IV

»Wen?«

»Kaminski. Manuel K-A-M-I-N-S-K-I. Sie haben ihn gekannt?«

»Manuel. Ja. Ja, ja.« Die Alte lächelte ausdruckslos. »Wann war das?«

»War was?«

Sie drehte mir ein wächsern verschrumpeltes Ohr zu. Ich beugte mich vor und schrie: »Wann!«

»Mein Gott! Dreißig Jahre.«

»Es müssen über fünfzig sein.«

»Soviel nicht.«

»Doch. Sie können nachrechnen!«

»Er war sehr ernst. Dunkel. Immer irgendwie im Schatten. Dominik hat uns vorgestellt.«

»Gnädige Frau, was ich eigentlich fragen wollte...«

»Haben Sie Pauli gehört?« Sie zeigte auf einen Vogelkäfig. »Er singt so schön. Sie schreiben über das alles?«

»Ja.«

Der Kopf sank ihr hinunter, einen Moment dachte ich, sie wäre eingeschlafen, doch dann zuckte sie und richtete sich wieder auf. »Er sagte immer, er würde lange unbekannt sein. Dann berühmt, dann wieder vergessen. Sie schreiben darüber? Dann schreiben Sie auch... daß wir es nicht wußten.«

»Was?«

»Daß man so alt werden kann.«

»Wie war noch der Name?«

»Sebastian Zöllner.«

»Von der Universität?«

»Ja... von der Universität.«

Er schnaufte, seine Hand wanderte schwer über seine Glatze. »Lassen Sie mich überlegen. Kennengelernt? Ich habe Dominik gefragt, wer der arrogante Kerl ist, er sagte Kaminski, als hätte das etwas zu bedeuten. Sie wissen vielleicht, man hatte schon Kompositionen von mir aufgeführt.«

»Interessant«, sagte ich müde.

»Meist hat er nur vor sich hin gelächelt. Wichtigtuer. Sie kennen solche Leute, die sich für groß halten, bevor sie noch irgend etwas... Und dann erfüllt sich das auch, mundus vult decipi. Ich habe an einer Symphonie gearbeitet, ein Quartett von mir war in Donaueschingen aufgeführt worden, und Ansermet hatte zugesagt...«

Ich räusperte mich.

»Ja, Kaminski. Deshalb sind Sie ja hier. Sie sind ja nicht wegen mir hier. Sondern wegen ihm, ich weiß. Einmal mußten wir seine Bilder ansehen, bei Dominik Silva zu Hause, er hatte dieses Appartement in der Rue Verneuil. Kaminski selbst saß gähnend in der Ecke und tat so, als wäre ihm alles langweilig. Vielleicht war es das auch, könnte ich ihm nicht verdenken.

Sagen Sie, von welcher Universität kommen Sie eigentlich?«

*

»Habe ich richtig verstanden«, fragte Dominik Silva, »daß Sie für das Essen bezahlen?«

»Bestellen Sie, was Sie möchten!« sagte ich überrascht. Hinter uns brausten die Autos in Richtung Place des Vosges vorbei, die Kellner schlängelten sich geschickt zwischen den Korbstühlen hindurch.

»Ihr Französisch ist gut.«

»Es geht.«

»Manuels Französisch war immer furchtbar. Ich habe nie jemanden getroffen, der so unbegabt für Sprachen war.«

»Sie waren nicht leicht zu finden.« Er sah dürr und zerbrechlich aus, seine Nase saß spitz auf einem eigentümlich nach innen gewölbten Gesicht.

»Ich lebe unter anderen Bedingungen als früher.«

»Sie haben viel für Kaminski getan«, sagte ich vorsichtig.

»Überschätzen Sie das nicht. Wenn nicht ich, dann ein anderer. Leute wie er finden immer Leute wie mich. Er war ja kein reicher Erbe. Sein Vater, ein Schweizer polnischer Abstammung oder umgekehrt, ich weiß nicht mehr, ging vor seiner Geburt in Konkurs und starb, seine Mutter wurde später von Rieming unterstützt, aber viel hatte der auch nicht. Manuel brauchte immer Geld.«

»Sie haben seine Miete bezahlt?«

»Das kam vor.«

»Und heute sind Sie... nicht mehr vermögend?«

»Zeiten ändern sich.«

»Woher kannten Sie ihn?«

»Von Matisse. Ich hatte ihn in Nizza besucht, er sagte mir, es gäbe einen jungen Maler in Paris, Protegé von Richard Rieming.«

»Und seine Bilder?«

»Nicht umwerfend. Aber ich dachte, das wird sich ändern.«

»Warum?«

»Eher seinetwegen. Er machte einfach den Eindruck, als könnte man etwas von ihm erwarten. Zu Beginn malte er ziemlich schlechtes Zeug, überfrachteter Surrealismus. Das änderte sich mit Therese.« Seine Lippen preßten sich aufeinander; ich fragte mich, ob er noch Zähne im Mund hatte. Immerhin hatte er gerade ein Steak bestellt.

»Sie meinen Adrienne«, sagte ich.

»Ich weiß, wen ich meine. Das überrascht Sie vielleicht, aber ich bin nicht senil. Adrienne kam später.«

»Wer war Therese?«

»Mein Gott, alles! Sie hat ihn vollkommen verändert, auch wenn er das nie zugeben würde. Sie haben sicher von seinem Erlebnis in der Salzmine gehört, er redet ja oft genug davon.«

»Ich fahre übermorgen hin.«

»Tun Sie das, es wird Ihnen gefallen. Aber Therese war wichtiger.«

»Das wußte ich nicht.«

»Dann sollten Sie von vorne anfangen.«

*

»Nun mal ganz offen. Halten Sie ihn für einen großen Maler?«

»Aber sicher.« Ich begegnete Professor Komenews Blick. »In Grenzen!«

Komenew faltete die Hände hinter dem Kopf, sein Stuhl kippte mit einem Ruck nach hinten. Sein Bärtchen stand spitz und leicht gesträubt von seinem Kinn ab. »Also der Reihe nach. Über die frühen Bilder müssen wir keine Worte verlieren. Dann die Reflexionen. Sehr ungewöhnlich für diese Zeit. Technisch großartig. Aber doch ziemlich steril. Eine gute Grundidee, zu oft, zu genau und zu minutiös durchgeführt, und der Altmeistergestus mit den Tempera macht es auch nicht besser. Etwas zuviel Piranesi. Dann das Chromatische Licht, der Spaziergänger, die Straßenansichten. Auf den ersten Blick fabelhaft. Aber thematisch nicht gerade subtil. Und seien wir ehrlich, wenn man nicht von seiner Erblindung wüßte...« Er hob die Schultern. »Sie kennen die Bilder im Original?«

Ich zögerte. Ich hatte darüber nachgedacht, nach New York zu fliegen, aber das war ziemlich teuer, und außerdem - wozu gab es Bildbände? »Natürlich!«

»Dann wird Ihnen der ziemlich unsichere Strich aufgefallen sein. Er dürfte starke Lupen verwendet haben. Kein Vergleich zur technischen Perfektion von früher. Und danach? Ach Gott, darüber ist das Urteil ja schon gesprochen. Kalenderbilder! Haben Sie den schrecklichen Hund am Meer gesehen, diese Goya-Imitation?«

»Also zunächst zuviel Technik und zuwenig Gefühl, dann umgekehrt.«

»Könnte man sagen.« Er zog die Hände hinter dem Nacken hervor, der Stuhl kippte in die Waagrechte. »Vor zwei Jahren habe ich ihn noch einmal im Seminar behandelt. Die jungen Leute waren ratlos. Er hatte ihnen nichts mehr zu sagen.«

»Haben Sie ihn je getroffen?«

»Nein, wozu? Als meine Anmerkungen zu Kaminski herauskamen, habe ich ihm das Buch geschickt. Er hat nie geantwortet. Hielt er nicht für nötig! Wie gesagt, er ist ein guter Maler, und die sind zeitgebunden. Nur große sind das nicht.«

»Sie hätten hinfahren müssen«, sagte ich.

»Bitte?«

»Es bringt nichts, zu schreiben und auf Antwort zu warten. Man muß zu ihnen fahren. Man muß sie überfallen. Als ich mein Porträt über Wernicke geschrieben habe... Kennen Sie Wernicke?«

Er sah mich mit gerunzelter Stirn an.

»Es war ja gerade erst passiert, und seine Familie wollte nicht mit mir reden. Aber ich bin nicht weggegangen. Ich stand vor der Haustür und habe ihnen gesagt, daß ich auf jeden Fall über seinen Selbstmord schreiben würde und daß sie nur die Wahl hatten, mit mir zu reden oder nicht. ›Wenn Sie es nicht wollen‹, habe ich gesagt, ›bedeutet das auch, daß Ihr Standpunkt nicht vorkommt. Wenn Sie aber bereit wären...‹«

»Entschuldigung.« Komenew beugte sich vor und sah mich scharf an. »Wovon reden Sie eigentlich?«

*

»Lange dauerte es nicht. Nach einem Jahr war das mit Therese vorbei.«

Der Kellner brachte das Steak mit Bratkartoffeln, Silva griff gierig nach dem Besteck und begann zu essen, sein Hals zitterte beim Schlucken. Ich bestellte noch eine Coca-Cola.

»Sie war wirklich etwas Besonderes. Sie hat in ihm nie gesehen, was er war, sondern was er werden konnte. Und dann hat sie ihn dazu gemacht. Ich erinnere mich noch, wie sie ein Bild von ihm angesehen und ganz leise gesagt hat: ›Müssen es immer Adler sein?‹ Sie hätten hören müssen, wie sie ›Adler‹ ausgesprochen hat. Das war das Ende seiner symbolistischen Phase. Sie war wunderbar! Die Ehe mit Adrienne war nur ein mißlungenes Spiegelbild davon, sie sah Therese ein wenig ähnlich. Muß ich mehr sagen? Wenn Sie mich fragen, ist er nie über sie hinweggekommen. Wenn jedes Leben seine entscheidende Katastrophe hat...« Er hob die Schultern. »... dann war das seine.«

»Aber seine Tochter ist von Adrienne.«

»Als sie dreizehn war, starb ihre Mutter.« Er blickte ins Leere, als ob die Erinnerung ihn schmerzte. »Dann kam sie zu ihm in dieses Haus am Ende der Welt, und seither kümmert sie sich um alles.« Er schob sich ein zu großes Stück Fleisch in den Mund, es dauerte eine Weile, bis er wieder sprechen konnte; ich bemühte mich, nicht hinzusehen. »Manuel hätte immer die Menschen gefunden, die er brauchte. Er hielt es für etwas, das die Welt ihm schuldig war.«

»Warum hat Therese ihn verlassen?«

Er antwortete nicht. Vielleicht war er schwerhörig. Ich schob das Diktaphon näher zu ihm. »Warum...«

»Was weiß ich! Herr Zöllner, es gibt so viele Erklärungen, so viele Versionen von allem, am Ende ist die Wahrheit das banalste. Niemand weiß, was geschehen ist, und keiner hat eine Ahnung, was ein anderer über ihn denkt! Wir sollten aufhören. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, daß man mir zuhört.«

Ich sah ihn überrascht an. Seine Nase zitterte, er hatte das Besteck weggelegt und sah mich aus hervortretenden Augen an. Was hatte ihn so aufgebracht? »Da wären noch ein paar Fragen«, sagte ich vorsichtig.

»Merken Sie das nicht? Wir reden über ihn, als wäre er schon tot.«

*

»Einmal wurde ein neues Stück aufgeführt.« Er setzte sich gerade, rieb sich die Glatze, strich über sein Doppelkinn und legte die Stirn in Falten. Fang noch einmal von deinen Kompositionen an, dachte ich, und ich stecke dir das Diktaphon ins Maul!

»Er kam mit Therese Lessing zur Uraufführung. Eine außergewöhnlich intelligente Frau eigentlich, ich könnte gar nicht sagen, was sie an ihm... Es war Avantgarde im besten Sinn, eine Art schwarze Messe, blutbeschmierte Darsteller, Pantomime unter einem umgedrehten Kreuz, aber die beiden haben die ganze Zeit gelacht. Zunächst kicherten sie und nahmen allen anderen die Konzentration, dann brüllten sie los. Bis sie hinausgeworfen wurden. Aber natürlich, die Atmosphäre war beim Teufel, oder eben nicht beim Teufel, Sie verstehen, jedenfalls war es vorbei. Nach Thereses Tod hat er geheiratet, und nachdem seine Frau, verständlich, zu Dominik gegangen war, habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

»Zu Dominik?«

»Wissen Sie das nicht?« Er runzelte die Stirn, seine Augenbrauen wölbten sich buschig, sein Kinn machte einen kleinen Sprung. »Wie recherchieren Sie überhaupt? Zu meinen Konzerten ist er ja nie erschienen, das hat ihn nicht interessiert. So eine Zeit kommt nie wieder. Ansermet wollte meine symphonische Suite dirigieren, aber das kam nicht zustande, weil... Wie, jetzt schon? Bleiben Sie doch, ich habe ein paar interessante Schallplatten. Die bekommen Sie heute nirgendwo sonst zu hören!«

*

»Was halten Sie eigentlich von seinen Bildern?« Professor Mehring sah mich aufmerksam über den Rand seiner Brille an.

»Zunächst zuviel Technik und zuwenig Gefühl«, sagte ich. »Später umgekehrt.«

»Das sagt Komenew auch. Aber ich halte es für falsch.«

»Ich auch«, sagte ich schnell. »Ein schlimmes Vorurteil!«

»Und Komenew hat vor zwanzig Jahren ganz anders geklungen. Aber damals war Kaminski in Mode. Ich habe ihn vor einem Jahr an der Hochschule durchgenommen. Die Studenten waren begeistert. Ich glaube auch, daß seinem Spätwerk Unrecht geschehen ist. Die Zeit wird das in Ordnung bringen.«

»Sie waren sein Assistent?«

»Nur kurz. Ich war neunzehn, mein Vater kannte Bogovic, der hat mich vermittelt. Ich mußte die Pigmente anreiben. Er bildete sich ein, daß er intensivere Farben bekäme, wenn wir das selbst machten. Wenn Sie mich fragen, purer Spleen. Aber ich durfte dort oben bei ihm wohnen, und wenn Sie es wissen wollen, ich war ziemlich verliebt in seine Tochter. Sie war so schön, und eigentlich sah sie nie jemanden außer ihm. Aber sie hatte nicht viel Interesse für mich.«

»Sie waren dabei, wenn er malte?«

»Er mußte große Lupen verwenden, er hatte sie am Kopf befestigt wie ein Juwelier. Er war ziemlich nervös, manchmal hat er vor Wut seine Pinsel zerbrochen, und wenn er das Gefühl hatte, daß ich mit der Arbeit zu langsam war... Na ja, wir können uns wohl schwer vorstellen, was er durchmachte! Er hatte jedes Bild genau geplant, hatte eine Menge Skizzen, aber beim Mischen bekam er es nicht mehr richtig hin. Nach einem Monat habe ich gekündigt.«

»Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«

»Ich schicke Weihnachtskarten.«

»Antwortet er?«

»Miriam antwortet. Ich nehme an, mehr ist nicht zu erreichen.«

*

»Ich habe aber nur zehn Minuten.« Bogovic strich unruhig über seinen Bart. Vor dem Fenster zeichnete sich die Mauer des Palais Royal ab, über dem Schreibtisch hing eine von David Hockney skizzierte kalifornische Villa. »Ich kann nur sagen, ich liebe ihn wie einen Vater. Nehmen Sie das ruhig auf! Einen Vater. Kennengelernt habe ich ihn Ende der sechziger Jahre, Papa führte noch die Galerie, er war so stolz, daß er Kaminski bekommen hatte. Manuel kam damals mit dem Zug, er fliegt ja nicht. Trotzdem reist er gerne. Er hat weite Fahrten gemacht, natürlich braucht er jemanden, der ihn chauffiert. Er mag Abenteuer! Wir hatten seine großen Landschaftsbilder in Kommission. Wahrscheinlich das beste, was er gemacht hat. Zwei hätte fast das Musée d'Orsay genommen.«

»Was ist passiert?«

»Nichts, sie haben sie nicht genommen. Herr Zollner, ich habe...«

»Zöllner!«

»...viele kreative Leute kennengelernt. Gute Leute. Aber nur ein Genie.«

Die Tür öffnete sich, eine Assistentin mit enger Bluse kam herein und legte ein beschriebenes Blatt hin; Bogovic betrachtete es ein paar Sekunden, dann legte er es weg. Ich sah sie an und lächelte, sie sah weg, aber ich bemerkte doch, daß ich ihr gefiel. Sie war rührend schüchtern. Als sie hinausging, lehnte ich mich unauffällig zur Seite, damit sie mich im Gehen streifte, aber sie wich aus. Ich zwinkerte Bogovic zu, er runzelte die Stirn. Wahrscheinlich war er homosexuell.

»Ich fahre zweimal im Jahr zu ihm«, sagte er, »nächste Woche ist es wieder soweit. Seltsam, daß er sich so zurückgezogen hat. Papa hätte ihm hier oder in London eine Wohnung besorgt. Aber er wollte nicht.«

»Ist er völlig blind?«

»Wenn Sie es herausfinden, sagen Sie es mir! Es ging ihm nicht gut in letzter Zeit, schwere Bypaßoperation. Ich war selbst dort, im Krankenhaus... Nein, stimmt nicht, das war bei Papa. Aber ich hätte es auch für ihn getan. Wie gesagt, ich liebe diesen Mann. Meinen Vater habe ich nicht geliebt. Manuel Kaminski ist der größte. Manchmal glaube ich«, er zeigte auf das Bild der Villa, »David ist der größte. Oder Lucian oder irgendwer.

Manchmal meine ich sogar, daß ich der größte bin. Aber dann denke ich an ihn und weiß, wir sind nichts.« Er zeigte auf ein Gemälde an der Wand gegenüber: Eine gebeugte Gestalt saß an der Küste eines dunklen Ozeans, neben ihr stand ein riesiger, eigentümlich aus der Perspektive gedrehter Hund. »Das kennen Sie, oder? Der Tod am fahlen Meer. Das verkaufe ich nie.«

Mir fiel ein, daß Komenew von diesem Bild gesprochen hatte. Oder Mehring? Ich erinnerte mich nicht, was darüber gesagt worden war und ob es mir gefallen sollte. »Sieht nicht nach Kaminski aus«, sagte ich unüberlegt.

»Wieso?«

»Weil er... Weil...« Ich betrachtete meine Handflächen. »Wegen... des Strichs. Sie wissen schon, des Strichs. Was wissen Sie von Therese Lessing?«

»Den Namen habe ich nie gehört.«

»Wie ist er in Verhandlungen?«

»Das macht alles Miriam. Schon seit sie siebzehn war. Sie ist besser als Anwalt und Ehefrau zusammen.«

»Sie hat nie geheiratet.«

»Und?«

»Sie lebt schon so lange bei ihm. In den Bergen, abgeschnitten von allem. Richtig?«

»Wird schon so sein«, sagte er kühl. »Jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Nächstes Mal sollten Sie sich vielleicht einen Termin geben lassen und nicht einfach...«

»Natürlich!« Ich stand auf. »Ich bin nächste Woche auch dort. Er hat mich eingeladen.« Bogovic' Händedruck war weich und ein wenig feucht. »Nach Arkadien!«

»Wohin?«

»Wenn ich reich werde, kaufe ich Ihnen Tod am fahlen Meer ab. Egal, was es kostet.«

Er sah mich wortlos an.

»Nur ein Scherz!« sagte ich fröhlich. »Nichts für ungut. Ein Scherz.«

*

»Keine Ahnung, was der alte Esel Ihnen erzählt hat. Ich habe nie mit Adrienne zusammengelebt!«

Es war nicht leicht gewesen, Silva zu einem zweiten Treffen zu überreden; ich hatte mehrmals betonen müssen, daß er sich das Lokal aussuchen konnte. Er schüttelte den Kopf, seine Lippen waren vom Schokoladeneis braun verschmiert, ein unschöner Anblick.

»Ich mochte sie, und sie tat mir leid. Ich habe mich um sie und das Kind gekümmert, weil Manuel das nicht mehr tun wollte. Vielleicht hat er mir das übelgenommen. Aber das ist alles.«

»Wem soll ich nun glauben?«

»Das ist Ihr Problem, niemand schuldet Ihnen Rechenschaft!« Er sah mich von unten an. »Sie werden Manuel wohl bald treffen. Aber Sie werden sich nicht vorstellen können, wie er damals war. Er schaffte es, daß jeder überzeugt war, daß er einmal groß sein würde. Man mußte ihm geben, was er wollte. Nur Therese hat das nicht...« Er kratzte das letzte Eis aus dem Glas und leckte von beiden Seiten den Löffel ab. »Nur Therese.« Er überlegte, aber er schien vergessen zu haben, was er sagen wollte.

»Nehmen Sie Kaffee?« fragte ich beunruhigt. Das Ganze ging schon weit über meine Verhältnisse; ich hatte mit Megelbach noch nicht über die Spesenabrechnungen gesprochen.

»Herr Zöllner, das alles sind doch abgeschlossene Geschichten! In Wirklichkeit gibt es uns nicht mehr. Alter ist etwas Absurdes. Man ist da und auch nicht, wie ein Geist.« Ein paar Sekunden blickte er starr über mich hinweg, zu den Dächern, zur anderen Seite der Straße. Sein Hals war so dünn, daß die Adern deutlich hervortraten. »Miriam war sehr begabt, wach, ein wenig jähzornig. Als sie zwanzig war, hatte sie einen Verlobten. Er kam zu Besuch, blieb zwei Tage, reiste wieder ab und kam nie zurück. Es ist nicht leicht, ihn zum Vater zu haben. Ich würde sie gerne noch einmal sehen.«

»Das werde ich ihr sagen.«

»Besser nicht.« Er lächelte traurig.

»Ich hätte noch ein paar Fragen.«

»Glauben Sie mir, ich auch.«

*

»Daß wir nicht wußten, daß man so alt werden kann. Schreiben Sie das! Schreiben Sie das unbedingt.« Sie zeigte auf den Vogelkäfig. »Hören Sie Pauli?«

»Haben Sie Therese gut gekannt?«

»Als sie ging, wollte er sich umbringen.«

»Wirklich?« Ich setzte mich auf.

Sie schloß für einen Moment die Augen: Sogar ihre Lider waren faltig; so etwas hatte ich noch nie gesehen. »Das hat Dominik behauptet. Ich hätte Manuel nie danach gefragt. Keiner hätte das. Aber er war völlig außer sich. Erst als Dominik ihm gesagt hat, daß sie tot war, hat er aufgehört, sie zu suchen. Wollen Sie Tee?«

»Nein. Ja. Ja, bitte. Haben Sie ein Foto von ihr?«

Sie hob die Kanne und schenkte zittrig ein. »Fragen Sie sie, vielleicht schickt sie Ihnen eines.«

»Wen soll ich fragen?«

»Therese.«

»Sie ist doch tot!«

»Aber nein. Sie wohnt im Norden, an der Küste.«

»Sie ist nicht gestorben?«

»Nein, das hat Dominik nur gesagt. Manuel hätte nie aufgehört, sie zu suchen. Ich habe Bruno, ihren Mann, sehr gemocht. Er war so menschlich, ganz anders als... Nehmen Sie Zucker? Jetzt ist er schon lange tot. Die meisten sind tot.« Sie stellte die Kanne ab. »Milch?«

»Nein! Haben Sie ihre Adresse?«

»Ich glaube schon. Hören Sie? Er singt so schön. Kanaris singen nicht oft. Pauli ist eine Ausnahme.«

»Geben Sie mir bitte die Adresse!« Sie antwortete nicht, sie schien nicht verstanden zu haben.

»Wenn ich ehrlich sein soll«, sagte ich langsam, »ich höre nichts.«

»Was?«

»Er singt nicht. Er bewegt sich nicht, und ich glaube, es geht ihm auch sonst nicht sehr gut. Würden Sie mir bitte die Adresse geben?«