XI

Ich ging auf der Straße. Kaminski war nicht bei mir, aber er war in der Nähe, und ich mußte mich beeilen. Immer mehr Leute kamen mir entgegen, ich stolperte, fiel zu Boden, wollte aufstehen, konnte nicht: Das Gewicht meines Körpers hatte zugenommen, die Schwerkraft hielt mich fest, Beine streiften mich, ein Schuh trat, aber es tat nicht weh, auf meine Hand, mit aller Kraft hielt ich den andrängenden Boden von mir fern; dann wachte ich auf. Es war halb fünf Uhr morgens, ich erkannte die Umrisse von Schrank und Tisch, das dunkle Fenster, Elkes Bett neben mir, leer. Ich streifte die Decke zurück, stand auf, spürte den Teppich unter meinen nackten Füßen. Aus dem Schrank kam ein scharrendes Geräusch. Ich öffnete. Da saß Kaminski, zusammengekauert, das Kinn auf den Knien, die Arme um die Beine gelegt, und sah mich aus hellen Augen an. Er wollte sprechen, aber bei seinen ersten Worten löste sich das Zimmer auf; ich fühlte das Gewicht der Bettdecke auf mir. Ein bitterer Geschmack im Mund, ein Gefühl von Dumpfheit, Kopfschmerzen. Schrank, Tisch, Fenster, leeres Bett. Zehn Minuten nach fünf. Ich räusperte mich, meine Stimme klang fremd, und stand auf. Ich spürte den Teppich unter den Füßen und betrachtete fröstelnd das Karomuster meines Pyjamas im Spiegel. Ich ging zur Tür, drehte den Schlüssel, öffnete. »Und ich dachte schon, du fragst nie!« sagte Manz. »Weißt du es schon?« Hinter ihm kam Jana herein. Was sollte ich wissen? »Ach«, sagte Manz, »stell dich nicht dumm!« Jana wickelte bedächtig eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. »Verschwendung«, sagte Manz fröhlich, »alles Unsinn und Verschwendung, mein Lieber.« Er holte ein Taschentuch hervor, winkte mir mit einer gezierten Bewegung zu und lachte so laut, daß ich erwachte. Fenster, Schrank und Tisch, das leere Bett, die zerwühlte Decke, mein Kissen war auf den Boden gefallen, ich hatte Halsschmerzen. Ich stand auf. Als ich den Teppich unter meinen Füßen spürte, überkam mich ein solches Gefühl von Unwirklichkeit, daß ich nach dem Bettpfosten tastete, aber mit einer schnellen Bewegung entglitt er meinem Griff. Diesmal wußte ich, daß es ein Traum war. Ich ging zum Fenster und zog die Jalousie hoch: Die Sonne schien, Menschen gingen durch den Park, Autos fuhren vorbei, es war kurz nach zehn und kein Traum. Ich ging in den Flur. Es roch nach Kaffee, aus der Küche hörte ich Stimmen.

»Sind Sie das, Zöllner?« Kaminski saß im Schlafrock am Küchentisch und trug seine schwarze Brille. Vor ihm standen Orangensaft, Müsli, eine Schüssel mit Früchten, Marmelade, ein Korb mit frischem Gebäck und eine dampfende Kaffeetasse. Ihm gegenüber saß Elke.

»Du bist zurück?« fragte ich mit unsicherer Stimme.

Sie antwortete nicht. Sie trug ein elegant geschnittenes Kostüm, und sie hatte eine neue Frisur: Ihre Haare waren kürzer, die Ohren frei, im Nacken sanft gekräuselt. Sie sah gut aus.

»Kein angenehmer Traum!« sagte Kaminski. »Ein winziger Raum, keine Luft, und ich war eingesperrt, ich dachte schon, es wäre ein Sarg, aber dann merkte ich, daß Kleider über mir hingen und daß es nur ein Schrank war. Dann war ich auf einem Boot und wollte malen, aber ich hatte kein Papier. Können Sie sich vorstellen, daß ich jede Nacht vom Malen träume?«

Elke beugte sich vor und strich ihm über den Arm. Ein kindliches Lächeln ging über sein Gesicht. Sie warf mir einen kurzen Blick zu.

»Ihr habt euch schon kennengelernt!« sagte ich.

»Sie kamen auch vor, Zöllner. Aber an den Teil erinnere ich mich nicht.«

Elke goß ihm Kaffee ein, ich zog einen Stuhl heran und setzte mich. »Ich habe dich noch gar nicht zurückerwartet.« Ich berührte sie an der Schulter. »Wie war die Reise?«

Sie stand auf und ging hinaus.

»Sieht nicht gut aus«, sagte Kaminski.

»Abwarten«, sagte ich und ging ihr nach.

Ich holte sie im Flur ein, wir gingen ins Wohnzimmer.

»Du hattest kein Recht, herzukommen!«

»Ich war in einer Verlegenheit. Du warst nicht da, und... Überhaupt, viele wären froh, wenn ich Manuel Kaminski zu ihnen bringen würde!«

»Dann hättest du ihn zu einem von ihnen bringen sollen.«

»Elke«, sagte ich und faßte sie an der Schulter. Ich trat nahe an sie heran. Sie sah fremd aus, jünger, etwas war mit ihr geschehen. Sie blickte mit schimmernden Augen auf, eine Haarsträhne fiel ihr in die Stirn und hängte sich in ihrem Mundwinkel fest. »Lassen wir das doch!« sagte ich leise. »Ich bin es. Sebastian.«

»Wenn du mich verführen willst, solltest du dich rasieren. Du solltest keinen Pyjama tragen, und vielleicht sollte nicht Rubens nebenan sitzen und darauf warten, daß du ihn zu seiner Jugendliebe bringst.«

»Woher weißt du davon?«

Sie streifte meinen Arm ab. »Von ihm.«

»Er spricht nicht darüber!«

»Vielleicht nicht mit dir. Ich hatte den Eindruck, er spricht über nichts anderes. Ich nehme nicht an, daß du das gemerkt hast, aber er ist sehr aufgeregt.« Sie sah mich aufmerksam an. »Und überhaupt, was ist das für eine Idee?«

»So hatte ich die Chance, mit ihm allein zu sein. Außerdem brauche ich die Szene für den Anfang des Buches. Oder den Schluß, das muß ich noch überlegen. Und so erfahre ich, was damals wirklich passiert ist.« Zum ersten Mal tat es mir gut, mit ihr zu reden. »Ich hätte nie gedacht, daß es so schwierig ist. Jeder sagt etwas anderes, das meiste ist vergessen, und alle widersprechen einander. Wie soll ich irgend etwas herausfinden?«

»Vielleicht sollst du nicht.«

»Nichts paßt zusammen. Er ist ganz anders, als er mir beschrieben wurde.«

»Weil er alt ist, Bastian.«

Ich rieb mir die Schläfen. »Du hast gesagt, daß ich vielleicht noch eine Chance hätte. Wie meinst du das?«

»Frag ihn.«

»Wieso ihn? Er ist völlig senil.«

»Wenn du meinst.« Sie wandte sich ab.

»Elke, soll es wirklich so enden?«

»Ja, das soll es. Und es ist nicht tragisch, es ist nicht schlimm, es ist nicht einmal wirklich traurig. Entschuldige, ich hätte es dir lieber schonend beigebracht. Aber dann hätte ich dich nie hier herausbekommen.«

»Das ist dein letztes Wort?«

»Mein letztes Wort habe ich am Telefon gesagt. Das hier ist nur noch überflüssig. Bestell ein Taxi und fahr zum Bahnhof. In einer Stunde komme ich wieder, dann möchte ich, daß die Wohnung leer ist.«

»Elke...!«

»Ich muß sonst die Polizei rufen.«

»Und Walter?«

»Und Walter«, sagte sie und ging hinaus. Ich hörte sie leise mit Kaminski sprechen, dann fiel die Wohnungstür zu. Ich rieb mir die Augen, ging zum Wohnzimmertisch, nahm eine von Elkes Zigarettenpackungen und überlegte, ob ich versuchen sollte zu weinen. Ich zündete eine Zigarette an, legte sie in den Aschenbecher und sah zu, wie sie sich in Asche auflöste. Danach war mir besser.

Ich ging zurück in die Küche. Kaminski hielt Bleistift und Schreibblock in den Händen. Er hatte den Kopf auf die Schulter gelegt und den Mund geöffnet; es sah aus, als träumte er oder hörte jemandem zu. Erst nach ein paar Sekunden bemerkte ich, daß er zeichnete. Seine Hand glitt langsam über das Papier: Zeige-, Ring- und kleiner Finger waren weggestreckt, Daumen und Mittelfinger hielten den Stift. Er zog, ohne abzusetzen, eine Spirale, die hin und wieder, an scheinbar zufälligen Stellen, kleine Wellen schlug.

»Machen wir uns auf den Weg?« fragte er.

Ich setzte mich neben ihn. Seine Finger krümmten sich, in der Mitte des Blattes entstand ein Fleck. Er machte einige schnelle Striche aus dem Handgelenk, dann legte er den Block zur Seite. Erst als ich zum zweiten Mal hinsah, wurde der Fleck zu einem Stein und die Spirale zu den Kreisen, die dieser beim Aufschlagen auf ruhigem Wasser zog, Schaum spritzte, da war sogar die angedeutete Spiegelung eines Baumes.

»Das ist gut«, sagte ich.

»Das können sogar Sie.« Er riß das Blatt ab, steckte es ein und reichte mir Block und Bleistift. Seine Hand legte sich auf meine. »Stellen Sie sich etwas vor. Etwas ganz Einfaches.«

Ich dachte an ein Haus, wie Kinder es zeichnen. Zwei Fenster, das Dach, der Schornstein und eine Tür. Unsere Hände bewegten sich. Ich sah ihn an: seine spitze Nase, seine hochgezogenen Brauen, ich hörte den Pfeifton seines Atems. Ich sah wieder auf das Papier. Da war schon das Dach, dünn schraffiert, wie von Schnee oder Efeu, dann eine Wand, ein Fensterladen stand offen, eine kleine Figur, geformt aus drei Strichen, beugte sich auf einen Arm gestützt heraus, nun die Tür, mir fiel ein, daß diese Zeichnung ein Original war, wenn ich ihn dazu bringen konnte, sie zu signieren, könnte ich sie teuer verkaufen, die Tür war schief geworden, die zweite Hauswand, davon würde ich mir ein Auto leisten können, traf das Dach nicht, der Bleistift sank an die untere Kante, etwas stimmte nicht mehr; Kaminski ließ los. »Na?«

»Es geht«, sagte ich enttäuscht.

»Fahren wir?«

»Natürlich.«

»Nehmen wir wieder den Zug?«

»Den Zug?« Ich dachte nach. Der Autoschlüssel mußte noch in meiner Hosentasche sein, der Wagen stand dort, wo ich ihn gestern geparkt hatte. Elke würde erst in einer Stunde zurückkommen. »Nein, heute nicht.«