XII

Ich entschied mich nun doch für die Autobahn. Der Mann an der Mautstelle lehnte meine Kreditkarte ab, ich fragte, welchen anständigen Beruf er schwänze, er antwortete, ich solle zahlen und verschwinden, und nahm mein letztes Bargeld. Ich beschleunigte, die Kraft des Motors drückte mich weich in den Sitz. Kaminski nahm seine Brille ab und spuckte wieder aus. Kurz darauf war er eingeschlafen.

Seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, sein Mund stand offen, man sah deutlich seine Bartstoppeln; beide hatten wir uns seit zwei Tagen nicht rasiert. Er begann zu schnarchen. Ich schaltete das Radio ein, ein Jazzpianist spielte immer schnellere Läufe, Kaminski schnarchte tiefer, ich drehte die Lautstärke auf. Gut, daß er jetzt schlief, heute nachmittag würde er nicht in ein Hotel kommen, wir würden sofort wieder zurückfahren. Ich würde Elke das Auto geben, würde, wenn sie wirklich darauf bestand, meine Koffer mitnehmen und Kaminski mit dem Zug nach Hause bringen. Ich hatte alles, was ich brauchte. Nur die zentrale Szene fehlte noch, die große Wiederbegegnung mit Therese in Gegenwart seines Freundes und Biographen.

Ich schaltete das Radio aus. Die Mittellinien strömten uns entgegen, ich überholte zwei Lastwagen auf der rechten Seite. Das alles, dachte ich, war seine Geschichte. Er hatte sie erlebt, nun ging sie zu Ende, und ich war kein Teil davon. Sein Schnarchen stockte einen Moment, als hätte er meine Gedanken gelesen. Sein Leben. Und meines? Seine Geschichte. Hatte ich eine? Ein Mercedes fuhr so langsam, daß ich auf den Pannenstreifen ausweichen mußte; ich hupte, fuhr nach links und zwang ihn zum Abbremsen.

»Aber irgendwo muß ich doch hin.«

Hatte ich das laut gesagt? Ich schüttelte den Kopf. Doch es stimmte ja, irgendwohin mußte ich, und etwas mußte ich tun. Das war das Problem. Ich drückte meine Zigarette aus. Das war es immer gewesen. Die Landschaft hatte sich verändert, längst gab es keine Hügel mehr, auch die Dörfer und Wege verschwanden; mir war, als reisten wir in der Zeit zurück. Wir verließen die Autobahn, eine Weile fuhren wir durch Wald: Baumstämme und die verflochtenen Schatten der Äste. Dann kamen nur noch Schafwiesen.

Wie lange hatte ich das Meer nicht gesehen? Überrascht bemerkte ich, daß ich mich darauf freute. Ich trat auf das Gaspedal, jemand hupte. Kaminski schreckte auf, sagte etwas auf französisch und schlief wieder ein, ein Speichelfaden hing ihm am Mundwinkel. Häuser aus rotem Backstein tauchten auf, und dort war schon das Ortsschild. Eine Frau überquerte hochaufgerichtet die Straße. Ich hielt, kurbelte das Fenster hinunter und fragte nach dem Weg. Mit einer Kopfbewegung wies sie mir die Richtung. Kaminski wachte auf, bekam einen Hustenanfall, schnappte nach Luft, wischte sich den Mund ab und fragte ruhig: »Sind wir da?«

Wir fuhren zum letzten Straßenzug der Ortschaft. Die Nummern schienen ungeordnet, ich mußte die Straße zweimal in ihrer ganzen Länge abfahren, bis ich das richtige Haus fand. Ich hielt an.

Ich stieg aus. Es war windig und kühl, und falls es keine Einbildung war, roch man die Nähe des Meeres.

»War ich hier schon?« fragte Kaminski.

»Wohl nicht.«

Er drückte seinen Stock auf den Boden und versuchte aufzustehen. Er stöhnte. Ich ging um das Auto herum und half ihm. Ich hatte ihn noch nie so gesehen: Sein Mund war verzogen, seine Stirn zerfurcht, er sah erschrocken aus, beinahe ängstlich. Ich kniete mich hin und band seine Schuhbänder zu. Er leckte sich die Lippen, holte die Brille hervor und setzte sie umständlich auf.

»Ich dachte damals, daß ich sterben würde.«

Ich sah ihn überrascht an.

»Und das wäre besser gewesen. Alles andere war falsch. Weitermachen, so tun, als gäbe es noch etwas. Als wäre man nicht tot. Es war so, wie sie geschrieben hat. Sie war immer klüger.«

Ich öffnete meine Tasche und tastete nach dem Diktaphon.

»Dieser Brief war eines Morgens da. Einfach so.«

Mein Daumen berührte die Aufnahmetaste und drückte sie hinunter.

»Und die Wohnung war leer. Sie haben so etwas nie kennengelernt.«

Ob das Gerät durch die Tasche hindurch aufnahm? »Wieso glauben Sie, daß ich so etwas nie kennengelernt habe?«

»Man meint, man hat ein Leben. Und plötzlich ist alles weg. Kunst bedeutet nichts. Alles Illusion. Und man weiß es und muß weitermachen.«

»Gehen wir hinein«, sagte ich.

Es war ein Haus wie die anderen: zwei Stockwerke, ein spitzes Dach, Fensterläden, ein kleiner Vorgarten. Die Sonne war nicht zu sehen, über den Himmel zogen durchscheinende Wolken. Kaminski atmete schwer, besorgt musterte ich ihn. Ich läutete.

Wir warteten. Kaminskis Kiefer bewegten sich, seine Hand strich über den Griff seines Stockes. Und wenn niemand zu Hause war? Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich läutete noch einmal.

Und noch einmal.

Ein dicklicher alter Herr öffnete die Tür. Er hatte dichte weiße Haare und eine knollige Nase, und er trug eine schlabberige Strickjacke. Ich sah Kaminski an, aber der sagte kein Wort. Er stand vorgebeugt, gestützt auf den Stock, den Kopf gesenkt und schien auf etwas zu horchen.

»Vielleicht haben wir die falsche Adresse«, sagte ich. »Wir wollen zu Frau Lessing.«

Der dicke Herr antwortete nicht. Er runzelte die Stirn und sah mich an, sah Kaminski an, sah wieder mich an, als wartete er auf eine Erklärung.

»Wohnt sie hier nicht?« fragte ich.

»Sie weiß, daß wir kommen«, sagte Kaminski.

»So ganz stimmt das nicht«, sagte ich.

Kaminski drehte sich langsam zu mir.

»Wir haben miteinander gesprochen«, sagte ich, »aber ich bin nicht sicher, ob ich das klargemacht habe. Ich meine... grundsätzlich waren wir uns einig, aber...«

»Führen Sie mich zum Wagen.«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst!«

»Führen Sie mich zum Wagen.« So hatte er noch nie geklungen. Ich öffnete den Mund und schloß ihn wieder.

»Aber kommen Sie doch herein!« sagte der alte Herr. »Freunde von Theschen?«

»Sozusagen«, antwortete ich. Theschen?

»Ich bin Holm. Theschen und ich sind... Na ja, wir haben uns zusammengetan. Lebensabend gemeinsam.« Er lachte auf. »Theschen ist drinnen.«

Kaminski an meinem Arm schien sich nicht rühren zu wollen. Ich zog ihn sacht in Richtung der Tür, bei jedem Schritt stieß sein Stock klickend auf den Boden.

»Immer weiter!« sagte Holm. »Legen Sie ab!«

Ich zögerte, aber wir hatten nichts abzulegen. Ein schmaler Flur mit einem bunten Teppich und einer Fußmatte mit der Aufschrift Herzlich Willkommen. An drei Kleiderhaken hingen ein halbes Dutzend Strickjacken, auf dem Boden waren Schuhpaare aufgereiht. Ein Ölbild zeigte einen Sonnenaufgang, unter dem ein schelmischer Hase über ein Blumenbeet hoppelte. Ich holte das Diktaphon hervor und schob es unauffällig in meine Jackentasche.

»Folgen Sie mir!« sagte Holm und ging vor uns ins Wohnzimmer. »Theschen, rate mal!« Er sah sich nach uns um. »Entschuldigung, wie war der Name?«

Ich wartete, aber Kaminski schwieg. »Das ist Manuel Kaminski.«

»Er kennt dich von früher«, sagte Holm. »Erinnerst du dich?«

Ein helles Zimmer mit großen Fenstern. Gardinen mit Blumenmustern, gestreifte Tapeten, ein runder Eßtisch, eine Kredenz, hinter deren Glasscheibe sich Porzellanteller stapelten, ein Fernseher vor Sofa, Lehnstuhl und Couchtisch, an der Wand ein Telefon, daneben die Fotografie eines ältlichen Ehepaares und eine Reproduktion von Botticellis Geburt der Venus. Im Lehnstuhl saß eine alte Frau. Ihr Gesicht war rund, überzogen von Falten und Fältchen, ihre Haare formten einen weißen Ball. Sie trug eine rosa Wolljacke mit einer auf die Brust gestickten Blume, einen karierten Rock und Plüschpantoffeln. Sie schaltete den Fernseher aus und sah uns fragend an.

»Theschen hört nicht so gut«, sagte Holm. »Freunde! Von früher! Kaminski! Erinnerst du dich?«

Sie blickte, immer noch lächelnd, an die Decke. »Natürlich.« Beim Nicken wippte ihre Frisur. »Aus Brunos Firma.«

»Kaminski!« rief Holm.

Kaminski hielt meinen Arm so fest, daß es weh tat.

»Mein Gott«, sagte sie. »Du?«

»Ja«, sagte er.

Ein paar Sekunden war es still. Ihre Hände, winzig und wie aus Holz, strichen über die Fernbedienung.

»Und ich bin Sebastian Zöllner. Wir haben telefoniert. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß wir uns früher oder später...«

»Wollt ihr Kuchen?«

»Was?«

»Kaffee muß man erst machen. Setzt euch doch!«

»Sehr freundlich«, sagte ich. Ich wollte Kaminski zu einem der Sessel führen, aber er rührte sich nicht.

»Ich habe gehört, du bist berühmt geworden.«

»Du hast es vorausgesagt.«

»Was habe ich? Gott, setzt euch doch. Es ist so lange her.« Sie zeigte, ohne einen Finger auszustrecken, auf die freien Stühle. Ich versuchte es noch einmal, Kaminski bewegte sich nicht.

»Wann haben Sie sich denn nun gekannt?« fragte Holm. »Muß lange her sein, Theschen hat nie etwas erzählt. Sie hat eine Menge erlebt.« Sie kicherte. »Doch, kann man schon sagen, da brauchst du nicht rot zu werden! Zweimal verheiratet, vier Kinder, sieben Enkel. Das ist doch was, oder?«

»Ja«, sagte ich, »schon.«

»Ihr macht mich nervös, wenn ihr steht«, sagte sie. »Das ist doch nicht gemütlich. Du siehst nicht gut aus, Miguel, setz dich.«

»Manuel!«

»Ja, ja. Setz dich.«

Mit aller Kraft schob ich ihn auf das Sofa zu, er stolperte vorwärts, griff nach der Lehne, ließ sich nieder. Ich setzte mich neben ihn.

»Zunächst ein paar Fragen«, sagte ich. »Ich möchte von Ihnen wissen...«

Das Telefon läutete. Sie griff nach dem Hörer, rief »Nein!« und legte auf.

»Kinder aus der Nachbarschaft«, sagte Holm. »Sie rufen mit verstellter Stimme an und meinen, wir merken das nicht. Aber da sind sie an den falschen geraten!«

»An den falschen.« Sie lachte spitz. Holm ging hinaus. Ich wartete: Wer von ihnen würde zuerst sprechen? Kaminski saß vorgebeugt da, Therese nestelte lächelnd am Aufschlag ihrer Jacke; einmal nickte sie, als wäre ihr ein interessanter Gedanke durch den Kopf gegangen.

Holm kam mit einem Tablett zurück: Teller, Gabeln, ein bräunlicher flacher Kuchen. Er zerschnitt ihn und gab mir eine Scheibe. Der Kuchen war staubtrocken, schwer zu kauen, fast unmöglich zu schlucken.

»Also.« Ich räusperte mich. »Was haben Sie damals gemacht, nachdem Sie gegangen waren?«

»Gegangen?« fragte sie.

»Gegangen«, sagte Kaminski.

Sie lächelte leer.

»Sie waren plötzlich verschwunden.«

»Klingt ganz nach Theschen«, sagte Holm.

»Ich habe den Zug genommen«, sagte sie langsam, »und bin in den Norden gefahren. Ich habe als Sekretärin gearbeitet. Ich war sehr allein. Mein Chef hieß Sombach, er hat immer zu schnell diktiert, und ich mußte seine Rechtschreibung verbessern. Dann habe ich Uwe getroffen. Wir haben nach zwei Monaten geheiratet.« Sie betrachtete ihre knotigen Hände, auf deren Rücken ein Geflecht von Adern hervortrat. Für einen Moment verschwand ihr Lächeln, und ihr Blick wurde schärfer. »Erinnerst du dich noch an diesen schrecklichen Komponisten?« Ich sah Kaminski an, aber der schien nicht zu wissen, wen sie meinte. Ihre Züge glätteten sich, das Lächeln kehrte zurück. »Jetzt hast du den Kaffee vergessen.«

»Hoppla!« sagte Holm.

»Lassen Sie nur«, sagte ich.

»Wer nicht will, der hat schon«, sagte er und blieb sitzen.

»Wir hatten zwei Kinder. Maria und Heinrich. Aber die kennst du ja.«

»Woher soll ich sie kennen?« fragte Kaminski.

»Uwe hatte einen Autounfall. Jemand ist ihm entgegengekommen, ein Betrunkener, er war gleich tot. Hat nicht gelitten.«

»Das ist wichtig«, sagte Kaminski leise.

»Das Wichtigste. Als ich es hörte, dachte ich, ich sterbe auch.«

»Das sagt sie so«, sagte Holm. »Aber sie ist hart im Nehmen.«

»Zwei Jahre später habe ich Bruno geheiratet. Von ihm sind Eva und Lore. Lore wohnt drüben, in der Parallelstraße. Ihr müßt geradeaus fahren, die dritte links, dann noch einmal links. Dann seid ihr da.«

»Wo?« fragte ich.

»Bei Lore.« Ein paar Sekunden war es still. Wir sahen uns verwirrt an. »Da wolltet ihr doch hin!« Das Telefon läutete, sie hob ab, rief »Nein!« und legte auf. Kaminski faltete die Hände, sein Stock fiel zu Boden.

»In welchem Geschäft sind Sie?« fragte Holm.

»Er ist Künstler«, sagte sie.

»Ach!« Holm zog die Augenbrauen hinauf.

»Er ist bekannt. Du solltest in der Zeitung nicht nur den Sport lesen. Er war sehr gut.«

»Das ist lange her«, sagte Kaminski.

»Diese Spiegel«, sagte sie. »So unheimlich. Das erste Mal, daß du etwas gemacht hast, das nicht...«

»Was mich ärgert«, sagte Holm, »sind diese Bilder, auf denen man nichts erkennt. So etwas malen Sie aber nicht, oder?« Bevor ich mich wehren konnte, schob er mir noch ein Stück Kuchen auf den Teller; fast wäre es heruntergefallen, Krümel rieselten auf meinen Schoß. Er selbst, sagte Holm, habe Kräuterprodukte hergestellt, eine kleine Fabrik: Duschgel, Tees, Creme gegen Muskelkater. Heute gebe es nur wenig Vergleichbares, man müsse sich damit abfinden, ein gewisser Verfall liege im Wesen der Dinge. »Im Wesen der Dinge!« rief er. »Wollen Sie bestimmt keinen Kaffee?«

»Ich habe immer an dich gedacht«, sagte Kaminski.

»Wo es doch so lange her ist«, sagte sie.

»Ich habe mich gefragt...« Er schwieg.

»Ja?«

»Nichts. Du hast recht. Es ist lange her.«

»Was denn?« fragte Holm. »Nun müssen Sie es auch sagen!«

»Erinnerst du dich an deinen Brief?«

»Was ist eigentlich mit deinen Augen?« fragte sie. »Du bist doch Künstler. Ist das nicht schwierig?«

»Ob du dich an den Brief erinnerst!«

Ich bückte mich, hob den Stock auf und schob ihn in seine Hand.

»Wie denn? Ich war so jung.«

»Und?«

Ein nachdenklicher Ausdruck ging über ihr Gesicht. »Ich wußte nichts.«

»So wenig wußtest du nicht.«

»Das will ich meinen«, sagte Holm. »Immer wenn ich Theschen frage...«

»Halten Sie den Mund!« sagte ich. Er sog die Luft ein und starrte mich an.

»Nein, Manuel. Ich erinnere mich wirklich nicht mehr.« Ihre Mundwinkel zogen sich nach oben, ihre Stirn wurde glatt, sie drehte die Fernbedienung in der Hand, ohne die Finger zu krümmen.

»Die beste Geschichte kennen Sie gar nicht«, sagte Holm. »Das war Theschens fünfundsiebzigster Geburtstag, und alle waren da: Kinder, Enkel, endlich einmal alle zusammen. Niemand hat gefehlt. Und als sie dann For she's a jolly good fellow gesungen haben, genau in dem Moment, vor dem großen Kuchen...«

»Fünfundsiebzig Kerzen«, sagte sie.

»So viele nicht, dafür war kein Platz. Wissen Sie, was sie gesagt hat?«

»Es waren aber fünfundsiebzig!«

»Wir müssen gehen«, sagte Kaminski.

»Wissen Sie, was Sie gesagt hat?« Die Türglocke schrillte. »Nanu?« Holm stand auf und ging in den Flur, draußen hörte man ihn schnell und angeregt mit jemandem sprechen.

»Warum bist du nie gekommen?« fragte sie.

»Dominik hat gesagt, du wärst tot.«

»Dominik?« fragte ich. »Sie haben doch behauptet, Sie kennen ihn nicht.« Er runzelte die Stirn, Therese sah mich überrascht an, beide schienen vergessen zu haben, daß ich da war.

»Hat er das?« fragte sie. »Warum?«

Kaminski antwortete nicht.

»Ich war jung«, sagte sie. »Man macht komische Dinge. Ich war jemand anderer.«

»Das warst du wohl.«

»Du hast anders ausgesehen. Du warst größer und... hattest so viel Kraft. Solche Energie. Mir war schwindlig, wenn ich lange bei dir war.« Sie seufzte. »Jung sein ist eine Krankheit.«

»Das Fieber der Vernunft.«

»La Rochefoucauld.« Sie lachte leise. Kaminski lächelte einen Moment. Er beugte sich vor und sagte etwas auf französisch.

Sie lächelte. »Nein, Manuel, nicht für mich. Im Grunde hat alles danach angefangen.«

Ein paar Sekunden war es still.

»Was hast du denn nun gesagt?« fragte er heiser. »Bei deinem Geburtstag?«

»Wenn ich das wüßte!«

Holm kam zurück. »Sie wollte nicht hereinkommen, sie hat gesagt, sie wartet. Möchten Sie jetzt Kaffee?«

»Es ist schon spät«, sagte Kaminski.

»Sehr spät«, sagte ich.

»Sie sind doch gerade erst gekommen!«

»Wir könnten zusammen fernsehen«, sagte sie. »Gleich kommt das Millionenspiel.«

»Köhler ist ein guter Moderator!« sagte Holm.

»Ich habe gelesen, er wird heiraten«, sagte sie.

Kaminski beugte sich vor und reichte mir die Hand, ich half ihm beim Aufstehen. Mir schien, daß er noch etwas sagen wollte; ich wartete, doch er schwieg. Sein Griff um meinen Arm war schwach, kaum zu fühlen. In meiner Tasche spürte ich, ich hatte es fast vergessen, das noch laufende Diktaphon. Ich schaltete ab.

»Sind Sie öfters in der Gegend?« fragte Holm. »Sie müssen wiederkommen. Nicht wahr, Theschen?«

»Ich stelle dir dann Lore vor. Und ihre Kinder. Moritz und Lothar. Sie wohnen in der Parallelstraße.«

»Das ist schön«, sagte Kaminski.

»Was für eine Art Kunst machen Sie eigentlich?« fragte Holm.

Wir gingen in den Flur, Holm öffnete die Haustür. Ich drehte mich um, Therese war uns nachgekommen. »Gute Fahrt, Miguel!« sagte sie und verschränkte die Arme. »Gute Fahrt!«

Wir gingen durch den Vorgarten hinaus. Die Straße war leer, nur eine Frau schlenderte auf und ab. Ich bemerkte, daß Kaminskis Hand zitterte.

»Fahren Sie vorsichtig!« sagte Holm und schloß die Tür.

Kaminski blieb stehen und hob die andere Hand, die den Stock hielt, an sein Gesicht. »Es tut mir leid«, sagte ich leise. Ich brachte es nicht fertig, ihn anzublicken. Es war kalt geworden, ich schloß meine Jacke. Er lehnte schwer an meinem Arm.

»Manuel!« sagte ich.

Er antwortete nicht. Die Frau drehte sich um und kam auf uns zu. Sie trug einen schwarzen Mantel, und ihr Haar flatterte im Wind. Vor Überraschung ließ ich Kaminski los.

»Warum bist du nicht hereingekommen?« fragte Kaminski. Er schien nicht erstaunt.

»Er hat gesagt, ihr wärt gleich fertig. Da wollte ich es nicht in die Länge ziehen.« Miriam sah mich an. »Und jetzt geben Sie mir den Autoschlüssel!«

»Wie bitte?«

»Ich bringe das Auto zurück. Ich hatte ein langes Telefonat mit der Besitzerin. Ich soll Ihnen ausrichten, wenn Sie Schwierigkeiten machen, bekommen Sie eine Diebstahlanzeige.«

»Das war doch kein Diebstahl!«

»Das andere Auto, unseres, wurde inzwischen gefunden. Auf dem Parkplatz einer Raststätte, mit einem sehr höflichen Dankbrief. Wollen Sie ihn?«

»Nein!«

Sie nahm ihren Vater am Arm, ich schloß das Auto auf, sie half ihm auf die Rückbank. Er stöhnte leise, seine Lippen bewegten sich stumm. Sie schlug die Tür zu. Nervös holte ich die Schachtel mit den Zigaretten hervor. Es war nur noch eine einzige darin.

»Ich werde mir erlauben, Ihnen meinen Flug und die Taxifahrt hierher in Rechnung zu stellen. Ich verspreche Ihnen, das wird teuer.« Der Wind zerzauste ihre Haare, ihre Fingernägel waren zerkaut bis hinunter auf das Nagelbett. Die Drohung erschreckte mich nicht. Ich hatte nichts mehr, also konnte sie mir nichts wegnehmen.

»Ich habe nichts Falsches getan.«

»Natürlich nicht.« Sie stütze sich auf das Autodach. »Da ist ein alter Mann, den seine Tochter entmündigt hat, nicht wahr? Niemand hat ihm gesagt, daß seine Jugendliebe noch lebt. Sie wollten bloß helfen.«

Ich hob die Schultern. Im Auto ruckte Kaminskis Kopf vor und zurück, seine Lippen bewegten sich.

»So ist es.«

»Woher, glauben Sie, kenne ich diese Adresse?«

Ich sah sie verwirrt an.

»Ich weiß es seit langem. Ich habe sie schon vor zehn Jahren besucht. Sie hat mir seine Briefe gegeben, und ich habe sie zerrissen.«

»Was haben Sie?«

»Er wollte es. Wir wußten immer, daß jemand wie Sie kommen würde.«

Ich trat noch einen Schritt zurück und spürte den Gartenzaun im Rücken.

»Er wollte sie eigentlich nie wiedersehen. Aber seit der Operation wurde er sentimental. Er hat uns alle gebeten, mich, Bogovic, Clure, jeden, den er kennt. Er kennt nicht mehr viele Leute. Wir wollten es ihm ersparen. Sie müssen etwas gesagt haben, das ihn wieder auf die Idee brachte.«

»Was wollten Sie ihm ersparen? Diese dumme alte Frau zu treffen? Und diesen Idioten?«

»Dieser Idiot ist ein kluger Mann. Ich nehme an, er hat sich bemüht, die Situation zu retten. Sie wissen nicht, wie leicht und gerne Manuel weint. Sie wissen nicht, wie schlimm es hätte werden können. Und diese alte Frau hat sich vor langer Zeit von ihm befreit. Sie hatte ein Leben, für das er keine Bedeutung hatte.« Sie runzelte die Stirn. »Das haben nicht viele geschafft.«

»Er ist schwach und krank. Er manipuliert niemanden mehr.«

»Nein? Als Sie von dem Gefängnis gesprochen haben, mußte ich lachen. Da wußte ich, daß Sie genauso in seiner Hand waren wie wir alle. Hat er Sie nicht dazu gebracht, zwei Autos zu stehlen und ihn durch halb Europa zu fahren?«

Ich nahm die Zigarette zwischen die Lippen. »Zum letzten Mal, ich habe nicht...«

»Hat er Ihnen von dem Vertrag erzählt?«

»Welchem Vertrag?«

Als sie den Kopf drehte, sah ich zum ersten Mal die Ähnlichkeit mit ihrem Vater. »Ich glaube, er heißt Behring. Hans...«

»Bahring?«

Sie nickte. »Hans Bahring.«

Ich faßte an den Gartenzaun. Eine Metallspitze stach in meine Hand.

»Eine Artikelserie in einem Magazin. Über Richard Rieming, Matisse und das Paris der Nachkriegszeit. Erinnerungen an Picasso, Cocteau und Giacometti. Manuel hat stundenlang mit ihm gesprochen.«

Ich warf die Zigarette weg, ohne sie angezündet zu haben. Ich faßte den Zaun fester an, noch fester, so fest ich konnte.

»Das soll aber nicht heißen, daß Sie unser Haus ganz umsonst durchsucht haben.« Ich ließ den Zaun los, über meine Hand lief ein dünnes Rinnsal Blut. »Vielleicht hätten wir es Ihnen früher sagen sollen. Aber Ihnen bleibt ja der Rest: seine Kindheit, die lange Zeit in den Bergen. Sein ganzes Spätwerk.«

»Er hat kein Spätwerk.«

»Richtig«, sagte sie, als wäre ihr das jetzt erst eingefallen. »Dann wird es ein dünnes Buch.«

Ich bemühte mich, ruhig zu atmen. Ich sah in das Auto: Kaminskis Kiefer bewegten sich, seine Hände umklammerten den Stock. »Wohin fahren Sie jetzt?« Meine Stimme schien mir von weit her zu kommen.

»Ich suche ein Hotel«, sagte sie. »Er hat...«

»Seinen Mittagsschlaf versäumt.«

Sie nickte. »Und morgen fahren wir zurück. Ich gebe das Auto zurück, dann nehmen wir den Zug. Er...«

»Fliegt nämlich nicht.«

Sie lächelte. Als ich ihren Blick erwiderte, begriff ich, daß sie Therese beneidete. Daß sie nie ein Leben geführt hatte als seines, daß auch sie ohne Geschichte war. Wie ich. »Seine Medikamente sind im Handschuhfach.«

»Was ist Ihnen passiert?« fragte sie. »Sie sehen anders aus.«

»Anders?«

Sie nickte.

»Kann ich mich von ihm verabschieden?«

Sie trat zurück und lehnte sich an den Gartenzaun. Ich öffnete die Fahrertür. Meine Knie waren immer noch schwach, es tat gut, mich ins Auto zu setzen. Ich schloß die Tür, damit sie uns nicht hören konnte.

»Ich will ans Meer«, sagte Kaminski.

»Sie haben mit Bahring gesprochen.«

»Heißt er so?«

»Sie haben mir nichts davon gesagt.«

»Ein freundlicher junger Mann. Sehr gebildet. Ist das wichtig?«

Ich nickte.

»Ich will ans Meer.«

»Ich wollte mich von Ihnen verabschieden.«

»Kommen Sie nicht mit?«

»Ich denke nicht.«

»Das wird Sie überraschen. Aber ich mag Sie.«

Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Es überraschte mich wirklich.

»Haben Sie noch den Autoschlüssel?«

»Warum?«

Sein Gesicht zerknitterte, seine Nase sah sehr dünn und scharf gezeichnet aus. »Sie wird mich nicht zum Wasser bringen.«

»Und?«

»Ich war noch nie am Meer.«

»Nicht möglich!«

»Als Kind hat es sich nicht ergeben. Später hat es mich nicht interessiert. In Nizza wollte ich nur Matisse sehen. Ich dachte, ich hätte genug Zeit. Jetzt wird sie mich nicht hinbringen. Das ist die Strafe.«

Ich sah zu Miriam hinüber. Sie lehnte am Zaun und sah uns ungeduldig an. Ich zog vorsichtig den Schlüssel aus der Tasche.

»Sind Sie sicher?« fragte ich.

»Sicher.«

»Wirklich?«

Er nickte. Ich wartete noch eine Sekunde. Dann drückte ich den Verriegelungsknopf, und mit einem Klicken schlossen sich alle vier Türen ab. Ich steckte den Schlüssel ins Schloß und ließ den Motor an. Miriam sprang vor und faßte nach dem Türgriff. Während wir anfuhren, rüttelte sie daran, als ich beschleunigte, schlug sie mit der Faust gegen das Fenster, ihre Lippen formten ein Wort, das ich nicht verstand, ein paar Schritte lief sie neben uns, dann sah ich schon im Rückspiegel, wie sie stehenblieb, die Arme fallenließ und uns nachblickte. Plötzlich tat sie mir so leid, daß ich stehenbleiben wollte.

»Nicht halten!« sagte Kaminski.

Die Straße dehnte sich, die Häuser zogen vorbei, schon war das Dorf zu Ende. Die Wiesen öffneten sich. Wir waren im freien Land.

»Sie weiß, wohin wir fahren«, sagte er. »Sie nimmt ein Taxi und kommt uns nach.«

»Warum haben Sie mir nichts von Bahring gesagt?«

»Es ging nur um Paris und den armen Richard. Ihnen bleibt alles andere. Das ist doch genug.«

»Nein, es ist nicht genug.«

Die Straße beschrieb eine weite Kurve, in der Ferne sah ich die künstliche Wölbung eines Deichs. Ich fuhr an den Straßenrand und hielt.

»Was ist?« fragte Kaminski.

»Einen Moment«, sagte ich und stieg aus. Hinter uns zeichneten sich noch die Häuser des Dorfes ab, vor uns war der Deich. Ich breitete die Arme aus. Es roch nach Seetang, der Wind war sehr stark. Ich würde also nicht berühmt werden. Kein Buch würde erscheinen, ich bekam keinen Posten, nicht bei Eugen Manz und nicht anderswo. Ich hatte keine Wohnung mehr, ich hatte kein Geld. Ich wußte nicht, wohin ich gehen sollte. Ich atmete tief ein. Warum war mir so leicht zumute?

Ich stieg wieder ein und fuhr los. Kaminski rückte an seiner Brille. »Wissen Sie, wie oft ich mir diesen Besuch vorgestellt habe?«

»Das Millionenspiel«, sagte ich. »Bruno und Uwe. Herr Holm und seine Kräuterprodukte.«

»Und dieser Sonnenaufgang.«

Ich nickte und rief mir die Szene zurück: das Wohnzimmer, die Tapeten, Holms Geschwätz, das freundliche Gesicht der Alten, das Gemälde im Flur. »Einen Moment. Wieso wissen Sie davon?«

»Wovon?«

»Sie haben mich verstanden. Wieso wissen Sie von dem Bild?«

»Ach, Sebastian.«