VII

Nun fuhr ich also wirklich den BMW. Die Straße lief steil abwärts, die Scheinwerfer holten nur ein paar Meter Asphalt aus der Dunkelheit; die Kurven waren schwierig zu fahren. Wieder eine: Ich riß das Lenkrad herum, die Straße krümmte sich und krümmte sich stärker; ich dachte, nun müsse es vorbei sein, doch sie krümmte sich immer noch; wir kamen gefährlich nahe an den rechten Rand, der Motor gab ein hustendes Geräusch von sich, ich schaltete hinunter, er heulte auf, die Kurve war vorbei.

»Sie müssen früher schalten«, sagte Kaminski.

Ich verkniff mir eine Antwort, schon war die nächste Kurve da, und ich mußte mich konzentrieren: Schalten, etwas weniger Gas, zurückschalten, der Motor gab ein tiefes Brummen von sich, die Straße streckte sich in die Gerade.

»Sehen Sie!« sagte er.

Ich hörte sein Schmatzen, sah aus dem Augenwinkel die Bewegung seiner Kiefer. Er hatte die schwarze Brille aufgesetzt, die Hände im Schoß gefaltet und den Kopf zurückgelegt, über Hemd und Pullover trug er immer noch den Schlafrock. Ich hatte seine Schuhbänder zugebunden und ihn angeschnallt, aber er hatte den Gurt sofort wieder geöffnet. Er sah blaß und aufgeregt aus. Ich öffnete das Handschuhfach und legte das eingeschaltete Diktaphon hinein.

»Wann war Ihre letzte Begegnung mit Rieming?«

»Einen Tag bevor sein Schiff ablegte. Wir gingen spazieren, er trug zwei Mäntel übereinander, weil ihm kalt war. Ich sagte, daß ich Probleme mit dem Sehen hatte, er sagte: ›Üben Sie Ihr Gedächtnis!‹ Er schlug ständig die Hände zusammen, und seine Augen tränten. Chronisch entzündet. Er war sehr besorgt wegen der Reise, er hatte Angst vor dem Wasser. Richard hatte Angst vor allem.«

Plötzlich waren wir in der längsten Kurve, die ich je gesehen hatte: Mir war, als ob wir uns im Kreis drehten, fast eine Minute lang. »Und seine Beziehung zu Ihrer Mutter?«

Er schwieg. Die Häuser des Dorfes tauchten auf: Schwarze Schatten, erleuchtete Fenster, ein Ortsschild, ein paar Sekunden schwebten Straßenlaternen über uns, der Hauptplatz zeigte seine hellen Auslagen. Noch ein Ortsschild, diesmal durchgestrichen, dann wieder Dunkelheit.

»Er war einfach da. Er bekam zu essen, las seine Zeitung und ging abends in sein Zimmer, um zu arbeiten. Mama und er waren immer per Sie.«

Die Kurven wurden weiter. Ich hielt das Lenkrad lockerer und lehnte mich zurück. Allmählich gewöhnte ich mich daran.

»Er hatte natürlich keine Lust, mein Gekritzel in sein Buch aufzunehmen. Aber er hatte Angst vor mir.«

»Wirklich?«

Kaminski kicherte. »Ich war fünfzehn und ein bißchen wahnsinnig. Der arme Richard dachte, ich wäre zu allem fähig. Ein angenehmes Kind war ich jedenfalls nicht!«

Ich schwieg verdrossen. Natürlich wäre das, was er mir da sagte, eine Sensation; aber womöglich wollte er mich nur in die Irre führen, es klang einfach nicht wahrscheinlich. Wen hätte ich fragen können? Neben mir saß der letzte Mensch, der Rieming noch gekannt hatte. Und alles, was dieser außerhalb der Bücher gewesen war - die beiden Mäntel, das Händeklatschen, die Furcht und die tränenden Augen -, würde mit seinem Gedächtnis verschwinden. Und vielleicht würde ausgerechnet ich einmal der letzte sein, der sich noch... Was war los mit mir?

»Mit Matisse war es ähnlich. Er wollte mich hinauswerfen. Aber ich bin nicht gegangen. Meine Bilder haben ihm nicht gefallen. Aber ich bin nicht gegangen! Wissen Sie, wie das ist, wenn jemand einfach nicht geht? So kann man eine Menge erreichen.«

»Ich weiß. Als ich meine Reportage über Wernicke geschrieben habe...«

»Was sollte er also tun? Schließlich schickte er mich zu einem Sammler.«

»Zu Dominik Silva.«

»Ach, er war so groß und in sich versunken und beeindruckend, und mir war es ganz egal. Ein junger Künstler ist etwas Seltsames. Halb verrückt vor Ehrgeiz und Gier.«

Eine letzte Kurve mündete in die Landstraße. Da war schon das Pilzdach des Bahnhofes, das Tal war so schmal, daß die Schienen eng neben der Straße liefen. Ein entgegenkommendes Auto blieb stehen und hupte, ich fuhr achtlos vorbei und bemerkte dann erst, daß ich noch mit Fernlicht fuhr. Ein zweites Auto bremste scharf, ich blendete ab. Ich vermied die Auffahrt zur Autobahn, ich hatte keine Lust, Gebühren zu bezahlen.

Die Straßen waren um diese Zeit ohnehin leer. Schatten von Wäldern, ein lichtloses Dorf; mir war, als reisten wir durch ausgestorbenes Land. Ich öffnete einen Spalt weit das Fenster, ich fühlte mich leicht und unwirklich. Nachts, im Auto, allein mit dem größten Maler der Welt. Wer hätte das vor einer Woche vermutet!

»Darf ich rauchen?«

Er antwortete nicht, er war eingeschlafen. Ich hustete, so laut ich konnte, aber es half nicht, er wachte nicht auf. Ich klopfte auf das Lenkrad. Ich räusperte mich. Ich summte vor mich hin. Er sollte nicht schlafen, er sollte mit mir sprechen! Schließlich gab ich es auf und schaltete das Diktaphon ab. Eine Weile hörte ich seinem Schnarchen zu, dann zündete ich mir eine Zigarette an. Aber auch der Rauch weckte ihn nicht. Wofür brauchte er eigentlich Schlaftabletten?

Ich blinzelte, auf einmal war mir, als wäre ich eingeschlafen, ich fuhr erschrocken auf, doch es war nichts geschehen, Kaminski schnarchte, die Straße war leer, und ich steuerte zurück auf die rechte Seite. Eine Stunde später kam er zu sich und ließ mich halten, weil er hinausmußte. Beunruhigt fragte ich, ob ich helfen sollte, aber er murmelte, das wäre ja noch schöner, stieg aus und nestelte im Streulicht der Scheinwerfer an seiner Hose. Er tastete nach dem Autodach, setzte sich vorsichtig und schlug die Tür zu. Ich fuhr an, und wenige Sekunden später schnarchte er wieder. Einmal murmelte er im Schlaf, sein Kopf ruckte hin und her, er verströmte einen schwachen Altmännergeruch.

Der Morgen ließ nach und nach die Berge hervortreten und den Himmel zurückweichen, in den über die Ebene verteilten Häusern schalteten sich Lichter an und wieder aus. Die Sonne ging auf und kletterte höher, ich klappte die Sichtblende herunter. Bald füllte die Straße sich mit Autos, Lieferwagen, immer wieder auch Traktoren, die ich hupend überholte. Kaminski seufzte.

»Gibt es Kaffee?« fragte er plötzlich.

»Das läßt sich machen.«

Er räusperte sich, blies Luft durch die Nase, bewegte die Lippen und horchte in meine Richtung. »Wer sind Sie?«

Mein Herz setzte einen Sprung aus. »Zöllner!«

»Wohin fahren wir?«

»Zu...« Ich schluckte. »Zu Therese, Ihrer... Zu Therese Lessing. Wir hatten... Sie hatten gestern... diese Idee. Ich wollte helfen.«

Er schien nachzudenken. Seine Stirn zerfurchte sich, sein Kopf zitterte ein wenig.

»Sollen wir zurück?« fragte ich.

Er zuckte die Achseln. Er nahm die Brille ab, faltete sie und steckte sie in die Brusttasche des Schlafrocks. Seine Augen waren geschlossen. Er fingerte an seinen Zähnen. »Bekomme ich Frühstück?«

»Beim nächsten Rasthaus können wir...«

»Frühstück!« wiederholte er und spuckte aus. Einfach so, auf den Boden vor sich. Erschrocken sah ich ihn an. Er hob seine großen Hände und rieb sich die Augen.

»Zöllner«, sagte er heiser, »ja?«

»Richtig.«

»Malen Sie selbst?«

»Nicht mehr. Ich habe es versucht, aber als ich die Aufnahmeprüfung der Hochschule nicht geschafft habe, habe ich aufgehört. Vielleicht ein Fehler! Ich sollte wieder anfangen.«

»Nein.«

»Ich habe Farbkompositionen im Stil von Yves Klein gemacht. Einigen Leuten haben sie gefallen. Aber es wäre natürlich albern, wenn ich ernsthaft damit...«

»Das will ich meinen.« Er setzte umständlich seine Brille auf. »Frühstück!«

Ich zündete noch eine Zigarette an, es schien ihn nicht zu stören. Für einen Moment bedauerte ich das. Ich blies den Qualm in seine Richtung. Ein Schild wies zu einem Rasthaus, ich fuhr auf den Parkplatz, stieg aus und schlug die Tür hinter mir zu.

Ich ließ mir absichtlich Zeit, er sollte ruhig warten. Das Restaurant war staubig und verraucht, es waren kaum Gäste da. Ich verlangte zwei Becher Kaffee und fünf Croissants. »Gut einpacken, den Kaffee nicht zu schwach!« Über ihren Kaffee habe sich noch keiner beschwert, sagte die Kellnerin und warf mir einen trägen Blick zu. Ich sagte, sie müsse mich mit jemandem verwechseln, den das interessiere. Sie fragte, ob ich ihr blöd kommen wolle. Ich sagte, sie solle sich beeilen.

Mühsam balancierte ich die dampfenden Becher und die Papiertasche mit den Croissants zum Wagen. Die hintere Tür stand offen, ein Mann saß auf der Rückbank und sprach auf Kaminski ein. Er war dünn, hatte eine Hornbrille, fettige Haare und vorstehende Zähne. Neben ihm lag ein Rucksack. »Bedenken Sie, lieber Herr!« sagte er. »Vorsicht ist das wichtigste. Das Übel tarnt sich als der leichtere Weg.« Kaminski nickte lächelnd. Ich setzte mich ans Steuer, schlug die Tür zu und sah fragend von einem zum anderen.

»Das ist Karl Ludwig«, sagte Kaminski in einem Ton, als wäre jede weitere Frage überflüssig.

»Sagen Sie Karl Ludwig zu mir.«

»Er wird ein Stück mitfahren«, sagte Kaminski.

»Das geht doch in Ordnung?« fragte Karl Ludwig.

»Wir nehmen keine Anhalter mit!«

Ein paar Sekunden war es still. Karl Ludwig seufzte. »Ich habe es gesagt, lieber Herr.«

»Unsinn!« sagte Kaminski. »Zöllner, wenn mich nicht alles täuscht, ist das mein Auto.«

»Schon, aber...«

»Geben Sie mir den Kaffee! Wir fahren.«

Ich hielt den Becher vor ihn hin, absichtlich ein wenig zu hoch; er tastete danach, fand und nahm ihn. Ich legte ihm die Papiertasche in den Schoß, trank meinen Kaffee aus, er war natürlich doch zu schwach, warf den Becher aus dem Fenster und ließ den Motor an. Parkplatz und Raststätte schrumpften in den Rückspiegel.

»Darf ich mich erkundigen, wohin Sie fahren?« fragte Karl Ludwig.

»Natürlich«, sagte Kaminski.

»Wohin fahren Sie?«

»Das ist persönlich«, sagte ich.

»Das will ich gern glauben, doch...«

»Und damit meine ich, daß es Sie nichts angeht.«

»Sie haben ganz recht.« Karl Ludwig nickte. »Ich entschuldige mich, Herr Zöllner.«

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Herrgott«, sagte Kaminski, »weil ich ihn gerade verwendet habe.«

»Eben deshalb«, sagte Karl Ludwig.

»Erzählen Sie von sich!« sagte Kaminski.

»Da ist nicht viel zu erzählen. Ich hatte es schwer.«

»Wer nicht«, sagte Kaminski.

»Da sprechen Sie etwas Richtiges aus, lieber Herr!« Karl Ludwig rückte an seiner Brille. »Denn sehen Sie, ich war einmal jemand. Scharfer Blick die Welt zu schauen, Mitsinn jedem Herzensdrang, Liebesglut der besten Frauen und ein eigenster Gesang. Und jetzt? Sehen Sie mich an!«

Ich zündete eine Zigarette an. »Wie war das mit den Frauen?«

»Das war Goethe«, sagte Kaminski. »Erkennen Sie eigentlich gar nichts? Geben Sie mir auch eine.«

»Sie dürfen nicht rauchen.«

»Richtig«, sagte Kaminski und streckte die Hand aus. Ich dachte daran, daß es schließlich in meinem Interesse war, und legte eine Zigarette hinein. Ein paar Sekunden lang fühlte ich Karl Ludwigs Blick im Rückspiegel. Ich seufzte und hielt die Schachtel so über meinen Kopf, daß er eine Zigarette herausnehmen konnte. Er griff zu, ich spürte, wie seine Finger sich weich und feucht um die meinen legten, und zog mir die Schachtel aus der Hand.

»He!« rief ich.

»Sie beide, wenn ich das sagen darf, erscheinen mir merkwürdig.«

»Wie meinen Sie das?«

Wieder sein Blick im Spiegel: schmal, konzentriert und hämisch. Er bleckte die Zähne. »Sie sind nicht verwandt, nicht Lehrer und Schüler, auch arbeiten Sie nicht zusammen. Und er...« Er hob einen dünnen Finger und zeigte auf Kaminski, »...kommt mir bekannt vor. Sie nicht.«

»Das wird seine Gründe haben«, sagte Kaminski.

»Ich vermute!« sagte Karl Ludwig. Die beiden lachten. Was ging hier vor?

»Geben Sie die Zigaretten zurück!« sagte ich »Wie unaufmerksam von mir. Bitte entschuldigen Sie.« Karl Ludwig rührte sich nicht. Ich rieb mir die Augen, plötzlich fühlte ich mich schwach.

»Lieber Herr«, sagte Karl Ludwig. »Ein Großteil des Lebens ist Falschheit und Verschwendung. Wir begegnen dem Übel und erkennen es nicht. Wollen Sie mehr hören?«

»Nein«, sagte ich.

»Ja«, sagte Kaminski. »Kennen Sie Hieronymus Bosch?«

Karl Ludwig nickte. »Er hat den Teufel gemalt.«

»Das ist nicht gesichert.« Kaminski setzte sich auf. »Sie meinen die menschenfressende Figur mit dem Nachttopf auf dem Schädel ganz rechts im Garten der Lüste?«

»Weiter oben«, sagte Karl Ludwig. »Der Mann, der aus einem Baum wächst.«

»Interessante Idee«, sagte Kaminski, »die einzige Figur, die aus dem Bild blickt und keinen Schmerz zeigt. Aber da sind Sie auf dem Holzweg.«

Ich sah wütend von einem zum anderen. Wovon redeten sie?

»Das ist nicht der Teufel!« sagte Kaminski. »Sondern ein Selbstporträt.«

»Ist das ein Widerspruch?« fragte Karl Ludwig.

Ein paar Sekunden war es still. Karl Ludwig lächelte im Rückspiegel, Kaminski kaute verdutzt an seiner Unterlippe.

»Ich glaube, Sie sind falsch abgebogen«, sagte Karl Ludwig.

»Sie wissen doch nicht, wohin wir fahren!« sagte ich.

»Wohin fahren Sie denn?«

»Nicht übel«, sagte Kaminski und reichte ihm die Croissants nach hinten. »Der Baummann. Nicht übel!« Karl Ludwig zerriß das Papier und begann gierig zu essen.

»Sie sagten, Sie hatten es schwer«, sagte Kaminski. »Ich erinnere mich noch gut an meine erste Ausstellung. Was für eine Niederlage!«

»Ich habe auch ausgestellt«, sagte Karl Ludwig kauend.

»Wirklich?«

»In privatem Rahmen. Schon lange her.«

»Gemälde?«

»Etwas in der Art.«

»Sie waren sicher gut«, sagte Kaminski.

»Ich denke nicht, daß man das behaupten kann.«

»War es schlimm für Sie?« fragte ich.

»Nun ja«, sagte Karl Ludwig. »Im Prinzip schon. Ich hatte...«

»Ich habe nicht Sie gefragt!« Ein Sportwagen fuhr zu langsam, ich hupte und überholte.

»Es ging«, sagte Kaminski. »Durch Zufall hatte ich keine Geldsorgen.«

»Durch Dominik Silva.«

»Und ich hatte genug Einfälle. Ich wußte, daß meine Zeit kommen würde. Ehrgeiz ist wie eine Kinderkrankheit. Man überwindet ihn und ist gestärkt.«

»Manche überwinden ihn nicht«, sagte Karl Ludwig.

»Außerdem war Therese Lessing noch da«, sagte ich.

Kaminski antwortete nicht. Ich blickte ihn scharf von der Seite an: Seine Züge hatten sich verdunkelt. Im Rückspiegel wischte sich Karl Ludwig mit dem Handrücken den Mund ab, Krümel rieselten auf das Leder der Sitzbank.

»Ich will nach Hause«, sagte Kaminski.

»Entschuldigen Sie!«

»Nichts zu entschuldigen. Bringen Sie mich heim!«

»Vielleicht sollten wir das in Ruhe besprechen.«

Er drehte den Kopf, und für eine lange Sekunde war das Gefühl, daß er mich durch das Schwarz seiner Brille ansah, so stark, daß es mir den Atem nahm. Dann wandte er sich ab, sein Kopf sank auf die Brust, sein ganzer Körper schien zu schrumpfen.

»Gut«, sagte ich leise, »fahren wir zurück.« Karl Ludwig kicherte. Ich blinkte, fuhr von der Straße ab, wendete.

»Weiter«, sagte Kaminski.

»Was?«

»Wir fahren weiter.«

»Aber gerade haben Sie...«

Er zischte, und ich schwieg. Sein Gesicht war hart, wie aus Holz geschnitzt. Hatte er es sich wieder anders überlegt, oder wollte er mir bloß seine Macht zeigen? Aber nein, er war alt und verwirrt, ich durfte ihn nicht überschätzen. Ich wendete ein zweites Mal und fuhr zurück auf die Straße.

»Manchmal findet man schwer zu Entschlüssen«, sagte Karl Ludwig.

»Seien Sie ruhig!« sagte ich. Kaminskis Kiefer mahlten leer, sein Gesicht war wieder schlaff, als wäre nichts geschehen.

»Übrigens«, sagte ich, »ich war in Clairance.«

»Wo?«

»In der Salzmine.«

»Sie geben sich aber Mühe!« rief Kaminski.

»Haben Sie sich dort wirklich verirrt?«

»Ich weiß, es klingt lächerlich. Ich konnte den Führer nicht mehr finden. Bis dahin hatte ich die Sache mit meinen Augen nicht ernst genommen. Aber plötzlich war überall Nebel. Da unten konnte es keinen Nebel geben. Also hatte ich ein Problem.«

»Makuladegeneration?« fragte Karl Ludwig.

»Was?« fragte ich.

Kaminski nickte. »Gut geraten.«

»Erkennen Sie heute gar nichts mehr?« fragte Karl Ludwig.

»Formen, manchmal Farben. Umrisse, wenn ich Glück habe.«

»Haben Sie allein hinausgefunden?« fragte ich.

»Gott sei Dank schon. Ich habe den alten Trick verwendet, immer an der rechten Wand entlangzugehen.«

»Ich verstehe.« An der rechten Wand? Ich versuchte es mir vorzustellen. Wieso sollte das funktionieren?

»Am nächsten Tag war ich beim Augenarzt. Da habe ich es erfahren.«

»Sie dachten wohl, die Welt geht unter«, sagte Karl Ludwig.

Kaminski nickte langsam. »Und wissen Sie was?«

Karl Ludwig beugte sich vor.

»Sie ging unter.«

Die Sonne stand fast im Zenit, die Berge, schon sehr fern, verschwammen im Mittagsdunst. Ich mußte gähnen, eine angenehme Erschöpfung legte sich über mich. Ich begann, von meiner Wernicke-Reportage zu erzählen. Wie ich durch Zufall von dem Fall gehört hatte, am Beginn großer Leistungen steht oft das Glück, wie ich als erster bei dem Haus gewesen war und durch das Fenster gespäht hatte. Ich beschrieb die vergeblichen Versuche der Witwe, mich loszuwerden. Wie immer kam die Geschichte gut an: Kaminski lächelte versonnen, Karl Ludwig betrachtete mich mit offenem Mund. Ich hielt an der nächsten Tankstelle.

Unser Auto war das einzige, das Tankstellenhäuschen klebte niedrig im Grün. Während ich den Tank füllte, stieg Kaminski aus. Er strich stöhnend seinen Schlafrock glatt, preßte eine Hand auf den Rücken, zog den Stock an sich und richtete sich auf. »Führen Sie mich zur Toilette!«

Ich nickte. »Karl Ludwig, aussteigen!«

Karl Ludwig setzte umständlich seine Brille auf und bleckte die Zähne. »Warum?«

»Ich schließe ab.«

»Keine Sorge, ich bleibe im Wagen.«

»Eben deshalb.«

»Wollen Sie ihn beleidigen?« fragte Kaminski.

»Sie beleidigen mich«, sagte Karl Ludwig.

»Er hat Ihnen nichts getan!«

»Ich habe nichts getan.«

»Also lassen Sie den Blödsinn!«

»Ja bitte. Ich bitte Sie.«

Ich seufzte, beugte mich vor, steckte das Diktaphon ein, zog den Autoschlüssel ab, warf Karl Ludwig einen warnenden Blick zu, hängte meine Tasche um und faßte nach Kaminskis Hand. Wieder seine weiche, seltsam sichere Berührung, wieder das Gefühl, daß er eigentlich mich führte. Beim Warten betrachtete ich Werbeplakate: Trink doch Bier!, eine lachende Hausfrau, drei fette Kinder, eine runde Teekanne mit einem lachenden Gesicht. Ich lehnte mich einen Moment an die Wand, ich war doch sehr müde.

Wir gingen zur Kasse. »Ich habe kein Geld dabei«, sagte Kaminski.

Ich biß die Zähne zusammen und holte meine Kreditkarte hervor. Draußen sprang ein Motor an, starb ab, sprang wieder an und entfernte sich; die Frau an der Kasse sah neugierig auf den Monitor der Überwachungskamera. Ich unterschrieb und nahm Kaminski beim Arm. Die Tür öffnete sich zischend.

Ich blieb so abrupt stehen, daß Kaminski fast hingefallen wäre.

Trotzdem: Ich war nicht wirklich überrascht. Mir war, als hätte es so kommen müssen, als erfüllte sich eine bedrückend notwendige Komposition. Ich war nicht einmal erschrocken. Ich rieb mir die Augen. Ich wollte schreien, aber mir fehlte die Kraft. Langsam sank ich in die Knie, setzte mich auf den Boden und stützte den Kopf in die Hände.

»Was denn?« fragte Kaminski.

Ich schloß die Augen. Plötzlich war es mir egal. Mochten er, mein Buch und meine Zukunft zum Teufel gehen! Was hatte ich mit alldem zu schaffen, was ging dieser Greis mich an? Der Asphalt war warm, die Dunkelheit hell gemasert, es roch nach Gras und Benzin.

»Zöllner! Sind Sie gestorben?«

Ich öffnete die Augen. Langsam stand ich auf.

»Zöllner!« brüllte Kaminski. Seine Stimme war hoch und schneidend. Ich ließ ihn stehen und ging wieder hinein. Die Frau an der Kasse lachte, als hätte sie noch nie etwas so Komisches erlebt. »Zöllner!« Sie nahm den Telefonhörer, ich wehrte ab, die Polizei würde uns bloß aufhalten und lästige Fragen stellen. Ich sagte, ich würde mich selbst darum kümmern. »Zöllner!« Sie solle uns nur ein Taxi rufen. Sie tat es, dann wollte sie Geld für das Telefonat. Ich fragte, ob sie verrückt sei, ging hinaus und faßte Kaminski am Ellenbogen.

»Da sind Sie ja! Was ist los?«

»Tun Sie nicht so, als ob Sie das nicht wissen.«

Ich sah mich um. Ein leichter Wind ließ Wellen über die Felder laufen, im Himmel hingen wenige dünne Wolken. Eigentlich war es ein friedlicher Ort. Man hätte hierbleiben können.

Aber da kam schon unser Taxi. Ich half Kaminski auf den Rücksitz und bat den Fahrer, uns zum nächsten Bahnhof zu bringen.