VI

Ich stand im Flur und horchte. Links von mir war die Eingangstür, rechts das Eßzimmer, vor mir der Treppenaufgang zum ersten Stock. Ich räusperte mich, meine Stimme klang merkwürdig in der Stille.

Ich ging ins Eßzimmer. Die Fenster waren geschlossen, die Luft war abgestanden. Eine Fliege schlug gegen die Scheibe. Ich öffnete vorsichtig die oberste Schublade der Kommode: Tischdecken, säuberlich gefaltet. Die nächste: Messer, Gabeln und Löffel. Und die unterste: zwanzig Jahre alte Zeitschriften, Life, Time und Paris-Match, ohne System durcheinandergemischt. Das alte Holz widersetzte sich; fast hätte ich es nicht geschafft, die Lade zu schließen. Ich ging zurück in den Flur.

Zu meiner Linken waren vier Türen. Ich öffnete die erste: ein kleiner Raum mit Bett, Tisch und Stuhl, einem Fernseher, einem Marienbild und einem Foto des jungen Marlon Brando. Das mußte Annas Zimmer sein. Hinter der nächsten Tür war die Küche, danach kam der Raum, in dem ich gestern empfangen worden war. Hinter der letzten ein Treppenabgang.

Ich nahm meine Tasche und tastete nach dem Lichtschalter. Eine einzelne Glühbirne warf schmutziges Licht auf eine Holzstiege. Die Stufen knarrten, es ging so steil hinunter, daß ich mich am Geländer festhalten mußte. Ich machte Licht, Scheinwerfer schalteten sich knackend ein, ich kniff die Augen zusammen. Als ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte, wurde mir klar, daß ich in einem Atelier stand.

Ein fensterloser, nur von vier Scheinwerfern beleuchteter Raum: Wer immer hier gearbeitet hatte, hatte kein natürliches Licht gebraucht. In der Mitte stand eine Staffelei mit einem angefangenen Bild, über den Boden waren Dutzende Pinsel verstreut. Ich bückte mich und befühlte sie, alle waren trocken.

Da war auch eine Palette, die Farben darauf waren steinhart und rissig. Ich sog die Luft ein: normaler Kellergeruch, ein wenig feucht, ein schwaches Aroma von Mottenkugeln, nichts von Farben oder Terpentin. Hier war lange nicht gemalt worden.

Die Leinwand auf der Staffelei war fast unberührt, nur drei Pinselstriche durchschnitten ihr Weiß. Sie begannen in demselben Fleck links unten und liefen von dort auseinander, rechts oben war ein kleines, mit Kreide schraffiertes Feld. Keine Vorzeichnung, nichts, das erkennen ließ, was hier hätte entstehen sollen. Als ich zurücktrat, merkte ich, daß ich vier Schatten hatte, einen von jedem Scheinwerfer, die sich zu meinen Füßen überschnitten. An der Wand lehnten mehrere große Leinwände, abgedeckt mit Planen aus Segeltuch.

Ich zog die erste Plane weg und zuckte zusammen. Zwei Augen, ein verzerrter Mund: ein Gesicht, eigentümlich schief, wie eine Spiegelung in fließendem Wasser. Es war in hellen Farben gemalt, rote Linien zogen sich wie verlöschende Flammen von ihm weg, seine Augen betrachteten mich fragend und kalt. Und obwohl der Stil unverkennbar war - der dünne Farbauftrag, die Neigung zum Rotgelben, von der sowohl Komenew als auch Mehring schrieb -, sah es doch anders aus als alles, was ich von ihm kannte. Ich suchte seine Signatur und fand sie nicht. Ich griff nach dem nächsten Tuch; als ich es berührte, hob sich eine Staubwolke.

Dasselbe Gesicht, diesmal ein wenig kleiner und rund in sich geschlossen, um die Mundwinkel ein abfälliges Lächeln. Auf der nächsten Leinwand war es wieder, diesmal mit unnatürlich in die Breite gezogenem Mund, die Augenbrauen liefen spitz auf die Nase zu, die Stirn furchte sich in maskenhafte Falten, einzelne Haare sträubten sich dünn, wie Risse im Papier. Kein Ansatz eines Halses, kein Körper, nur der abgetrennt im Leeren schwebende Kopf. Ich zog Plane um Plane weg, nun verformte sich das Gesicht stärker: Das Kinn zerrte sich in die Länge, die Farben wurden greller, Stirn und Ohren überlang. Aber seine Augen schienen mich jedesmal ferner, unbeteiligter und, ich zog die nächste Plane weg, verachtungsvoller anzublicken. Nun war es nach außen gewölbt wie in einem Zerrspiegel, hatte eine Harlekinnase und gekräuselte Stirnfalten, auf der nächsten Leinwand - die Plane verhakte sich, ich riß sie mit aller Kraft herunter, Staub wirbelte auf, ich mußte niesen - drückte es sich zusammen, als ballte der Spieler einer Handpuppe die Faust. Auf der nächsten Leinwand war es nur undeutlich zu sehen, wie durch vorbeiziehenden Schnee. Die übrigen Bilder waren nicht mehr zu Ende gebracht, nur Vorzeichnungen mit einigen Farbflächen, dort war eine Stirn, hier eine Wange erkennbar. In der Ecke lag, wie weggeworfen, ein Skizzenblock. Ich hob ihn auf, wischte ihn ab und öffnete ihn. Das gleiche Gesicht, von oben, von unten, von allen Seiten, einmal sogar, wie eine Maske, von innen gesehen. Die Skizzen waren mit Kohlestift gezeichnet, zunehmend unsicher, die Striche wurden zittrig und verfehlten einander, schließlich gab es nur mehr einen dicken schwarzen Fleck. Kohlesplitter rieselten mir entgegen. Die restlichen Seiten waren leer.

Ich legte den Block weg und begann, die Bilder nach einer Unterschrift oder einem Datum abzusuchen. Vergeblich. Ich drehte eine der Leinwände um und untersuchte den Holzrahmen, eine Glasscherbe fiel zu Boden. Ich hob sie mit spitzen Fingern auf. Da waren noch mehr; der ganze Fußboden hinter den Bildern war bedeckt mit zerbrochenem Glas. Ich hielt die Scherbe gegen das Licht und kniff ein Auge zu: Der Scheinwerfer machte einen winzigen Sprung, seine schwarze Fassung schlug eine Welle. Das Glas war geschliffen.

Ich holte meine Kamera aus der Tasche. Eine kleine, sehr gute Kodak, ein Weihnachtsgeschenk von Elke. Die Scheinwerfer waren so hell, daß ich weder Stativ noch Blitz brauchen würde. Ich ging in die Knie. Ein Gemälde mußte, das hatte mir der Fotochef der Abendnachrichten erklärt, ganz von vorne aufgenommen werden, damit keine perspektivische Verkürzung entstand, nur so war es zum Abdruck brauchbar. Ich fotografierte jede Leinwand zweimal und dann auch, ich stand auf und lehnte mich an die Wand, die Staffelei, die Pinsel auf dem Boden, die Glassscherben. Ich knipste, bis der Film zu Ende war. Dann steckte ich die Kamera ein und begann, die Bilder wieder abzudecken.

Es war anstrengend, und immer wieder verhakten sich die Planen. Woher kannte ich dieses Gesicht? Ich beeilte mich; ich wußte nicht warum, aber ich wollte so schnell wie möglich hinaus. Wieso in aller Welt kam es mir bekannt vor? Ich kam zum letzten Bild, begegnete seinem abschätzigen Blick, deckte es zu. Ich ging auf Zehenspitzen zur Tür, schaltete das Licht aus und atmete unwillkürlich auf.

Wieder stand ich im Flur und horchte. Im Wohnzimmer brummte noch die Fliege. »Hallo?« Niemand antwortete. »Hallo?« Ich ging hinauf ins erste Stockwerk.

Zwei Türen rechts, zwei links, eine am Ende des Flures. Ich begann auf der linken Seite. Ich klopfte, wartete einen Moment und öffnete.

Das mußte Miriams Zimmer sein. Ein Bett, ein Fernseher, Bücherregale und ein Kaminski der Reflexionen-Serie; drei Spiegel, in deren Mitte sich ein weggelegter Putzlappen, ein Schuh und ein Bleistift, arrangiert als Parodie eines Stillebens, zu einem perfekten System von Flächen ordneten; wenn man es aus dem Augenwinkel betrachtete, schien es schwach zu flimmern. Es mußte ein Vermögen wert sein. Ich sah in die Schränke, aber da waren nur Kleider, Schuhe, Hüte, einige Brillen, Unterwäsche aus Seide. Ich ließ eines der Höschen langsam durch die Finger gleiten; ich hatte noch nie eine Frau gekannt, die Seidenunterwäsche trug. Die Schublade des Nachttischs war gefüllt mit Medikamentenschachteln: Baldrian, Valium, Benedorm, mehrere Arten von Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Die Beipackzettel wären interessant gewesen, aber dafür hatte ich keine Zeit.

Nebenan war ein Badezimmer. Sehr sauber und nach Scheuermitteln riechend, in der Wanne lag ein noch feuchter Schwamm, vor dem Spiegel standen drei Parfumflaschen. Leider war wirklich kein Chanel dabei, nur Marken, die ich nicht kannte. Kein Rasierzeug, offenbar benutzte der Alte ein anderes Bad. Wie rasierten Blinde sich eigentlich?

Die Tür am Ende des Ganges führte in einen ungelüfteten Raum. Die Fenster waren nicht geputzt, die Schränke leer, das Bett nicht bezogen: ein unbenutztes Gästezimmer. Eine kleine Spinne ließ ihr über der Fensterkante gespanntes Netz zittern. Auf dem Tisch lag ein Bleistift mit fast aufgebrauchtem Radiergummi und Zahnabdrücken im Holz. Ich nahm ihn, drehte ihn zwischen den Fingern, legte ihn zurück und ging hinaus.

Nur noch zwei Türen. Ich klopfte an die erste, wartete, klopfte noch einmal, trat ein. Ein Doppelbett, ein Tisch und ein Lehnstuhl. Eine offene Tür führte zu einem kleinen Badezimmer. Die Jalousien waren heruntergezogen, die Deckenlampe brannte. Im Lehnstuhl saß Kaminski.

Er schien zu schlafen, seine Augen waren geschlossen, er trug einen viel zu großen Seidenschlafrock mit aufgekrempelten Ärmeln. Seine Hände erreichten die Enden der Armlehnen nicht, die Rückenlehne ragte hoch über seinen Kopf, seine Füße hingen über dem Boden. Seine Stirn bewegte sich, er drehte den Kopf, öffnete und schloß ganz schnell die Augen und sagte: »Wer ist das?«

»Ich«, sagte ich, »Zöllner. Ich hatte meine Tasche vergessen. Anna mußte zu ihrer Schwester und fragte mich, ob ich bleiben könnte, kein Problem, und... ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen. Falls Sie etwas brauchen.«

»Was soll ich brauchen?« sagte er ruhig. »Die fette Kuh.«

Ich fragte mich, ob ich richtig gehört hatte.

»Fette Kuh«, wiederholte er. »Kochen kann sie auch nicht.

Was haben Sie bezahlt?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Aber wenn Sie Zeit für ein Gespräch...«

»Waren Sie im Keller?«

»Im Keller?«

Er tippte an seine Nase. »Das riecht man.«

»In welchem Keller?«

»Sie weiß genau, daß wir sie nicht hinauswerfen können. Man bekommt hier oben niemanden.«

»Soll ich... die Lampe ausschalten?«

»Die Lampe.« Er runzelte die Stirn. »Nein, nein. Reine Gewohnheit. Nein.«

Ob er wieder eine Tablette genommen hatte? Ich zog mein Diktaphon aus der Tasche, schaltete es ein und legte es auf den Boden.

»Was war das?« fragte er.

Am besten war es wohl, gleich zur Sache zu kommen. »Erzählen Sie mir von Matisse!«

Er schwieg. Ich hätte gerne seine Augen gesehen, doch offenbar hatte er sich angewöhnt, sie nie zu öffnen, wenn er keine Brille trug. »Dieses Haus in Nizza. Ich dachte, so möchte ich auch einmal leben. Welches Jahr haben wir?«

»Bitte?«

»Sie waren doch im Keller. Welches Jahr?«

Ich sagte es ihm.

Er rieb sich das Gesicht. Ich sah auf seine Beine. Zwei Wollpantoffeln baumelten in der Luft, eine haarlose, weiße Kinderwade entblößte sich.

»Wo sind wir?«

»In Ihrem Haus«, sagte ich langsam.

»Nun sagen Sie schon, was Sie der fetten Kuh bezahlt haben!«

»Ich komme später wieder.« Er holte Luft, ich ging schnell hinaus und schloß die Tür. Das würde nicht leicht werden! Ich würde ihm ein paar Minuten geben, damit er sich sammeln konnte.

Ich öffnete die letzte Tür und hatte endlich das Büro gefunden. Ein Schreibtisch mit einem Computer, ein Drehstuhl, Aktenschränke, Ablagen, Papierstöße. Ich setzte mich und stützte den Kopf in die Hände. Die Sonne stand bereits niedrig, in der Ferne kletterte die Gondel einer Seilbahn einen Berghang empor, fing blitzend einen Sonnenstrahl auf, verschwand über einem Waldstück. Von nebenan hörte ich ein polterndes Geräusch; ich horchte, aber es kam nichts mehr.

Ich mußte systematisch vorgehen. Das war Miriams Arbeitsplatz, vermutlich war ihr Vater seit Jahren nicht hier gewesen. Zunächst würde ich alle offen daliegenden Papiere durchsehen, dann würde ich mich von unten nach oben durch die Tischschubladen arbeiten, dann kämen, von links nach rechts, die Schränke. Wenn nötig, konnte ich sehr ordentlich sein.

Das meiste waren finanzielle Unterlagen. Konto- und Depotauszüge über insgesamt weniger Geld, als ich erwartet hatte. Es gab Belege für ein Geheimkonto in der Schweiz, keine überwältigende Summe, doch immerhin konnte ich das notfalls als Druckmittel verwenden. Verträge mit Galeristen: Bogovic hatte zunächst vierzig, dann nur noch dreißig Prozent bekommen, auffallend wenig, wer immer damals mit ihm verhandelt hatte, hatte seine Sache gut gemacht. Unterlagen einer privaten Krankenversicherung - ziemlich teuer -, dann auch eine Lebensversicherung, seltsamerweise für Miriam, doch nicht in auffallender Höhe. Ich schaltete den Computer ein, er fuhr ratternd hoch und verlangte nach dem Paßwort. Ich probierte es mit miriam, manuel, adrienne, papa, mama, hallo und paßwort, aber nichts funktionierte. Ärgerlich schaltete ich ab.

Nun kamen die Briefe. Schreibmaschinendurchschläge einer endlosen Korrespondenz mit Galeristen über Preise, Verkäufe, die Verschickung einzelner Bilder, die Rechte für Drucke, Postkarten, Bildbände. Die meisten Briefe waren von Miriam, einige hatte ihr Vater diktiert und unterschrieben, nur die ältesten waren in seiner eigenen Handschrift: Verhandlungen, Vorschläge, Forderungen, sogar Bitten aus der Zeit vor dem Ruhm. Damals war seine Schrift krakelig gewesen, die Zeilen fielen nach rechts ab, die i-Punkte sprangen aus den Zeilen. Durchschläge einiger Antworten an Journalisten: Mein Vater ist und war nie gegenständlicher Maler, weil er nicht meint, daß dieser Begriff einen Sinn hat, entweder ist jede Malerei gegenständlich oder keine, und das wäre auch schon alles, was sich dazu sagen läßt. Ein paar Briefe von Clure und anderen Freunden: Verabredungen, knappe Antworten, Geburtstagsgrüße und, in einem säuberlichen Stapel, Professor Mehrings Weihnachtskarten. Vortragseinladungen zu Universitäten; soviel ich wußte, hielt er nie Vorträge, offenbar hatte er ihnen allen abgesagt. Und die Fotokopie einer kuriosen Karte an Claes Oldenburg: Kaminski dankte ihm für seine Hilfe, bedauerte jedoch, zugeben zu müssen, daß er Oldenburgs Kunst - Verzeihen Sie die Ehrlichkeit, aber in unserem Metier sind freundliche Lügen die einzige Sünde - für wertlosen Unsinn hielt. Ganz zuunterst, auf dem Boden der letzten Schublade, fand ich eine dicke, mit einem kleinen Schloß versperrte Ledermappe. Ich versuchte vergeblich, sie mit dem Brieföffner aufzubekommen, und legte sie zur Seite, um mich später darum zu kümmern.

Ich sah auf die Uhr: Ich mußte mich beeilen! Keine Briefe an Dominik Silva, an Adrienne, an Therese? Es war doch die Zeit der Briefe gewesen! Aber da war nichts. Ich hörte einen Motor und trat beunruhigt ans Fenster. Unten hatte ein Wagen gehalten. Clure stieg aus, sah sich um, machte einige Schritte auf Kaminskis Haus zu, bog, ich atmete auf, seitlich ab und schloß sein Gartentor auf. Nebenan hörte ich Kaminskis trockenes Husten.

Ich kam zu den Schränken. Ich blätterte dicke Aktenordner durch, Versicherungsunterlagen, Grundbuchkopien, er hatte vor zehn Jahren ein Grundstück in Südfrankreich gekauft und mit Verlust wieder abgestoßen. Prozeßunterlagen eines Verfahrens gegen einen Galeristen, der Bilder aus seiner symbolistischen Frühzeit angeboten hatte. Auch alte Skizzenbücher mit detaillierten Aufzeichnungen über die Strahlengänge zwischen unterschiedlichen Spiegeln: Ich überschlug ihren Wert und kämpfte ein paar Sekunden gegen den Wunsch an, eines davon einzustecken. Schon war ich beim letzten Schrank: alte Rechnungen, Kopien von Steuererklärungen der letzten acht Jahre; ich hätte sie gerne durchgesehen, aber dafür war keine Zeit. Ich klopfte in der Hoffnung auf Geheimfächer oder doppelte Böden gegen die Rückwände. Ich legte mich auf den Boden und spähte unter die Schränke. Ich stellte mich auf den Stuhl und betrachtete sie von oben.

Ich öffnete das Fenster, setzte mich auf das Fensterbrett und zündete eine Zigarette an. Der Wind wehte die Asche davon, ich blies bedächtig den Rauch in die kühle Luft. Die Sonne berührte schon einen der Berggipfel, gleich würde sie verschwinden. Also nur noch diese Mappe. Ich schnippte die Zigarette weg, setzte mich an den Schreibtisch und zog mein Taschenmesser hervor.

Ein einziger glatter Schnitt von oben nach unten auf der Rückseite. Das Leder, schon brüchig, gab mit einem knarrenden Geräusch nach. Ich schnitt vorsichtig und langsam, dann klappte ich die Mappe von hinten auf. Niemand würde es bemerken. Warum sollte jemand sie herausnehmen, solange Kaminski noch lebte? Und danach war es egal.

Sie enthielt nur wenige Blätter. Ein paar Zeilen von Matisse, er wünsche Erfolg, habe Kaminski mehreren Sammlern empfohlen und sei mit Zuversicht und guten Wünschen hochachtungsvoll... Der nächste Brief ebenfalls von Matisse:

Der Mißerfolg der Ausstellung tue ihm leid, aber da sei nichts zu machen, er empfehle Ernst und ständige Arbeit und sehe optimistisch in Herrn Kaminskis Zukunft, im übrigen sei er mit vielen guten Wünschen... Ein Telegramm von Picasso: Spaziergänger wundervoll, wünschte, das wäre von mir, alles Gute, Compadre, lebe immer! Dann, schon ziemlich vergilbt, drei Briefe in Richard Riemings kleiner, schwer lesbarer Handschrift. Den ersten kannte ich, er war in allen Rieming-Biographien abgedruckt; es war ein seltsames Gefühl, ihn plötzlich in der Hand zu halten. Er sei nun also auf dem Schiff, schrieb Rieming, und man würde sich in diesem Leben nicht mehr treffen. Das sei kein Grund zur Trauer, sondern eine Tatsache; und selbst wenn es nach der Trennung von diesem zerstörbaren Körper noch Modi des Fortbestandes gebe, so sei doch nicht ausgemacht, daß wir uns dann der alten Maskierungen erinnern und uns wiedererkennen würden, mit anderen Worten, gebe es denn Abschiede für immer, so sei dies einer. Sein Schiff sei unterwegs zu einem Ufer, an dessen Wirklichkeit er den Behauptungen der Bücher, der Fahrpläne und seiner eigenen Fahrkarte zum Trotz noch immer nicht glauben könne. Doch solle dieser Moment gegen Ende eines bestenfalls als Kompromiß mit dem sogenannten Leben angelegten Daseins nicht vorbeigehen, ohne für die Versicherung genutzt zu werden, daß er, Rieming, hätte er sich das Recht erworben, einen Menschen seinen Sohn zu nennen, diese Bezeichnung niemand anderem als dem Empfänger dieses Briefes zugestehen wolle. Er habe ein Leben geführt, das diesen Namen kaum verdiene, sei hiergewesen, ohne zu wissen, weshalb, habe sich getragen, weil man es eben müsse, oft frierend, manchmal Gedichte schreibend, deren einige das Los gehabt hätten, Gefallen zu finden. So stehe es ihm wohl kaum zu, jemandem von einem ähnlichen Weg abzuraten, und wünsche nur, daß Manuel von Traurigkeit verschont bleiben solle, das sei schon viel; eigentlich sei es alles.

Die beiden anderen Briefe Riemings waren älter und noch an Kaminski als Schüler gerichtet: In dem einen riet er ihm, nicht noch einmal aus dem Internat zu fliehen, es helfe nichts, man müsse durchhalten; er wolle nicht behaupten, daß Manuel einmal dankbar sein, aber er verspreche ihm, daß er darüber hinwegkommen werde, man komme grundsätzlich über das meiste hinweg, auch wenn man nicht wolle. In dem anderen kündigte er an, daß Worte am Wegrand im nächsten Monat erscheinen werde und er dem Buch mit der bangen Freude eines Kindes entgegenblicke, das befürchtete, zu Weihnachten das Falsche zu bekommen, und doch wisse, daß, was immer es bekäme, das Richtige sei. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Aus alldem sprach etwas Kaltes und Geziertes. Rieming war mir immer schon unsympathisch gewesen.

Der nächste Brief war von Adrienne. Sie habe lange nachgedacht, es sei ihr nicht leichtgefallen. Sie wisse, daß es nicht in Manuels Fähigkeiten liege, Menschen glücklich zu machen, und daß das Wort glücklich für ihn nicht die gleiche Bedeutung habe wie für andere. Aber sie werde es tun, sie werde ihn heiraten, sie sei zu dem Risiko bereit, und wenn es ein Fehler sei, so werde sie ihn machen. Dies sei für ihn wohl keine Überraschung, für sie aber sei es eine. Sie danke ihm, daß er ihr Zeit gelassen habe, sie fürchte sich vor der Zukunft, aber vielleicht müsse das so sein, und womöglich würde sie auch einmal fähig sein, ihm die Worte zu sagen, die er so gerne hören wolle.

Ich las es noch einmal und wußte nicht recht, was mir daran so unheimlich vorkam. Jetzt war nur mehr ein Blatt übrig: dünnes Karopapier, wie aus einem Schulheft gerissen. Ich legte es vor mich hin und strich es glatt.

Das Datum war genau ein Monat vor dem Brief Adriennes. Manuel, ich schreibe das hier nicht wirklich. Ich stelle... Ein elektrisches Surren unterbrach mich: die Türklingel.

Beklommen lief ich die Treppe hinunter und öffnete. Ein grauhaariger Mann lehnte am Zaun, auf dem Kopf einen Trachtenhut, neben sich eine bauchige Tasche.

»Ja?«

»Doktor Marzeller«, sagte er mit tiefer Stimme. »Der Termin.«

»Sie haben einen Termin?«

»Er hat einen. Ich bin der Arzt.«

Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. »Das geht jetzt nicht«, sagte ich gepreßt.

»Was geht nicht?«

»Es geht jetzt leider nicht. Kommen Sie morgen!«

Er nahm den Hut ab und strich sich über den Kopf.

»Herr Kaminski arbeitet«, sagte ich. »Er möchte nicht gestört werden.«

»Meinen Sie, er malt?«

»Wir arbeiten an seiner Biographie. Er muß sich konzentrieren.«

»An seiner Biographie.« Er setzte den Hut wieder auf. »Muß sich konzentrieren.« Wieso zur Hölle wiederholte er alles?

»Mein Name ist Zöllner«, sagte ich. »Ich bin sein Biograph und Freund.« Ich streckte die Hand aus, er nahm sie zögernd. Sein Händedruck war unangenehm fest, ich erwiderte ihn. Er sah mich prüfend an.

»Ich gehe jetzt zu ihm.« Er machte einen Schritt vorwärts.

»Nein!« sagte ich und trat ihm in den Weg.

Er betrachtete mich fragend. Wollte er wissen, ob ich ihn aufhalten würde? Versuch es nur, dachte ich.

»Es ist doch sicher bloß Routine«, sagte ich. »Ihm fehlt nichts.«

»Wieso glauben Sie das?«

»Er ist wirklich sehr beschäftigt. Er kann nicht unterbrechen, es gibt so viele... Erinnerungen. Die Arbeit liegt ihm sehr am Herzen.«

Er zuckte die Achseln, blinzelte und trat einen Schritt zurück. Ich hatte gewonnen.

»Es tut mir leid«, sagte ich großmütig.

»Wie war Ihr Name?« fragte er.

»Zöllner«, sagte ich. »Auf Wiedersehen.«

Er nickte. Ich lächelte, er erwiderte meinen Blick ohne Freundlichkeit, ich schloß die Tür. Vom Küchenfenster sah ich zu, wie er zu seinem Auto ging, die Tasche in den Kofferraum stellte, sich hinter das Steuer setzte und losfuhr. Dann hielt er an, kurbelte das Fenster hinunter und sah noch einmal zum Haus herüber; ich trat schnell zurück, wartete ein paar Sekunden, trat wieder ans Fenster und sah den Wagen um die Kurve biegen. Erleichtert ging ich die Treppe hinauf.

Manuel, ich schreibe das hier nicht wirklich. Ich stelle mir nur vor, ich würde es schreiben, würde es nicht später in ein Kuvert stecken und in die Wirklichkeit schicken, zu Dir. Eben war ich im Kino, de Gaulle in der Wochenschau sah so lustig wie immer aus, draußen ist Tauwetter, zum ersten Mal dieses Jahr, und ich versuche mir einzubilden, das hätte gar nichts zu tun mit uns beiden. Im Grunde glaubt ja keiner von uns, weder ich noch die arme Adrienne, noch Dominik, daß man Dich verlassen könnte. Aber vielleicht irren wir uns.

Nach all der Zeit weiß ich noch immer nicht, was wir für Dich sind. Vielleicht die Spiegel (damit kennst Du Dich ja aus), die die Aufgabe haben, Dein Bild zurückzuwerfen und Dich zu etwas Großem, etwas Vielfältigem und Weitem zu machen. Ja, Du wirst berühmt sein. Und Du wirst es verdient haben. Nun wirst Du wohl zu Adrienne gehen, nehmen, was sie zu geben hat, und dafür sorgen, daß sie es später für ihre eigene Entscheidung hält, wenn sie geht. Vielleicht wirst Du sie zu Dominik schicken. Dann werden andere Menschen da sein, andere Spiegel. Aber ich nicht.

Nicht weinen, Manuel. Du hast immer leicht geweint, aber diesmal überlaß es mir. Natürlich, es ist das Ende, und wir sterben. Aber das heißt nicht, daß wir nicht noch lange da sein, andere Menschen finden, Spazierengehen, nachts träumen und alles erledigen können, was eine Marionette so tut. Ich weiß nicht, ob ich das hier wirklich schreibe, auch nicht, ob ich es abschicken werde. Wenn aber doch, wenn ich es fertigbringe und Du es liest, dann versteh es bitte genau so: Laß mich gestorben sein! Ruf nicht an, und such nicht nach mir, ich bin nicht mehr da. Und während ich jetzt aus dem Fenster sehe und mich frage, warum sie alle nicht...

Ich drehte es um, aber da kam nichts mehr, der Rest mußte verlorengegangen sein. Ich sah noch einmal alle Blätter durch, aber das fehlende war nicht dabei. Ich holte seufzend meinen Notizblock hervor und schrieb den ganzen Brief ab. Ein paarmal brach mein Bleistift, meine Schrift wurde vor Eile unleserlich, aber nach zehn Minuten hatte ich es geschafft. Ich legte alle Papiere zurück in die Mappe und legte die Mappe ganz nach unten in die Schublade. Ich schloß die Schränke, rückte die Aktenstöße zurecht, überprüfte, ob auch keine Lade mehr offenstand. Ich nickte befriedigt: Niemand würde etwas bemerken, ich hatte es sehr geschickt gemacht. Eben ging die Sonne unter, die Berge sahen ein paar Sekunden schroff und riesig aus, dann wichen sie zurück und wurden flach und fern. Es war Zeit, meine beste Karte auszuspielen.

Ich klopfte, Kaminski antwortete nicht.

Ich trat ein. Er saß in seinem Stuhl, das Diktaphon lag immer noch auf dem Boden. »Schon wieder?« fragte er. »Wo ist Marzeller?«

»Der Doktor hat eben angerufen. Er kann nicht kommen. Können wir über Therese Lessing sprechen?«

Er schwieg.

»Können wir über Therese Lessing sprechen?«

»Sie müssen verrückt sein.«

»Hören Sie, ich möchte...«

»Was ist mit Marzeller los? Will der Kerl, daß ich krepiere?«

»Sie ist am Leben, und ich habe mit ihr gesprochen.«

»Rufen Sie ihn an. Was glaubt er denn!«

»Ich sagte, sie ist am Leben.«

»Wer?«

»Therese. Sie ist Witwe, und sie lebt. Im Norden, an der Küste. Ich habe die Adresse.«

Er antwortete nicht. Er hob langsam eine Hand, rieb sich die Stirn, senkte sie wieder. Sein Mund öffnete und schloß sich, seine Stirn legte sich in Falten. Ich sah nach dem Diktaphon: Die Sprachaktivierung hatte es eingeschaltet, es zeichnete jedes Wort auf.

»Dominik hat Ihnen gesagt, sie wäre tot. Aber es stimmt nicht.«

»Das ist doch nicht wahr«, sagte er leise. Seine Brust hob und senkte sich, ich machte mir Sorgen um sein Herz.

»Ich weiß es seit zehn Tagen. Es war nicht einmal schwer herauszubekommen.«

Er antwortete nicht. Ich beobachtete ihn aufmerksam: Er drehte den Kopf zur Wand, ohne die Augen zu öffnen. Seine Lippen zitterten. Er blies die Backen auf und stieß die Luft heraus.

»Ich werde sie in Kürze sehen«, sagte ich. »Ich kann sie alles fragen, was Sie wollen. Sie müssen mir nur erzählen, was damals passiert ist.«

»Was bilden Sie sich ein!« flüsterte er.

»Wollen Sie nicht die Wahrheit wissen?«

Er schien nachzudenken. Nun hatte ich ihn in der Hand. Damit hatte er nicht gerechnet; auch er hatte Sebastian Zöllner unterschätzt! Vor Nervosität konnte ich nicht stillhalten, ich ging zum Fenster und spähte durch die Lamellen der Jalousie. Von Sekunde zu Sekunde wurden die Lichter im Tal deutlicher. Die Sträucher standen rund, wie aus Kupfer gestochen, in der Dämmerung.

»Nächste Woche werde ich bei ihr sein«, sagte ich, »dann kann ich sie fragen...«

»Ich fliege nicht«, sagte er.

»Aber nein«, sagte ich beruhigend. Er war doch sehr verwirrt. »Sie sind zu Hause. Alles in Ordnung!«

»Die Medikamente sind neben dem Bett.«

»Das ist fein.«

»Sie Trottel«, sagte er ruhig. »Sie sollen sie einpacken.«

Ich starrte ihn an. »Einpacken?«

»Wir fahren hin.«

»Das ist doch nicht Ihr Ernst!«

»Warum nicht?«

»Ich kann ihr jede Frage übermitteln. Aber das geht nicht. Sie sind zu... krank.« Beinahe hätte ich ›alt‹ gesagt. »Ich kann die Verantwortung nicht übernehmen.« Träumte ich, oder führten wir dieses Gespräch wirklich?

»Sie haben sich nicht geirrt, haben sie nicht verwechselt? Sie sind nicht hereingelegt worden?«

»Niemand«, sagte ich, »würde Sebastian Zöllner...«

Er schnaufte abfällig.

»Nein«, sagte ich. »Sie lebt und...« Ich zögerte, »...möchte mit Ihnen sprechen. Sie können zum Telefon gehen...«

»Ich gehe nicht zum Telefon. Wollen Sie sich diese Möglichkeit entgehen lassen?«

Ich rieb mir die Stirn. Was war geschehen, hatte ich nicht gerade noch alles unter Kontrolle gehabt? Irgendwie war mir die Sache entglitten. Und er hatte recht: Wir würden zwei Tage unterwegs sein, auf soviel Zeit mit ihm hätte ich nie hoffen können. Ich konnte ihn fragen, was ich wollte. Mein Buch würde ein bleibendes Quellenwerk sein, gelesen von den Studenten, von den Kunstgeschichten zitiert.

»Es ist seltsam«, sagte er, »Sie in meinem Leben zu wissen. Seltsam und nicht angenehm.«

»Sie sind berühmt. Das wollten Sie doch. Berühmt sein heißt jemanden wie mich haben.« Ich wußte nicht, warum ich das gesagt hatte.

»Im Schrank ist ein Koffer. Packen Sie ein paar Sachen von mir ein.«

Ich atmete schwer. Das war doch nicht möglich! Ich hatte gehofft, ihn zu überraschen und zu verwirren, um ihn dazu zu bringen, von Therese zu sprechen. Doch ich hatte ihn nicht entführen wollen! »Sie sind seit Jahren nicht gereist.«

»Die Autoschlüssel hängen neben der Haustür. Sie können doch fahren?«

»Ich fahre sehr gut.« Hatte er wirklich vor, jetzt sofort, einfach so, zusammen mit mir...? Er mußte verrückt sein. Andererseits: War das mein Problem? Natürlich, die Reise würde seine Gesundheit gefährden. Aber um so früher konnte das Buch erscheinen.

»Was ist nun?« fragte er.

Ich setzte mich auf den Bettrand. Ruhig bleiben, dachte ich, ruhig! Nachdenken! Ich konnte es auch lassen und einfach hinausgehen; er würde einschlafen, und morgen früh hätte er das Ganze vergessen. Und die Gelegenheit meines Lebens wäre vorbei.

»Also los!« rief ich. Ich sprang auf, das Bett quietschte, er zuckte zusammen.

Ein paar Sekunden saß er starr da, als könnte nun er es nicht glauben. Dann streckte er langsam die Hand aus. Ich faßte danach, und in derselben Sekunde wußte ich, daß es entschieden war. Sie fühlte sich kühl und weich an, doch ihr Griff war überraschend fest. Ich stützte ihn, er glitt aus dem Sessel. Ich stockte, er zog mich zur Tür.

Im Gang blieb er stehen, ich schob ihn mit Bestimmtheit weiter. Auf der Treppe hätte ich nicht mehr sagen können, wer von uns den anderen führte.

»Nicht so schnell«, sagte ich heiser. »Ich muß noch Ihr Gepäck holen.«