II

Schritte näherten sich, ein Schlüssel wurde herumgedreht, die Tür sprang auf, und eine Frau in einer dreckigen Schürze sah mich prüfend an. Ich sagte meinen Namen, sie nickte und schloß die Tür.

Gerade als ich noch einmal läuten wollte, ging die Tür wieder auf: eine andere Frau, Mitte vierzig, groß gewachsen und mager, schwarze Haare und fast asiatisch schmale Augen. Ich sagte meinen Namen, mit einer knappen Handbewegung bedeutete sie mir, hereinzukommen. »Wir haben Sie erst übermorgen erwartet!«

»Ich habe es früher geschafft.« Ich folgte ihr durch einen möbellosen Flur, an dessen Ende eine Tür offenstand; von dort hörte ich durcheinanderredende Stimmen. »Ich hoffe, das macht keine Umstände.« Ich gab ihr Zeit, damit sie beteuern konnte, es mache keine, aber sie tat es nicht. »Das mit der Straße hätten Sie mir aber sagen können! Ich bin einen Feldweg heraufgekommen, ich hätte abstürzen können. Sie sind die Tochter?«

»Miriam Kaminski«, sagte sie kühl und öffnete eine andere Tür. »Warten Sie bitte!«

Ich ging hinein. Ein Sofa und zwei Stühle, auf dem Fensterbrett ein Radio. An der Wand hing das Ölbild einer dämmrigen Hügellandschaft; vermutlich Kaminskis mittlere Periode, frühe fünfziger Jahre. Über der Heizung war die Wand rußig verfärbt, an ein paar Stellen hingen Staubfäden von der Decke, bewegt von einem nicht spürbaren Luftzug. Ich wollte mich setzen, aber in diesem Moment kamen Miriam und, ich erkannte ihn sofort, ihr Vater herein.

Ich hatte nicht damit gerechnet, daß er so klein war, so winzig und unförmig im Vergleich zu der schlanken Gestalt auf alten Abbildungen. Er trug einen Pullover und eine undurchsichtige schwarze Brille, die eine Hand lag auf Miriams Arm, die andere stützte sich auf einen weißen Spazierstock. Seine Haut war braun und auf ledrige Art faltig, die Wangen hingen schlaff herab, seine Hände wirkten übergroß, die Haare standen wirr um seinen Kopf. Er trug abgewetzte Cordhosen und Turnschuhe, der rechte war nicht zugebunden, und die Schnürsenkel schleiften hinter ihm her. Miriam führte ihn zu einem Stuhl, er tastete nach der Armlehne und setzte sich. Sie blieb stehen und sah mich aufmerksam an.

»Sie heißen Zöllner«, sagte er.

Ich zögerte, es hatte nicht wie eine Frage geklungen, auch mußte ich einen Moment grundloser Schüchternheit überwinden. Ich streckte die Hand aus, begegnete Miriams Blick und zog sie wieder zurück; natürlich, ein dummer Fehler! Ich räusperte mich. »Sebastian Zöllner.«

»Und wir warten auf Sie.«

War das nun eine Frage gewesen? »Wenn es Ihnen recht ist«, sagte ich, »können wir sofort beginnen. Ich habe alle Vorarbeiten gemacht.« Tatsächlich, ich war fast zwei Wochen lang unterwegs gewesen. Ich hatte noch nie soviel Zeit einer einzigen Sache gewidmet. »Sie werden überrascht sein, wie viele alte Bekannte ich gefunden habe.«

»Vorarbeit...!« wiederholte er. »Bekannte.«

Leichte Unruhe stieg in mir auf. Verstand er, was ich sagte? Seine Kiefer bewegten sich, er legte den Kopf schief und schien, aber natürlich war das eine Täuschung, an mir vorbei auf das Bild an der Wand zu sehen. Ich blickte Miriam hilfesuchend an.

»Mein Vater hat wenig alte Bekannte.«

»So wenige nicht«, sagte ich. »Allein in Paris...«

»Sie müssen entschuldigen«, sagte Kaminski. »Ich komme gerade aus dem Bett. Ich habe zwei Stunden lang versucht einzuschlafen, dann habe ich eine Schlaftablette genommen und bin aufgestanden. Ich brauche Kaffee.«

»Du darfst keinen Kaffee trinken«, sagte Miriam.

»Eine Schlaftablette vor dem Aufstehen?« fragte ich.

»Ich warte immer bis zum Schluß, für den Fall, daß ich es allein schaffe. Sie sind mein Biograph?«

»Ich bin Journalist«, sagte ich, »schreibe für mehrere große Zeitungen. Zur Zeit arbeite ich an Ihrer Lebensgeschichte. Ich habe noch ein paar Fragen, von mir aus können wir morgen anfangen.«

»Artikel?« Er hob eine seiner riesigen Hände und strich sich über das Gesicht. Seine Kiefer bewegten sich. »Morgen?«

»Vor allem werden Sie mit mir arbeiten«, sagte Miriam. »Er braucht Ruhe.«

»Ich brauche keine Ruhe«, sagte er.

Ihre andere Hand legte sich auf seine andere Schulter, sie lächelte mich über seinen Kopf hinweg an. »Die Ärzte sehen das anders.«

»Ich bin für jede Hilfe dankbar«, sagte ich vorsichtig.

»Aber natürlich ist Ihr Vater der wichtigste Gesprächspartner. Die Quelle schlechthin.«

»Ich bin die Quelle schlechthin«, sagte er.

Ich rieb mir die Schläfen. Das lief nicht gut. Ruhe? Ich brauchte auch Ruhe, jeder brauchte Ruhe. Lächerlich! »Ich bin ein großer Anhänger Ihres Vaters, seine Bilder haben die Art verändert... wie ich die Dinge sehe.«

»Aber das stimmt doch nicht«, sagte Kaminski.

Ich begann zu schwitzen. Natürlich stimmte das nicht, aber ich hatte noch nie einen Künstler getroffen, der diesen Satz nicht glaubte. »Ich schwöre Ihnen!« Ich legte eine Hand auf mein Herz, erinnerte mich, daß diese Geste bei ihm keine Wirkung haben konnte, und zog sie schnell wieder weg. »Einen größeren Bewunderer als Sebastian Zöllner haben Sie nicht.«

»Wen?«

»Mich.«

»Ach ja.« Er hob den Kopf und senkte ihn wieder, für eine Sekunde war mir, als hätte er mich angesehen.

»Wir sind froh, daß Sie diese Arbeit übernehmen«, sagte Miriam, »es gab mehrere Anfragen, aber...«

»So viele gab es nicht«, sagte Kaminski.

»... Ihr Verleger hat Sie sehr empfohlen. Er hält viel von Ihnen.«

Das war schwer zu glauben. Ich war Knut Megelbach nur einmal in seinem Büro begegnet. Er war händeringend auf und ab gegangen, hatte mit der einen Hand Bücher aus dem Regal genommen und wieder zurückgestellt, mit der anderen das Kleingeld in seiner Hosentasche klimpern lassen. Ich hatte von der bevorstehenden Kaminski-Renaissance gesprochen: Neue Dissertationen würden geschrieben, das Centre Pompidou bereite eine Sonderausstellung vor, und da sei auch der dokumentarische Wert seiner Erinnerungen, man dürfe nicht vergessen, was er noch gesehen, wen er gekannt habe; Matisse sei sein Lehrer, Picasso sein Freund, Richard Rieming, der große Dichter, sein Ziehvater gewesen. Ich sei gut mit Kaminski bekannt, eigentlich sogar befreundet, es bestehe kein Zweifel, daß er freimütig mit mir sprechen würde. Bloß eine Kleinigkeit fehle noch, dann würde alles Interesse sich ihm zuwenden, die Illustrierten würden über ihn schreiben, der Preis seiner Bilder würde steigen und die Biographie ein sicherer Erfolg. »Und was ist das?« hatte Megelbach gefragt. »Was fehlt?« - »Er muß natürlich sterben.« - Eine Weile war Megelbach auf und ab gegangen und hatte nachgedacht. Dann war er stehengeblieben, hatte mich lächelnd angesehen und genickt.

»Das freut mich«, sagte ich. »Knut ist ein alter Freund.«

»Wie heißen Sie noch?« fragte Kaminski.

»Wir müssen ein paar Dinge festlegen«, sagte Miriam. »Wir möchten...«

Das Geräusch meines Mobiltelefons unterbrach sie. Ich zog es aus der Hosentasche, sah die Nummer des Anrufers und schaltete ab.

»Was war das?« fragte Kaminski.

»Wir möchten Sie bitten, uns alles vorzulegen, was Sie veröffentlichen wollen. Als Gegenleistung für unsere Mitarbeit. Einverstanden?«

Ich sah ihr in die Augen. Ich erwartete, daß sie meinem Blick ausweichen würde, aber seltsamerweise hielt sie stand. Nach ein paar Sekunden sah ich auf den Boden, auf meine schmutzigen Schuhe hinunter. »Natürlich.«

»Und was die alten Bekannten angeht, die werden Sie nicht brauchen. Sie haben uns.«

»Leuchtet ein«, sagte ich.

»Morgen bin ich verreist«, sagte sie, »aber übermorgen können wir beginnen. Sie stellen mir Ihre Fragen, wenn es nötig ist, hole ich seine Auskunft ein.«

Ich schwieg ein paar Sekunden. Ich hörte Kaminskis pfeifenden Atem, seine Lippen bewegten sich schmatzend. Miriam sah mich an.

»Einverstanden«, sagte ich.

Kaminski beugte sich vor und bekam einen Hustenanfall, seine Schultern schüttelten sich, er preßte die Hand auf den Mund, sein Gesicht lief rot an. Ich mußte mich zusammennehmen, um ihm nicht auf die Schulter zu klopfen. Als es vorbei war, saß er starr, wie ausgeleert da.

»Dann wäre alles geklärt«, sagte Miriam. »Wohnen Sie im Dorf?«

»Ja«, sagte ich unbestimmt. »Im Dorf.« Wollte sie mich bitten, hier im Haus zu übernachten? Eine schöne Geste.

»Gut, wir müssen jetzt zu den Gästen zurück. Wir sehen uns übermorgen.«

»Sie haben Gäste?«

»Leute aus der Nachbarschaft und unseren Galeristen. Kennen Sie ihn?«

»Ich habe letzte Woche mit ihm gesprochen.«

»Werden wir ausrichten«, sagte sie. Ich hatte das Gefühl, daß sie schon an etwas anderes dachte. Sie drückte mir überraschend fest die Hand und half ihrem Vater beim Aufstehen. Die beiden gingen langsam zur Tür.

»Zöllner.« Kaminski blieb stehen. »Wie alt sind Sie?«

»Einunddreißig.«

»Warum machen Sie das?«

»Was?«

»Journalist. Mehrere große Zeitungen. Was wollen Sie?«

»Ich finde es interessant! Man lernt viel und kann sich mit Dingen beschäftigen, die...«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich würde nichts anderes wollen!«

Er stieß ungeduldig seinen Stock auf den Boden.

»Ich weiß nicht, ich... bin irgendwie hineingeraten. Früher war ich bei einer Werbeagentur.«

»So?«

Das hatte seltsam geklungen; ich sah ihn an und versuchte zu verstehen, was er gemeint hatte. Aber sein Kopf sank auf die Brust, und seine Miene wurde leer. Miriam führte ihn hinaus, und ich hörte, wie ihre Schritte sich entfernten.

Ich setzte mich in den Stuhl, in dem gerade noch der Alte gesessen hatte. Sonnenstrahlen fielen schräg ins Fenster, in ihnen tanzten silberne Staubkörnchen. Es mußte schön sein, hier zu wohnen. Ich stellte es mir vor: Miriam war ungefähr fünfzehn Jahre älter als ich, aber damit konnte ich leben, sie sah noch gut aus. Er würde nicht mehr lange dasein, uns blieben das Haus, sein Geld, sicher auch einige Bilder. Ich würde hier wohnen, den Nachlaß verwalten, vielleicht ein Museum einrichten. Ich hätte endlich Zeit, etwas Großes zu schreiben, ein dickes Buch. Nicht zu dick, doch dick genug für die Romanregale in den Buchhandlungen. Womöglich ein Gemälde meines Schwiegervaters auf dem Cover. Oder doch lieber etwas Klassisches. Vermeer? Titel in dunkler Schrift. Fadenheftung, dickes Papier. Mit meinen Beziehungen würde ich mir ein paar gute Kritiken verschaffen. Ich wiegte den Kopf, stand auf und ging hinaus.

Die Tür am Ende des Flures war nun geschlossen, doch die Stimmen waren noch zu hören. Ich knöpfte mein Jackett zu. Jetzt kam es auf Entschlossenheit an, auf weltmännisches Verhalten. Ich räusperte mich und ging schnellen Schrittes hinein.

Ein großes Zimmer mit gedecktem Tisch und zwei Kaminskis an den Wänden: ein gänzlich abstrakter und eine neblige Städteansicht. Um den Tisch und am Fenster standen Leute mit Gläsern in den Händen. Als ich eintrat, wurde es still.

»Hallo!« sagte ich. »Ich bin Sebastian Zöllner.«

Das brach sofort das Eis; ich spürte, wie die Stimmung sich löste. Ich streckte einem nach dem anderen die Hand entgegen. Da waren zwei ältere Herren, offenbar einer der Honoratioren des Dorfes und ein Bankier aus der Hauptstadt. Kaminski murmelte vor sich hin; Miriam sah mich entgeistert an und schien etwas sagen zu wollen, aber dann schwieg sie. Ein würdevolles englisches Ehepaar stellte sich mir als Mr. und Mrs. Clure, die Nachbarn, vor. »Are you the writer?« fragte ich. - »I guess so«, antwortete er. Und natürlich Bogovic, der Galerist, mit dem ich erst vor zehn Tagen gesprochen hatte. Er gab mir die Hand und betrachtete mich nachdenklich.

»I understand that your new book will appear soon«, sagte ich zu Clure. »What's the title?«

Er warf seiner Frau einen Blick zu. »The Forger's Fear.«

»A brilliant one!« sagte ich und gab ihm einen Klaps auf den Oberarm. »Send it to me, I'll review it!« Ich lächelte Bogovic zu, der aus irgendeinem Grund so tat, als erinnerte er sich nicht an mich; dann wandte ich mich zum Tisch, wo die Haushälterin mit hochgezogenen Brauen noch ein Gedeck auflegte. »Bekomme ich auch ein Glas?« Miriam sagte leise etwas zu Bogovic, er runzelte die Stirn, sie schüttelte den Kopf.

Wir setzten uns zu Tisch. Es gab eine völlig geschmacklose Suppe aus Äpfeln und Gurken. »Anna ist Expertin für meine Diät!« sagte Kaminski. Ich begann von meiner Reise zu erzählen, von der Frechheit des Schaffners heute morgen, der Ahnungslosigkeit der Bahnangestellten, dem erstaunlich wechselhaften Wetter.

»Regen kommt und geht«, sagte Bogovic. »So macht er das.«

»As if in training«, sagte Clure.

Dann erzählte ich von der Pensionsbesitzerin, die tatsächlich nicht gewußt hatte, wer Kaminski war. Man müsse sich das vorstellen! Ich schlug auf den Tisch, Gläser klirrten, mein Temperament wirkte ansteckend. Bogovic rückte seinen Stuhl hin und her, der Bankier redete leise mit Miriam, ich sprach lauter, er verstummte. Anna brachte Erbsen und Maiskuchen, sehr trocken, kaum hinunterzuschlucken, offenbar das Hauptgericht.

Dazu gab es miserablen Weißwein. Ich konnte mich nicht erinnern, je so schlecht gegessen zu haben.

»Robert«, sagte Kaminski, »tell us about your novel!«

»I wouldn't dare call it a novel, it's a modest thriller for unspoilt souls. A man happens to fnd out, by mere chance, that a woman who left him a long time ago...«

Ich begann, von meinem beschwerlichen Aufstieg zu erzählen. Ich imitierte den Traktorfahrer und seinen Gesichtsausdruck, zeigte, wie der Motor ihn durchgeschüttelt hatte. Mein Spiel erregte Heiterkeit. Ich beschrieb meine Ankunft, mein Entsetzen über die Entdeckung der Straße, meine Untersuchung der Briefkästen. »Stellen Sie sich vor! Günzel! Was für ein Name!«

»Wieso?« fragte der Bankier.

»Na hören Sie, so kann man doch nicht heißen!« Ich beschrieb, wie Anna mir die Tür geöffnet hatte. In diesem Moment kam sie mit der Nachspeise herein; natürlich erschrak ich, aber ich wußte instinktiv, daß es ein großer Fehler gewesen wäre, einfach zu verstummen. Ich machte ihr Glotzen nach, zeigte, wie sie die Tür vor mir zugeschlagen hatte. Ich wußte genau, daß der Imitierte sich selbst stets als letzter wiedererkennt. Und wirklich: Sie stellte das Tablett so fest ab, daß es klirrte, und ging hinaus. Bogovic starrte aus dem Fenster, der Bankier hatte die Augen geschlossen, Clure rieb sich das Gesicht. In der Stille hörte man sehr laut Kaminskis Schmatzen.

Beim Dessert, einer zu süßen Schokoladencreme, erzählte ich von einer Reportage, die ich über den so spektakulär verstorbenen Künstler Wernicke geschrieben hatte. »Sie kennen doch Wernicke?« Seltsamerweise kannte ihn niemand. Ich beschrieb den Moment, als die Witwe einen Teller nach mir geworfen hatte, einfach so, in ihrem Wohnzimmer, sie hatte mich an der Schulter getroffen, und es hatte ziemlich weh getan. Ehefrauen, erklärte ich, seien überhaupt der Alptraum jedes Biographen, und einer der Gründe, warum diese neue Arbeit für mich so erfreulich sei, sei eben die Abwesenheit ... Aber man würde mich schon verstehen!

Kaminski machte eine Handbewegung, wie auf Befehl standen alle auf. Wir traten auf die Terrasse. Die Sonne sank in den Horizont, die Berghänge traten dunkelrot hervor. »Amazing!« sagte Mrs. Clure, ihr Mann strich ihr sanft über die Schulter. Ich trank mein Weinglas aus und sah mich nach jemandem um, der nachschenken würde. Ich fühlte mich angenehm müde. Ich hätte jetzt heimgehen und noch einmal die Tonbänder mit den Gesprächen der letzten zwei Wochen anhören müssen. Aber ich hatte keine Lust. Vielleicht würden sie mich ja doch einladen, hier oben zu übernachten. Ich stellte mich neben Miriam und sog die Luft ein. »Chanel?«

»Wie bitte?«

»Ihr Parfüm.«

»Wie? Nein.« Sie schüttelte den Kopf und trat von mir weg. »Nein!«

»Sie sollten gehen, solange Sie noch Licht haben«, sagte Bogovic.

»Ich komme schon zurecht.«

»Sie finden sonst nicht zurück!«

»Wissen Sie das aus Erfahrung?«

Bogovic grinste. »Ich bin nie zu Fuß unterwegs.«

»Die Straße ist nicht beleuchtet«, sagte der Bankier.

»Jemand könnte mich mit dem Auto mitnehmen«, schlug ich vor.

Ein paar Sekunden war es still.

»Die Straße ist nicht beleuchtet«, wiederholte der Bankier.

»Er hat recht«, sagte Kaminski heiser. »Sie sollten hinunter.«

»It's much safer«, sagte Clure.

Ich hielt mein Glas fester und blickte von einem zum anderen. Zwischen ihren Silhouetten spielte das Abendrot. Ich räusperte mich, jetzt war der Moment, da jemand mich auffordern mußte, zu bleiben. Ich räusperte mich noch einmal. »Also dann... mache ich mich auf den Weg.«

»Folgen Sie der Straße«, sagte Miriam. »Nach einem Kilometer kommt ein Wegweiser, dort biegen Sie links ab, in zwanzig Minuten sind Sie da.«

Ich warf ihr einen wütenden Blick zu, stellte das Glas auf den Boden, knöpfte mein Jackett zu und ging los. Nach ein paar Schritten hörte ich sie alle hinter mir auflachen. Ich horchte, aber ich konnte schon nichts mehr verstehen; der Wind trug mir nur einzelne Wortfetzen zu. Mir war kalt. Ich ging schneller. Ich war froh, wegzukommen. Ekelhafte Speichellecker, widerlich, wie sie sich anbiederten! Der alte Mann tat mir leid.

Es wurde wirklich sehr rasch dunkel. Ich mußte die Augen zusammenkneifen, um den Lauf der Straße auszumachen; ich spürte Gras unter mir, blieb stehen, tastete mich vorsichtig zurück auf den Asphalt. Im Tal waren schon deutlich die Lichtpunkte der Laternen zu sehen. Dort war der Wegweiser, schon nicht mehr lesbar, da der Pfad, auf dem ich hinuntermußte.

Ich rutschte aus und schlug der Länge nach hin. Vor Wut packte ich einen Stein und schleuderte ihn in die Schwärze des Tals. Ich rieb mir das Knie und stellte mir vor, wie er fiel und andere Steine mitnahm, mehr davon und mehr, bis schließlich ein Hangrutsch irgendwo einen arglosen Spaziergänger begrub. Der Gedanke gefiel mir, und ich warf noch einen Stein. Ich war unsicher, ob ich noch auf dem Weg war, unter mir löste sich Schotter, fast wäre ich wieder gefallen. Mir war kalt. Ich bückte mich, befühlte den Boden, spürte die hartgetretene Erde des Weges. Sollte ich mich einfach hinsetzen und auf den Tagesanbruch warten? Ich würde vielleicht erfrieren und mich noch vorher zu Tode langweilen, aber immerhin würde ich nicht abstürzen.

Nein, das kam nicht in Frage! Blind setzte ich einen Fuß vor den anderen, schob mich in winzigen Schritten vorwärts, hielt mich an Büschen fest. Gerade als ich überlegte, um Hilfe zu rufen, formten sich die Konturen einer Hausmauer und eines flachen, steingedeckten Daches. Und dann sah ich Fenster, Licht schimmerte durch zugezogene Vorhänge, ich war auf einer erleuchteten Straße. Ich bog um die Ecke und stand auf dem Dorfplatz. Zwei Männer in Lederjacken sahen mich neugierig an, auf dem Balkon eines Hotels drückte eine Frau mit Lockenwicklern einen winselnden Pudel an sich.

Ich stieß die Tür der Pension Schönblick auf und sah mich nach der Wirtin um, aber sie war nicht zu sehen, die Rezeption leer. Ich nahm meinen Schlüssel und ging die Treppe hinauf in mein Zimmer. Neben dem Bett stand mein Koffer, an den Wänden hingen Aquarelle, die Kühe darstellten, eine Edelweißblüte, einen Bauern mit struppig weißem Bart. Von dem Sturz war meine Hose schmutzig, und eine andere hatte ich nicht mit, aber das würde sich abklopfen lassen. Ich brauchte sofort ein heißes Bad.

Während die Wanne vollief, packte ich das Diktaphon, die Schachtel mit den Gesprächskassetten und den Bildband Manuel Kaminski, das Gesamtwerk aus. Ich hörte die Nachrichten auf meinem Mobiltelefon ab: Elke bat mich, sofort anzurufen. Der Kulturredakteur der Abendnachrichten brauchte so bald wie möglich den Bahring-Verriß. Dann noch einmal Elke: Sebastian, ruf an, es ist wichtig! Und ein drittes Mal: Bastian, bitte! Ich nickte versonnen und schaltete das Telefon ab.

Im Badezimmerspiegel betrachtete ich mit einem vage unzufriedenen Gefühl meine Nacktheit. Ich legte den Bildband neben die Wanne. Der Schaum, leise knisternd, roch süßlich und angenehm. Langsam glitt ich ins Wasser, für ein paar Sekunden nahm mir die Hitze den Atem; mir war, als triebe ich in ein weites, unbewegtes Meer. Dann tastete ich nach dem Buch.