Moraelin


Nebelschwaden trieben durch die Schlucht.

Arutha gab Zeichen anzuhalten. Jimmy spähte durch das feuchte Grau. Ein Wasserfall toste neben dem Pfad, der sie zum Moraelin führen sollte. Nun befanden sie sich in den Großen Nordbergen.

Moraelin lag noch höher in diesem Gebirge, in einer kahlen Felsmulde, nur ein Stück unterhalb des Gipfels über ihnen. Sie warteten, während Martin den Paß auskundschaftete. Seit ihre Elbenführer sich von ihnen verabschiedet hatten, waren sie zu einem Spähtrupp in Feindesland geworden. Zwar konnten sie sich darauf verlassen, daß Aruthas ishapischer Talisman sie vor magischer Sicht bewahrte, aber es bestand kein Zweifel daran, daß ihr Gegner wußte, sie würden bald zum Moraelin kommen, und die Frage war auch nicht, ob sie auf seine Leute stoßen würden, sondern lediglich wann.

Martin kehrte zurück und meldete ihnen, daß der Weg frei war, doch dann hob er haltgemahnend die Hand. Er rannte an den anderen vorbei den Weg, den sie gekommen waren, zurück. Baru und Roald wies er mit einer Geste an, ihn zu begleiten. Die beiden sprangen von ihren Pferden, deren Zügel Laurie und Jimmy nahmen. Arutha schaute über die Schulter, um zu sehen, was Martin entdeckt hatte, während Jimmy weiterhin voraus Ausschau hielt.

Martin, Baru und Roald kehrten zurück, und ein vierter hielt mit ihnen Schritt. Arutha entspannte sich, als er den Elben Galain erkannte.

Damit das Echo in den Bergen sie nicht verriet, mußten sie leise sprechen. So begrüßte Arutha den Elben mit einem geflüsterten: »Wir rechneten nicht mehr mit Euch.«

Galain antwortete: »Der Kriegsführer schickte mich nur wenige Stunden nach Eurem Aufbruch mit folgender Nachricht hinter Euch her: Nachdem der Gwali Apalla gefunden wurde, sagte er zweierlei von Wichtigkeit. Erstens, es haust ein wildes, gefährliches Tier am See. Welcher Art es ist, war des Gwalis Beschreibung nicht zu entnehmen. Tomas mahnt jedenfalls zur Vorsicht. Zweitens, es gibt noch einen Zugang zum Moraelin. Tomas fand es wichtig genug, mich hinter euch herzuschicken.« Galain lächelte. »Außerdem hielt ich es für angebracht festzustellen, ob ihr verfolgt würdet.«

»Wurden wir es?«

Galain nickte. »Zwei Moredhelspäher setzten sich keine Meile nördlich unseres Waldes auf eure Fährte. Gewiß wäre einer vorausgeeilt, um den Feind zu warnen, sobald ihr nahe genug am Moraelin heran wart. Ich hätte mich euch schon eher angeschlossen, doch mußte ich dafür sorgen, daß keiner der beiden entkommen konnte. Diese Gefahr besteht nun nicht mehr.«

Martin nickte. Er zweifelte nicht daran, daß der Elbe die beiden so überraschend getötet hatte, daß sie nicht mehr dazu gekommen waren, Alarm zu schlagen.

»Von weiteren Verfolgern gab es keine Spuren«, endete Galain.

»Kehrst du zurück?« fragte Martin.

»Tomas überließ die Entscheidung mir. Nun, da ich so weit gekommen bin, dürfte es kaum noch Sinn haben umzukehren, also kann ich euch genausogut begleiten. Zwar kann ich die Spur des Hoffnungslosen nicht überqueren, aber bis wir den Zugang erreichen, mag ein weiterer Bogen sich als nützlich erweisen.«

»Ihr seid uns mehr als willkommen«, versicherte ihm Arutha.

Martin schwang sich wieder in den Sattel. Galain lief ohne ein weiteres Wort als Späher voraus. Rasch folgten sie ihm den Pfad entlang. Eine Kälte ging von dem Wasserfall aus, daß sie trotz sommerlicher Wärme fröstelten. In dieser Höhe waren Hagelstürme und Schneefall nicht unüblich, außer in den heißesten Sommermonaten, die noch Wochen entfernt waren. Die Nächte waren klamm gewesen, doch nicht so bitterkalt, wie sie befürchtet hatten, da sie ja kein Lagerfeuer machen konnten. Die Elben hatten ihnen Wegzehrung mitgegeben: Dörrfleisch, harte Fladenkuchen aus Nußmehl und Trockenfrüchte. Alles sehr nahrhaft, doch nicht sonderlich schmackhaft.

Der Pfad führte den Hang hinauf, bis er eine Bergwiese mit Blick ins Tal erreichte. Ein silbern schimmernder See spülte in der Spätnachmittagssonne sanft gegen das Ufer, und die einzigen Laute waren das Zwitschern von Vögeln und das Säuseln des Windes in den Bäumen. Jimmy schaute sich um. »Wie kann – wie kann der Tag so schön sein, wo uns doch gewiß nur Unangenehmes erwartet?«

»Wir Söldner sagen uns eines: Wenn man schon dem Tod ins Auge sehen muß, soll man es nicht durchnäßt, frierend und hungrig, außer wenn es sich gar nicht umgehen läßt. Also genieß den Sonnenschein, Junge«, riet Roald. »Er ist ein Geschenk.«

Sie tränkten die Pferde und machten sich nach einer willkommenen Rast wieder auf den Weg. Der Pfad nördlich des Sees, von dem Calin gesprochen hatte, war leichter zu finden, doch steil und schwierig.

Vor Sonnenuntergang kehrte Galain mit der guten Nachricht zurück, daß er eine vielversprechende Höhle gefunden habe, in der sie sogar ohne Sorge Feuer machen könnten. »Sie führt in zwei scharfen Biegungen ins Innere des Hanges und hat hohe Deckenspalten, durch die der Rauch unbemerkt abziehen kann.

Martin, wenn wir uns gleich auf den Weg machen, haben wir vielleicht noch Zeit, in Ufernähe zu jagen.«

»Aber bleibt nicht zu lange aus«, mahnte Arutha. »Und gebt uns durch Rabenkrähen, das ihr so gut nachahmen könnt, Bescheid, wenn ihr zurückkehrt, damit nicht Schwertspitzen eure Rückkehr begrüßen.«

Martin nickte und gab Jimmy die Zügel seines Pferdes.

»Spätestens zwei Stunden nach Sonnenuntergang sind wir zurück.«

Er machte sich mit Galain auf den Weg den Pfad abwärts.

Nun übernahmen Roald und Baru die Führung und fanden nach einem Ritt von fünf Minuten die von Galain entdeckte Höhle. Sie war eben, breit und diente offenbar keinen Tieren als Bau. Jimmy folgte ihrem Verlauf und stellte fest, daß sie nach etwa hundert Fuß schmal wurde, so daß unerwartete Eindringlinge sich erst einen Weg hindurchbahnen müßten. Laurie und Baru sammelten Holz, und das erste Feuer seit Tagen – auch wenn es nur ein kleines war – konnte entzündet werden. Jimmy und Arutha setzten sich zu den anderen und warteten auf Martin und Galain.

Martin und Galain lagen auf der Lauer. Sie hatten einen natürlich aussehenden Sichtschutz aus Buschwerk errichtet, das sie aus einem anderen Waldteil zusammengetragen hatten. Sie waren sicher, daß sie durch ihn hindurch jedes Tier zu beobachten vermochten, das zum Trinken ans Seeufer kam, ohne selbst bemerkt zu werden. Seit über einer halben Stunde lagen sie bereits abwinds vom See und verhielten sich völlig ruhig, als Hufschlag auf Stein unterhalb der Felswand zu hören war. Beide legten die Pfeile an die Sehnen und verhielten sich still. Von dem unteren Pfad ritten ein Dutzend Schwarzgerüstete auf die Wiese. Jeder trug den ungewöhnlichen Drachenhelm, wie Martin ihn in Sarth gesehen hatte, und ihre Köpfe wandten sich nach dieser und jener Seite, fast ohne Unterlaß, als suchten sie etwas – oder jemanden. Bald darauf folgte ihnen Murad.

Seine Wange wies den zusätzlichen Schnitt auf, den Arutha ihm auf der Straße nach Sarth geschlagen hatte.

Die Schwarzen Kämpfer zügelten ihre Pferde, blieben jedoch in den Sätteln. Murad wirkte entspannt, doch wachsam. Ohne miteinander zu sprechen, tränkten sie eine Zeitlang ihre Pferde.

Anschließend folgten sie dem Pfad, den Arutha und seine Begleiter genommen hatten. Als sie außer Hörweite waren, sagte Martin: »Sie müssen einen Weg zwischen Yabon und Bergenstein genommen haben, um eure Wälder zu meiden. Tathar irrte sich also nicht, als er meinte, daß sie nach Moraelin vorauseilen würden, um uns dort zu erwarten.«

»Weißt du, Martin«, gestand Galain, »es gibt im Leben nur wenig, was mich beunruhigt, doch dazu gehören die Schwarzen Kämpfer.«

»Wird dir das jetzt erst klar?«

»Ihr Menschen neigt zu übereilten Folgerungen, hin und wieder zumindest«, brummte Galain und spähte in die Richtung, in der die Reiter verschwunden waren.

»Sie werden Arutha und die anderen bald eingeholt haben«, vermutete Martin. »Wenn dieser Murad Fährten lesen kann, wird er auch die Höhle finden.«

Galain stand auf. »Wir können bloß hoffen, daß der Hadati auch im Spurenverwischen gut ist. Wenn nicht, sind wenigstens wir es, die von hinten angreifen.«

Martin lächelte grimmig. »Welche Beruhigung für die in der Höhle! Dreizehn gegen fünf, und nur ein Eingang beziehungsweise Ausgang.«

Ohne weitere Worte hängten sie sich die Bogen um und eilten den Pfad entlang hinter den Moredhel her.

»Reiter nähern sich!« meldete Baru. Sofort löschte Jimmy das Feuer mit Erde, die er zu diesem Zweck aufgehäuft hatte, denn auf diese Weise kam es zu keiner größeren Rauchentwicklung. Laurie zupfte Jimmy am Arm und bedeutete ihm, ihn in den hinteren Höhlenteil zu begleiten, um die Pferde zu beruhigen. Roald, Baru und Arutha dagegen schlichen zum Ausgang, um, wie sie hofften, unbemerkt hinausspähen zu können.

Nach dem wärmenden Feuerschein wirkte der Abend bedrohlich dunkel, doch als ihre Augen sich angepaßt hatten, sahen sie Gerüstete vorüberreiten. Der hinterste zügelte sein Pferd, ehe die anderen auf einen stummen Befehl hin anhielten. Er schaute sich um, als spüre er etwas in der Nähe. Arutha tastete nach seinem Talisman und hoffte, der Moredhel sei lediglich umsichtig und ahne seine Anwesenheit nicht.

Eine Wolke zog sich von dem kleinen Mond zurück, der als erster und bisher einziger aufgegangen war. Dadurch war außerhalb der Höhle etwas mehr zu erkennen. Baru erstarrte beim Anblick Murads, den er nun deutlich sah. Er hatte bereits sein Schwert gezogen, als Aruthas Finger sich um sein Handgelenk schlossen. »Noch nicht!« flüsterte er dem Hadati zu.

Baru zitterte am ganzen Körper, während er gegen sein schier übermächtiges Verlangen ankämpfte, den Tod seiner Familie an Ort und Stelle zu vergelten und die Blutrache zu Ende zu bringen. Es drängte ihn danach, den Moredhel ohne Rücksicht auf seine eigene Sicherheit anzugreifen, aber ihm war auch klar, daß er Rücksicht auf seine Gefährten üben mußte.

Da legte Roald die Hand auf des Hadatis Nacken und drückte seine Wange so an Barus, daß er fast lautlos in sein Ohr wispern konnte: »Wenn die zwölf in Schwarz Euch niedermachen, ehe Ihr Murad erreicht, bringt das der Erinnerung an Euer Dorf keine Ehre.«

Unhörbar glitt Barus Klinge zurück in ihre Hülle. Stumm beobachteten sie Murad, der sich prüfend umsah. Sein Blick fiel auf den Höhleneingang. Er kam heran und spähte hinein. Einen Herzschlag lang konnte Arutha des narbengesichtigen Moredhels Augen auf sich spüren. Dann wandten sie sich von ihm ab – und waren verschwunden.

Arutha kroch bis an den Rand der Höhle und vergewisserte sich, daß die Reiter nicht umkehrten. Plötzlich flüsterte eine Stimme hinter ihm: »Ich dachte schon, ein Bär hätte euch alle aus seinem Bau vertrieben.«

Heftig pochenden Herzens wirbelte Arutha herum, mit dem blanken Degen in der Hand, und sah Martin und Galain hinter sich stehen. Er schob die Klinge zurück und brummte: »Wie leicht hätte ich euch töten können!«

Die anderen kamen herbei. Galain sagte: »Sie hätten sich in der Höhle umsehen müssen, aber offenbar waren sie in großer Eile, ihr Ziel zu erreichen. Ich werde sie im Auge behalten und Spuren für euch legen.«

»Was ist, wenn eine weitere Schar düsterer Brüder sich nähert? Werden sie nicht Eure Zeichen bemerken?« gab Arutha zu bedenken.

»Nur Martin kann sie als solche erkennen. Es gibt keinen Bergmoredhel, der im Spurenlegen und - lesen so gut wie ein Elbe ist.« Er legte sich den Bogen wieder um die Schulter und eilte lautlos hinter den Reitern her.

Als er in der Dunkelheit verschwunden war, meinte Laurie: »Und wenn die düsteren Brüder Waldbewohner sind?«

Da rief Galain zurück durch die Nacht: »Dann werde ich mir genauso Sorgen machen müssen wie ihr.«

Erst nachdem der Elbe außer Hörweite war, murmelte Martin: »Ich wünschte, er meinte es nicht ernst!«

 

Galain kam den Weg zurück und deutete auf ein Gehölz links davon. Sie beeilten sich, den Schutz, der Bäume zu erreichen und abzusitzen. Die Pferde führten sie tief in das Wäldchen hinein. Der Elbe flüsterte: »Eine Streife naht.« Er, Martin und Arutha liefen auf leisen Sohlen zum Waldrand zurück, von wo aus sie den Pfad im Auge behalten konnten.

Die paar Minuten vergingen quälend langsam. Dann trabte ein Dutzend Reiter den Bergpfad herab. Es war eine gemischte Schar Moredhel und Menschen. Die ersteren trugen Umhänge und waren unverkennbar Waldbewohner aus dem Süden. In gleichbleibendem Trab ritten sie vorüber. Als sie außer Sicht waren, sagte Martin heftig: »Überläufer, die sich unter Murmandamus’ Banner sammeln.

Es gibt gewiß wenige, die mir nicht leid täten, wenn ich sie töten muß, aber den Tod von Menschen, die den Moredhel für Gold dienen, würde ich gewiß nicht bedauern.«

Als sie zu den anderen zurückkehrten, wandte Galain sich an Arutha: »Eine Meile von hier ist ein Lager quer über die Straße aufgeschlagen. Das ist sehr klug gemacht, denn es zu umgehen ist äußerst schwierig und auf Pferden unmöglich. Wir müssen also die Tiere hierlassen oder mitten durch das Lager reiten.«

»Wie weit ist es noch bis zum See?« fragte der Fürst.

»Bloß noch ein paar Meilen. Doch wenn wir erst das Lager hinter uns haben, stoßen wir über die Baumgrenze vor, und dann ist höchstens hinter Felsblöcken Schutz zu finden. Wir werden dort nur langsam vorankommen und am sichersten in der Dunkelheit.

Zweifellos sind viele Kundschafter unterwegs und zahllose Wachen auf der Straße zur Brücke.«

»Was ist mit dem zweiten Zugang, von dem der Gwali sprach?«

»Wenn wir ihn richtig verstanden, müßte man zur Spur des Hoffnungslosen hinunterklettern, und dort ist eine Höhle oder ein Spalt, durch die oder den man durch den Felsen zu einem Plateau neben dem See gelangen kann.«

Arutha überlegte. »Lassen wir die Pferde hier«, beschloß er.

»Binden wir sie an die Bäume.« Und mit einem schwachen Lächeln fügte Laurie hinzu: »Wenn wir sterben, brauchen wir sie ohnehin nicht mehr.«

»Mein alter Hauptmann konnte es gar nicht leiden, wenn irgendeiner vor einer Schlacht vom Tod sprach«, brummte Roald.

»Genug!« mahnte Arutha. Er tat einen Schritt, dann drehte er sich um. »Ich habe mir alles wieder und immer wieder durch den Kopf gehen lassen. Nun bin ich so weit gekommen und werde weitermachen, aber – ihr dürft jetzt ruhig umkehren, wenn ihr möchtet, ich werde es euch nicht verdenken.« Er blickte von Laurie zu Jimmy, dann zu Baru und Roald. Schweigen antwortete ihm.

»Nun gut«, murmelte er, nachdem sein Blick noch einmal alle geprüft hatte. »Bindet die Pferde an und nehmt nur das Nötigste mit. Wir brechen auf.«

 

Der Moredhel beobachtete den Pfad unterhalb, der von dem großen und dem mittleren Mond beleuchtet wurde, während der kleine Mond höher stieg. Er kauerte hinter einem Felsblock auf einem Wandvorsprung, und zwar so, daß er vom Pfad aus nicht gesehen werden konnte.

Martin und Galain zielten auf des Moredhels Rücken, während Jimmy hinter den Felsbrocken verschwand. Sie würden versuchen vorbeizugelangen, ohne entdeckt zu werden, doch falls der Moredhel ihrer gewahr wurde, hatten Martin und Galain vor, ihn zu erschießen, bevor er auch nur einen Laut herausbrachte. Jimmy schlich allen voran. Ihm folgte Baru, der sich als Bergbewohner nicht weniger lautlos bewegte. Laurie und Roald schienen sich jeden Schritt zu überlegen, so langsam waren sie, und Martin fragte sich, ob er sein Ziel während dieser Ewigkeit, die sie brauchten, halten konnte.

Endlich, als letzter, schlich Arutha vorbei. Glücklicherweise rauschte die aufkommende Brise laut genug, das schwache Scharren seines Stiefels auf einem Stein zu übertönen, als er in eine seichte Mulde trat. Er hastete hinter den anderen her, außer Sicht des Wachtpostens.

Innerhalb von Sekunden folgten ihm Martin, dann Galain. Der Elb übernahm erneut die Führung.

Baru winkte, und Arutha nickte sein Einverständnis. Hinter ihm huschten Laurie und Roald her. Kurz ehe er sich umdrehte, um ihnen nachzuhasten, brachte Jimmy seinen Kopf dicht an Martins und Aruthas Ohr und wisperte: »Wenn wir zurück sind, werde ich als erstes nichts anderes tun, als losbrüllen, bis ich mich wieder beruhigt habe.«

Mit einem freundlichen Klaps schickte ihn Martin hinter den anderen her. Arutha blickte seinen Bruder an und flüsterte fast unhörbar: »Ich auch.« Und nun machte er sich ebenfalls wieder auf den Weg. Mit einem letzten Blick zurück folgte Martin.

 

Lautlos lagen sie in einer Mulde nahe der Straße. Ein niedriger Felswall verbarg sie vor vorüberkommenden Moredhelreitern. Sie wagten kaum zu atmen, als der Trupp, der ohnedies nur im Schritt ritt, anzuhalten schien. Einen langen, schrecklichen Augenblick befürchteten Arutha und seine Gefährten, entdeckt zu werden. Als ihre angespannten Nerven zu reißen drohten und jeder Muskel nach Bewegung verlangte, setzte der Trupp seine Streife fort. Mit einem Seufzer der Erleichterung, der mehr einem Schluchzen ähnelte, rollte Arutha herum und vergewisserte sich, daß die Luft rein war. Mit einem Kopfnicken bedeutete er dem Elben, wieder die Führung zu übernehmen. Galain machte sich auf den Weg. Die anderen erhoben sich langsam und folgten ihm.

 

Der Nachtwind strich kalt an den Bergwänden entlang. Arutha lehnte sich gegen den Felsen, und sein Blick folgte Martins deutendem Finger. Galain drückte sich an die gegenüberliegende Wand des Felsspalts, in dem sie kauerten. Sie waren über einen Kamm östlich des Weges gestiegen, der sie zwar von ihrem Ziel wegführte, aber ein erforderlicher Umweg war, wollten sie der zunehmenden Zahl von Moredhels ausweichen. Nun blickten sie hinab auf eine breite Schlucht, in deren Mitte sich ein hohes Plateau erhob, und in der Mitte dieses Plateaus wiederum befand sich ein kleiner See. Zu ihrer Linken kehrte der Weg am Rand der Schlucht zurück und verschwand über dem Kamm der etwas höheren Berge, ganz deutlich im Licht aller drei Monde zu sehen. Wo der Weg dem Schluchtrand am nächsten kam, war ein Turmpaar aus Steinen errichtet. Ein zweites Paar erhob sich gegenüber auf dem Plateau.

Dazwischen schaukelte eine schmale Hängebrücke im Wind. Auf allen vier Türmen brannten Fackeln, deren Flammen heftig flackerten. Bewegung auf der Brücke und beiden Türmen verriet ihnen, daß die gesamte Gegend um das Plateau gut bewacht war.

»Moraelin!« hauchte Arutha.

»Es sieht so aus, als glaubten sie, Ihr würdet mit einer ganzen Armee anrücken, Fürst«, sagte Galain.

»Wir hatten daran gedacht«, gestand Martin.

»Du hattest recht, als du es mit dem Weg zum Kloster von Sarth verglichst«, wandte Arutha sich an ihn. »Hier wäre es nicht besser gewesen. Wir hätten viele Männer verloren, schon, um bis zu diesem Punkt zu gelangen – wenn wir überhaupt so weit gekommen wären.

Im Gänsemarsch über die Brücke – das wäre ein Gemetzel geworden!«

»Siehst du das schwarze Ding über dem See?« fragte Martin.

»Ein Gebäude offenbar«, antwortete Galain. Er wirkte verblüfft.

»Es ist merkwürdig, ein Gebäude hier zu sehen, dieses Gebäude, überhaupt eines, obgleich die Valheru zu allem fähig waren. Dies ist ein Ort der Macht. Es muß ein Valherubauwerk sein, obgleich ich nie von dergleichen gehört habe.«

»Wo können wir Silberdorn finden?« fragte Arutha.

»Nach der Sage braucht die Pflanze Wasser«, antwortete Galain,

»also dürfte sie in Ufernähe wachsen. Mehr ist nicht bekannt.«

»Und nun müssen wir bloß noch dorthin gelangen«, brummte Martin.

Galain winkte sie fort vom vorderen Spaltende, und sie kehrten zu den anderen zurück. Der Elb kniete sich nieder und begann einen Lageplan in den Boden zu zeichnen. »Wir sind hier und die Brücke da. Irgendwo unten am Fuß befindet sich eine kleine Höhle oder ein größerer Spalt, jedenfalls groß genug für einen Gwali hindurchzugelangen. Also nehme ich an, daß er auch groß genug für euch sein dürfte, um hindurchzukriechen.

Es mag sich um einen Kamin im Felsen handeln, den ihr hochklettern könnt, oder auch um Höhlen. Apalla behauptete jedenfalls glaubhaft, daß er und seine Leute sich eine Weile auf dem Plateau aufgehalten hätten. Sie blieben des ›bös Dings‹ wegen nicht lange, doch erinnerte er sich an genug, um Tomas und Calin zu überzeugen, daß er wirklich hier gewesen war.

Ich habe gesehen, daß auf der anderen Schluchtseite ein Teil der Felswand zerklüftet ist. Wir werden uns also am Brückenzugang vorbeischleichen, bis wir das schwarze Gebäude zwischen uns und den Brückenwachen haben. Dort beginnt ein Pfad nach unten. Auch wenn er nicht weit führt, könnt ihr euch immer noch an einem Seil hinunterlassen. Dann ziehe ich es hoch und verstecke es.«

»Das wird uns von großer Hilfe sein, wenn wir wieder hochklettern wollen!« warf Jimmy ein.

»Morgen bei Sonnenuntergang lasse ich es wieder hinunter, erst kurz vor Sonnenaufgang ziehe ich es erneut hoch. Die Nacht darauf tue ich das gleiche. Ich glaube, im Spalt in der Wand wird man mich nicht sehen. Möglicherweise muß ich mich auch in den Büschen verstecken. Jedenfalls werde ich mich nicht von irgendwelchen Moredhels aufspüren lassen.« Sein Ton klang nicht sehr überzeugend. »Wenn ihr das Seil schon eher braucht«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »dann müßt ihr rufen.«

Martin blickte Arutha an. »Solange sie nicht ahnen, daß wir hier sind, haben wir eine Chance. Sie erwarten uns immer noch aus dem Süden und nehmen offenbar an, daß wir uns irgendwo zwischen Elbenheim und hier befinden. Solange wir nicht selbst auf uns aufmerksam machen…«

»Ein besserer Plan fällt mir auch nicht ein«, unterbrach ihn Arutha. »Also gehen wir es an.«

Rasch, denn sie mußten vor Sonnenaufgang die Schluchtsohle erreicht haben, huschten sie zwischen den Felsblöcken dahin, um zur hinteren Schluchtseite zu gelangen.

Jimmy drückte sich an die Wand des Plateaus im Schatten unter der Brücke. Der Rand des Plateaus befand sich etwa hundertfünfzig Fuß über ihnen, aber immer noch bestand die Gefahr, daß sie gesehen wurden. Ein schmaler, dunkler Spalt bot sich ihnen in der Wand. Jimmy wandte den Kopf Laurie zu und flüsterte: »Natürlich! Er muß ja unmittelbar unter der Brücke sein!«

»Hoffen wir nur, daß niemand auf die Idee kommt, nach unten zu schauen.«

Laurie gab den anderen Bescheid, und Jimmy stieg in den Spalt.

Die ersten zehn Fuß war er sehr eng, dann weitete er sich zu einer Höhle. Jimmy drehte sich zu den anderen um und bat: »Werft mir eine Fackel und Feuerstein herein.«

Als er danach griff, hörte er etwas hinter sich. Er zischte eine Warnung und wirbelte herum, bereits den Dolch in der Hand. Das schwache Licht, das hinter ihm einfiel, behinderte ihn mehr, als daß es ihm half, denn dadurch wirkte der größte Teil der Höhle noch dunkler für ihn. Jimmy schloß die Augen und verließ sich auf seine anderen Sinne. Er wich zurück und schickte ein Stoßgebet zum Gott der Diebe.

Vor sich hörte er ein scharrendes Geräusch wie von Krallen auf Stein und ein langsames, schweres Atmen. Da erinnerte er sich, daß der Gwali von einem ›bös Ding‹ gesprochen hatte, dem ein Angehöriger seines Stammes zum Opfer gefallen war.

Wieder das Geräusch, näher diesmal. Jimmy bewegte sich nach rechts, als Laurie fragend seinen Namen flüsterte. Der Junge zischte: »Hier ist irgendein Tier!«

Er hörte, wie Laurie etwas zu den anderen sagte, und das Geräusch, als der Sänger sich vom Höhleneingang entfernte. Dann vernahm er gedämpft, wie jemand, Roald vielleicht, sagte: »Martin kommt!«

Jimmy umklammerte seinen Dolch und dachte: Ja, wenn ein Kampf mit einem wilden Tier droht, würde auch ich Martin schicken! Er erwartete, der Herzog von Crydee würde jeden Augenblick neben ihm auftauchen, und wunderte sich, weshalb er so lange brauchte.

Da bewegte sich plötzlich etwas auf ihn zu. Unwillkürlich sprang der Junge zurück. Etwas schlug gegen seine Wade, und er hörte das Klicken von Zähnen. Er drehte sich in der Luft, zog die Knie an und fiel auf etwas Fleischliches. Ohne Zögern stach er mit dem Dolch darauf ein. Er rollte von dem Rücken der Kreatur, die ein bedrohliches Zischen hervorstieß. Er kam auf die Füße, drehte sich herum und riß seinen Dolch wieder heraus. Das Tier drehte sich ebenfalls. Es war fast so flink wie der Junge, der blindlings zur Seite sprang und sich dabei den Kopf an einem Vorsprung der Wand anstieß.

Benommen prallte er zurück. Die Kreatur griff wieder an. Auch diesmal verfehlte sie ihn nur knapp. Jimmy schlang unbewußt den linken Arm um ihren Hals. Wie der Mann aus der Ballade, der auf dem Tiger ritt, konnte auch Jimmy nicht mehr loslassen, denn solange er die Kreatur festhielt, vermochte sie nicht nach ihm zu schnappen. So zerrte sie ihn durch die Höhle, während der Junge immer wieder in die ledrige Haut stach, doch da er nicht weit ausholen konnte, richtete er damit nicht viel aus. Das Tier peitschte um sich. Jimmy wurde immer wieder gegen die Wand geschleudert und an ihr entlanggezerrt. Panik ergriff den Jungen, denn die Wut der Kreatur schien sich zu steigern, und er hatte das Gefühl, als würden seine Arme ihm aus den Schultergelenken gerissen. Tränen der Furcht rannen über seine Wangen, und er hämmerte auf das Tier ein.

»Martin!« rief er schluchzend. Wo blieb er bloß? Jimmy war plötzlich überzeugt, daß es ein Ende hatte mit seinem Glück, auf das er sich bisher immer hatte verlassen können. Zum ersten Mal, solange er sich zu erinnern vermochte, fühlte er sich hilflos, denn er selbst konnte nichts tun, um sich aus dieser bedrängten Lage zu befreien. Er spürte, wie sein Magen sich verkrampfte und die Todesangst ihn zu lahmen begann. Es war so ganz anders als bei einer wahrhaft gefährlichen Jagd über die ›Straße der Einbrecher‹, deren Nervenkitzel er genossen hatte. Jetzt empfand er etwas, was betäubender Schläfrigkeit glich, die ihn dazu verleiten wollte, sich zusammenzurollen und in den Tod hinüberzudämmern.

Die Kreatur wütete weiter, schmetterte Jimmy immer wieder an die Wand, doch plötzlich verhielt sie sich ruhig. Immer wieder stach der Junge auf sie ein, bis eine Stimme sagte: »Es ist tot!«

Benommen öffnete Jimmy die Augen und sah Martin über sich gebeugt. Baru und Roald standen hinter ihm, der Söldner mit einer brennenden Fackel in der Hand. Unter Jimmy lag ein echsenartiges Tier, gut sieben Fuß lang, das wie ein Leguan mit Krokodilsrachen aussah. Martins Jagdmesser ragte aus seinem Nacken. Martin kniete sich neben den Jungen. »Bist du in Ordnung?«

Jimmy wich von dem toten Tier zurück, doch immer noch voll Panik. Als ihm trotzdem allmählich bewußt wurde, daß er keine ernsten Verletzungen davongetragen hatte, schüttelte er heftig den Kopf. »Nein, ich bin gar nicht in Ordnung!« Er trocknete sich die Tränen. »Nein, verdammt!« Und nun brachen die Tränen ungehemmt hervor. »Verdammt, verdammt… Ich dachte, ich…«

Arutha kam als letzter durch den Spalt und wurde sich Jimmys Zustand bewußt. Er trat zu ihm, der sich schluchzend an die Wand drückte, und legte sanft eine Hand auf seinen Arm. »Es ist vorbei! Du hast nichts mehr zu befürchten!«

Jimmys Stimme verriet eine Mischung aus Zorn und Furcht, als er sagte: »Ich dachte, es sei aus mit mir. Verdammt, solche Angst hatte ich noch nie in meinem Leben!«

»Und wenn du schließlich vor etwas Angst hattest, Jimmy, dann war dieses Untier dafür geschaffen. Sieh dir mal diese Kiefer an!«

Jimmy erschauderte. Arutha versicherte ihm: »Wir haben alle dann und wann Angst. Und du bist auf etwas gestoßen, das wahrhaftig jedem Furcht eingejagt hätte!«

Der Junge nickte. »Ich hoffe nur, er hat nicht noch einen großen Bruder in der Nähe!«

»Bist du verletzt?« erkundigte sich Arutha.

Jimmy vergewisserte sich. »Nur Blutergüsse und Schürfwunden.«

Er verzog schmerzhaft das Gesicht. »Aber davon eine Menge.«

»Eine Felsechse«, erklärte Baru. »Und eine überaus große. Ihr habt gut daran getan, sie mit dem Messer zu töten, Lord Martin.«

Im Licht sah die Kreatur zwar beeindruckend aus, aber keineswegs so furchterregend, wie Jimmy es sich im Dunkeln vorgestellt hatte. »Ist das das ›bös Ding‹?«

»Wahrscheinlich«, meinte Martin. »Wenn die Echse dir schon schrecklich vorkam, so versuche dir vorzustellen, wie sie auf einen drei Fuß großen Gwali wirken mußte!« Er hielt die Fackel hoch, als Arutha und Laurie näher kamen. »Sehen wir uns hier mal um!«

Sie befanden sich in einer schmalen, aber hohen Höhle, hauptsächlich aus Kalkstein bestehend. Der Boden stieg von dem ins Freie führenden Spalt schräg an.

Obwohl er ganz offensichtlich arg mitgenommen war, nahm Jimmy Martins Fackel und ging voraus. »Ich habe schließlich immer noch die meiste Erfahrung, wenn es darum geht, irgendwo einzusteigen«, erklärte er.

Sie kamen durch eine Reihe von Höhlen, jede etwas größer und höher gelegen als die vorherige, und irgendwie ging etwas Unheimliches von ihnen aus. Eine lange Weile schritten sie dahin, ohne das Gefühl zu haben, viel höher zu gelangen. Jimmy sagte schließlich: »Ich glaube, wir bewegen uns in einer Spirale. Ich könnte schwören, daß wir jetzt über der Höhle sind, in der Martin diese Felsechse getötet hat.«

Sie folgten dieser Höhlenkette, bis es nicht mehr weiterging.

Jimmy blickte sich um und deutete nach oben. Etwa drei Fuß über ihren Köpfen befand sich eine Öffnung in der Decke. »Ein Kamin«, erklärte der Junge. »Man klettert ihn hoch, indem man den Rücken an eine und die Füße gegen die andere Seite stemmt.«

»Und wenn er zu breit wird?« gab Laurie zu bedenken.

»Dann ist es üblich, daß man nach unten zurückkehrt. Wie schnell hängt von dem einzelnen ab. Ich würde raten, es langsam zu tun.«

»Wenn die Gwali sich da hochstemmen konnten, müßten wir es auch schaffen«, meinte Martin.

»Verzeiht die Bemerkung, Ihr o Gnaden«, warf Roald ein. »Aber glaubt Ihr, Ihr könntet auch wie sie von einem Baum zum ändern schwingen?«

Ohne auf diesen Einwurf zu achten, rief Martin: »Jimmy?«

»Ja, ich werde als erster hochsteigen. Ich möchte ja nicht unbedingt umkommen, weil einer von euch den Halt verliert und auf mich stürzt. Bleibt der Öffnung fern, bis ich von oben rufe.«

Mit Martins Hilfe gelangte Jimmy mühelos den Kamin hinauf.

Für ihn bot er ausreichend Platz, um sich hochzustemmen. Für die anderen, vor allem für Martin und Baru, würde er etwas eng sein, aber hindurchzwängen konnten sie sich gewiß. Geschwind kletterte Jimmy in die Höhe, gut dreißig Fuß über der Höhle, wo seine Gefährten warteten, und gelangte zu einer weiteren Höhle. Ohne Licht war ihre Größe nicht auszumachen, aber das schwache Echo seiner leisen Rufe verriet ihm, daß sie geräumig war. Er ließ sich gerade wieder so weit hinunter, um die anderen rufen zu können, dann kletterte er über den Rand.

Bis der erste Kopf – Roalds – in Sicht kam, hatte Jimmy eine Fackel angezündet. Schnell folgten die anderen den Kamin hoch. Die Höhle war riesig, mehr als hundert Fuß breit und gewiß fünfundzwanzig hoch. Stalagmiten streckten sich der Decke entgegen, und manche wuchsen mit den von ihr hängenden Stalaktiten zusammen, daß sie phantastische Kalksteinsäulen bildeten. Die Höhle glich einem versteinerten Wald.

Martin schaute sich um. »Wie hoch, glaubst du, Jimmy, sind wir inzwischen geklettert?«

»Bestimmt nicht mehr als siebzig Fuß, also noch nicht einmal die Hälfte.«

»Welchen Weg nehmen wir jetzt?« fragte Arutha.

»Wir werden nicht umhin können, als einen nach dem anderen zu versuchen«, antwortete der Junge. Er wählte aufs Geratewohl einen Ausgang und schritt darauf zu.

 

Nach Stunden der Suche drehte Jimmy sich zu Laurie um und sagte: »Das Plateau!«

Laurie gab die Nachricht weiter, und Arutha zwängte sich an dem Sänger vorbei, um durch die schmale Öffnung über dem Kopf des Jungen blicken zu können. Sie war kaum mehr als einen Spalt breit, doch das Licht, das hindurchfiel, blendete fast, da die Augen sich der Düsternis der Höhlen angepaßt hatten. Mit einem verstehenden Kopfnicken kletterte Jimmy hoch.

Als er zurückkehrte, berichtete er: »Der Spalt endet zwischen zerklüfteten Felsen, etwa dreihundert Fuß von der Brückenseite des schwarzen Gebäudes entfernt. Es ist groß, zwei Stockwerke hoch!«

»Wächter?«

»Zu sehen waren keine.«

Arutha überlegte, dann sagte er: »Wir warten, bis es dunkel wird. Jimmy, kannst du dich dort oben als Beobachtungsposten halten?«

»Es gibt da einen Sims«, antwortete der Junge und kletterte wieder hoch.

Arutha ließ sich auf den Boden nieder, um das Einbrechen der Dunkelheit abzuwarten. Die anderen taten es ihm gleich.

Jimmy spannte und entspannte die Muskeln abwechselnd, um einen Krampf zu verhindern. Todesstille herrschte auf dem Plateau, nur dann und wann trug der Wind einen Laut herüber, einen Wortfetzen oder schwere Schritte aus der Richtung der Brücke.

Einmal vermeinte er, einen seltsamen, leisen Ton aus dem schwarzen Gebäude zu hören, aber sicher war er nicht. Die Sonne war bereits hinter dem Horizont gesunken, doch noch glühte das Abendrot nach.

Es war sicher schon zwei Stunden nach der üblichen Zeit, doch so hoch in den Bergen, dem Mittsommer so nahe und so weit im Norden, ging die Sonne viel später unter als in Krondor. Jimmy mußte sich daran erinnern, daß er auch schon früher so manches Mal bei einem Auftrag das Abendessen hatte überspringen müssen, doch hielt das seinen Bauch nicht vom Knurren ab.

Er war glücklich, als es endlich dunkel genug war, und seinen Gefährten erging es offenbar nicht anders. Irgend etwas an diesem Ort löste Unruhe in ihnen aus. Selbst Martin hatte mehrmals Verwünschungen wegen des langen Wartens gemurmelt. Ja, etwas war fremdartig an diesem Ort, und das verfehlte seine Wirkung auf sie nicht. Jimmy war überzeugt, daß er sich erst wieder sicher fühlen würde, wenn das Plateau viele Meilen hinter ihnen lag und nur noch eine Erinnerung war.

Er kletterte nun aus dem Spalt und hielt Wache, bis Martin als nächster kam, gefolgt von den anderen. Wie abgemacht, teilten sie sich in drei Gruppen: Baru und Laurie, Roald und Martin, Jimmy und Arutha. Sie würden den Uferstreifen nach der Pflanze absuchen und sobald sie sie gefunden hatten, zum Spalt zurückkehren und in der Höhle darunter auf die anderen warten.

Es war an Arutha und Jimmy, sich in die Richtung des schwarzen Gebäudes zu begeben, und sie beschlossen, ihre Suche jenseits zu beginnen. Natürlich würden sie Ausschau nach Wachen halten, schließlich kannten sie die Einstellung der Moredhels gegenüber dem Bauwerk der Valheru nicht. Vielleicht empfanden sie die gleiche Scheu davor wie die Elben und betraten es nicht, ja machten gar einen weiten Bogen darum. Möglicherweise aber hielten sie sich auch in großer Zahl darin auf.

Jimmy huschte durch die Dunkelheit zu dem Bauwerk und drückte sich gegen eine Wand. Die Steine fühlten sich ungewohnt glatt an. Er strich mit der Hand darüber und glaubte, Marmor zu berühren. Arutha wartete mit der Klinge in der Hand, während Jimmy rasch um das Gebäude herumschlich. »Niemand zu sehen«, meldete er flüsternd, »außer an den Brückentürmen.«

»Und im Innern?« flüsterte Arutha.

»Keine Ahnung. Es ist ein gewaltiges Haus, hat jedoch bloß eine Tür. Wollt Ihr hinein?« Er hoffte, der Fürst würde nein sagen.

»Ja.«

Jimmy führte Arutha die Wand entlang zu dem einzigen Eingang.

Hinter einem halbkreisförmigen Fenster schimmerte schwaches Licht. Jimmy bedeutete Arutha, ihm zu helfen, und der junge Einbrecher kletterte zu einem Gesims über der Tür hinauf. Von dort spähte er durch das Fenster.

Hinter der Tür unter ihm befand sich eine Art Vorhalle mit Fliesenboden, und an der hinteren Wand eine in der Dunkelheit kaum erkennbare Flügeltür. Jimmy fiel etwas Merkwürdiges an der Wand unter dem Fenster auf! Der äußere Stein war nur Verkleidung!

Der Junge sprang hinunter. »Durchs Fenster ist nichts zu sehen.«

»Nichts?«

»Eine Tür führt in einen dunklen Raum. Das ist alles. Keine Anzeichen von Wachen.«

»Beginnen wir unsere Suche am Ufer, ohne jedoch das Gebäude aus den Augen zu lassen.«

Jimmy nickte, und sie schlichen zum See. Das Gebäude weckte in ihm wieder einmal dieses bekannte Kribbeln, das ihm sagte, etwas stimmte nicht. Aber er beachtete es nicht, um sich ganz auf die Suche nach der Aelebere konzentrieren zu können.

Stunden verbrachten sie am Ufer. Der Pflanzenwuchs war spärlich, und auch im seichten Wasser standen bloß einige Wasserpflanzen. Das Plateau selbst war so gut wie kahl. Aus der Ferne hörten sie hin und wieder ein leises Rascheln, von dem Arutha annahm, daß die anderen Suchtrupps es verursachten.

Als der Himmel zu grauen begann, machte Jimmy den Fürsten auf den nahenden Morgen aufmerksam. Verärgert gab Arutha die Suche auf und kletterte mit dem Jungen zum Spalt zurück. Laurie und Baru befanden sich bereits in der Höhle, und Martin kam mit Roald nur wenige Minuten nach ihnen an. Keiner von ihnen hatte Silberdorn gefunden.

Arutha wandte sich enttäuscht ab und kehrte den anderen den Rücken zu. Dann ballte er die Fäuste, und die Hoffnungslosigkeit war ihm deutlich anzusehen. Aller Augen ruhten auf ihm, während er in die Dunkelheit starrte. Sein Profil zeichnete sich in dem von oben schwach einfallenden Licht ab, und alle bemerkten die Tränen, die ihm über die Wangen rannen. Heftig drehte er sich zu seinen Gefährten um. »Es muß hier sein!« flüsterte er heiser. Er blickte sie der Reihe nach an, und keinem entging, was seine Augen verrieten; ein unendlich tiefes Gefühl, die Furcht, etwas Unersetzliches zu verlieren – die sich auf sie übertrug. Und alle sahen sie sein Leid und das Erlöschen seiner Hoffnung. Wenn sie kein Silberdorn fanden, war Anita verloren.

Martin teilte seines Bruders Schmerz, und er empfand noch mehr, denn in diesem Augenblick sah er ihren Vater vor sich, erinnerte er sich jener Zeit, als Arutha noch nicht alt genug gewesen war, Borrics Verlust seiner geliebten Gemahlin Catherine zu verstehen. Der bei den Elben aufgewachsene Jäger spürte, wie sein Herz sich vor Schmerz verkrampfte. Von den drei Brüdern hatte nur Martin die tiefe Bitterkeit erkannt, die ihren Vater gequält hatte. Wenn Anita starb, würde Aruthas Lebenswille mit ihr sterben. Doch Martin wollte die Hoffnung nicht aufgeben, so flüsterte er: »Es ist ganz sicher hier irgendwo!«

»Es gibt bloß einen Ort, wo wir nicht nachgesehen haben«, sagte Jimmy.

Arutha blickte auf. »In dem Gebäude!«

»Dann bleibt uns nur eines zu tun übrig«, erklärte Martin.

Obwohl er sich dabei unbehaglich fühlte, sagte Jimmy: »Einer von uns muß sich dort umschauen!«