile kehrte Nathan an Aruthas Seite zurück.

»Der andere ist tot«, sagte er leise. »Wir müssen diesen vorsichtig behandeln. Es könnte sein, daß sie über eine Möglichkeit verfügen, dem Körper zu befehlen, sich nicht gegen den Tod zu wehren, sondern ihn herbeizurufen. Man glaubt, daß selbst ein kräftiger, gesunder Mann seinen eigenen Tod beschwören kann, wenn man ihm nur genügend Zeit dafür gibt.«

Arutha nickte. Schweiß perlte auf der Stirn des Verwundeten, als Nathan ihn untersuchte. Besorgt erklärte der Priester: »Er hat steigendes Fieber. Ich werde erst etwas für ihn tun müssen, ehe er vernehmungsfähig ist.« Der Priester holte seinen Heiltrunk und flößte dem Kranken, dem ein Soldat die Kiefer offenhielt, etwas davon ein. Dann beschwor Nathan seine priesterliche Magie.

Der Mann auf dem Bett begann sich verzweifelt zu winden, und sein Gesicht wurde zu einer verzerrten Maske der Anspannung.

Seine Armmuskeln verkrampften sich, und am Hals hoben die Sehnen sich wie straffe Seile ab, als er sich gegen seine Bande wehrte. Plötzlich stieß er ein hohlklingendes Lachen hervor und fiel mit geschlossenen Augen auf das Kissen zurück. Nathan untersuchte ihn. »Er ist bewußtlos, Hoheit.« Dann fügte der Priester hinzu: »Ich habe den Anstieg des Fiebers verlangsamt, aber ich glaube nicht, daß ich ihn anhalten kann. Hier ist Zauber am Werk. Er verfällt vor unseren Augen. Es bedarf Zeit, jenem Zauber entgegenzuwirken – und ich weiß nicht, ob ich diese Zeit habe.« Zweifel sprach aus Nathans Stimme. »Ich weiß auch nicht, ob meine Kräfte ausreichen.«

Arutha wandte sich an Gardan. »Hauptmann, nehmt zehn Eurer zuverlässigsten Männer und begebt Euch umgehend zum Lims-Kragma-Tempel. Teilt der Hohepriesterin mit, daß ihre Anwesenheit hier sofort erforderlich ist. Bringt sie im Notfall mit Gewalt her, aber bringt sie!«

Gardan salutierte, doch seine Augen verrieten ihn. Laurie und Jimmy erkannten, wie sehr es ihm widerstrebte, die Priesterin in ihren eigenen Hallen zu belästigen. Trotzdem drehte der wackere Hauptmann sich wortlos um und machte sich daran, den Befehl seines Fürsten auszuführen.

Arutha kehrte zu dem Kranken zurück, der nun sichtlich unter Fieberqualen litt. Nathan meldete: »Eure Hoheit, seine Temperatur steigt langsam, aber stetig an.«

»Wie lange wird er am Leben bleiben?«

»Wenn wir nichts für ihn tun können, dann vielleicht noch den Rest der Nacht, länger nicht.«

Arutha knirschte mit den Zähnen. Es blieben ihm weniger als sechs Stunden, den Grund für den Anschlag auf ihn herauszufinden.

Und falls dieser Mann wirklich starb, würden sie wieder am Anfang angelangt, oder vielmehr noch weiter zurückgeworfen sein, denn der unbekannte Gegner würde bestimmt in keine zweite Falle gehen.

»Gibt es denn gar nichts mehr, was Ihr tun könnt?« fragte Laurie leise.

Nathan überlegte. »Vielleicht…« Er verließ den Kranken und bedeutete seinen Akolythen, sich ebenfalls vom Bett zu entfernen.

Dann befahl er einem, ihm einen größeren priesterlichen Zauberband zu bringen.

Als nächstes erteilte er den mit dem vorgesehenen Ritual vertrauten Akolythen die letzten Anweisungen. Mit Kreide wurde ein Pentagramm auf den Boden gezeichnet, und zwar mit dem Bett als Mittelpunkt, und in den fünfzackigen Stern magische Runen. Als das fertig war, befanden alle im Raum sich innerhalb der Kreidestriche auf dem Fußboden. In jede Sternspitze stellten die Akolythen eine brennende Kerze, und eine sechste reichten sie Nathan, der im Buch etwas nachlas. Der Sung-Priester schwenkte nunmehr die Kerze in einem bestimmten Muster und las dabei laut aus dem Buch in einer Sprache, die nur die Geistlichen hier im Gemach verstanden. Die Akolythen standen links und rechts von ihm und sprachen bei bestimmten Stellen der Beschwörung die Worte laut nach. Die anderen spürten eine seltsame Schwere in der Luft, und als die letzte Silbe des Priesters Lippen verließ, stöhnte der Sterbende mitleiderregend.

Nathan klappte das Buch zu. »Kein weniger Mächtiger als ein Gesandter der Götter vermag ohne meine Erlaubnis die Schranken des Drudenfußes zu durchbrechen. Weder Geist, Dämon noch sonst eine von den finsteren Mächten geschickte Wesenheit kann uns stören«, erklärte er.

Danach wies der Priester alle an, sich außerhalb des Pentagramms zu stellen. Wieder schlug er das Buch auf und las eine weitere Beschwörung. Sprudelnd quollen die Worte über seine Lippen. Er beendete den Spruch und deutete auf den Mann im Bett. Arutha blickte auf den Kranken, sah jedoch keine Veränderung, erst als er sich Laurie zuwandte, fiel ihm etwas auf. Aus den Augenwinkeln gesehen, bemerkte er um den Nachtgreifer einen fahlen Schein, der das gesamte Pentagramm ausfüllte, jedoch bei einem direkten Blick nicht zu erkennen war. Er war von der unbestimmten Farbe eines milchigen Quarzes.

»Was ist das?« fragte er.

Nathan drehte sich zu Arutha um. »Ich habe die Zeit für ihn verlangsamt, Hoheit. Für ihn ist eine Stunde jetzt ein Augenblick.

Der Zauber wird nur bis zum Morgengrauen anhalten, doch für ihn wird nicht ganz eine Viertelstunde vergangen sein. So gewinnen wir Zeit. Mit ein bißchen Glück können wir ihn bis zum Mittag am Leben erhalten.«

»Ist es möglich, mit ihm zu sprechen?«

»Nein, denn für ihn würden wir wie summende Bienen klingen.

Aber wenn nötig, kann ich den Zauber aufheben.«

Arutha betrachtete den sich unendlich langsam windenden Fiebrigen. Seine Hand hing einen knappen Zoll über dem Bett in leerer Luft. »Wir können ruhig auf die Hohepriesterin von Lims-Kragma warten.« Doch Ungeduld klang aus seiner Stimme.

Sie brauchten nicht lange zu warten. Vom Gang waren Geräusche zu hören. Sofort eilte Arutha zur Tür. Davor stand Gardan mit einer Frau ganz in Schwarz. Ihr Gesicht war unter einem dicken schwarzen Schleier verborgen, aber sie hatte es dem Fürsten zugewandt.

Ein Finger schoß auf Arutha zu, und eine tiefe, wohlklingende Frauenstimme fragte: »Wieso wurde ich hierherbefohlen, Fürst des Königreichs?«

Arutha achtete nicht auf die Frage, sondern nahm das Bild auf, das sich ihm hier bot. Hinter Gardan standen vier Gardisten. Sie hielten ihre Speere quer vor die Brust und versperrten einem Trupp entschlossen wirkender Tempelwachen in den schwarzsilbernen Waffenröcken Lims-Kragmas den Weg. »Was geht hier vor, Hauptmann?« erkundigte Arutha sich.

»Die Lady wünscht ihre Wächter mit ins Gemach zu nehmen, und ich gestatte es nicht.«

Mit einem Ton eisiger Wut sagte die Priesterin: »Ich bin gekommen, wie Ihr es verlangt habt, obgleich die Geistlichkeit die weltliche Obrigkeit nie anerkannt hat. Doch als Gefangene dürft nicht einmal Ihr mich ansehen, Fürst von Krondor!«

»Zwei Wachen mögen eintreten«, gestattete Arutha. »Doch dürfen sie sich dem Gefangenen nicht nähern. Lady, Ihr werdet mit uns zusammenarbeiten und jetzt eintreten!« Sein Tonfall ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit. Die Hohepriesterin mochte zwar die Oberste einer mächtigen Sekte sein, doch vor ihr stand – nach dem König – der absolute Herrscher des Königreichs, ein Mann, der keinen Widerspruch in einer Sache von solcher Wichtigkeit duldete.

Die Priesterin nickte den beiden vordersten Tempelwachen zu, und sie betraten das große Gemach. Hinter ihnen wurde die Tür geschlossen, und Gardan nahm die beiden Wachen zur Seite. Im Korridor hielten die Gardisten ein wachsames Augen auf die restlichen Tempelwachen und die scharfen Krummsäbel an ihren Gürteln.

Vater Nathan begrüßte die Hohepriesterin mit einer steifen, förmlichen Verbeugung. Die beiden Orden hatten nicht viel füreinander übrig. Die Hohepriesterin entschied sich, die Anwesenheit des Priesters nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Kaum hatte sie das Pentagramm auf dem Boden bemerkt, fragte sie: »Befürchtet Ihr außerweltliche Einmischung?« Ihre Stimme klang nun ruhig.

Nathan antwortete ihr: »Lady, wir sind uns mancherlei nicht sicher, und wollen so gut wie möglich unnötige Schwierigkeiten, ob physischer oder geistiger Art, verhindern.«

Ohne auf seine Worte einzugehen, trat sie näher zu den beiden Gefangenen, dem Toten und dem Verwundeten. Beim Anblick der schwarzen Unterkleidung verharrte sie und wandte sich Arutha zu.

Trotz des dichten Schleiers war ihm, als sehe er ihren zornigen Blick.

»Diese Männer sind von meinem Orden! Wie kommt es, daß sie hier liegen?«

Aruthas Gesicht war eine Maske unterdrückten Grimms. »Lady, um diese Frage zu beantworten, wurdet Ihr gerufen. Kennt Ihr diese beiden?«

Sie betrachtete die Gesichter. »Den kenne ich nicht.« Sie deutete auf den Toten mit der grauen Strähne im Schwarzhaar. »Der andere aber ist ein Priester meines Tempels namens Morgan und erst vor kurzem aus dem Tempel in Yabon zu uns gekommen.« Sie hielt einen Moment überlegend inne. »Er trägt das Zeichen eines Bruders vom Orden des Silbernetzes.« Sie wandte sich wieder Arutha zu.

»Dieser Orden ist der kriegerische Zweig unseres Glaubens. Er untersteht dem Großmeister in Rillanon, und dieser wiederum ist niemandem Rechenschaft schuldig, was seinen Orden betrifft, außer unserer Großen Mutter.« Und nach einer Pause. »Und auch das nur manchmal.« Noch bevor jemand etwas sagen konnte, fuhr sie fort:

»Was ich nicht verstehe, ist, wie einer meiner Tempelpriester zu ihrem Zeichen gelangt ist. Ist er ein Angehöriger des Silbernetzordens, der die Rolle eines Priesters angenommen hat?

Oder ist er ein Priester, der den Krieger spielt? Oder ist er gar kein Ordensbruder, sondern ein Schwindler? Jede dieser drei Möglichkeiten ist beim Zorn Lims-Kragmas verboten. Aus welchem Grunde ist er hier?«

»Lady«, begann Arutha, »wenn es stimmt, was Ihr sagt…« Bei der Andeutung, daß sie die Unwahrheit gesagt haben könnte, erstarrte sie sichtlich, »…dann betreffen die Ereignisse Euren Tempel nicht weniger als mich. Jimmy, berichte, was du von den Nachtgreifern in Erfahrung gebracht hast.«

Jimmy, der sich unter dem prüfenden Blick der Hohepriesterin der Todesgöttin sichtlich unbehaglich fühlte, berichtete schnell und ohne seine üblichen Ausschmückungen. Als er geendet hatte, sagte die Priesterin: »Hoheit, was ich hier erfahren habe, stinkt zu unserer Göttin.« Wieder sprach aus ihrer Stimme eisige Wut. »Früher bemühten gewisse Gläubige sich um bestimmte Opferungen. Doch dergleichen wurde längst abgeschafft. Unsere Göttin des Todes ist geduldig, denn niemand entgeht ihr. Sie ist nicht auf abscheuliche Morde angewiesen! Ich möchte mit diesem Mann sprechen.« Sie deutete auf den Gefangenen.

Arutha zögerte. Nathan schüttelte den Kopf und wehrte bedächtig ab: »Er ist dem Tode nahe. Selbst ohne zusätzliche Anstrengung bleiben ihm bloß noch Stunden. Sollte die Befragung sich als zu viel für ihn erweisen, stirbt er uns, bevor wir in die Tiefe seiner Seele vordringen können.«

»Warum die Besorgnis, Priester? Selbst tot bleibt er mein Untertan. Ich bin Lims-Kragmas irdische Hand. In ihren Hallen finde ich die Wahrheit wie kein Sterblicher sonst.«

Vater Nathan verbeugte sich. »Im Reich des Todes seid Ihr uns überlegen.« Er wandte sich an Arutha: »Dürfen meine Brüder und ich uns zurückziehen, Hoheit? Mein Orden empfindet dieses Verfahren als abstoßend.«

Der Fürst nickte. »Ehe Ihr geht«, bat die Priesterin, »nehmt den Zauber der Verlangsamung von ihm. Da Ihr ihn errichtet habt, geht es schneller, wenn Ihr es tut, als wenn ich mich damit befasse.«

Nathan hob den Zauber auf, und der Mann auf dem Bett stöhnte in Fieberqualen. Die Anhänger der Göttin Sung verließen eilends das Gemach. Nachdem die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, deutete die Hohepriesterin auf den Drudenfuß: »Dieses Pentagramm wird die Einmischung äußerer Kräfte verhindern. Darf ich euch alle bitten, euch einstweilen davon fernzuhalten, da in seinem Innern ein jeder eine Störung des Zaubers verursachen würde. Das Ritual, das ich beabsichtige, ist heilig, denn wie immer es auch ausgeht, unsere Göttin wird diesen Mann höchstwahrscheinlich in ihr Reich abberufen.«

Arutha und die anderen zogen sich von dem Pentagramm zurück.

»Sprecht nur, wenn ich euch die Erlaubnis dazu gebe, und sorgt dafür, daß die Kerzen nicht erlöschen, denn sonst würden Kräfte frei, denen zu widerstehen – schwierig wäre.« Die Hohepriesterin schlug ihren schwarzen Schleier zurück. Arutha konnte ein Staunen nicht unterdrücken. Sie war kaum älter als ein Mädchen und ein liebreizendes noch dazu mit ihren blauen Augen und einer Haut wie von der aufgehenden Sonne liebkost. Den feinen Brauen nach zu schließen, mußte ihr Haar von bleichstem Goldblond sein. Sie hob die Hände über den Kopf und begann zu beten. Ihre Stimme war weich und wohlklingend, doch die Worte waren fremdartig und furchterregend.

Der Mann auf dem Bett wand sich, während sie ihr Gebet fortsetzte. Plötzlich riß er die Augen auf und starrte zur Decke. Er zuckte und wehrte sich gegen seine Bande. Doch dann entspannte er sich und wandte das Gesicht der Hohepriesterin zu. Sein Blick war geistesabwesend, während seine Augen sich abwechselnd auf sie richteten und wieder abwandten. Nach einer Weile verzogen seine Lippen sich zu einem seltsamen finsteren Lächeln – eine Fratze von höhnischer Grausamkeit. Seine Stimme war tief und hohl: »Was wollt Ihr, Herrin?«

Die Hohepriesterin runzelte die Stirn, offenbar mißfiel ihr sein Benehmen, aber sie bewahrte ihre Haltung und meinte kühl von oben herab: »Ihr tragt das Zeichen des Ordens vom Silbernetz, und doch dient Ihr im Tempel. Erklärt mir diesen Widerspruch!«

Der Mann antwortete mit einem schrillen, sich überschlagenden Lachen, das nur langsam erstarb. »Ich bin der, der dient.«

Sie blickte ihn scharf an. »So antwortet: Wem dient Ihr?«

Wieder lachte der Mann. Seine Muskeln spannten sich und wehrten sich gegen die beengenden Bande. Schweiß stand auf seiner Stirn. Doch dann entspannte er sich, und wiederum lachte er schrill: »Ich bin der, den man fing!«

»Wem dient Ihr?«

»Ich bin der, der zum Fisch wurde. Ich bin in einem Netz gefangen.« Wieder gellte dieses irre Lachen, verbunden mit einem fast krampfartigen Zerren an den Stricken. Schweiß rann dem Mann nun in Strömen über das Gesicht. Schreiend kämpfte er gegen seine Fesseln an. Als es schon fast so schien, als würde er sich in seiner wahnsinnigen Anstrengung die Knochen brechen, brüllte er:

»Murmandamus! Hilf deinem Diener!«

Ein plötzlicher Windstoß blies eine Kerze aus. Ein krampfartiges Zucken überwältigte den Mann daraufhin, so daß sein Körper sich krümmte und nur Füße und Kopf noch das Bett berührten. So sehr zerrte er dabei an den Stricken, daß die Haut aufriß und er zu bluten begann. Unvermittelt brach er auf dem Bett zusammen. Die Hohepriesterin wich einen Schritt zurück, doch dann näherte sie sich ihm wieder und betrachtete ihn. Leise sagte sie: »Er ist tot. Zündet die Kerze wieder an.«

Auf Aruthas Wink zündete ein Gardist mit einem Fidibus, den er an eine brennende Kerze gehalten hatte, die erloschene an. Die Hohepriesterin begann mit einem neuen Gebet. Während das erste leichtes Unbehagen vermittelt hatte, erweckte dieses unbeschreibbare Furcht und rief eine Kälte herbei, wie aus dem finstersten Winkel eines eisigen Landes der Trostlosigkeit. Es brachte den Widerhall der Schreie jener, für die es weder Freude noch Hoffnung mehr gab. Und doch schwang in ihm auch etwas anderes mit, etwas Mächtiges, Anziehendes: eine Verlockung, die davon sprach, wie wundervoll es sei, alle Last und Sorgen abzulegen und sich auszuruhen. Während die Priesterin in ihrem Gebet fortfuhr, erwuchs ein Gefühl drohenden Unheils. Die Umstehenden mußten dagegen ankämpfen, nicht einfach davonzulaufen, weit fort vom aufwühlenden Klang dieser Beschwörung.

Plötzlich endete sie, und es war still wie in einer Grabkammer.

Nunmehr sprach die Hohepriesterin in der Königssprache: »Im Fleisch bist du bei uns, doch untenan unserer Herrin Lims-Kragma.

Höre! Wie unsere Lady des Todes zu guter Letzt alles bestimmt, so befehle ich dir nun in ihrem Namen: Kehre zurück!«

Die Gestalt auf dem Bett regte sich, doch lag sie dann wieder still.

Lauter rief die Hohepriesterin: »Kehre zurück!« Erneut rührte die Gestalt sich. Ruckartig hob der ›Tote‹ den Kopf und öffnete die Augen. Er schien sich in dem Gemach umzuschauen, obwohl die Augäpfel so verdreht waren, daß nur das Weiße zu sehen war. Ja, der

›Leichnam‹ mußte imstande sein, etwas wahrzunehmen, denn er hielt in der Bewegung inne, als das Gesicht auf die Hohepriesterin gerichtet war. Er öffnete die Lippen und lachte hohl.

Die Priesterin trat näher an ihn heran. »Still!«

Er verstummte, doch dann begann er zu grinsen, immer breiter, voller Boshaftigkeit. Es war ein erschreckender Anblick.

Nun zuckten seine Züge wie in einem grauenvollen Schüttelkrampf. Das Fleisch zitterte und gab nach, erwärmtem Wachs gleich. Die Hautfarbe veränderte sich, wurde heller, zu fast weißer Blässe. Die Stirn wuchs in die Höhe, das Kinn wurde schmäler, die Nase krümmte sich, die Ohren liefen spitz zu. Das Haar war auf einmal kohlrabenschwarz. In wenigen Augenblicken war der Mann, den sie befragt hatten, verschwunden und an seiner Statt lag ein nicht länger menschliches Wesen.

Laurie hauchte: »Ihr Götter! Ein Bruder des Düsteren Pfades!«

Voll Unbehagen verlagerte Jimmy sein Gewicht von einem Fuß auf den ändern. »Euer Bruder Morgan kommt von viel weiter nördlich als Yabon, Lady«, wisperte er. Aus seiner Stimme klang nur Angst.

Erneut kam der eisige Wind aus dem Nichts auf, und die Hohepriesterin wandte sich zu Arutha um. Ihre Augen waren furchtgeweitet. Sie schien zu sprechen, doch ihre Worte waren nicht zu vernehmen.

Die Kreatur auf dem Bett – einer der verhaßten finsteren Vettern der Elben – kreischte in wahnsinniger Schadenfreude. Mit erschreckender, plötzlicher Kraft befreite das Wesen den Arm aus seinen Fesseln, dann den anderen. Noch bevor die Gardisten einzuschreiten vermochten, zerriß er die Stricke um seine Beine. Und schon war der vorher Tote auf den Füßen und sprang auf die Priesterin zu.

Diese stand unerschrocken da und strahlte eine spürbare Macht aus. Mit einer Hand deutete sie auf das Wesen. »Halt!« Der Moredhel gehorchte. »Im Namen meiner Herrin befehle ich dir, der du gerufen wurdest, Gehorsam. Ihrem Reich gehörst du nun an und unterstehst ihren Gesetzen und ihren Vertretern. In ihrem Namen und mit ihrer Macht befehle ich dir zurückzukehren!«

Der Moredhel zögerte kaum merklich, dann griff er mit unerwarteter Behendigkeit mit einer Hand nach dem Hals der Hohenpriesterin. Mit hohler Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien, schrie er: »Belästigt meinen Diener nicht, Lady.

Wenn Ihr Eure Herrin so sehr liebt, dann geht zu ihr!«

Die Hohepriesterin umklammerte das Handgelenk der Kreatur, und blaues Feuer züngelte sprühend den Arm hoch. Mit einem gräßlichen Schmerzensschrei packte das Wesen die Priesterin, als wiege sie nicht mehr denn eine Feder, und schmetterte sie an die Wand neben Arutha. Hilflos sank sie zu Boden.

Niemand rührte sich. Die Verwandlung dieser Kreatur und ihr unerwarteter Angriff auf die Hohepriesterin hatte alle gelähmt. Die Tempelwachen waren wie angewurzelt beim Anblick ihrer Herrin, die von einer finsteren, außerweltlichen Macht so gedemütigt worden war. Gardan und seinen Männern erging es nicht anders.

Mit höllischem Gelächter wandte die Kreatur sich jetzt an Arutha.

»Nun, mein Lord des Westens, stehen wir einander gegenüber, und Eure Stunde ist gekommen!«

Einen Herzschlag lang schien der Moredhel zu taumeln, dann schritt er jedoch entschlossen auf den Fürsten zu. Die Tempelwachen faßten sich einen Augenblick vor Gardans Männern. Die zwei in Schwarz und Silber sprangen vorwärts. Der eine stellte sich zwischen den herankommenden Moredhel und die bewußtlose Priesterin, der andere griff ihn an. Aruthas Gardisten folgten dichtauf und versuchten zu verhindern, daß der Moredhel Arutha erreichte. Laurie raste zur Tür und rief nach den Gardisten auf dem Korridor.

Der Tempelwächter stach mit dem Krummsäbel zu und durchbohrte den Moredhel. Blicklose Augen weiteten sich, als die Kreatur voll gräßlicher Freude grinste. Und schon schnellten ihre Hände vor und legten sich um die Kehle des Wächters. Mühelos drehten sie ihm den Hals um und warfen die Leiche zur Seite. Der erste von Aruthas Gardisten, der das Ungeheuer erreichte, hieb von der Seite zu und schlug eine blutige Wunde längs dem Rücken. Mit schmetternder Rückhand warf die Kreatur den Mann zu Boden. Dann zog sie sich den Krummsäbel aus der Brust und ließ ihn achtlos fallen. Während sie sich abwandte, schlang Gardan die Arme tief von hinten um sie und hob sie in die Luft. Die Kreatur krallte die Nägel in Gardans Arme, trotzdem hielt der Hauptmann sie weiter hoch und verhinderte so, daß sie näher an Arutha herankam. Da trat sie heftig nach hinten und traf Gardans Beine mit solcher Wucht, daß er mit ihr zu Boden stürzte. Sie befreite sich, und als Gardan sie wieder zu fassen versuchte, stolperte er über die Leiche des Tempelwächters.

Krachend schwang die Tür auf, als Laurie den Riegel zur Seite zog. Palast- und Tempelwächter stürzten an dem Sänger vorüber. Die Kreatur befand sich in Schwertreichweite von Arutha, als der vorderste Gardist sich von hinten auf sie warf und sogleich zwei weitere seinem Beispiel folgten. Die Tempelwachen schlossen sich ihrem noch lebenden Kameraden an, um einen Schutzschild um die besinnungslose Hohepriesterin zu bilden. Aruthas Gardisten dagegen stürzten sich alle auf den Moredhel. Gardan kam auf die Beine und eilte an Aruthas Seite. »Zieht Euch zurück, Eure Hoheit. Durch unsere Übermacht können wir die Kreatur hier festhalten.«

Mit dem Schwert in der Hand erwiderte der Fürst. »Wie lange, Gardan? Wie lange könnt Ihr ein Wesen aufhalten, das nicht mehr zu töten ist?«

Jimmy die Hand wich von Aruthas Seite rückwärts zur Tür. Er konnte den Blick nicht von dem Gewirr wildbewegter Leiber wenden. Gardisten hämmerten mit Schwertgriffen und Fäusten auf die Kreatur ein, um sie kampfunfähig zu machen. Ihre Hände und Gesichter waren blutüberströmt, denn immer wieder hieb der Untote mit den Krallen nach ihnen.

Laurie kreiste um die Kämpfenden und suchte nach einer Lücke.

Das Schwert hielt er stoßbereit wie einen Dolch. Als er sah, wie Jimmy nun zur Tür rannte, schrie er: »Arutha, Jimmy beweist erstaunliche Vernunft! Folge ihm!« Dann stach er mit dem Schwert zu, und ein erschreckendes Stöhnen erklang aus dem Körpergewirr.

Unentschlossenheit bannte Arutha. Die Leibermasse schien sich unaufhaltsam auf ihn zuzubewegen. Offenbar vermochte selbst die Übermacht der Gardisten die Kreatur nur aufzuhalten, jedoch nicht abzuwehren. Aus ihren Lippen dröhnte die hohle Stimme: »Flieht, wenn Ihr möchtet, Lord des Westens, doch nie werdet Ihr Ruhe vor meinen Dienern finden!«

Als wäre ihm neue Kraft zugeflossen, bäumte der Moredhel sich auf und schüttelte die Gardisten ab. Sie wurden gegen die Tempelwächter vor der Hohepriesterin geschleudert, und einen Augenblick konnte die Kreatur ungehindert aufrecht stehen. Sie war nun über und über blutbesudelt und ihr Gesicht eine Maske blutender Wunden. Zerfetztes Fleisch hing von einer Wange und verzerrte das Gesicht zu einem steten boshaften Grinsen. Ein Gardist kam auf die Beine, und es gelang ihm, des Moredhels rechten Arm mit einem Schwerthieb zu zerschmettern. Der Untote wirbelte herum und riß dem Mann mit einem Hieb der Krallen die Kehle auf. Sein rechter Arm baumelte schlaff an der Seite, während er nun mit blubbernd klingender Stimme dröhnte: »Ich schwelge im Tod! Kommt, ich will in eurem schwelgen!«

Zwei Gardisten sprangen den Moredhel von hinten an und warfen ihn erneut zu Boden vor Aruthas Füßen. Ohne auf sie zu achten, kroch die Kreatur auf den Fürsten zu, den unverletzten Arm ausgestreckt und die Hand zur Klaue gekrümmt. Weitere Gardisten sprangen auf sie zu. Arutha hieb seinen Degen durch die Schulter tief in den Rücken des Ungeheuers. Es erschauderte, dann kroch es weiter.

Wie ein riesiger, verunstalteter Krake näherte die Masse der Leiber sich dem Fürsten. Die Gardisten kämpften Übermenschlich, als könnten sie Arutha schützen, indem sie den Untoten im wahrsten Sinne des Wortes in Stücke zerrissen. Arutha wich einen Schritt zurück. Die Unaufhaltbarkeit des Moredhels brachte seinen Entschluß, nicht zu fliehen, allmählich ins Wanken. Ein Gardist flog mit einem Aufschrei durch die Luft. Sein Schädel krachte, als er auf dem Boden aufschlug. Ein anderer brüllte: »Hoheit, die Kreatur wird stärker!« Ein dritter wimmerte, als der Untote ihm ein Auge auskratzte. Mit einem gewaltigen Schwung schleuderte die Kreatur die restlichen Gardisten von sich und stand auf. Und nun befand sich niemand mehr zwischen ihr und Arutha.

Laurie zog an des Fürsten linken Ärmel und zerrte ihn zur Tür. Sie gingen seitwärts, ohne den Blick von dem schauderhaften Wesen abzuwenden, das taumelnd auf den Füßen stand. Seine blicklosen Augen folgten den beiden Männern. Sie stierten aus einem Gesicht, das nur noch eine blutige Masse war. Ein Tempelwächter stürzte sich von hinten auf den Moredhel. Ohne sich umzudrehen schlug die Kreatur mit der Rechten zu und zerschmetterte dem Mann den Schädel mit einem einzigen Hieb.

Laurie schrie: »Er kann seinen Arm wieder benutzen! Er heilt von selbst!« Mit einem Sprung war der Untote bei ihnen. Arutha spürte, wie jemand ihn zur Seite stieß, und er stürzte auf den Boden. Wie durch Schleier hindurch sah er, daß Laurie sich unter dem Hieb duckte, der Arutha den Kopf von den Schultern getrennt hätte. Der Fürst warf sich herum und kam neben Jimmy auf die Füße. Hinter Jimmy sah er Vater Nathan.

Der stiernackige Priester ging auf das Ungeheuer zu. Er hielt die Linke, mit der Handfläche nach vorn, erhoben. Irgendwie spürte der Untote des Priesters Näherkommen, denn er wandte seine Aufmerksamkeit von Arutha ab und wirbelte zu Nathan herum.

In der Mitte von Nathans Handfläche begann ein Glühen. Es wurde zu einem grellen weißen Licht, das seinen Schein auf den Moredhel warf. Der Untote stand wie erstarrt, und ein kaum hörbares Stöhnen entrang sich den blutigen Lippen. Da begann Nathan zu beten.

Ein grauenvoller Schrei gellte aus dem Mund des Untoten, der sich zusammenkauerte und die Hände vor die Augen schlug, um sie vor Nathans blendendem Licht zu schützen. »Es brennt – es brennt!«

wimmerte die Kreatur. Der stämmige Priester trat einen Schritt vor und drängte den Untoten zurück. In unerträglichem Schmerz krümmte die Kreatur sich und wimmerte: »Ich brenne!«

Wieder strich ein eisiger Wind durch das Gemach. So laut schrillte der Untote nun, daß selbst die Veteranen vieler Schlachten zusammenzuckten. Verängstigt blickten die Gardisten sich um, suchten nach dem Ursprung eines unbestimmbaren Grauens, das jeder spürte.

Plötzlich richtete die Kreatur sich hoch auf, als wäre neue Kraft in sie geströmt. Ihre Rechte schoß vor, griff nach dem Ursprung des brennenden Lichtes: Nathans Hand, Menschenhand und Klaue umschlangen einander, und mit einem Sengen begannen die Krallenfinger des Untoten zu rauchen. Er schwang die Linke zum Schlag zurück, doch als sie vorwärtsschnellte, rief Nathan ein Wort, das allen anderen im Gemach unbekannt war. Die Kreatur schwankte und wimmerte. Nathan erhob die Stimme. Sie füllte den Raum mit geheimnisvollem Gebet und heiliger Magie. Der Untote erstarrte wie angewurzelt und begann am ganzen Leib zu zittern. Eindringlicher wurde das Gebet. Die Kreatur schwankte wie von einem gewaltigen Hieb getroffen, und aus ihrem Körper kräuselte Rauch. Nathan rief die Macht Sungs der Weißen herab, der Göttin der Reinheit. Seine Stimme klang heiser und angestrengt. Ein lautes Stöhnen, das aus weiter Ferne zu kommen schien, entrang sich des Moredhels Mund, und erneut erschauderte er.

Alle Kraft auf diesen unheimlichen Kampf wendend, straffte Nathan die Schultern, als plage er sich mit einer schweren Last. Und der Moredhel stürzte auf die Knie. Seine Rechte bog sich zurück, während Nathans Stimme weiterhallte. Schweiß perlte über des Priesters Stirn, und die Adern seines Halses drohten die Haut zu sprengen. Auf dem zerfleischten Körper des Untoten bildeten sich Brandblasen, und er heulte seinen unerträglichen Schmerz hinaus.

Ein schaudererregendes Knistern war zu hören und der Geruch von schmorendem Fleisch erfüllte den Raum. Dicker, öliger Rauch stieg von dem Untoten auf. Ein Gardist drehte sich um, und mußte sich übergeben. Nathan quollen die Augen schier aus dem Kopf, als er dieser Kreatur mit aller Kraft seinen Willen aufzwang. Beide schwankten. Das Fleisch des Untoten verkohlte in Nathans Magie.

Der Moredhel krümmte sich unt er der Willenskraft des Priesters, und plötzlich zuckten bläuliche Entladungen über seinen verbrannten Leib. Nathan gab ihn frei. Der Untote stürzte seitwärts. Flammen loderten aus seinen Augen, den Ohren und dem Mund. Alsbald zerfiel er zu Asche, und nur noch der übelkeiterregende, ölige Gestank blieb zurück.

Nathan wandte sich schwerfällig zu Arutha um. Der Fürst sah einen Mann, der in so kurzer Zeit um Jahre gealtert war. Des Geistlichen Augen waren immer noch geweitet, und Schweiß rann ihm über das Gesicht. Mit würgendem Krächzen sagte er: »Hoheit, es ist vollbracht.« Müde lächelnd machte er einen schleppenden Schritt auf den Fürsten zu, dann einen zweiten, ehe er kraftlos zusammenbrach. Arutha fing ihn auf, bevor er auf dem Boden aufschlagen konnte.