hatte. Seine Wahl fiel auf den Kuchen, aber er entfernte die Festplatte aus dem Computer, für den Fall, dass ihn die Bullen fanden.

Als er weit genug von der Polizei entfernt war, rief er per Handy Wendys Nummer an. Es war kurz nach zwei Uhr morgens, und er hörte sofort, dass er sie geweckt hatte. Ihre Stimme klang verschnupft, und ihn schauderte vor Ekel. Er hasste Rotz, ihren ganz besonders, aber er schob den Gedanken beiseite und gab ihr in geflüsterten Sätzen seine Anweisungen durch.

Nach dem Anruf überlegte er, wie lange er würde warten müssen und wo er sich bis dahin verstecken sollte. Er beschloss, direkt zu dem Treffpunkt zu gehen, den er ihr genannt hatte. Auf dem Weg dahin war ein Bach, aus dem er trinken konnte, und sein Hunger musste eben noch ein paar Stunden warten. Ohne auf seine Erschöpfung, das Brennen am Hals und den dumpfen Schmerz im Knöchel zu achten, rückte er sich den Rucksack zwischen den Schulterblättern zurecht und wandte sich nach Süden.

Die ersten Vögel begannen zu singen, und am östlichen Horizont war schon ein farbloser Lichtschein zu sehen, als er sich dem Treffpunkt näherte. Der Klang leiser Männerstim-men ließ ihn erschreckt innehalten. Er schlich weiter, bis er verstehen konnte, was sie sagten, während sie plätschernd pinkelten.

» … eine Stunde noch und dann nichts wie nach Hause und ins Bett.«

»Ich wette mit dir, die verhängen eine Urlaubssperre und zwingen uns, Überstunden zu machen.«

»Das ist doch Schwachsinn. Der ist mittlerweile über alle Berge. Sollen doch ruhig die Kollegen irgendwo anders das Vergnügen haben, ihn zu finden.«

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»Kann schon sein, aber du kennst ja Cave. Der ist knallhart. Die Straßensperren hält der noch mindestens vierundzwanzig Stunden aufrecht. Hast du noch Kaffee übrig?«

»’ne halbe Tasse. Kannst du gerne haben. Noch einen Tropfen Koffein, und ich kann bis Sonntag nicht schlafen.«

Während die beiden Männer zurück zum Wagen gingen, kroch Smith vorsichtig weiter, bis er im Schutz einer Hecke davonschleichen konnte. Zwei Felder weiter zog er seine Karte aus der Plastikhülle, froh darüber, dass er so umsichtig gewesen war, sie zu behalten. Die Polizei konnte unmöglich sämtliche kleinen Straßen in der Gegend gesperrt haben. Er suchte sich einen namenlosen Feldweg aus und rief dann erneut Wendy an. Er gab ihr den neuen Treffpunkt durch und wies sie an, Decken, Verbandszeug, etwas zu essen und zu trinken mitzubringen.

Sie konnte seine Briefe um halb neun abholen, was bedeutete, dass sie spätestens um Viertel nach zehn bei ihm wäre. Als er den Feldweg erreichte, stellte er erleichtert fest, dass weit und breit keine Polizei zu sehen war. Er setzte sich hin und wartete. Um halb elf hatte er sie schon wieder angerufen und erfahren, dass sie noch fünf Meilen weit weg war. Er wollte sie beschimpfen, doch dann fiel ihm ein, dass sie jetzt seine letzte Rettung war. Das Gefühl der Abhängigkeit war unangenehm, und er beschloss, dass sie verschwinden musste, sobald sie alles Notwendige getan hatte. Während er wartete, malte er sich aus, wie er sie loswerden wür-de. Es war ein amüsanter Zeitvertreib, und er lächelte, als sie endlich kam.

Auf ihrem Gesicht lag ein ungewohnt furchtsamer Ausdruck, den er zunächst ihrem schlechten Gewissen zuschrieb, weil sie zu spät kam, aber als sie ihm nicht in die Augen sehen konnte, begann er, einen anderen Grund zu argwöhnen.

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Während der Fahrt, als er im engen Kofferraum des Peugeot versteckt lag, musste er nicht nur gegen seine Klaustrophobie ankämpfen, sondern noch dazu gegen die Panik, dass sie ihn ausliefern würde. Als sie schließlich irgendwo bei Hay in si-cherem Abstand von der Autobahn anhielten, hatte er sich vor Angst übergeben.

Er wechselte vom Kofferraum zum Fußraum vor der Rückbank und breitete Decken über sich. Für jemanden, der auf engem Raum Angstzustände bekam, war es noch immer schlimm, aber es war eine Verbesserung. Sie hielten auf einem menschenleeren Parkplatz, und er ließ zu, dass sie ihm die Wunden mit frischem Wasser von einem Trinkbrunnen auswusch, bevor sie sie verband.

»Wie schlimm ist es?«

»Das auf der Wange ist bloß ein Kratzer, aber der Schnitt am Kinn ist schlimm. Das gibt eine Narbe. Und bei der Wunde am Hals hast du Glück gehabt. Die ist keine zwei Zentimeter neben einer Hauptarterie und ziemlich tief.«

Ihm fiel auf, dass sie nicht gefragt hatte, was passiert war, und er genoss die Macht, die er über sie hatte.

»Ein dummer Unfall. Nächstes Mal bin ich vorsichtiger«, erklärte er.

Sie nickte, ohne aufzublicken, aber die Tatsache, dass er freiwillig eine Information geliefert hatte, machte ihr Mut.

»Wo fahren wir hin?«

»Nord-Devon.«

»Für wie lange?«

»So lange, wie’s dauert. Was hast du auf der Arbeit gesagt?«

»Dass ich immer noch krank bin. Ich war schon ein paar Tage nicht zum Dienst.«

»Dann rechnen die also in der nächsten Zeit nicht mit dir.«

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Ihre Krankheit war unwichtig.

Später am Nachmittag hielt er sich versteckt, während sie loszog, um ihnen ein Zimmer zu besorgen. Sie blieb lange weg, und er regte sich auf. Als sie zurückkam, schlug er sie so fest, dass ihr Ohr rot anlief.

»Es ist Sommer. Es war alles belegt, aber ich hab eine Pension am Stadtrand von Bideford gefunden, wo kurzfristig jemand abgesagt hatte. Ich hab der Besitzerin erklärt, dass du kürzlich einen Autounfall gehabt hast. Das Zimmer ist im Erdgeschoss, nach hinten raus. Es ist klein, aber das tut’s doch, oder?«

»Muss es wohl.«

»Ich hab dir den hier gekauft.« Sie reichte ihm einen Gehstock mit geschnitztem Horngriff.

»Brauch ich nicht.«

»Aber das ist besser für die …«

»Die was?« Ihre ängstliche Unsicherheit amüsierte ihn.

»Das macht die Geschichte mit dem Unfall überzeugender.

Und wenn ich dir am Kinn ein größeres Pflaster verpasse und du den anderen Arm in der Schlinge trägst …«

»Mach dich nicht lächerlich.« Aber er ließ sich das Pflaster aufkleben und willigte ein, den Stock zu benutzen.

Normalerweise hörte er keine Nachrichten, weil er nie damit gerechnet hatte, dass die Polizei ihm auf den Fersen sein könnte, aber seit er sie an seinem Cottage gesehen hatte, war ihm klar geworden, dass sie ihm möglicherweise durch Griffiths’ Verrat auf der Spur waren. Jetzt war es wichtig zu wissen, was sie wussten. Er schaltete das Autoradio ein. Als die Nachrichten kamen und er die erste Meldung war, beobachtete er Wendy aus den Augenwinkeln. Ihr Gesicht blieb reglos, und ihre Miene sah aus wie in Stein gemeißelt. Sie zeigte keinerlei Reaktion, und das verriet ihm, dass sie Be-532

scheid wusste. Wenn sie irgendwelche Zweifel gehabt hätte, hätte sie angehalten und ihn mit Fragen bombardiert.

»Die liegen falsch. Das war ich nicht.« Er sagte das, damit sie ihm zustimmen konnte.

»Natürlich. Das weiß ich doch.« Ihre Stimme klang dumpf und ausdruckslos.

In diesem Moment war er wirklich von ihr fasziniert. Er starrte auf ihr aschblondes Haar, das zu dem unvermeidlichen Pferdeschwanz zusammengebunden war, auf die Sommer-sprossen und die blassblauen Augen. Trotz ihres mageren Körpers und des unscheinbaren Gesichts war sie nicht hässlich. Sie hätte einen Mann finden können. Diese unverbrüchliche Treue zu ihm deutete eher auf Dummheit hin als auf Mut, aber ihm konnte es ja egal sein. Nur noch ein paar Ta-ge, höchstens, dann wäre sie ihm nicht länger nützlich. Bei dem Gedanken musste er lächeln.

»Was ist?«

»Was soll sein?«

»Was hast du gerade gedacht?«

Jetzt, da Telford nur noch eine ferne Erinnerung war, saß er neben ihr auf dem Beifahrersitz. Der Blick durch die Windschutzscheibe hielt seine Klaustrophobie im Zaum, und das Fenster auf seiner Seite war ganz geöffnet, sodass er sich weniger eingesperrt fühlte.

»Was willst du wissen?« In seiner Stimme schwang eine leise Warnung mit.

Sie runzelte die Stirn und überlegte offensichtlich, wie sie weiterreden konnte, ohne ihn zu verärgern.

»Du hast so seltsam geguckt, mehr nicht.«

Er lachte, beugte sich vor und küsste sie mit einer Lust, die sie beide überraschte. Es war viele Jahre her, dass ihr Körper ihn irgendwie angezogen hatte, aber der Gedanke, sie zu tö-

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ten, hatte etwas Erotisierendes. Er schob eine Hand zwischen ihre Beine und zwängte seine Finger weiter nach oben. Die Verblüffung auf ihrem Gesicht belohnte ihn. Dieses Verhalten war so ungewöhnlich für ihn. Es kam fast einer Art Vorspiel nahe, etwas, womit er sich nie abgegeben hatte.

Wortlos hielt sie am Straßenrand und stellte den Motor ab.

»Da sind wir.«

Er zog die Hand weg, schenkte ihr seinen hinreißendsten

»Ich-steh-auf-dich«-Blick, den sie vermutlich noch nie zuvor gesehen hatte, und griff nach seinem Gehstock. Weil er ein kluger Junge war, humpelte er auf dem Fuß, mit dem er am Vortag umgeknickt war, obwohl es kaum noch wehtat.

In der Pension angekommen, schaltete er den Fernseher ein und vögelte sie, noch ehe sie Zeit zum Auspacken hatte.

Es war für sie beide erstaunlich befriedigend. Hinterher streichelte sie die Seite seines Gesichts, wo kein Verband war.

»So hast du mich schon jahrelang nicht mehr behandelt.«

Doch anstatt einfach nur dankbar zu sein, stellte sie eine saub-löde Frage. »Warum?«

Er konnte schlecht antworten: »Weil ich mir dabei vorgestellt habe, wie ich dich umbringe, du dämliche Kuh«, deshalb lächelte er nur geheimnisvoll.

»Schieb los und sag der Besitzerin, ich möchte mein Abendessen aufs Zimmer haben. Du kannst im Speiseraum essen, aber sei um neun wieder hier.«

Als sie aus dem Zimmer gegangen war, verbrannte er Griffiths’ Briefe ungelesen und spülte die Asche in der Toilette runter. Als die schwarzen Überreste verschwanden, erfasste ihn ein Hochgefühl. Er hatte das Mädchen getötet und war trotz extremer Risiken davongekommen. Jetzt würden sie ihn nicht mehr finden, nicht mit seiner Fähigkeit, sein Aussehen zu verändern und in der Masse unterzutauchen. In nur 534

wenigen Tagen würde er dieses Kapitel seines Lebens abschließen und ganz neu anfangen. Mit seiner Intelligenz, seinem guten Aussehen und seinem Charme würde das ein Kinderspiel werden.

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Kapitel einunddreißig

Nur das unberechenbare Wetter verhinderte, dass Nightingales Tage in öder Langeweile versanken. Wäre da nicht das Versprechen gewesen, das sie ihrer toten Halbschwester gegeben hatte, sie hätte die Farm längst verlassen, aber zuerst musste sie nun mal das Grab finden. Sie hatte voller Zuversicht angefangen, doch ihr Optimismus war inzwischen purer Entschlossenheit gewichen, während sie sich mit der Sense in der Hand methodisch vorarbeitete und nieder-gemähtes Grün hinter sich ließ, das allmählich gelb wurde.

Mit ihrer New-Age-Einstellung hatte Lulu dem Baby eine christliche Beerdigung verweigert, aber Nightingale konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter auch darauf verzichtet hatte, das Grab irgendwie zu markieren. Nach nunmehr achtundzwanzig Jahren mochte zwar alles verwittert sein, aber irgendetwas war bestimmt noch zu erkennen.

Nightingale hatte ausgerechnet, dass sie bei ihrem Arbeits-tempo mindestens dreißig Tage brauchen würde, um die ganze Umgebung der Farm zu durchforsten. Am neunten Morgen ihrer Suche wachte sie früh auf, aß ein üppiges Frühstück aus Obst, Eiern, Schinken und Toast und trat dann hinaus in den dampfenden Küchengarten. Es war erst sieben, doch die Sonne war schon heiß und die Luftfeuchtigkeit hoch. Nightingale trug Shorts, aber ein Arbeitshemd mit langen Ärmeln, um die Arme vor Dorngestrüpp und Brennnesseln zu schützen, die sich wehrten, wenn sie ihnen zu Leibe rückte.

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Sie beschloss, statt weiter systematisch vorzugehen, sich lieber auf Bereiche zu konzentrieren, die ihr wahrscheinlich erschienen. »Wahrscheinlich« hieß: Stellen, die ihrer Mutter vermutlich gefallen hatten. Sie hatte die Fotos studiert, die ihre Tante gemacht hatte, und sich drei auffällige Bäume und einen Bach mit flachen Felsen am Rand als Orientierungspunkte eingeprägt.

Irgendwann gegen Mittag – sie trug schon längst keine Uhr mehr, aber die Schatten waren kurz – ließ Nightingale sich unter einer alten Eberesche nieder. Wie jeden Morgen hatte sie noch nicht viel geschafft, aber zumindest hatte sie nicht in der prallen Sonne arbeiten müssen. Sie aß ihren Lunch, genoss das salzige Aroma des Käses und die süßen Tomaten. Die Literflasche Wasser war leer, und sie saugte dankbar die Feuchtigkeit aus den roten Früchten, den Rück-en gegen den warmen Baumstamm gelehnt. Anscheinend war sie ein Weilchen eingenickt. Die Schatten waren nämlich länger geworden, als sie die Augen aufschlug, und ihre Schultern waren steif. Mit einem leisen Ächzen stand sie auf und beschloss, als Nächstes das Gestrüpp am Bach zu lichten.

Der Bach kam aus den Bergen hinter der Farm, plätscherte ein paar Meilen vor sich hin und verschwand dann unter der Erde, um nur wenige Meter vor dem Mühlrad mit sehr viel größerer Kraft wieder aufzutauchen. Sobald sie dort war, stieg ihre Hoffnung. Es war so ungeheuer friedlich, als ob die Welt vor dem Ring aus Ebereschen, die die Quelle des Bachs be-wachten, Halt gemacht hätte. Auf einer Seite des Wassers lag eine Steinplatte, uralt und mit Moos bedeckt, die trotz der Neigung der Böschung ganz gerade auf stützenden Felsen ruhte. Nightingale stellte sich vor, wie Druiden hier irgendwelche heiligen Handlungen vollzogen hatten, bevor sie der Flussgöttin Opfergaben darbrachten. Das Wasser war kalt und klar.

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Anstatt die Farne und Gräser wegzuschneiden, bog sie sie beiseite, weil sie das üppige Grün nicht mit hässlichen Nar-ben verunstalten wollte. Sie brauchte nicht lange, um den Grabstein zu finden: schwarzer, glatt polierter Granit, in den ganz zart und fein eine Hirschkuh mit Kitz eingemeißelt war.

Das Kleine stand behütet zwischen den Beinen der Mutter und hatte sich gegen ihre schützende Wärme gelehnt. Es war ein trauriges kleines Geschöpf, oder lag es an den Umständen, dass Nightingale den Eindruck hatte? Große Augen blickten, als würde die Angst vor der Welt das Jungtier für alle Zeit an die Mutter binden. Aber es war vor allem das Gesicht der Mutter, bei dessen Anblick Nightingale einen Kloß im Hals bekam: eher Mensch als Tier, der Mund nach unten gezogen und die Augen dunkel vor Trauer.

Sie säuberte den Stein behutsam von Gras und Unkraut und rupfte das Moos aus den tiefer eingemeißelten Linien. »Meiner geliebten Louise, in ewiger Liebe.« Als sie ihren eigenen Namen las, war sie fast so schockiert wie bei der Entdeckung ihrer wahren Identität. Ihr Hass auf Amelia war abgeebbt, denn schließlich war die Täuschung das Werk von zwei Menschen gewesen. Als sie das Grab vor sich sah, gestand sie sich zum ersten Mal ein, was ihr Vater da Ungeheuerliches getan hatte.

Er hatte einer Frau, die er doch angeblich liebte, das Kind genommen und ihr unsäglichen Schmerz zugefügt, um seinen eigenen Verlust leichter ertragen zu können.

Würde ihre wahre Mutter ihre geliebte Louise überhaupt noch einmal lieben können, oder war es dazu für immer zu spät? Nightingale hätte gerne um ihre tote Schwester geweint und ein Gebet für sie gesprochen, doch weder die Tränen noch die Worte wollten kommen. Es war, als blickte sie auf ihr eigenes Grab hinunter, während in ihrer Haut eine Betrü-

gerin lebte.

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Erst sehr spät kehrte sie zum Haus zurück, wo sie sich zu ihrer Schande den Bauch voll stopfte und dann schnurstracks ins Bett ging. Regen weckte sie, ein kräftiger Schauer, der aber sicher bald wieder aufhören würde. Auf dem Wecker neben ihrem Bett sah sie, dass es halb sechs Uhr morgens war.

Sie würde nicht mehr einschlafen können und beschloss aufzustehen. Wie immer konnte sie zwischen zwei Wegen in die Küche wählen: über den oberen Flur und dann die Haupt-treppe mit den morschen Stufen hinunter oder über die Hintertreppe, die direkt in die Küche führte. Sie entschied sich für die zweite Möglichkeit, wie früher als Kind. Der Gedanke, dass sich gleich hinter einer Tür in der Küche eine Treppe verbarg, hatte sie immer fasziniert.

Sie hatte das Grab ihrer Halbschwester gefunden, und das hatte die Welt für sie verändert. Die Erkenntnis war zwar schmerzlich gewesen und hatte sie sehr durcheinander gebracht, aber zum ersten Mal ergab ihr Leben einen Sinn. Sie wusste nun, wer sie war, und sie kannte die Gründe für ihre frühere Entwurzelung. Jetzt musste sie nur noch entscheiden, was aus ihr werden sollte.

Das hieß also … ja was? Sie trank ihren Tee und zupfte vorsichtig an überkrusteten Erinnerungen. Sie könnte zu-rückkehren, in ihre Wohnung, zur Arbeit und zu ihren Freunden. Falls sie bei der Polizei blieb – und das war der einzige Beruf, zu dem sie sich irgendwie berufen fühlte –, dann an dem Ort ihrer Wahl. Sie würde in Harlden bleiben oder ganz aufhören.

Das würde natürlich die Konfrontation mit Andrew Fenwick bedeuten. Bei dem Gedanken stellte sich das übliche, dumpf traurige Gefühl ein. Beziehungen zwischen Kollegen waren nicht selten, aber sie wusste, dass er nichts davon hielt, denn ihm musste einfach davor grausen, wenn sich die Gren-539

ze zwischen Privatleben und Beruf verwischte. Sie waren nämlich vom selben Schlag, sie und Andrew, verschlossene, zurückhaltende Menschen, die persönlichen Freiraum brauchten, aber auch achteten. Sie trank ihren Tee aus und spülte automatisch die Tasse ab. Es war Zeit, nach Clovelly zu gehen und sich wieder dem schrecklichen Typen im Internetcafé zu stellen. Dann würde sie etwas Weihwasser aus der Kirche mitnehmen, um das Grab ihrer kleinen Schwester zu weihen, bevor sie sich an die mühselige Arbeit begab, das Haus fertig zu machen und zu packen.

Nightingale war sehr früh am Hafen, gerade rechtzeitig, um die heimkehrenden Fischerboote zu sehen, die ihren frischen Fang kurz darauf gegen eine menschliche Fracht austauschen würden, kleine und große Kinder, die schon darauf brannten, mit rotierenden Metallködern Makrelen zu fischen. Es würde wieder ein heißer Tag werden.

Die Sonne erhellte das Meer wie in Zeitlupe, als sie langsam hinter den Bergen aufstieg. Eine magische halbe Stunde lang konnte Nightingale sich das Dorf so vorstellen, wie es bei seiner Entstehung im sechzehnten Jahrhundert gewesen war. Es war ein vollkommen sicherer Hafen an der gefährlichen Küste von Nord-Devon. An diesem frühen Morgen war es so friedlich, die Stille nur vom Kreischen der hungrigen Möwen und den gelegentlichen Rufen der Fischer durchbro-chen, zeitlose Laute, die die Ruhe der Szenerie nur noch stärker spüren ließen.

Der Zeitungsladen machte als Erster auf, dann ein Café direkt am Hafen, das Frühstück für Leute anbot, die keine Lust hatten, sich selbst eins zu machen. Sie hatte zwar schon ge-frühstückt, war aber wieder hungrig geworden, also kaufte sie sich die Times und ging dann in das Café, wo sie sich ein 540

Schinkensandwich und eine Tasse Tee bestellte. Es war die erste Zeitung, die sie seit ihrer Flucht aus Harlden in Händen hielt.

Auf der Titelseite war die für die Zeitungslandschaft im August übliche Mischung aus Belanglosigkeiten. Ein Rekord-regen im Westen Schottlands wurde immerhin mit dem Foto eines Mannes dokumentiert, der in einem Kanu an einem Schild vorbeipaddelte, das Richtung Stadtmitte zeigte. Auf der nächsten Seite wurde der Außenminister kritisiert, der lieber Urlaub in Portugal machte, als auf eine Rebellion in Zentralafrika angemessen zu reagieren, und über die neueste Freundin von Prince William spekuliert.

Seite drei widmete sich den Inlandsnachrichten, vor allem dem Mord an einer Achtzehnjährigen, die vor drei Tagen in ihrem Elternhaus getötet worden war, und der Fahndung nach dem mutmaßlichen Täter. Es war deprimierend, aber auf Nightingale hatte es eine eigenartige Wirkung. Anstatt den Artikel zu lesen und weiterzublättern, betrachtete sie ihn fast so wie Beweismaterial, das untersucht und ausgewertet werden musste. Es war ein waghalsiges Verbrechen, offenbar das Werk eines besessenen Psychopathen. Sie murmelte dem Caféinhaber ein leises »Bin gleich wieder da« zu, ging hinaus und kaufte sich den Telegraph und die Daily Mail. Ohne auf die anderen Nachrichten zu achten, schlug sie in beiden Zeitungen gleich die Berichterstattung über den Mord auf. Der Telegraph zitierte ausführlich den die Ermittlungen leitenden Chief Inspector sowie einen Superintendent von der Londoner Polizei, der einen Zusammenhang zwischen dieser Tat und anderen in Wales und London für möglich hielt.

Die Polizei bat um Mithilfe bei der Fahndung nach einem gewissen David Smith, siebenundzwanzig Jahre alt, von dem ein Phantombild abgedruckt war, das Nightingale genau stu-541

dierte und sich automatisch einprägte. Zwischen den Zeilen des Artikels konnte sie lesen, dass die Polizei trotz des dringenden Tatverdachts gegen Smith nur wenig über die Beweislage publik machen wollte.

Da sich das Café langsam füllte, bestellte sie noch einen Tee, um nicht den Anspruch auf ihren Tisch zu verlieren und auch noch in Ruhe die Mail lesen zu können. Wie erwartet, wurde hier sehr viel stärker auf die menschliche Seite eingegangen. Sie las die Beschreibung von Ginnys kurzem Leben und rang mit den Tränen, als die trauernden Eltern zitiert wurden. Die Pressekonferenz der Polizei wurde ausführlich wiedergegeben, und es war ein Foto dabei. Sie erkannte Fenwick sofort und hätte fast den Tee verschüttet. Er wurde in dem Artikel nicht erwähnt, und sie verstand nicht, was er mit dem Fall zu tun hatte. War er während ihrer Abwesen-heit zurück nach London gegangen? Sie starrte lange auf sein Bild, während ihr Tee kalt wurde. Er blickte ernst, so wie sie ihn kannte. Wieder wurde ihr klar, dass er in erster Linie Po-lizeibeamter war und erst in zweiter Linie ein Mann. Nein, verbesserte sie sich, in erster Linie war er Vater.

Sie ließ die Zeitungen für spätere Gäste im Café liegen und ging die steile Straße hinauf zu dem Internetcafé. Außer dem dünnen, hungrig aussehenden Mann hinter der Theke war das Café leer. Als sie auf die eingegangenen E-Mails blickte, spürte sie gleich wieder die alte Unruhe. Außer einer neuen Nachricht von ihrem Bruder hatte sie etliche E-Mails vom Präsidium in Harlden bekommen, die sie ungeöffnet löschte, sowie eine von Fenwick. Zum Glück waren von Pandora keine dabei. Ihr Stalker hatte also endlich die Lust verloren.

Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Mail von Fenwick.

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Liebe Nightingale (Verzeihung, aber der Name passt zu Ihnen), wir versuchen verzweifelt, Sie zu finden. Es bestehen äußerst schwerwiegende Gründe, um Ihre Sicherheit besorgt zu sein. Ich möchte das nicht per E-Mail erläutern, aber die Dringlichkeit wird Ihnen hoffentlich klar werden, wenn ich sage, dass wir einen Komplizen vermuten und fürchten, dass er da weitermacht, wo W. G. aufgehört hat.

Wir müssen davon ausgehen, dass er es auf Sie abgesehen hat.

Bitte nehmen Sie die Gefahr ernst, und rufen Sie mich an. Meine Handy-Nummer haben Sie.

Mit bestem Gruß Andrew Fenwick

»Schlechte Nachrichten?« Der Mann hinter der Theke hatte sie beobachtet.

»Wie bitte?«

»Sie sehen so verstört aus.«

»Nein, alles in Ordnung, danke.«

Aber es war weiß Gott nicht alles in Ordnung. Sie dachte an die Zeitungen, die einen möglichen Zusammenhang zwischen der Ermordung des Mädchens und anderen Verbrechen erwähnt hatten, und an Fenwicks Anwesenheit bei der Pressekonferenz. Falls David Smith Verbindung zu Griffiths hatte, wäre das eine Erklärung dafür.

»Könnte ich mal kurz telefonieren?«

»Hier geht das nicht, aber unten am Hafen ist eine Telefonzelle. Eigentlich hätte ich ja gedacht, dass so eine Klassefrau wie Sie ein brandneues Handy hätte.« Er grinste und zeigte unregelmäßige Zähne und mehr Zunge, als Nightingale lieb war.

Sie antwortete ihm nicht mal. Der plumpe Annäherungs-543

versuch war ohnehin nur aufgesetzt. Sie sah ihm an, dass er in Wahrheit kein Interesse an ihr hatte. Und sie würde ihm auf keinen Fall verraten, dass diese »Klassefrau« einen leeren Akku im Handy hatte und in einer Ruine aus dem siebzehnten Jahrhundert ohne elektrischen Strom wohnte. Sie ging zu der Telefonzelle, wählte die Nummer des Präsidiums in Harlden und bat, mit Inspector Fenwick verbunden zu werden. Annes Stimme war unverkennbar.

»Tut mir Leid. Der Chief Inspector ist unterwegs. Kann Ihnen vielleicht jemand anders weiterhelfen?«

»Hier spricht Louise Nightingale. Er hat versucht, mich zu erreichen.«

»Ach, Louise! Gott sei Dank. Hier machen sich alle schreckliche Sorgen um Sie. Geht’s Ihnen gut?«

Nightingale verkrampfte sich innerlich. Die Fragerei ging schon los.

»Besser als je zuvor. Ich versuch’s auf seinem Handy.«

»Aber ich könnte doch jemand anderen an die Strippe holen.«

»Nein. Nicht nötig. Ich bräuchte nur seine Handy-Nummer.«

Sie legte auf und atmete tief durch, bevor sie erneut wähl-te. Der Ruf ging direkt auf seine Mailbox, also hinterließ sie eine kurze Nachricht, einschließlich der Nummer von ihrem Handy. Jetzt musste sie nur noch eine Möglichkeit finden, den Akku aufzuladen. Ziemlich weit den Berg hoch war ein altes Gasthaus. Wenn sie sich dort einen Kaffee bestellte, würden die ihr vielleicht erlauben, das Handy aufzuladen. Die Kellnerin tat ihr gern den Gefallen. Nightingale trank in Ru-he ihren Kaffee und ließ sich Fenwicks Warnung durch den Kopf gehen. Ein Komplize … dass er da weitermacht, wo W. G.

aufgehört hat … müssen davon ausgehen, dass er es auf Sie abgese-544

hen hat. Hier würde sie kein Mensch finden. Die Nachricht bedeutete höchstens, dass sie ihre Rückkehr nach Harlden noch etwas hinausschieben sollte, was ihr gar nicht schmeckte, da sie sich nun mal entschlossen hatte abzureisen.

Sobald das Telefon aufgeladen war, ging sie zur Kirche, um Wasser aus dem Taufbecken zu holen. Es kam ihr vor wie ein Sakrileg, sich unerlaubt etwas so Heiliges zu nehmen, aber sie hoffte, dass Gott ihr vergeben würde. Sie nahm das Wasser mit zu dem Ebereschenwäldchen, wo sie feststellte, dass sie doch endlich beten konnte. Die Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen, dann träufelte sie das Wasser auf den Grabstein. Ruhig sah sie zu, wie die Tropfen zusammen-liefen und dann allmählich verdunsteten. Als alles getrocknet war, seufzte sie und erhob sich.

»Auf Wiedersehen, Schwesterchen«, flüsterte sie und war plötzlich den Tränen nahe. »Ich werde dich nicht vergessen.

Eines Tages werde ich deinem Bruder von dir erzählen, aber du musst mir die Entscheidung überlassen, wie und wann.«

Sie hauchte einen zarten Kuss auf den Stein, wandte sich ab und ging zur Klippe hinauf. Die Montbretien, die an diesem Teil der Küste wild wucherten, fingen gerade an zu blühen, ließen die Farbe erahnen, die bald die Ebereschen umfluten würde. Sie pflückte ein paar, um sie mit nach Hause zu nehmen, und schaute dann eine Weile den Schmetterlingen zu, die in der Hitze nach Nektar suchten.

An der höchsten Stelle schaltete sie ihr Handy ein, stellte aber enttäuscht fest, dass sie keinen Empfang hatte. Wenn es nicht einmal hier oben möglich war, dann ging es wahrscheinlich nirgendwo. Um Fenwick zu kontaktieren, würde sie wieder nach Clovelly gehen und ihn erneut von der Telefonzelle aus anrufen müssen, aber für heute hatte sie genug Menschen um sich gehabt. Morgen wäre noch früh genug.

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Er schickte sie gleich morgens los, um das Päckchen für Griffiths zur Post zu bringen und eine Wanderkarte von der Gegend zu kaufen. Sobald sie weg war, inspizierte er seine Verletzungen und verarztete sie neu mit kleineren Pflastern und Verbänden. Die Schwellung an seinem Knöchel war fast verschwunden, daher konnte er ein paar Übungen machen. Er brauchte Kraft in den Beinen, und außerdem hasste er es, sich irgendwie behindert zu fühlen. Die Muskeln taten höllisch weh, aber er hielt den Schmerz aus und trainierte verbissen, bis er vor Schweiß triefte. Um neun Uhr ging er ins Bad und duschte.

Er konnte Toast und Schinken riechen. Wendy hätte inzwischen wieder da sein müssen, und seine Ungeduld mit ihr wurde immer stärker. Allmählich hatte er das Gefühl, ihr nicht mehr vertrauen zu können, was ihre Nützlichkeit für ihn erheblich verringerte. Um halb zehn reichte es ihm, und er ging allein zum Frühstück. Jedes Zucken in den Muskeln, jedes Ziehen in den Wunden machte ihn wütender. Die kleine Schlampe hatte es ihm ordentlich heimgezahlt, und am liebsten hätte er sie gleich noch mal umgebracht. Der Wunsch, jemandem Schmerzen zuzufügen, war stark. Ihm war in letzter Zeit aufgefallen, dass er an manchen Tagen bereits mit diesem Verlangen erwachte, und das war früher nie vorgekommen. Wenn Wendy hier gewesen wäre, hätte er ihr eine Tracht Prügel verabreicht, weil sie ihn mit ihrer Ruhe nervte. So jedoch musste er seine Wut unterdrücken und eine Leidensmiene aufsetzen, damit die Besitzerin der Pension keinen Argwohn schöpfte.

Er öffnete die Tür und sah, dass der kleine Frühstücksraum gerammelt voll war. Nur noch ein Tisch genau in der Mitte war frei. Er humpelte dorthin und stützte sich dabei schwerer auf seinen Stock, als nötig gewesen wäre. Eine dicke Frau 546

kam herein und brachte ein riesiges Tablett, auf dem etliche Teller mit einem appetitlich duftenden englischen Frühstück standen.

»Mr Wilmslow. Wie schön, dass Sie hier sein können. Ihre Gattin meinte, Sie müssten vielleicht alle Ihre Mahlzeiten auf dem Zimmer einnehmen. Was darf ich Ihnen bringen?«

Er bestellte ein großes Frühstück mit Toast, Tee und Orangensaft.

»Donnerwetter! Für Ihr Befinden haben Sie aber einen ge-segneten Appetit.«

»Mein Magen ist ja zum Glück unversehrt geblieben.«

Die Erwiderung hatte heiter klingen sollen, scherzhaft, aber es klappte nicht. Ihr Lächeln erstarb, und sie trat den Rückzug an.

Sein Frühstück kam, und er aß langsam, schaute unentwegt von seinem Teller zum Gartentor, das er durch das Er-kerfenster sehen konnte. Als er den Tee getrunken und mit dem letzten Stück Toast den Teller sauber gewischt hatte, war sie noch immer nicht wieder da. Eine Uhr in der Diele schlug zehn, als er zurück aufs Zimmer ging, wo er sich gleich daran machte, seine wenigen Habseligkeiten zu packen. Er war hier nicht mehr sicher, falls sie ihn im Stich gelassen hatte. Er fluchte, weil er sie nicht schon am Tag zuvor getötet hatte. Dann kam ihm ein entsetzlicher Gedanke. Was, wenn die Polizei sie gefasst hatte oder die Pension umstellt war?

Das Zimmer ging auf eine Seitenstraße. Der Postbote fuhr vorbei, dann ein paar Autos. Passanten gingen ganz normal auf und ab. Er hatte nicht den Eindruck, in der Falle zu sitzen. Er schaltete den Fernseher ein. Ein Sprecher der Polizei wurde gerade interviewt. Ein untersetzter Schotte mit rotblondem Haar führte das Wort, aber in dem dunkelhaarigen Mann hinter ihm erkannte er den Polizisten, der in seinem alten Haus 547

gewesen war. Er blickte ernst, hielt die finsteren Augen auf die Kamera gerichtet, als fordere er Smith heraus, sich zu zeigen.

Gefährlicher als der geschwätzige Schotte, aber seine Miene verriet ihn. Sie wussten nicht, wo er war, und das machte sie stocksauer. Er beschloss, Wendy noch eine halbe Stunde zu geben, dann würde er ohne sie verschwinden.

Wendy stellte den Wagen wieder möglichst nahe an dem ursprünglichen Parkplatz ab. Sie hätte es fast geschafft, aber als sie auf die Hauptstraße bog, hatte sie der Mut verlassen.

Wenn sie weglief, würde er sie finden, egal, wo sie sich versteckte, und wenn sie zur Polizei ging … sie verbot sich den Gedanken. Unmöglich. Sie war schon viel zu lange fügsam und willig. Selbst wenn sie sich hin und wieder rebellischen Tagträumen hingab, sie blieben doch nur das, was sie waren, nämlich reine Phantasievorstellungen.

Als sie losgefahren war, hatte sie in sich nach einem Fun-dament gesucht, auf dem sie ihre Rebellion aufbauen könnte.

Stattdessen war sie nur auf Treibsand gestoßen, der sich zu der Gestalt formte, die Dave erwartete. Und so hatte sie den Wagen gewendet und war zurück nach Bideford gefahren.

Ihr Gesicht war tränenüberströmt gewesen, und ihr linker Fuß hatte so heftig gezittert, dass sie kaum die Kupplung durchtreten konnte. Nachdem sie das Auto eingeparkt hatte, blieb sie lange noch sitzen, um ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen. Sie war starr vor Angst. Er würde wütend sein, und nur die dünnen Wände der Pension würden ihn daran hindern, sie bis zur Bewusstlosigkeit zu prügeln, wie er das schon einmal getan hatte. Schließlich zwang sie sich auszusteigen. Die Tüte mit den Einkäufen trug sie vor sich wie einen Schutzschild.

Er starrte zum Fenster hinaus, als er die Zimmertür aufgehen hörte.

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»Mach die Tür zu.« Seine Stimme war ausdruckslos. »Wo zum Teufel warst du so lange?«

»Ich … ich hab keine passende Karte gefunden. Ich musste überall suchen.«

Sie log.

»Komm her.« Ein kaum hörbares Flüstern, doch sie hörte den Hass darin und schüttelte abwehrend den Kopf. »Komm her.« Er stellte den Fernseher lauter, und sie begann, vor Angst haltlos zu zittern.

»Nein. Dave, bitte. Es tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat.«

»Komm.« Er kommandierte sie wie einen Hund, und hinter der Selbstbeherrschung war seine Wut fast greifbar.

Sie kam auf ihn zu, so zögerlich, dass er vor Zorn nach Luft schnappen musste. Ihre Angst war lachhaft. Sie erregte und erboste ihn gleichermaßen.

Der erste Schlag traf sie so heftig ins Gesicht, dass ihre Brille herunterflog. Sie stieß ein verblüfftes Stöhnen aus und wollte zurückweichen, doch er boxte sie in den Magen, und sie klappte zusammen. Er stieß sie seitlich aufs Bett, wo sie sich schutzsuchend ganz klein zusammenrollte, das Gesicht zwischen den Knien. Vergeblich. Er packte ihre Haare und riss ihr den Kopf nach hinten, damit er ihr in die Augen sehen konnte.

»Tu das nie wieder, verstanden?«

Beim letzten Wort zog er so heftig, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Ihr langer weißer Hals war entblößt, und er spürte den Drang, sie zu beißen.

»Schließ die Tür ab.«

»Nein, Dave, ich hab doch gesagt, es tut mir leid.« Helle Flüssigkeit mit Blutfäden darin sickerte ihr aus der Nase.

»Abschließen.« Sie sprachen beide im Flüsterton, waren 549

sich der Geräusche bewusst, die um sie herum im Haus zu hören waren.

Sie tat wie befohlen, und noch ehe sie sich wieder umdrehen konnte, zog er sie nach hinten und drückte sie mit dem Gesicht aufs Bett, sodass ihre Schreie gedämpft wurden. Sie trug eine verwaschene Jeans, die er mit gewohnter Übung öffnete und nach unten zog. Er drang sofort in sie ein, hörte freudig, dass sie vor Schmerz wimmerte. Er legte die Hände auf ihre Schultern, um sich abzustützen und ihre Schreie zu ersticken. Allmählich wanderten sie nach vorne und um-schlossen ihren Hals.

Es dauerte lange, bis er zum Höhepunkt kam, aber als es so weit war, stieß er einen heiseren Triumphschrei aus.

Nachdem er wieder klar sehen konnte, stand er auf und wusch sich gründlich am Waschbecken. Sie blieb reglos liegen. Er wartete eine Weile, dann stieß er sie mit dem Fuß an.

Sie bewegte sich nicht. Er drehte sie um.

»Nun komm schon, du …« Er verstummte. Sie starrte blicklos zu ihm hoch, die Augen blutunterlaufen, die Zunge dick und geschwollen. Sie war tot.

Seine erste Reaktion war Verärgerung. Es war so unpraktisch von ihr, jetzt zu sterben! Was sollte er mit der Leiche machen? Dann kam die Angst. Er befand sich in einem fremden Haus voller Menschen, einschließlich einer neugierigen Besitzerin, die wahrscheinlich ständig die Haustür im Auge hatte, wenn sie nicht gerade im Gepäck ihrer Gäste stöberte.

Er würde sie hier drin verstecken müssen.

Das Zimmer war klein und nur mit Waschbecken, Dop-pelbett, Kleiderschrank und Fernseher eingerichtet. Er schaute unter dem Bett nach. Staubflocken und Flusen verrieten ihm, dass hier nicht regelmäßig sauber gemacht wurde. Er rollte sie vom Bett und schob sie darunter. Es war eng, aber 550

er schaffte es. Anschließend zog er den Volant wieder nach unten und machte das Bett. Dann stellte er ihre Reisetasche unter das Waschbecken, nahm seinen Rucksack und ging aus dem Zimmer. Mit ein bisschen Glück würde es Tage dauern, bis sie was merkten. Auf dem Weg nach draußen wurde er von der Besitzerin angesprochen, und er erklärte, er wolle sich jetzt mit seiner Frau treffen. Sie würden beide den ganzen Tag unterwegs sein. Ihren verwunderten Blick überspielte er mit seinem entwaffnenden Lächeln und ging einfach weiter, ohne dabei das Hinken zu vergessen.

Die Autoschlüssel in seiner Tasche wogen schwer. Es war lange her, dass er Autofahren gelernt hatte, aber es war ihm ja noch zwei Tage zuvor gelungen, als er die Leiche des Polizisten beseitigen musste. Jetzt war es wieder notwendig. Er hatte keine andere Wahl.

Der Wagen parkte unter einem Baum, etwas weiter weg, als er in Erinnerung hatte. Die Tür zu öffnen war leicht.

Auch hinter dem Steuer Platz zu nehmen war nicht allzu schwer. Er schaffte es sogar, mit nur einem leichten Zittern den Motor anzulassen. Die Probleme begannen, als er versuchte, die Fahrertür zu schließen. Die Fahrt in Wendys Kofferraum hatte ihn wieder an alles erinnert.

In Gedanken war er schon im Innern des Autos gefangen, festgehalten von einem Sicherheitsgurt, unfähig, richtig Luft zu holen. Er kniff die Augen zu, und das Gesicht seiner Mutter schien vor ihm zu schweben. Sie kreischte panisch, während der Wagen sich allmählich mit Wasser füllte. Sein Vater saß ruhig da, die Hände locker aufs Lenkrad gelegt, taub gegen ihre Schreie. Er hörte ihn immer und immer wieder sagen:

»Es ist besser so. Auf diese Weise wird die Welt von ihm befreit, und keiner von uns kann je wieder noch einen wie ihn erschaffen.«

551

Das Wasser erreichte jetzt die Windschutzscheibe, und der Wagen sank tiefer, in einem Winkel nach vorn geneigt. Ganz langsam rutschte er auf dem schlammigen Ufer hinab in den See.

Sein Vater hatte die Sicherheitsgurte irgendwie präpariert, sodass sie sich nicht öffnen ließen. Seine Füße wurden nass, Wasser drang durch die neuen Turnschuhe. Aber sein Vater hatte vergessen, ihm den Rucksack abzunehmen, und Dave war ein Junge, der immer gern auf alles vorbereitet war. Sein Taschenmesser steckte in der Außentasche, und er fischte es heraus und bearbeitete damit das robuste Gewebe des Gurtes.

Das Material war widerstandsfähiger, als es aussah. Während seine Mutter schrie und der Wagen wieder ein Stück nach vorne rutschte, sägte er wie besessen und atmete dabei tief, um die Ruhe zu bewahren. Er war schließlich dafür geschaffen, Gefahren zu meistern, zu entkommen und sich neuen Gefahren zu stellen. Seit Beginn der Pubertät fühlte er sich unbesiegbar und wurde immer mutiger.

Die Klinge wurde stumpf. Wasser leckte um seine Knie.

Vorne stand es seiner Mutter schon bis zur Taille, wegen der Neigung des Wagens. Sie schlug auf seinen Vater ein, kratzte, flehte, aber er sagte immer nur: »Glaub mir. Wir hätten ihn nie in die Welt setzen sollen. Schon seine Geburt hätte dich fast umgebracht.«

Dave nahm die spitze Ahle, über die alle gewitzelt hatten, damit könnte man Steine aus Pferdehufen entfernen, und fing an, Löcher in den Gurt zu bohren. Er stach so fest zu, dass er sich am Oberschenkel verletzte, was er aber erst sehr viel spä-

ter merkte. Nachdem er eine dichte Reihe von Löchern gemacht hatte, versuchte er, den Stoff dazwischen durchzuschneiden. Manchmal klappte es, manchmal nicht, das Gewebe dehnte sich vor der Klinge. Inzwischen waren seine Finger unter Wasser. Seine Mutter hatte den Hals gereckt, um den 552

Kopf über der schlammigen Brühe zu halten. Wieder glitt der Wagen mit einem Ruck wie in Zeitlupe nach vorn, über-wand irgendein Hindernis auf seinem unaufhaltsamen Weg in die kalte Tiefe des Sees. Sein Vater war so blöd gewesen, ausgerechnet an einer Stelle reinzufahren, wo das Ufer nur schwach geneigt war. Selbst mit gelösten Bremsen, und wie hatte seine Mutter an der Handbremse gezogen, bis ihr Mann ihr die Hand weggerissen hatte, ging es im Schneckentempo abwärts. Hätte er an Gott oder irgendein allmächtiges Wesen geglaubt, er hätte ein Dankgebet gesprochen. So jedoch lä-

chelte er nur gequält darüber, dass es dem Schicksal offenbar gefiel, ihn immer wieder an seine Grenzen zu führen.

Die Klinge verbog sich, und er klappte die Schere aus. Sie kam ihm zu klein vor, und einen Moment lang wurde er unsicher. Dann riss er sich zusammen und setzte die Stahlklin-gen in einem der Löcher an. Zu seiner Verblüffung gelang es ihm im Nu, den Stoff zu durchtrennen. Das nächste Stück gab schnell nach. Das dritte bot mehr Widerstand, aber er machte unermüdlich weiter.

Es herrschte Stille im Auto. Seit dem letzten Ruck nach vorn musste seine Mutter den Mund geschlossen halten. Sein Vater, größer, den Rücken durchgestreckt, starrte geradeaus.

Dave registrierte diese entsetzliche Grabesstille und sah kurz von seiner Arbeit auf. Genau im selben Moment, als hätte er seinen Blick gespürt, drehte sein Vater sich um und schaute über die Schulter nach hinten. Dave war schockiert, als er Tränen in seinen Augen und einen mitleidigen Ausdruck sah, keine Spur von Wut. Sein Vater wandte sich seiner Frau zu, die lautlos um ihr Leben rang, und lächelte ein liebevolles, trauriges Lächeln.

»Es ist besser so, Liebste.« Dann blickte er wieder geradeaus und senkte den Kopf ins Wasser.

553

Jahre später hatte er mal einen Artikel von irgendeinem schlauen Professor gelesen, der behauptete, dass es einem Menschen unmöglich sei, sich selbst zu ertränken. Wortreich wurde da erklärt, dass die meisten Selbstmörder, die von einer Klippe oder Brücke sprangen, durch den Aufprall aufs Wasser das Bewusstsein verloren und dann ertranken. Der Professor war überzeugt, dass der Überlebensinstinkt den motorischen Funktionen innewohnte, sodass selbst jemand, der sterben wollte, nach Atem ringen würde, sobald sein Kopf unter Wasser war, dass die Lungen nach Sauerstoff schreien und die Muskeln bis zur Erschöpfung kämpfen würden, um wieder an Luft zu kommen.

Der Artikel war überzeugend. Dave wusste, dass er falsch war. Sein Vater hatte den Kopf ohne den geringsten Widerstand ins Wasser gesenkt. Ein paar Mal hatte sein Körper ge-bebt, und zwar, wie Dave bis heute überzeugt war, weil er absichtlich Wasser eingesogen hatte, die Hände hatten sich leicht bewegt, aber es war kein wildes Schlagen gewesen, dann wieder Stille. Fasziniert hatte er einen Moment zugese-hen, doch dann rutschte der Wagen erneut ein Stück, und er hatte die Augen wieder gesenkt, um das letzte Stückchen des Sicherheitsgurtes durchzuschneiden. Irgendwann war sein Vater gestorben, aber Dave hatte den Augenblick verpasst, weil er mit seinem eigenen Überleben beschäftigt war.

Als der Gurt endlich nachgab, atmeten er und seine Mutter schon die letzten dreißig Zentimeter Luft im Wagen ein.

Das Dach kam bedrohlich näher. Dave schwebte vom Sitz hoch, als er sich befreit hatte, und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie ließ sich nicht bewegen.

Zuerst war er in Panik geraten, aber dann erinnerte er sich an den Physikunterricht und die Gesetze von Atmosphäre und Druck. Es lag zu viel Wassergewicht auf der Tür. Um zu 554

entkommen, musste er das Fenster öffnen, damit der Wagen vollständig geflutet wurde, und dann konnte er rausschwim-men. Seine Mutter würde natürlich ertrinken. Er schaute zu ihr hinüber, sah die hilflose Panik in ihren Augen und verachtete sie für ihre Schwäche. Sie war schon immer das willige Opfer gewesen. Selbst wenn sein Vater sie geschlagen hatte, was nicht sehr häufig und nicht sehr heftig gewesen war, hatte sie diese leidenden Augen auf sie beide gerichtet und dann weiter das Essen gekocht. Sie hatte ihm nie gezeigt, dass sie ihn liebte, selbst als er noch ganz klein gewesen war und noch immer unter den Folgen seiner problematischen Geburt gelitten hatte. Mit einem Gefühl der Befreiung wurde ihm bewusst, dass er sie hasste.

Jetzt starrte sie ihn an, flehte um Hilfe. Es war erhebend.

Er konnte der mächtigsten Frau in seinem Leben, dem Brennpunkt seiner Phobien und Phantasien, das Leben schenken oder sie dem Tod überlassen. Ihre Augen bettelten jetzt um Gnade. Er erinnerte sich daran, wie sie seine Berüh-rungen zurückgewiesen hatte, dachte an ihre misstrauischen Blicke. Ein kleiner, primitiver Teil seines Hirns, uralt und ungebildet, überlegte, wie groß die Chancen waren, ihren Gurt durchschneiden zu können, ehe das Wasser den Wagen ganz ausfüllte. Gleich null. Dieselben Zellen seines Gehirns schätzten seine eigenen Überlebenschancen ein – möglich, wahrscheinlich.

Er sah sie ein letztes Mal an, und der Anblick ihrer dichten schwarzen Haare, die auf dem Wasser trieben, zog ihn kurz in seinen Bann. Dann schüttelte er den Kopf, griff nach seinem Rucksack, kurbelte die Scheibe herunter und stemmte sich gegen die einflutenden frischen, kalten Wassermassen. Sobald die Öffnung groß genug war, schob er sich hindurch, nach oben getrieben von einem unbändigen Überlebenswillen.

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Obwohl er wusste, dass es physikalisch unmöglich war, hörte er hinter sich die Schreie seiner Mutter.

»Alles klar, Kumpel?«

Smith blickte auf, das Gesicht schweißglänzend. Ein Mann in seinem Alter, dessen Bierbauch der Schwerkraft Tribut zollte, hatte sich vorgebeugt und spähte ins Auto.

»Ja, war nur ein bisschen in Gedanken.« Er versuchte ein Lächeln.

»Aber du hast ziemlich jämmerlich ausgesehen. Du sitzt schon ’ne Ewigkeit so da, und wegen dem Verband und so hab ich schon gedacht, du hättest den Geist aufgegeben.«

Diesmal klappte das Lächeln besser, und er sah die Erleichterung auf dem Gesicht des Mannes.

»Mir geht’s gut. Vielen Dank noch mal.«

»Da bin ich beruhigt. Passen Sie auf sich auf, ja?« Der Fremde klopfte zum Abschied zweimal aufs Autodach und ging davon.

Smith schaffte es, die Wagentür zu schließen und ruckelnd anzufahren.

Er hielt sich peinlich genau an die Geschwindigkeitsbe-grenzungen und fuhr wie bei einer Führerscheinprüfung. Als er endlich den Ort mit dem Internetcafé erreichte, war er in Schweiß gebadet. Es war fast Mittag, und es war heiß. Dankbar stieg er aus dem Wagen, stützte sich aufs Dach, schloss die Augen und wartete, bis sein Hemd getrocknet war. Es war sein letztes.

Besucher durften nicht mit dem Wagen in den Ortskern von Clovelly fahren, eine Vorschrift, die den malerischen Charakter des Städtchens und die altmodische Atmosphäre seiner kopfsteingepflasterten Straßen bewahren sollte. Touristen konnten auf Eseln hinunter zu dem kleinen Hafen reiten.

Smith entschied sich, zu Fuß zu gehen. Den Rucksack mit all 556

seinen irdischen Gütern schnallte er sich auf den Rücken. Die Straßen wimmelten von Menschen. Es war schließlich August, Hochsaison, und Clovelly eine Touristenattraktion in Devon. Leute starrten ihn an, obwohl er nur noch wenig Verbände trug. Eigentlich waren sie eine gute Tarnung. Sein Bild prangte auf den Titelseiten der Zeitungen, aber er war, wie er fand, schlecht getroffen. Er sah darauf aus wie eine Ratte, Augen zu eng beieinander, Nase zu dünn und spitz und ein fliehendes Kinn, nicht die geringste Ähnlichkeit. Er lächelte und setzte seine Sonnenbrille auf.

Als er auf der Titelseite der Sun ein Foto von Wendy erblickte, blieb er wie angewurzelt stehen, sodass jemand fluchend mit ihm zusammenstieß. Er ging in den Laden und kaufte die Zeitung. Der dazugehörige Artikel war auf Seite fünf: Gesucht wurde Wendy Smith, vierundzwanzig, die seit dem Vortag aus ihrer Wohnung in Birmingham verschwunden war. Die Polizei vermutete, dass sie unter falschem Namen mit ihrem Vetter, siebenundzwanzig Jahre alt, ein Meter dreiundachtzig groß, unterwegs war, es könne sich aber auch um eine Entführung handeln.

Smith fühlte sich schwach. Sein Kopf brummte. Er redete sich ein, das komme von den Verletzungen, weil er sich nicht eingestehen wollte, dass er Panik hatte. Wie war die Polizei bloß auf Wendy gekommen? Griffiths, wer sonst! Der sang anscheinend wie ein Kanarienvogel, weil sie ihm Strafmilde-rung versprochen hatten. Dieser Dreckskerl! Na, er hatte da-für gesorgt, dass er elendig leiden würde, bevor er starb. Und wenn er diese Polizistin getötet hatte, würde er mit ihrem Blut an die Wand schreiben, dass ihre Hinrichtung im Auftrag des Gefängnisinsassen Wayne Griffiths erfolgt war.

In einem Souvenirgeschäft kaufte er eine Baseballmütze.

Wenn er sie tief in die Stirn zog, lag fast sein ganzes Gesicht 557

im Schatten. Etwas beruhigter trottete er den Berg hinunter und betrat das Internetcafé.

Anstatt direkt zu einem PC zu gehen, blieb er an der ver-zinkten Ladentheke stehen und beobachtete den jungen Mann, der hier das Sagen hatte. Smith war stolz darauf, ein gutes Gespür für die sexuellen Vorlieben anderer zu haben, das war einer der Gründe, warum er so ein erfolgreicher Verführer war. Die Augen des Mannes huschten von einem Kunden zum nächsten, wie die einer Eidechse, die auf Flie-gen lauert, unablässige ruckartige Bewegungen voll innerer Anspannung. Als er merkte, dass Smith ihn anstarrte, lächelte er unmissverständlich.

»Ich suche nach einer jungen Frau«, sagte Smith und tat so, als habe er die Enttäuschung nicht bemerkt, die kurz über das Gesicht seines Gegenübers gehuscht war. »Vielleicht haben Sie sie mal hier gesehen? Sie ist meine Schwester, und meine Eltern machen sich ziemliche Sorgen um sie.«

Er zog einen alten Zeitungsausschnitt aus seinem Portemonnaie und lächelte den Mann mehr als nur freundlich an.

Der andere setzte sich und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich bin Frank.«

Smith ergriff die Hand und drückte sie sacht.

»Ich bin Danny, hast du sie gesehen?«

Frank nahm das Bild und faltete es auseinander. Es war unübersehbar, dass er sie wieder erkannte.

»Die war ein paar Mal hier. Versteht ihr euch gut?«

»Im Gegenteil. Genau genommen ist sie meine Halbschwester, und ich wäre gar nicht hier, wenn meine Mum nicht so besorgt wäre. Wir haben uns nie gut verstanden. Sie hat sich Geld von mir geliehen und nie zurückgezahlt, so Sachen eben. Typisch Frau. Man kann ihnen einfach nicht trauen.«

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»Wem sagst du das. Deine Schwester ist ein Paradebeispiel: hochnäsig, arrogant – würdigt einen keines Blickes. Sie war übrigens heute Morgen hier.«

»Hast du eine Ahnung, wo sie wohnt?« Er versuchte, ruhig zu klingen.

»Nein. Hab nicht mit ihr geredet. Nimm’s mir nicht übel, aber sie ist nicht mein Typ.«

Smith sah ihn an und lächelte.

»Ehrlich? Die meisten Männer stehen auf sie.«

»Ich bin eben eine Ausnahme, Danny.« Frank hielt seinen Blick zu lange fest, und sie lächelten sich an.

»Das hör ich gern. Meinst du, sie wohnt hier im Ort?«

»Frag mal im Pub nach. Vielleicht ist sie gesprächiger, wenn sie was getrunken hat. Hast du vor, hier auf sie zu warten? Sie kommt nicht jeden Tag her. Könnte sein, dass du ein Weilchen hier bleiben musst.«

»Och, ich bin ein geduldiger Mensch. Ich geh dann mal, aber vielleicht schau ich später wieder rein, wenn du nichts dagegen hast?« Er spitzte die Lippen, und Frank lächelte.

Der Pub war voller Touristen, die zu Mittag aßen, deshalb trat er rasch den Rückzug an. Er kaufte sich ein Sandwich und spazierte aus der Stadt heraus zu einem ruhigen Fleck-chen oben auf den Klippen, wo er bis zum Abend etwas Schlaf nachholte. Um sechs Uhr wurde er von selbst wach.

Auf dem Weg zurück in den Ort bewegten sich seine Beine mit gewohnter, alter Kraft, aber die Wunde am Hals tat wieder heftiger weh. Er holte eine Salbe und frisches Verbandszeug aus dem Rucksack und verschwand auf der Herrentoi-lette des Pubs, um sich die Wunden anzusehen. Wie er vermutet hatte, waren die langen, gezackten Schnitte entzündet und eiterten. Er bestrich sie mit der Salbe, drückte frischen Mull auf und klebte neue Pflaster darüber. Als er fast fertig 559

war, kam jemand herein und musterte ihn befremdet, aber er achtete nicht darauf.

Im Laufe des Tages hatte er sich allmählich daran ge-wöhnt, jemand zu sein, nach dem gefahndet wurde. Trotz seines Konterfeis in Millionen Zeitungen und im Fernsehen hatte ihn niemand erkannt, und er war noch immer ein freier Mann. Je mehr Stunden vergingen, desto zuversichtlicher wurde er. Falls nötig, würde er die Nacht bei Frank verbrin-gen und darauf warten, dass die Frau wieder im Ort auftauchte. Dann würde er sie töten und das Land verlassen.

Im Pub bestellte er sich ein Bier und eine Käseplatte. Er trank genüsslich und behielt die anderen Gäste im Auge, um zu sehen, ob sie sich besonders für ihn interessierten. Im Gegenteil, man ignorierte ihn, und er entspannte sich etwas, blieb an der Bar stehen, halb verdeckt durch einen Stützbal-ken aus Eichenholz. Es war fast sieben Uhr, und der abendli-che Andrang setzte ein. Als der Mann hinter der Bar mal verschnaufen konnte und Zeit hatte, Gläser zu spülen, sah er zu Smith hoch, der vorsichtig seine Käseplatte mit Brot verspeis-te.

»Neu hier?«

»Heute angekommen. Aber wahrscheinlich hätte ich mir die Reise sparen können.«

»Wieso das?«

»Ich suche jemanden. Eine Frau, die … Na ja, sagen wir, sie hat sich was von mir geliehen und unabsichtlich vergessen, es zurückzuzahlen.« Sein Tonfall machte deutlich, dass diese Darstellung sehr nachsichtig war.

»Ach so, alles klar. So Frauen gibt’s. Pech.«

Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und hielt die Augen auf das Glas gerichtet, das er gründlich polierte, nicht auf Smiths Gesicht.

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»Vielleicht ist sie schon mal hier gewesen. Groß, dunkelhaarig, manche würden sagen gut aussehend. Nicht aus der Gegend.«

»Davon gibt’s viele, Mister. Wenn Sie ein Foto hätten, könnte ich Ihnen vielleicht helfen.«

»Klar.« Er zog sein Portemonnaie hervor und faltete den Zeitungsausschnitt auseinander. »Das ist ein gutes Bild. Besser als jeder Schnappschuss, den ich je gemacht hab.«

Der Wirt nahm es und erstarrte. Smith versuchte, seine leicht verärgerte Miene beizubehalten, aber es fiel ihm schwer, den Bissen hinunterzuschlucken, den er gerade im Mund hatte.

»Schon mal gesehen?«

»Ja. Sie hat die Haare jetzt länger, aber das Gesicht ist unverwechselbar. Sie war einmal hier, vor einem Monat oder so.«

»Und trotzdem erinnern Sie sich noch an sie?«

Der Wirt antwortete nicht gleich. Smith hätte ihn am liebsten angeschrieen und geschüttelt, doch stattdessen trank er einen kleinen Schluck Bier.

»Wer hier im Ort würde das nicht?«

»Was hat sie denn angestellt?«

»Nicht sie, die Nightingales. Guter Name, ein Jammer, was aus der Familie geworden ist.«

Der Wirt hielt inne, hatte anscheinend das Gefühl, schon genug gesagt zu haben. Smith zuckte die Achseln und hoffte, dass seine vermeintliche Gleichgültigkeit Ansporn genug war.

Es klappte. Nach einer Weile konnte der Mann sich nicht mehr beherrschen und erklärte: »Die Nightingales haben seit Generationen hier gelebt. Sie hatten Landbesitz und betrieben die Mühle, aber dann ging’s bergab. In den Siebzigern wurde viel gemunkelt, was da auf der Farm so alles vor sich ging, 561

Sachen, die Sie bestimmt nicht Ihrer Mutter erzählen würden.« Smith dachte an seine tote Mutter und lächelte zustimmend. »Jedenfalls, als Mr und Mrs Nightingale weggingen, sind ihr Sohn und ihre Tochter auf der Farm geblieben, bis zu seiner Heirat. Und die beiden haben sich mit den falschen Leuten eingelassen.«

Smith konnte nicht länger warten: »Und diese Frau?«

»Tochter von einer von Nightingales Affären. Keine Frage. Sie trägt seinen Namen, aber sie ist ihrer verlotterten Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Smith überging diese Neuigkeit. Ihn interessierte nur die Adresse. »Und die wohnten auf einer Farm, sagten Sie? Irgendwo in der Nähe?«

»Etwa acht Meilen. War mal eine Goldgrube, aber die Al-te hat sie verkommen lassen, bevor sie sich umgebracht hat.«

Er beugte sich verschwörerisch vor. »Obwohl sie dem Pfarrer eingeredet haben, es sei ein Unfall gewesen.« Wenn er nicht hinter seiner eigenen Bar gestanden hätte, er hätte ausgespuckt. »Von wegen.«

Bei einem zweiten Bier fragte Smith den Mann, wie er am besten zur Farm käme. Er trank langsam, weil er wusste, dass er einen klaren Kopf behalten musste. Er beschloss zu warten, bis es dunkel war, und dann zu Fuß zu gehen. Der Wegbeschreibung nach zu urteilen, würde er mit dem Auto fast genauso lange brauchen, und er glaubte ohnehin nicht, dass er das noch einmal durchstehen könnte. Er würde zwei Stunden brauchen, vielleicht drei. Und dann würde sie sterben.

562

Kapitel zweiunddreißig

Mrs Ironstrong führte ein anständiges Haus, und das schloss mit ein, dass ihre Gäste pünktlich zum Essen erschienen. Sie hatte sich darauf eingestellt, dem jungen Paar gegenüber Nachsicht walten zu lassen, weil er ja einen Unfall gehabt hatte, aber als der Abend kam, war sie mit ihrer Geduld am Ende. Er mochte ja rekonvaleszent sein, wie »seine Frau« behauptet hatte, und so übel, wie sein Gesicht aussah, war das durchaus glaubhaft, aber als er heute Morgen das Haus verlassen hatte, war er putzmunter gewesen. Sogar sein Humpeln hatte unecht gewirkt.

Jetzt war es Viertel vor acht. Das Abendessen wurde von halb sieben bis acht serviert, aber da der Speiseraum um Punkt acht Uhr dreißig geschlossen wurde, herrschte zwischen ihr und ihren Gästen das stillschweigende Überein-kommen, dass die letzten Bestellungen vor acht Uhr erfolgten. Alle anderen saßen an ihren gedeckten Tischen, gehorsam und dankbar. Nur nicht »Mr und Mrs« Wilmslow. Sie atmete tief durch, reckte den stattlichen Busen und marschierte den Gang hinunter zum hinteren Gästezimmer. Ihr kurzes, kräftiges Klopfen blieb ohne Antwort. Der Generalschlüssel verschaffte ihr Einlass, und sie spähte in den Raum.

Alles war unverändert, seit sie heute Morgen kontrolliert hatte, ob das Zimmermädchen auch anständig sauber gemacht hatte. Hätte da nicht eine Reisetasche unter dem Waschbecken gestanden und ein Mantel am Haken an der Tür gehan-563

gen, sie hätte Verdacht geschöpft, dass die beiden sich verdünnisiert hatten. In der sommerlichen Hitze war die Luft abgestanden. Eine einsame Fliege summte hektisch umher.

Mrs Ironstrong zögerte, ging dann aber zu dem Schiebefenster und öffnete es einen Spalt, um frische Abendluft hereinzulassen. Achselzuckend verließ sie das Zimmer und schloss die Tür wieder ab.

Es war schon nach neun, als sie verärgert die Haustür abschloss. Ihre übrigen Gäste saßen im Fernsehzimmer, nur nicht die beiden Vermissten. Sie ging zu ihrem Mann im privaten Wohnzimmer. Er spürte ihre Missstimmung, drückte sich etwas tiefer in den Sessel und stellte die Lautstärke am Fernseher einen Tick höher. Er durfte ihn nicht normal laut stellen, weil das die Gäste stören könnte. Die Nachrichten liefen gerade.

»Sie sind immer noch nicht da. Ich glaube, die haben sich aus dem Staub gemacht.«

»Ach je.«

So was kam immer mal wieder vor. Wenigstens fehlte diesmal nichts von ihrem bereits stark dezimierten Silberbe-steck.

»Das macht mich so wütend, Courtney.«

»Ja, Liebes, das verstehe ich.«

»Was bloß soll aus dieser Welt werden? Ich meine, sieh dir das da an«, sie zeigte auf das Foto eines jungen Mädchens auf dem Bildschirm. Ginnys lächelndes Gesicht fesselte ihren Blick einen Moment lang, ehe Mrs Ironstrong wieder in Fahrt kam. »Ich meine, wer weiß denn schon, wer sich da draußen rumtreibt. Wir könnten eines Tages in unseren Bet-ten ermordet werden. Dagegen ist man doch machtlos. Erst recht eine hilflose Frau wie ich.«

Mr Ironstrong verzog das Gesicht, aber zum Glück merkte sie es nicht.

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»Hilflos. Ich könnte vergewaltigt werden! Was würdest du dagegen machen?«

»Ich würde dich natürlich verteidigen, Liebes.«

»Ja klar!« Mit ausladenden Schritten ging sie zur Hausbar.

Sie konzentrierte sich darauf, einen ordentlichen Gin Tonic zu mixen, und sah nicht, dass ihr Mann sich plötzlich kerzen-gerade aufsetzte und den Fernseher lauter stellte.

»Ich meine, was soll nur aus der Welt werden?«

»Ah, Irene, guck doch bitte mal.«

»Nirgends ist man mehr sicher.«

»Schnell, Irene, ich glaube, das ist …«

»Was ist denn?« Sie fuhr herum und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Drink.

»Mist, jetzt ist es weg. Ich hab doch gesagt, schnell. Die haben ein Foto gezeigt, von einer Frau, die aussah wie Mrs Wilmslow. Es war mit einer Videokamera aufgenommen, deshalb war es nicht richtig scharf, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie es war.«

»Wieso hast du das nicht gleich gesagt? Was hat sie angestellt?«

»Ich weiß nicht. Die Polizei sucht sie.«

»Weswegen?« Ein Anflug von Hysterie schlich sich in ihre Stimme.

»Ich weiß nicht, du hast dazwischengeredet. Ich konnte es nicht verstehen.«

Eine solche Auflehnung führte sonst meist zu einer Auseinandersetzung, doch jetzt wurde Irene durch das Foto eines Mannes auf dem Bildschirm zum Schweigen gebracht. Sie schnappte sich die Fernbedienung und stellte den Fernseher ganz laut.

»… ist extrem gefährlich, und die Bevölkerung sollte sich unter allen Umständen von ihm fern halten. «

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»Er hatte einen Verband. Vielleicht war er es nicht …«

»Psst!« Sie war sofort still, was höchst ungewöhnlich war.

»Die Polizei weist darauf hin, dass Smith möglicherweise bei seiner letzten Straftat Verletzungen davongetragen hat.«

»Was hat er angestellt?«

»Hinweise zum derzeitigen Aufenthalt von Wendy Smith aus Birmingham oder David Smith nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. Beide Gesuchten stehen im dringenden Verdacht, mit der Ermordung von Virginia Matthews zu tun zu haben; die Achtzehnjährige war am Montag in ihrem Elternhaus in Telford überfallen und getötet worden. Es wird dringend davor gewarnt, die Gesuchten festzuhalten.«

Eine Telefonnummer wurde eingeblendet, und Mr Ironstrong griff zum Hörer.

»Moment. Wir sollten auf Nummer sicher gehen. Es wäre zu peinlich, wenn wir uns irren. Da steht doch noch die Tasche im Zimmer – lass uns einen Blick reinwerfen.«

»Und wenn sie zurückkommen?« Seine Stimme war zu einem Flüstern erstorben.

Sie antwortete ebenso leise.

»Ich hab die Haustür verriegelt. Komm, wir sehen nach.«

Sie schlichen aus dem Zimmer und weiter zum hinteren Teil des Hauses. Eine Etage höher saßen zufriedene Gäste im Fernsehzimmer. Mrs Ironstrong holte ihren Generalschlüssel hervor und schloss die Tür auf.

»Hier stinkt’s!« Ihr Ehemann rümpfte die Nase. »Die haben bestimmt irgendwelche Lebensmittel in der Sonne stehen lassen. Dabei hast du es doch ausdrücklich verboten, was zu essen mit auf die Zimmer zu nehmen.«

»Ist doch jetzt egal, Courtney. Los, sieh in ihrer Tasche nach.«

Während seine Frau an der Tür stehen blieb, ging der 566

kleinlaute Mr Ironstrong um das Bett herum, öffnete die Tasche und durchsuchte sie mit spitzen Fingern.

»Nichts«, wisperte er und kam zu ihr zurück.

»Die haben noch mehr Gepäck gehabt, sieh mal unterm Bett nach. Vielleicht haben sie da noch eine Tasche verstaut.«

Kopfschüttelnd ließ er sich auf die Knie sinken und hob den Bettvolant hoch. Eine weiße Frauenhand lag locker auf den Staubflocken.

»Oh Gott.«

»Was ist, Courtney? Was ist denn da?« Sie schob ihren ausladenden Körper ums Bett herum und ging mit knarrenden Knien neben ihrem Mann in die Hocke. »Rück mal. Du bist mir im Weg.«

»Du solltest dir das lieber nicht ansehen, Irene.«

»Unsinn.« Sie neigte den stattlichen Busen zum Boden.

»Mich kann in diesem Haus nichts mehr schocken. Was für eine Sauerei haben sie denn diesmal hinterlassen?«

Courtney hielt die Hand schützend vor den geblümten Volant, doch sie stieß sie weg. Mit einem halblauten »ganz wie du willst« rutschte er zur Seite und machte seiner Frau Platz.

»Ich kann nichts erkennen. Ach doch, Moment, jetzt seh ich was, das ist eine …«, sie fuhr zurück, starrte ihn ausdruckslos an und stand auf, »… Leiche.«

Ein letzter rebellischer Funke in Courtney nahm befriedigt das Quietschen der Sprungfedermatratze wahr, als seine Gattin ohnmächtig aufs Bett kippte. Dann ging er die Polizei anrufen.

Der Flug mit dem Hubschrauber war unbequem, aber schnell. Als Fenwick nach der Meldung, dass Smith gesehen und die Leiche einer jungen Frau gefunden worden war, in 567

der Pension eintraf, wusste er bereits, dass es nicht Nightingale war. Aber sechzig quälende Minuten lang, vom ersten Anruf zu Hause bis zum Treffen mit MacIntyre, hatte er das Schlimmste befürchtet. Das Grauen, das er empfunden hatte, kehrte sofort zurück, als er das überfüllte Zimmer in der Pension betrat.

Man hatte das Bett hochkant gestellt, um besseren Zugang zur Leiche zu haben. Auf MacIntyres Anweisung hin hatte man sie noch nicht bewegt, und in der warmen Nachtluft war das Zimmer vom Geruch des Todes erfüllt, obwohl das Fenster weit offen stand. Beamte der örtlichen Kripo ließen die beiden Kollegen aus London die Leiche in Augenschein nehmen und warteten geduldig ab, bis sie ihnen Bericht erstatten konnten. Erst als MacIntyre und Fenwick in den Spei-sesaal gingen und sich an einen Tisch setzten, der schon fürs Frühstück eingedeckt war, wurde die Leiche der Frau endlich in einen Leichensack gepackt und abtransportiert.

MacIntyre las laut aus dem Polizeibericht vor, den man bereits für sie geschrieben hatte.

»Der Pathologe schätzt, dass die Frau seit höchstens vierundzwanzig und mindestens fünfzehn Stunden tot ist, aber wir haben Zeugenaussagen, mit denen sich die Tatzeit präziser bestimmen lässt, vorausgesetzt, Smith ist der Mörder.

Zuletzt lebend gesehen wurde sie kurz nach zehn Uhr morgens, als die letzten Gäste den Frühstücksraum verließen, und der Mann mit den Pflastern und Verbänden, der sich als ihr Gatte ausgegeben hat, ist vor elf weggegangen.«

John Oldham, der Leiter der Ermittlungen vor Ort, kam herein, setzte sich MacIntyre gegenüber und strich das rot karierte Tischtuch glatt.

»Irgendwelche Verdachtsmomente, wohin er verschwunden sein könnte, John?«

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»Nein, Superintendent. Wir haben eine Zeugenaussage, dass er einen blauen Peugeot gefahren ist, aber mehr auch nicht. Wir denken, es war der Wagen von Wendy Smith, und ich rechne jede Minute mit einer Liste der möglichen Kennzeichen. Es wäre leichter, wenn sie nicht ausgerechnet Smith hieße.«

»Wem sagen Sie das.« MacIntyre lächelte ihn freundlich an, ein Lächeln, das unerfahrene Provinzpolizisten meistens beruhigte.

»Ich habe noch einen Teil Ihres Gesprächs mitbekommen.

Meinen Sie, er ist absichtlich hierhergekommen?« Die Frage richtete sich an Fenwick.

»Ja. Ich glaube nicht, dass er sich rein zufällig für diese Gegend entschieden hat. Haben Sie in seinem Zimmer irgendwas gefunden, was uns weiterhelfen könnte?«

»Ich lass es holen.«

Es war eine mickrige Sammlung, schon in beschrifteten Beweismittelbeuteln. Eine billige Reisetasche aus Lederimitat, darin ein Schminktäschchen mit Lippenstift, ein Nachthemd und ein leeres Portemonnaie, ohne auch nur einen einzigen Penny darin, um den Teufel auf Abstand zu halten, wie Fenwicks Mutter gesagt hätte. Der Inhalt des Papierkorbs bestand aus einem benutzten Taschentuch, Verpackungsresten einer Rolle Pfefferminzbonbons, einer leeren Papiertüte und einem Kassenbon mit Datum vom Vortag und aufgedruckter Uhrzeit: neun Uhr drei.

»Was haben sie gekauft?«

»Verzeihung?« Oldham blickte ihn verwirrt an.

»Der Kassenbon. Wofür war der? Der ist von einem Laden hier im Ort, der Name steht drauf.«

»Die Pfefferminzbonbons, vielleicht eine Zeitung, die Smith mitgenommen hat, wer weiß.«

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»Hier stehen drei Artikel, und in dem Zimmer wurde nichts gefunden, was in Frage käme. Sie ist losgegangen, hat irgendwas gekauft und wurde dann ermordet. Was sollte sie für Smith einkaufen? Das müssen wir wissen, und zwar sofort.«

Angesichts der barschen Anweisungen von Fenwick lachte John Oldham etwas unsicher und schaute zu MacIntyre hi-nüber, der die Achseln zuckte, dann aber nickte. Nachdem Oldham hinaus zu seinen Leuten gegangen war, sagte MacIntyre leise: »Übertreiben Sie’s nicht, Andrew. Die Kollegen hier geben sich alle Mühe.«

»Wir müssen ihn finden. Ich rufe jetzt noch mal die Nummer an, die Nightingale mir heute auf die Mailbox gesprochen hat.« Sein Mund war trocken, während er wählte, dann schüttelte er enttäuscht den Kopf, ehe er ins Telefon sprach: »Hallo Nightingale, ähm, Louise. Ich bin’s schon wieder, Andrew Fenwick. Bitte rufen Sie mich zurück, dringend, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ich bin in Devon. Wir haben jetzt zwanzig vor zwölf. Wenn Sie irgendwo in der Nähe sind und diese Nachricht abhören, steigen Sie in Ihr Auto, verriegeln Sie die Türen und fahren Sie sofort zum nächsten Polizeirevier. Lassen Sie sich auf keinen Fall aufhalten, von niemandem.«

Oldham kehrte zurück und setzte sich Fenwick gegenü-

ber.

»Der Laden hat rund um die Uhr geöffnet. Ich hab jemanden hingeschickt, der herausfinden soll, was Wendy Smith gekauft hat.«

»Irgendwas übersehe ich.« Fenwick schüttelte den Kopf.

»Ich bin sicher, ich könnte noch mehr tun.« Er tigerte durch den Raum, umkreiste den Frühstückstisch. »Nightingales Bruder.«

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»Aber mit dem haben Sie doch schon gleich am Anfang gesprochen«, wandte MacIntyre ein. »Er hatte auch keine Ahnung, wo sie sein könnte.«

»Ja, aber jetzt haben wir ein mögliches Zielgebiet.«

Er musste seine ganze Autorität einsetzen, um die Privat-nummer des Arztes herauszubekommen. Während Fenwick noch auf die Verbindung wartete, kam der Uniformierte, den Oldham zu dem Laden geschickt hatte, zurück und erstattete seinem Vorgesetzten Bericht.

»Der Ladenbesitzer erinnert sich gut an die Frau. Er sagt, dass sie ziemlich aufgelöst war. Sie hat eine Landkarte gekauft.

Hat ziemlich lange gebraucht, um die richtige zu finden, und er musste ihr helfen. Sie wollte eine Karte von Clovelly und Umgebung, und zwar eine möglichst detaillierte. Ich hab genau die gleiche mitgebracht.«

Sie waren dabei, die Karte auf dem Tisch auszubreiten, als Fenwick endlich Simon Nightingale erreichte. Er erklärte, wo er war, und fragte ihn, ob es einen Grund geben könnte, warum seine Schwester sich vielleicht hier in der Gegend aufhielt. Die Farbe wich aus seinem Gesicht, als er die Antwort hörte. Oldham und MacIntyre spürten seine Anspannung und drehten sich zu ihm um. Schweigend warteten sie, bis er das Gespräch beendet hatte.

»Ihre Tante hatte hier irgendwo eine Farm.« Fenwicks Gesicht war eine wächserne Maske. »Er hat am Anfang nicht daran gedacht, weil das Haus mehr oder weniger eine baufällige Ruine ist. Er war nur ganz selten dort, und seine Angaben sind sehr vage, aber er hat gesagt, es sei irgendwo in der Nähe von Clovelly.«

Oldham starrte ihn entgeistert an.

»Wie ist Smith darauf gekommen?« Fenwick tat seine eigene Frage mit einem heftigen Kopfschütteln ab. »Das spielt 571

jetzt keine Rolle mehr. Wir müssen ihn finden, bevor er sie findet.«

Oldham blickte skeptisch.

»Wir sind hier dünn besetzt. Ich werde sofort alle verfüg-baren Leute mobilisieren, aber wenn sie irgendwo draußen auf dem Land ist und die Farm eine private Zufahrt hat, wird das die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhau-fen.«

MacIntyre hatte dagegen ein entschlossenes Grinsen aufgesetzt.

»John, Sie bringen Ihre Leute auf Trab, und den Rest überlassen Sie mir. Wir kriegen das Schwein!« Er summte die Titelmelodie von Mission Impossible, als er zum Telefon griff.

Viertel nach zwölf, und es standen mehr Autos auf dem gro-

ßen Parkplatz oben auf der Klippe, als Fenwick erwartet hatte, doch dann erklärte ihm ein Bobby, dass Touristen nicht mit dem Wagen in den Ort fahren durften, der sich an den steilen Hang schmiegte. Der blaue Peugeot stand schräg geparkt unter einer Reihe Ebereschen, deren Äste voller Beeren hingen. Der Wagen war leer, selbst der Aschenbecher schien blank geputzt.

Fenwick ließ unwillkürlich den Blick schweifen, suchte nach Nightingales Auto, doch es war nirgends zu sehen.

»Das bedeutet, dass sie nicht im Ort wohnt«, sagte er zu MacIntyre.

»Aber Smith vielleicht. Wir sollten hier warten, bis wir Verstärkung bekommen. Wenn wir ihn mit einer halbherzigen Suche von Haus zu Haus aufscheuchen, verschwindet er vielleicht in der Nacht, ohne dass wir es merken.«

Fenwick schüttelte den Kopf.

»Wichtiger ist, dass wir diese Mill Farm finden, aber wir 572

brauchen genauere Angaben. Die von ihrem Bruder sind kaum zu gebrauchen. Wer könnte wissen, wo die Farm liegt?

Wo erfährt man den meisten Klatsch und Tratsch?«

»Im Postamt, Pub, Tante-Emma-Laden … da könnte man anfangen.«

»Das könnten wir doch schon machen, während wir auf Verstärkung warten.«

»Sie können nicht rumlaufen und das ganze Ort aufwecken. Oberste Priorität für uns ist, ihn zu schnappen, nicht, Nightingale zu finden. Falls er hier ist, schrecken Sie ihn auf.«

Fenwick bezwang den Impuls, dem Mann eine zu verpas-sen.

»Wissen Sie was, ich schlag Ihnen einen Kompromiss vor.

Sie lassen mich runter ins Ort gehen. Ich verspreche, ich werde nur dort anklopfen, wo ich noch Licht sehe, und ganz leise sein.«

»Wenn Sie ihn verscheuchen …« MacIntyre musste die Drohung gar nicht erst aussprechen.

»Tu ich schon nicht. Ich will ihn doch auch kriegen, genau wie Sie.«

Über eine kopfsteingepflasterte Straße, die so steil war, dass an manchen Stellen Stufen angelegt worden waren, folgte er den Schildern zum Hafen. Auf beiden Seiten hoben sich hübsche, dunkle Cottages vor dem Nachthimmel ab, ihre Kletterrosen und Hecken schwarz im Mondlicht. Bald wurden die Wohnhäuser von Geschäften und Cafés abgelöst, doch auch hier war alles dunkel. Er wollte schon aufgeben, als er einen kreisrunden gelben Lichtschein auf dem Pflaster sah. Ein Pub. Anscheinend war der Wirt noch drin und räumte die letzten Gläser weg. In Gedanken an das Versprechen, das er MacIntyre gegeben hatte, widerstand Fenwick der Versuchung, gegen die Tür zu hämmern und lautstark 573

Einlass zu verlangen. Stattdessen kramte er ein paar Münzen aus der Hosentasche und warf sie gegen die Scheibe des er-leuchteten Fensters. Nach mehreren Versuchen steckte ein Mann den Kopf heraus und fragte nicht gerade leise: »Was’n los?«

»Polizei. Es handelt sich um einen Notfall. Machen Sie auf.«

»Woher soll ich wissen, dass Sie wirklich von der Polizei sind?«

Fenwick reckte sich und hielt seinen Dienstausweis hoch.

Mit einem Knurren knallte der Mann das Fenster zu. Etliche Minuten später war zu hören, wie die Tür entriegelt wurde.

Sie ging auf, und Fenwick war einen Moment lang geblendet, als das Licht auf die Straße fiel. Er konnte nur die Umrisse des Mannes erkennen. Er zeigte ihm erneut seinen Ausweis und stellte sich offiziell vor.

»Ich suche nach zwei Personen, nicht unbedingt zusammen. Ein Mann, David Smith. Ende zwanzig, gut ein Meter achtzig, schlank, könnte verletzt sein, mit Pflaster oder Verbänden im Gesichtsbereich …«

Er hielt inne, damit der Mann etwas sagen konnte, und wurde mit einem Achselzucken belohnt. Als er näher trat, konnte er seine Augen sehen. Generationen von Schmugg-lergenen hatten den misstrauischen Ausdruck geprägt, den er darin las. Der Mann warf einen kurzen Blick auf das Phantombild und schüttelte den Kopf.

»Im Sommer hab ich hier jeden Tag den Laden gerammelt voll. Kann Ihnen nicht helfen.« Er machte Anstalten, die Tür zu schließen. Mit einer blitzschnellen Bewegung überrumpelte Fenwick den Wirt und stellte den Fuß zwischen die Tür.

»Und eine Frau, vielleicht haben Sie die ja gesehen.« Fenwick hielt ihm Nightingales Foto unter die Nase.

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»So kann ich nichts sehen.«

Der Mann drehte sich zum Licht, um das Foto zu studieren, und wandte Fenwick den Rücken zu. Seine Schultern erstarrten.

»Nee, auch nicht.«

Aber die Anspannung im Körper des Mannes sagte etwas anderes.

»Überlegen Sie noch mal, Sir.« Fenwicks Augen wurden stumpf vor Zorn. »Wie heißen Sie?«

»Was geht Sie das an?«

Fenwick schaute nach oben und studierte die Worte auf dem alten Gasthausschild.

»Sind Sie Tremayne, der Wirt?«

Der Mann ließ sich die Frage durch den Kopf gehen und nickte dann.

»Gut, Mr Tremayne, Sie werden mir jetzt meine Frage beantworten. Haben Sie diese Frau gesehen?« Fenwick war sicher, dass dem so war und dass sein Gegenüber nur schwieg, weil er einen angestammten Argwohn gegenüber der Polizei hatte oder sich lieber aus allem raushalten wollte. »Ich behaupte, Sie haben sie gesehen.«

Ein berechnender Ausdruck huschte über das Gesicht des Mannes, aber er schwieg weiter.

»Hören Sie, der Mann ist ein Mörder, und diese Frau«, er trat einen Schritt vor und Tremayne wich etwas zurück, »ist sein nächstes Opfer.«

Er hätte nichts von alledem sagen dürfen, aber er war verzweifelt. Tremayne starrte ihn einfach nur an, und Fenwicks Zorn war fast nicht mehr zu zügeln.

»Wenn er sie findet und ich dahinter komme, dass Sie auch nur eine klitzekleine Kleinigkeit gewusst haben, sind Sie in meinen Augen sein Komplize. Bis jetzt noch sind Sie bloß 575

drauf und dran, sich ein Verfahren wegen Behinderung der Polizei einzuhandeln.« Tremayne wollte sich abwenden.

»Überlegen Sie sich gut, was Sie tun.«

Der Wirt ging durch den Schankraum und legte das Phantombild von Smith und das Foto von Nightingale auf den grünen Filz eines Billardtisches. Dann schaltete er das De-ckenlicht ein.

»So ist besser. Ja«, er tippte auf Smiths Gesicht, »der war heute hier, abends. Ist gegangen, bevor ich zugemacht habe.«

»Und die Frau?«

Tremayne wirkte jetzt nicht mehr ganz so selbstsicher.

»Er hat sich nach einer jungen Frau erkundigt, hat gesagt, sie wäre eine Freundin und schuldete ihm Geld. Ich kannte den Namen. Sie sieht anders aus als auf dem Foto hier.«

Fenwick spürte ein panisches Flattern tief in der Kehle.

»Sie haben sie gesehen?«

»Sie war vor einem Monat oder so mal hier. Danach hab ich sie nicht mehr gesehen.«

»Wissen Sie, wo sie wohnt?« Der Wirt kratzte sich den Schädel unter schütterem Haar. Es kostete Fenwick seine ganze Selbstbeherrschung, um ihn nicht zu schütteln. »Herrgott, nun sagen Sie schon! Es geht hier um Leben und Tod.«

»Vielleicht. Ihre Familie hat seit ewigen Zeiten hier gelebt.«

»Ich weiß, Mill Farm. Wie komm ich dahin?«

»Keine Ahnung. Die liegt irgendwo in den Bergen, westlich von hier. Richtung Klippen. Bestimmt acht Meilen entfernt. Bin aber nie da gewesen.«

Fenwick hakte nach, bekam aber nicht mehr aus ihm heraus. Als er ging, hatte er das Gefühl, betrogen worden zu sein, wusste aber nicht, wieso. Unterm Strich war er seinem Ziel, das Haus zu finden, noch keinen Schritt näher gekom-576

men. Weiter oben am Hang sah er eine lange Reihe Polizisten Aufstellung nehmen. Die Verstärkung war offenbar eingetroffen und von MacIntyre zügig eingesetzt worden. Zumindest konnten sie jetzt anfangen, die Leute aus dem Schlaf zu reißen. Er ging schnurstracks zum Postamt und klopfte an die Tür. Ein besorgt dreinblickender Mann Mitte dreißig machte ihm auf.

»Polizei. Wir suchen einen flüchtigen Mörder und müssen eine junge Frau finden, ehe sie sein nächstes Opfer wird.«

Der Mann riss alarmiert die Augen auf und winkte Fenwick ins Haus.

»Inspector Fenwick. Wir müssen zur Mill Farm, die den Nightingales gehört. Wir wissen, dass sie hier irgendwo in der Nähe liegt, brauchen aber genauere Angaben.«

»Vielleicht weiß meine Frau was, sie ist von hier. Warten Sie.«

Als er wiederkam, war seine Frau dabei.

»Natürlich kenne ich die Nightingales, die waren früher hier ziemlich berühmt-berüchtigt.«

»Und wo liegt die Farm?«

»Da bin ich überfragt, aber ich kenne jemanden, der Ihnen helfen kann, Pete Trewellin. Er war hier dreißig Jahre lang Postbote. Irgendwo hab ich seine Telefonnummer. Er und mein Dad waren befreundet.« Sie kramte in einer Schreib-tischschublade herum, und Fenwick versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen.

»Ich hab sie.« Sie reichte ihm einen Zettel und deutete auf das Telefon. »Bitte sehr.«

Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete, und als Erstes wurde Fenwick mit wüsten Beschimpfungen überschüttet. Sobald eine Pause eintrat, stellte er sich vor und er-klärte, welche Informationen er brauchte. Er musste sein An-577

liegen einige Male wiederholen, bis Pete Trewellin ihn verstanden hatte und ihm eine genaue Wegbeschreibung gab, gespickt mit den typischen Erklärungen eines Ortskundigen:

»Kurz vor der Weißbuche, in die vor drei Jahren der Blitz eingeschlagen hat, müssen Sie rechts abbiegen« … Schließlich glaubte Fenwick, genug zu wissen, um die Farm finden zu können.

Sie lag über zwölf Meilen weit weg, nicht acht, und er konnte sich nicht vorstellen, dass Smith sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatte. Vielleicht war er ja wirklich noch im Ort, aber darauf konnte er sich nicht verlassen. Er stapfte den Berg hinauf und ging zum Parkplatz zurück.

MacIntyre sah ihn undurchdringlich an und zögerte.

»… Ich habe einen Anruf aus Telford bekommen. Sie haben den See abgesucht. Constable Knots …«

»Mein Gott.« Fenwick schnaufte, besann sich aber sofort.

Für Knotty konnte er nichts mehr tun. »Ich weiß, wo die Farm liegt.«

Er bekam zwei Männer und einen Streifenwagen, und sie brausten sofort los.

Im Pub unten im Ort trank Tremayne seinen zweiten Brandy, seit der Polizist gegangen war, und atmete tief durch, um seine Nerven zu beruhigen, doch ohne Erfolg. Er hatte der Polizei nicht alles gesagt, das hatte noch kein Tremayne je getan, aber er hatte mehr als genug ausgeplaudert. Bei dem Gedanken bekam er Herzrasen.

Auch das zweite Glas war jetzt leer, und er goss sich noch einmal ordentlich nach. Natürlich hatte er die Gesichter auf den Fotos wieder erkannt, genau wie er Lulus Bastard sofort wieder erkannt hatte, als die Frau hereinspaziert kam. Die Ähnlichkeit mit ihrer Mutter war unheimlich. Jeder, der in 578

den Siebzigerjahren hier im Ort jung gewesen war, wusste, wo die Nightingales wohnten. Manche waren sogar selbst dort gewesen, und obwohl jeder stets beteuert hatte, dass die Geschichten von angeblichen Ausschweifungen nicht mehr waren als Gerüchte, hatte das Gerede nicht aufgehört.

Daher hatte er nicht lange gezögert, als dieser Smith einen schönen glatten Fünfzig-Pfund-Schein aus dem Portemonnaie gezogen und ihn um eine Wegbeschreibung gebeten hatte.

Bei der Erinnerung daran stieg ihm ein galliger Geschmack in die Kehle, doch er würgte ihn herunter, spülte dann mit dem letzten Rest Brandy nach. Ihm machte nicht ein schlechtes Gewissen zu schaffen, sondern die Erkenntnis, dass er möglicherweise mit drinsteckte, falls irgendwas passierte. Er spielte die verschiedenen Möglichkeiten durch, die Frau tot, Smith geflohen oder Smith geschnappt, die Frau am Leben. Eigentlich konnte ihm nicht viel passieren, solange Smith den Mund hielt. Und wenn er doch redete, würde er einfach alles abstreiten. Am meisten Sorgen bereitete ihm jedoch die Vorstellung, dass Smith fliehen könnte, um sich an ihm zu rä-

chen. Es war unwahrscheinlich, aber immer noch beängstigender als jede Drohung der Polizei. Seine Hand griff nach der Flasche und dem Baseballschläger, den er immer unter der Theke versteckt hielt, dann stieg er auf wackeligen Beinen die Treppe hinauf.

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Kapitel dreiunddreißig

Nightingale erwachte von den Geräuschen des Hauses bei Nacht: das Klappern einer losen Regenrinne, das Huschen von Mäusen auf dem Dachboden, das Flattern einer Fledermaus vor dem Fenster. Es waren eigentlich gewohnte Geräusche, was hatte sie also aufgeweckt? Dann kam der Schrei einer Füchsin, kurz und verängstigt.

Sie hatte keine Vorhänge an den Fenstern, und das einfal-lende Mondlicht war so hell, dass sie an ihrer Armbanduhr die Uhrzeit ablesen konnte: fast eins, eine ungesunde Zeit, um wach zu werden. Sie versuchte, wieder einzuschlafen, genoss das schwache Ziehen in den Waden, von dem Wald-lauf, den sie am Nachmittag gemacht hatte. Die Minuten verstrichen, und doch wollte der Schlaf nicht wiederkommen. Sie merkte, dass sie zur Toilette musste, jedenfalls fast.

Vielleicht war das der Störfaktor. Als sie barfuß über den oberen Flur ging, die Stufen hinauf und hinunter, die die verschiedenen Ebenen des Hauses ausglichen, hörte sie ein Rascheln, als ginge da draußen etwas durchs hohe Gras. Dachse und Füchse waren nachts im Wald unterwegs, deshalb war sie nicht verängstigt, eher neugierig.

Das Geräusch hörte auf. Als sie nach draußen blickte, zer-schnitten die silbrigen und schwarzen Streifen Mondlicht, die durch die Bäume fielen, den vertrauten Anblick in eine Art optisches Puzzle, in dem alle Formen verzerrt wirkten. Sie konnte unmöglich sagen, ob da draußen irgendetwas Ungewöhnliches war, weil heute Nacht alles fremd aussah.

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Sie ging zur Toilette, wartete, bis das Geräusch der Wasserspülung verklungen war, und tappte dann zu dem oberen Flurfenster über der Haustür. Von hier aus hatte sie einen guten Blick über ihren wieder neu angelegten Garten. In der warmen Nacht war alles ruhig und still.

Als sie wieder in ihrem Bett lag, schlief sie sofort ein und träumte nicht.

Wer hätte gedacht, dass Mondlicht so hell und gleichzeitig so verwirrend sein konnte? Das hügelige Waldgebiet lag wie unter Flutlicht, taghell, nur dass alle Farbe durch undurch-dringliche Schattenflächen ersetzt worden war. Kaninchenlö-

cher, Wurzeln und alte Baumstümpfe warteten nur darauf, jede unbedachte Bewegung mit einem Sturz zu bestrafen. Er saugte an den Kratzern auf seinem Handrücken und trat erbost die Dornenranken beiseite.

Smith war zuversichtlich aufgebrochen. Trotz des Abends im Pub war er mit klarem Kopf auf die Straße getreten. Der Weg, den man ihm beschrieben hatte – eine alte, von Unkraut überwucherte Teerstraße –, war leicht zu finden gewesen, allerdings viel weiter vom Ort entfernt, als er erwartet hatte. Um halb eins war er auf das schmale Asphaltband getreten und hatte sich noch immer so frisch gefühlt wie beim Verlassen des Ortes. Nur sein Hals und sein Kiefer machten ihm jetzt noch zu schaffen. Ansonsten war er so fit wie eh und je.

Beim Gehen hatte er gespürt, wie seine von der langen Autofahrt steif gewordenen Gliedmaßen sich allmählich ent-krampften. Die ersten Meilen bewältigte er so mühelos, dass seine Aufmerksamkeit nachließ. Als der Mond dann wieder hinter den Wolken hervorlugte, hatte er feststellen müssen, dass er sich verlaufen hatte. Vor ihm lag keine bewaldete Hü-

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gellandschaft. Stattdessen roch er Stechginster und hörte ein gutes Stück weiter unten das Rieseln eines Baches.

» Wenn Sie das kleine Tal erreichen, sind Sie schon zu weit.

Und kommen Sie nicht auf die Idee, nachts am Bach lang Richtung Quelle zu gehen, das ist unmöglich. «

Also hatte er ein Stück zurückgehen müssen, bis er den Pfad entdeckte, der von der geteerten Straße abging und den er beim ersten Mal übersehen hatte. Inzwischen war es ziemlich spät geworden. Er blieb stehen und öffnete seinen Rucksack. Nach kurzem Suchen fand er die Dose mit der Notver-pflegung, die er jede Woche neu auffüllte. Er aß die Schokolade, trank dazu einen Energydrink und spürte, wie seine Entschlossenheit zurückkehrte. Es konnte nicht mehr weit sein. Irgendwo hörte er warnend einen Fuchs bellen, dann herrschte wieder Stille im Wald.

Man hatte ihm gesagt, dass Mill Farm in einer Senke auf der anderen Seite des Berges lag, an einem Bach, der früher einmal stark genug gewesen war, um das schwere, hölzerne Mühlrad anzutreiben. Er musste also über den Berg hinüber und dabei stets darauf achten, dass das Geräusch des Meeres rechts von ihm blieb. »Gehen Sie nicht zu nahe an die Klippe«, hatte der Mann gesagt, »die ist tückisch, besonders nachts. Die Tante von der jungen Frau hat sich da runtergestürzt.«

Er zog eine schwere schwarze Filzrolle aus dem Rucksack und hielt das vertraute Gewicht in den Händen. Es klimperte leise, als Metall gegen Metall stieß. Er breitete den Filz auf den Knien aus, nahm nacheinander jedes Messer einzeln in die Hand und streichelte es. Seit Wales verwahrte er sein Werkzeug immer sicher im Rucksack. Der Verlust des Taschenmessers hatte ihn gewurmt.

Es amüsierte ihn, dass ein Taschenmesser für so harmlos gehalten wurde. War es schön scharf und spitz, konnte es 582

mühelos zwischen Rippen gleiten und tief eindringen. Zum Schneiden, Schlitzen und Zerteilen eignete es sich so gut wie jede andere scharfe Klinge. Für sein besonderes Vorhaben heute Nacht hatte er seine Kollektion natürlich erweitert. Er hatte ein Stanley-Messer dabei, die schärfste Klinge, die er besaß und die sich gut zum Ritzen eignete. Ein Fahrtenmesser mit gezacktem Rand und ein Skalpell mit einer ungemein feinen, austauschbaren Rasierklinge, das er in einem Küns-tlergeschäft gekauft hatte.

Es beruhigte ihn, die Finger über den kalten Stahl gleiten zu lassen. Das Gefühl von Orientierungslosigkeit verging, und er konnte wieder klar denken. Er rief sich in Erinnerung, dass er in nicht mal einer Stunde etwas in die Tat umsetzen wür-de, was ihn seit Monaten beschäftigte. Die Vorstellung war belebend. Er packte die Messer wieder ein und stand energisch auf. Der Schmerz in seinem Gesicht war vergessen. Sie musste sterben, damit die Ordnung in seiner Welt wiederher-gestellt wurde. Er war unbesiegbar und unangefochten gewesen, bis sie seinen Schüler geschnappt hatte. Sie musste elimi-niert werden, damit er wieder seinen ihm angestammten Platz einnehmen konnte.

Während er den Berg hinaufstieg, wanderten seine Gedanken mehr und mehr zu dem eigentlichen Tötungsakt.

Zuerst war er fast überwältigt von der Vielfalt der Möglichkeiten, doch dann begann er, wie er das immer tat, seine Methode auf die Persönlichkeit abzustimmen, mit der er es vermutlich zu tun hatte. Im Idealfall fand er die Schwächen der jeweiligen Frau heraus und spielte dann mit ihnen. Oft war es ihre Eitelkeit, und zunächst drohende, später reale Entstellun-gen konnten fast mehr Entsetzen auslösen als simple Folter.

Hin und wieder jedoch waren die Ängste anders gelagert, wie bei dem Mädchen vom Campingplatz.

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Bei der Polizistenschlampe war das ein Problem. Er hatte sie vor Gericht beobachtet und automatisch nach einer Schwäche gesucht. Sie war nicht eitel, daher wäre es wenig wirksam, ihr das Gesicht zu zerschneiden, und sie war stark, physisch und psychisch, schwer einzuschüchtern. Auf ihre gespielte Ohnmacht war er nicht hereingefallen. Die einzige mögliche Schwäche, die er bei ihr feststellen konnte, war ihre Unabhängigkeit. Seine Intuition, die immer dann, wenn er sich auf ein Opfer konzentrierte, so feinsinnig war wie sonst nie, sagte ihm, dass ihr nichts wichtiger war, als auf eigenen Füßen zu stehen.

Allmählich kamen ihm die ersten Ideen, und sie wurden gespeist von dem Wissen, dass er reichlich Zeit haben würde.

Das Schicksal hatte sie in ein einsam gelegenes Haus geführt, weit weg von jeder Hoffnung auf Rettung, und er würde in der Lage sein, all seinen Vorlieben und Gelüsten zu frönen.

Zwischendurch würde er auch mal eine Pause einlegen, vielleicht frühstücken oder ein bisschen schlafen. Und dann frisch gestärkt weitermachen. Er würde ihren Körper besitzen, er würde sie zum Krüppel machen, und zu guter Letzt würde er ihr die Augen ausstechen, dieser kleinen Miss Unabhängig.

Und wenn er sie dann zum letzten Mal nahm, würde er es so langsam wie nur irgend möglich tun.

Er erreichte die Kuppe des Berges und blickte jetzt hinunter in das Tal, das seit einem halben Jahrtausend die schützende Heimat von Mill Farm war. Ihm zitterten die Hände. Am schwierigsten würde werden, sich lange genug zu beherrschen, um alles so durchzuführen, wie er es geplant hatte. Er zwang sich, stehen zu bleiben, und hielt beide Hände ausgestreckt vor sich, bis sie wieder ruhig wurden. Als er sicher war, seine Gedanken wieder unter Kontrolle zu haben, ging er weiter.

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»Es muss doch eine Möglichkeit geben.«

Im Licht der Autoscheinwerfer sah Fenwick abgespannt aus, während er über Funk mit MacIntyre sprach.

»Andrew, im Augenblick kann ich keine Männer mehr entbehren.

Wir müssen den ganzen Ort durchkämmen. Sein Auto ist noch da, und aller Wahrscheinlichkeit nach finden wir ihn hier. Dass Sie Nightingale warnen, ist doch nur eine Vorsichtsmaßnahme.«

»Er ist gut zu Fuß, schon vergessen?«

»Er wäre doch verrückt, die ganze Strecke zu Fuß zu gehen. Wie soll er dann fliehen?« MacIntyres Stimme knisterte aus dem Funkgerät.

»Wovor denn fliehen? Er weiß doch gar nicht, dass wir hier sind. Wahrscheinlich denkt er, dass wir ihn immer noch in der Gegend von Telford suchen.«

»Das sehe ich anders. Wendys Leiche musste uns hierher führen.«

»Er glaubt nicht, dass wir so schlau sind und den Zusammenhang sehen.«

»Tut mir leid, Andrew. Sobald ich mehr Leute habe, schicke ich Ihnen welche.«

»Falls wir uns nicht verfahren, müssten wir bald da sein.

Dann brauche ich Unterstützung.«

»Beruhigen Sie sich. Innerhalb einer Stunde kriegen Sie mehr Leute, und mit ein bisschen Glück haben wir ihn dann auch schon geschnappt.«

Fenwick schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn zu diskutieren. Er war nicht der Leiter der Ermittlungen und konnte wieder einmal nicht bestimmen, wie die Operation durchgeführt wurde. Es ärgerte ihn, aber es brachte erst recht nichts, wenn er MacIntyre vergraulte.

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»Ich melde mich wieder«, sagte er, kaute frustriert auf dem Daumen und drängte den Fahrer zur Weiterfahrt.

Der Mond war zu hell, das war das Problem. Nightingale lag im Bett und verfluchte ihre Entscheidung, keine Vorhänge anzubringen. Schon zweimal hatte sie sich gezwungen, wieder einzuschlafen, aber diesmal versagten alle ihre bewährten Techniken und sie beschloss, sich einen Kamillentee zu kochen.

Sie schwang die langen, nackten Beine aus dem Bett und ertastete ihre Laufschuhe mit den Füßen. Das alte T-Shirt, das sie vor der Kühle im Haus schützte, bedeckte kaum ihren Po, aber sie war dankbar, dass sie etwas anhatte, als sie über die Hintertreppe hinunter in die Küche ging. Während sie darauf wartete, dass das Wasser im Kessel heiß wurde, setzte sie sich an den Tisch und wäre fast eingenickt. In dem sicheren Ge-fühl, sofort einschlafen zu können, sobald sie wieder im Bett lag, tunkte sie den Teebeutel in die Tasse mit Wasser und ließ ihn weiter ziehen, während sie mitsamt dem Tee gähnend wieder die Treppe hinauftapste.

Schläfrig und unkonzentriert vergaß sie die morsche Eckstufe, die ein warnendes Knarren von sich gab, als sie darauf trat und im letzten Moment einen kleinen Satz machte. Die hintere Treppe hatte wenigstens nur eine riskante Stufe. Die Treppe, die vom Flur hochführte, war an mehreren Stellen vermodert und so unzuverlässig, dass sie sie inzwischen gar nicht mehr benutzte.

Während sie im Bett ihren Tee trank, konnte sie nur mit Mühe die Augen offen halten. Als sie die Tasse geleert hatte, legte sie sich hin und ließ die Kamillenblüten ihr Werk ver-richten.

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Der Wald war unnatürlich still. Auf der Lichtung vor der Farm wirkte die Erde im Mondschein aschgrau. Es wehte kein Lüftchen, und die Schatten der Bäume sammelten sich am Waldrand, sodass es dort tiefdunkel war, still und erwartungsvoll. Ein Teil des Schattens bewegte sich, trat hervor und wurde zu einem Menschen. Er starrte das große, weitläufige Haus an, die leeren Fensterhöhlen nur dunkle Löcher im Stein. Es sah verlassen aus, ließ keinerlei Leben erkennen.

Smith spürte eine heiße Wut unter seinen Rippen aufbro-deln. Er war so weit gekommen, war sich seines Erfolges so sicher gewesen, dass der Anblick der verlassenen Farm einer Beleidigung gleichkam. Dann witterte er Rauch, eine Brise davon in der Luft, und sah ihn in einer dünnen Fahne aus dem Schornstein aufsteigen. Leben. Er schlich zur Tür, die sich auf Anhieb öffnete.

Die Luft war warm und duftete nach Seife und Kräutern.

Seine Hoffnung stieg schlagartig wieder. Jetzt waren Geduld und Vorsicht geboten, und er wartete ab, bis seine Augen sich an die tiefere Dunkelheit im Haus gewöhnt hatten. Aus einer offenen Tür vor ihm drang Wärme. Er ging hinein.

Eine Küche, der Herd noch warm. Er berührte prüfend den Kessel und riss sofort die Finger zurück, so heiß war er.

Hier wohnte jemand und hatte vor kurzem in dem Kessel Wasser heiß gemacht. Das musste sie sein. Er ging zurück in die Diele und sah in den Zimmern nach, die davon abgingen.

Als er nichts entdeckte, blieb er stehen, um sich zu orientieren und um zu entscheiden, wie er weiter vorgehen sollte.

Vermutlich schlief sie oben. Es war Zeit, alles vorzubereiten. Er schloss die Tür ab und nahm den Schlüssel mit in die Küche, wo er seinen Rucksack auf den Tisch stellte. Ge-räuschlos nahm er die Messer heraus, dann Seil und Klebeband. Beides wanderte in eine der Taschen seiner Cargo-587

Hose. Als er die Messer auspackte, streichelte er jedes einzelne, bevor er es verstaute. Das Fahrtenmesser schob er in eine Halterung am Gürtel, griffbereit. Das Stanley-Messer wanderte in die rechte Hosentasche, das winzige Skalpell ließ er in dem Schutzfutteral und steckte es sich seitlich in die Wander-stiefel. Zum Schluss schob er sein Taschenmesser in die linke Hosentasche. Jetzt, mit dem vertrauten Druck auf seiner Haut, hatte er das Gefühl, wieder ordentlich angezogen zu sein.

Obwohl seine Augen sich inzwischen ganz an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er trotzdem eine Taschenlampe mit, dann drehte er sich um und betrachtete die Treppe.

Als er vor der untersten Stufe stehen blieb, erklang hinter ihm ein mechanisches Surren, und er wirbelte herum, Fahrtenmesser schon in der Hand. Ein lauter metallischer Gong er-tönte. Eins … zwei … Es war eine Standuhr, versteckt in einer dunklen Ecke. Der Klang vibrierte durch den Flur und hallte die Treppe hinauf. Als es vorbei war, hielt er die Luft an, lauschte, ob von oben irgendein Geräusch zu hören war.

Er zählte bis hundert, aber das Haus war wieder völlig still geworden.

Behutsam hob er sein Gewicht auf die erste Stufe und wartete auf das Knarren. Nichts geschah. Die nächste Stufe ächzte ein bisschen, aber es war ein kaum hörbarer Laut, der sofort von der Dunkelheit verschluckt wurde. Er wurde sicherer und setzte einen Fuß auf die nächste Stufe.

Nightingale stöhnte leise in ihr Kissen, als die Standuhr sie aus dem Schlummer riss, in den sie endlich gesunken war.

Normalerweise wurde sie davon nicht wach, aber in dieser Nacht war alles anders. Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie auf ihre Uhr und sah, das es zehn nach zwei war.

Die alte Uhr ging nach, wie immer. Sie unterdrückte ein 588

Gähnen, reckte sich unter der Decke, sehnte den Schlaf zu-rück und versuchte, nicht daran zu denken, dass die Uhr jede Stunde erneut schlagen würde.

Von unten war ein Klicken zu hören, schwach, aber deutlich, keines der üblichen Geräusche im Haus. Wahrscheinlich der Kessel, der allmählich abkühlte, oder die Krallen einer übergewichtigen Maus. Nightingale spitzte die Ohren, um genauer bestimmen zu können, wo das Geräusch herkam und es dann zu vergessen. Stille. Sie gähnte herzhaft. Als sie aus-atmete, hörte sie ein lautes Knarren, das sie im Bett auffahren ließ. Dieses Geräusch kannte sie genau. Die dritte Stufe der Treppe von der Diele nach oben protestierte so, wenn sie belastet wurde. Falls sie richtig lag, würde gleich darauf ein leiseres Geräusch folgen, wenn das Holz wieder von dem Gewicht befreit wurde.

Da war es, unverkennbar. Jemand kam die Treppe herauf.

Wer auch immer das war, er bewegte sich sehr vorsichtig. Sie wartete. Die vierte Stufe gab zwar keinen Laut von sich, aber die fünfte war die reinste Alarmanlage.

In dem grauen Licht tauchte das Gesicht von Griffiths vor ihren Augen auf, aber sie schob es beiseite. Der war hinter Schloss und Riegel. Konnte es sein Partner sein, dieser Smith, vor dem Fenwick sie gewarnt hatte? Unmöglich. Er hätte sie niemals hier finden können. Es musste ein anderer Eindringling sein. Aber ein gewöhnlicher Dieb würde sich wohl kaum mit so einem Haus abgeben. Es sei denn, es war gar kein Dieb, sondern jemand, dem zu Ohren gekommen war, dass eine dumme Frau hier ganz allein lebte, und der beschlossen hatte, sich ein wenig zu amüsieren.

Trotz ihrer Versuche, logisch zu denken und ruhig zu bleiben, sträubten sich ihr die Haare im Nacken und auf den bloßen Armen. Vorsichtig hob sie die Füße aus dem Bett und 589

schob sie in ihre Laufschuhe. Die Shorts, die sie zur Gartenarbeit getragen hatte, lagen auf einem Stuhl. Um dorthin zu gelangen, musste sie über die nackten Dielenbretter gehen, was nicht geräuschlos zu bewerkstelligen war. Ihr Kopf arbeitete zweigleisig, das Gehör lauschte Richtung Treppe, jede andere Gehirnzelle überlegte verzweifelt, wo sie ihre Autoschlüssel gelassen hatte. Es fiel ihr wieder ein, und sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Dummheit. Die lagen natürlich wie immer unten auf der Kommode.

Wieder ein Knarren, die fünfte Stufe. Der Eindringling war jetzt kurz vor dem Treppenabsatz. Sie musste sich rasch entscheiden: weglaufen, kämpfen oder verstecken. Die letzten beiden Alternativen schloss sie aus. Sie war unbewaffnet, er hatte möglicherweise ein Messer oder sogar eine Schusswaffe, und hier im Zimmer gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken.

Weglaufen. Aus dem Fenster springen? Es wäre ein freier Fall hinunter auf einen Steinplattenweg. Wenn sie sich verletzte, wäre alles aus. Neben dem Bett stand eine kleine Öllampe mit schwerem Fuß, die könnte sie als Waffe benutzen.

Sie hob sie hoch und huschte geduckt zur Tür, um durch den Spalt am Rahmen in die relative Dunkelheit des oberen Flurs zu spähen. Er schien leer zu sein, aber die Nacht malte dunkle Schatten in die Ecken, groß genug, um einen Mann zu verbergen, der darauf lauerte, sie anzufallen, wenn sie vorbeikam.

Sie hatte Panik. Der Mut, auf den sie sich in der Vergangenheit hatte verlassen können, hatte sich als schlichte Gleichgültigkeit ihrem eigenen Schicksal gegenüber entpuppt. Jetzt, wo sie leben wollte, ließ ihre innere Ruhe sie im Stich. Sie begann zu schlottern. Das Zittern war so heftig, dass das Glas in der Lampe klirrte und sie es mit der anderen 590

Hand festhalten musste. Der Zorn auf ihre Schwäche zwang sie, sich ihrer Angst zu stellen. Sie würde nicht zu einem weiteren Opfer werden, das in Polizeiberichten auftauchte und bemitleidet wurde. Die Vorstellung, wie ihr Körper auf dem Obduktionstisch darauf wartete, mit einem Y-Schnitt geöffnet zu werden, erfüllte sie mit Ekel. Falls sie blieb, wo sie war, würde sie vielleicht sterben. Eine Idee schoss ihr durch den Kopf, und sie nahm ein Kopfkissen vom Bett. Jetzt musste sie nur losrennen. Sie beschloss, bis drei zu zählen, wie sie das als Kind getan hatte. Sie schmeckte Salz auf den Lippen, als sie zu zählen begann.

Smith hielt die Luft an und zählte bis zwanzig. Das letzte Knarren des alten Holzes war so laut gewesen, dass er fast sicher war, sie geweckt zu haben. Als er zu Ende gezählt hatte, lauschte er, aber bis auf ein kaum hörbares Klirren von Glas war das Haus still.

Er war nicht so unvorsichtig, sich seiner Phantasievorstellung hinzugeben – sie nackt, schlafend und schutzlos im Bett vorzufinden –, aber noch nie hatte er sich so stark, so unbesiegbar gefühlt. Er hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, als er behutsam auf die nächste Stufe trat. Kein Laut. Er machte wieder einen Schritt, und ein ganz leises Knarren ertönte.

Zwei Stufen weiter war ein Absatz, dann war es nur noch ein kurzes Stück bis oben. Er war so nah dran. Das Taschenmesser in der linken Tasche drückte wie eine Erektion gegen seinen Oberschenkel. Ein Lichtschimmer spiegelte sich in der Klinge des Fahrtenmessers, das er in der Hand hielt.

Plötzlich war über ihm ein Luftstoß, und etwas Weißes huschte vorbei. Eine Gestalt, blass im Mondlicht, rannte über den Flur. Smith stieß einen wütenden Schrei aus und sprang vor, um ihren Fußknöchel zu packen, der fast in Reichweite 591

war. Mit dem linken Fuß trat er schwer auf die Eckstufe und durchbrach krachend das morsche Holz. Er fiel nach vorn, und das Bein baumelte unter ihm in der Luft. Brüllend vor Frust zog er den Fuß hoch, zuckte vor Schmerz zusammen, als sich Splitter durch die Hose bohrten. Dann verklemmte sich sein Fuß in dem Loch. Er drehte ihn, zerkratzte sich die nackte Haut an der Wade, aber er saß fest. Mit dem Fahrtenmesser hackte er auf das Holz um seinen Knöchel herum ein, bis er den Fuß plötzlich mit einem Ruck frei bekam und fast noch die Treppe hinuntergefallen wäre.

Er sprang die letzten Stufen hinauf und rannte hinter der Frau her, die in der Dunkelheit verschwunden war. Der Flur verlief nicht auf einer Höhe, und er stürzte der Länge nach ein paar Stufen hinunter, schlug mit dem Kopf gegen die Fußleiste. Danach wurde er vorsichtiger und benutzte seine Taschenlampe. Der Weg vor ihm war leer. Zu seiner Linken war ein Badezimmer, das nach ihrer Seife roch. Rechter Hand war ein altes Schlafzimmer mit Schimmel in den Ecken. Hinter einer der Türen erklang ein Geräusch. Er riss sie auf und sah vor sich eine Wendeltreppe nach unten. Er rannte hinunter und sah plötzlich am unteren Ende etwas Weißes schimmern. Mit einem Schrei stürzte er darauf zu – es war ein Kissen, dass flach gedrückt vor einer halb geöffneten Tür lag. Er zwängte sich hindurch und war wieder in der Küche, allein.

Fluchend suchte er die Zimmer im Erdgeschoss ab. Ihr Auto stand noch draußen, den Motor hatte er außer Gefecht gesetzt. Bevor er ins Haus eingedrungen war, hatte er ihr diese Fluchtmöglichkeit vereitelt. Falls sie keinen Sprung aus dem ersten Stock riskiert hatte, war sie noch irgendwo im Haus. Er beschloss, es von oben bis unten zu durchsuchen.

Nightingale hockte hinter der Gipswand des kleinen Schlafzimmers und hielt nach dem Licht der Taschenlampe 592

Ausschau. Als sie aus dem Fenster geblickt und die Kabel gesehen hatte, die aus der Motorhaube ihres Autos hingen, waren ihr die Tränen gekommen. Wer auch immer im Haus war, er war ganz bestimmt kein hergelaufener Einbrecher. Es musste Smith sein, obwohl sie ihn nicht angesehen hatte, als sie an der Treppe an ihm vorbeigerannt war. Während er noch verzweifelt versuchte, seinen Fuß freizubekommen, hatte sie rasch das Kissen hinunter zur Küche geworfen, damit er glaubte, sie sei über die Wendeltreppe geflüchtet. Jetzt wartete sie ab, ob ihr Trick geklappt hatte.

Sie kauerte in ihrem Versteck aus Kindertagen, ein Raum zwischen Wand und Dachschräge, der sich um das ganze Haus herum erstreckte. Sie musste vorsichtig auf den Quer-balken balancieren, um nicht durch die dünne Decke zu stürzen. In dem Zimmer auf der anderen Seite der Wand rührte sich nichts. An den Rändern der Gipsplatte, die das Loch verschloss, war ein dünner Spalt, durch den sie sehen würde, wenn das Taschenlampenlicht zurückkehrte.

Die Minuten verstrichen, und sie überlegte, wie lange sie in ihrem Versteck bleiben musste, um sicher sein zu können, dass er weg war. Sie fing an zu zählen, und als sie bei hun-dertdreiundfünfzig angekommen war, huschte draußen ein Lichtstrahl vorbei, drang grell durch den Spalt. Sie schloss instinktiv die Augen, und ein roter Streifen lag quer in ihrem Gesichtsfeld. Der Raum, in dem sie sich verbarg, war niedrig, nur halb so hoch wie sie. Sie erstarrte in der Hocke und wartete darauf, dass er wieder aus dem Schlafzimmer ging. Es war verrückt, dass er überhaupt hier nach ihr suchte. Er müsste eigentlich draußen sein. Die Tatsache, dass er das nicht war, machte ihr Angst, denn es bedeutete, dass sie nicht cleverer war als er. Das Licht verschwand, und sie begann wieder zu atmen. Bestimmt würde er bald aufgeben.

593

Aber Nightingale konnte nicht wissen, wie durchtrieben Smith war. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er überzeugt war, dass sie nicht durch eines der Fenster entwischt war, denn entweder ließen sie sich nicht öffnen, weil das Holz verzogen war, oder sie waren von innen verriegelt. Dann hatte er erneut alle Räume im Erdgeschoss abgesucht und anschließend alle Türen fest verschlossen. Sie musste noch im Haus sein. Selbst wenn sie es bis in die Küche geschafft hatte, während er noch mit dem Fuß in der Treppenstufe feststeck-te, hätte die abgeschlossene Tür ihre Flucht verhindert.

Trotz der ersten Enttäuschung begann er, Gefallen an diesem Katz-und-Maus-Spiel zu finden. Er hatte alles, was er brauchte, sie nichts, vielleicht nicht mal Kleidung. Er hatte sie nur ganz kurz gesehen, aber er erinnerte sich an vorbeihu-schende lange Arme und nackte Beine. Oben auf dem Flur stand eine Kommode, die er vor die Treppe zerrte, damit Nightingale nicht hinter seinem Rücken nach unten laufen konnte. Falls sie es mit der Küchentreppe versuchte, würde sie feststellen, dass die Tür von der anderen Seite mit einem Stuhl festgeklemmt war. Allmählich kreiste er sie ein.

Das obere Stockwerk des Hauses war verwirrend und grö-

ßer als die Grundfläche des Erdgeschosses. Ihm wurde klar, dass offenbar manche Räume über die Außengebäude der Farm gebaut worden waren. Das machte die Sache komplizierter, aber er hatte ja die ganze Nacht Zeit, und er konnte sehr methodisch vorgehen, wenn es erforderlich war.

Sie war nicht in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt. Er hatte dort nachgesehen, dann mit einem Lächeln an ihrer Bettwä-

sche gerochen, ehe er die Tür abschloss. Sehr gründlich durchsuchte er jeden Raum, fand jedoch nichts. Er fing noch einmal von vorn an, und erst jetzt bemerkte er im älteren Teil des Hauses schwache Spuren im Staub. Er verfolgte sie 594

ein paar Stufen hinunter und weiter zu einem kleinen Mansardenzimmer. Der Raum war leer, das Fenster mit gesprungener Scheibe fest geschlossen. Als er auf dem Flur hinter diesem Zimmer keine weiteren Fußspuren mehr fand, kehrte er in den Raum zurück, setzte sich auf den Boden und schaltete die Taschenlampe aus. In den Häusern seiner Opfer war er immer in Bestform, und sein Instinkt sagte ihm, dass sie ganz in der Nähe war. Sie würde es nicht schaffen, lange aus-zuharren, Frauen hatten nicht so viel Stehvermögen, und sobald sie sich bewegte, würde er es hören.

Nightingale hatte kein Gespür mehr, wie lange sie schon in der pechschwarzen Dunkelheit des engen Raumes hockte.

Irgendwann meinte sie, die Uhr schlagen zu hören, aber der Klang war so gedämpft, dass sie ihrer Sache nicht sicher war.

War eine Stunde vergangen, zwei? Es musste doch schon länger her sein, dass sie wach geworden war und gehört hatte, wie er die Treppe heraufgeschlichen kam. Sie beschloss, bis fünfhundert zu zählen und sich dann aus ihrem Versteck zu wagen.

Bei vierhundertzwanzig hörte sie eindeutig ein Geräusch im Zimmer. Sie presste ein Auge an den schmalen Spalt, konnte aber nichts sehen. Sie schob die Nase dicht heran und schnupperte lautlos. Es roch nach Staub und Gips, aber da war noch etwas anderes, ein unverkennbarer Hauch von fremdem Schweiß. Sie war weit vorgebeugt und hatte das Gesicht an die Wand gedrückt, als das Klopfen direkt neben ihrem Ohr anfing und sie sich auf die Knöchel beißen musste, um nicht aufzuschreien. Das Klopfen bewegte sich von ihr weg an der Wand entlang. Er war da, und er ahnte, wo ihr Versteck war. Sie hatte keine andere Wahl, sie musste weg.

Sie würde von Balken zu Balken schleichen und die Öllampe, 595

ihre einzige Waffe, zurücklassen müssen. Angstschlotternd schob sie sich nach vorn und betete, dass er die herausnehm-bare Platte in der Wand hinter dem Bett nicht finden würde.

Smith klopfte und lauschte. An manchen Stellen war der Gips so lose, dass seine Fingerknöchel Staubwolken aufwir-belten, die wie Gespenster im Mondlicht schwebten. Er arbeitete sich einmal um den ganzen Raum herum, überprüfte die Wände jeweils in Schulter- und in Kniehöhe. Als er fertig war, überlegte er kurz und inspizierte noch einmal die Fußspuren auf dem Boden, weil er fürchtete, sich vielleicht geirrt zu haben.

Nein. Sie war hier reingerannt und nicht wieder raus. Er bückte sich und leuchtete mit der Taschenlampe den Boden ab, um sich die Sache genauer anzusehen. Die Spur führte neben das niedrige Bett. Er schob sich vor und klopfte sachte die Wand ab. Direkt neben dem Bett fiel ihm eine leichte Verfärbung in der welligen Tapete auf. Die Lücke hinter dem Bett war für ihn zu schmal, aber sie könnte möglicherweise dazwischengepasst haben. Er zerrte das alte eiserne Bettgestell mit einem lauten Quietschen beiseite. Als er die Wand dahinter überprüfte, war das hohle Geräusch unverkennbar. Mit der Taschenmesserklinge fuhr er den äußeren Rand der dunklen Schattierung entlang und stieß in einen Hohlraum dahinter. Er zog eine lose Platte heraus. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, seinen muskulösen Oberkörper durch die Öffnung zu schieben, und der Rest schlüpfte leicht hindurch.

Auf der anderen Seite schöpfte er erst mal Atem und sah sich um. Er befand sich in einem schmalen Hohlraum, der durch die Neigung des Daches und die inneren Gipswände gebildet wurde. Es war so eng, dass er sich selbst tief gebückt kaum bewegen konnte. Als er versuchte, eine etwas beque-mere Position einzunehmen, stieß er mit dem Kopf gegen 596

Dachpfannen, und tote Spinnen und Staub rieselten ihm ins Gesicht.

Er leuchtete mit der Lampe nach links, zur Vorderseite des Hauses, und sah, dass der Hohlraum dort an der Ziegelmauer endete. Er kroch darauf zu, weil er argwöhnte, dass dort ein Versteck sein könnte, aber es war nur eine Sackgasse. Damit blieb nur noch eine Richtung übrig. Er drehte sich um, ging tief in die Hocke und klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne. Vor ihm war die dicke Staubschicht auf den Balken zertreten, sodass schwarze Stellen aus rohem Holz sichtbar waren. Mit einem leisen, zufriedenen Brummen nahm er die Verfolgung auf.

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Kapitel vierunddreißig

Eine Viertelmeile hinter dem Ende der schmalen Teerstraße erreichte der Polizeiwagen eine Stelle, wo ein Pfad abging. Der Fahrer schaltete in einen kleinen Gang herunter, weil der Berghang vor ihnen steil anstieg, und Fenwick rief MacIntyre über Funk.

»Wir sind in fünfzehn Minuten da. Wir brauchen Verstärkung.«

»Wir müssten hier in weniger als einer Stunde fertig sein, dann kriegen Sie alles, was Sie brauchen. Warten Sie doch noch so lange.«

Ohne zu antworten, beendete Fenwick das Gespräch und sah den Fahrer und seinen Kollegen an. Smith war allein, aber er war ein psychopathischer Killer, und ihm war alles andere als wohl.

»Sind wir auf uns allein gestellt, Sir?« Der Fahrer sprach mit einem freundlichen Devon-Akzent. Er blickte auf eine Art begeistert, die Fenwicks Zuversicht nicht gerade steigerte.

»Im Moment noch.« Am liebsten hätte er noch hinzugefügt, mein Junge. »Licht aus. Wir müssen jetzt ziemlich nah dran sein.«

Er schob seine Bedenken beiseite und fing an, seine Möglichkeiten abzuwägen, während sie im Schneckentempo durch die Dunkelheit krochen.

Nightingale hustete leise in die Armbeuge hinein und ver-598

suchte, den Staub aus den Augen zu blinzeln. Hier oben, über der alten Mühle, bedeckte der Mehlstaub aus Hunderten von Jahren jede nur mögliche Fläche, und sie musste innehalten und Luft schöpfen, um nicht an dem feinen Puder zu ersticken, den sie mit jeder Bewegung aufwirbelte. Es war stockfinster unter dem Dach, und sie hatte die Orientierung verloren. Irgendwo in diesem Labyrinth aus Gängen hatte sie die Luke über der Treppe verpasst, die hinunter in den alten Melkraum führte, und stattdessen war sie jetzt in dem Anbau, der über den Mühlbach ragte, ohne einen Ausweg und mit einem Mörder auf den Fersen. Sie wusste, dass er ihr folgte.

Kaum eine Minute zuvor hatte sie den Lichtstrahl der Taschenlampe über das Dach huschen sehen, aber dann war sie um eine Ecke gebogen, tiefer in die Dunkelheit hinein, und war weiter gehastet, verzweifelt bemüht, ihren Verfolger abzuschütteln.

Sie hatte sich damit abgefunden, dass der Mann, der sie verfolgte, Smith sein musste. Der Gedanke erfüllte sie mit Schrecken, denn sie hatte gelesen, wie brutal seine Verbrechen waren, und sie wusste, dass er nicht aufgeben würde, ehe er sie erwischt hatte. Sie bog in einen engen Durchgang ein und hoffte, dass er zu eng für Smith sein würde. Nahezu panisch kroch sie vorwärts, obwohl sie absolut nichts sehen konnte.

Urplötzlich krachte sie gegen eine Wand, die ihr den Weg versperrte. Benommen senkte sie den Kopf und wartete, bis die Sterne vor ihren Augen wieder verschwanden. Sie tastete nach der nächsten Ecke, aber auf allen drei Seiten waren ge-mauerte Wände, und die Decke über ihr war stabil. Ihr blieb kein Ausweg mehr. Sie meinte, hinter sich ein schweres Schlurfen zu hören, und unterdrückte ein Schluchzen. Von Angst getrieben machte sie kehrt und kroch zurück, vielleicht 599

hatte sie ja eine Abzweigung übersehen. Ein großer Holz-splitter bohrte sich in ihr Knie, aber sie achtete nicht auf den Schmerz und schob sich weiter vor.

Rechts und links berührten ihre Finger raue Ziegelsteine und Dachpfannen. Unter ihren Füßen stoben ganze Wolken von dickem Staub auf, der ihr in Augen und Kehle drang, sodass sie würgen und anhalten musste, um wieder Luft zu bekommen. Sie legte sich auf den Rücken und versuchte zu atmen, aber die Luft am Boden war ebenso staubig wie direkt unter dem Dach. Sie drohte zu ersticken.

Das Dach über ihr drückte auf sie nieder wie der Deckel einer Gruft, aber plötzlich sah sie einen dünnen Streifen Licht und kroch darauf zu. Die Dachverkleidung hatte sich gelöst, und durch eine Lücke in den Pfannen konnte sie die Sterne sehen. Mit einem kräftigen Ellbogenstoß nach oben verschob sie eine Dachpfanne, und ein frischer Luftzug strömte herein, der neue Staubwolken aufsteigen ließ. Gierig sog sie den Sauerstoff in die Lunge und spürte, wie ihr Kopf wieder klar wurde. Draußen sah sie Orion tief am Himmel stehen. Das Geräusch des Wassers klang klar durch die Nacht. Vielleicht konnte sie durch das Dach brechen und entkommen. Sie war stark nach den Wochen mit viel gutem Essen und körperlicher Bewegung. Sie tastete über ihrem Kopf, doch die Spar-ren waren zu dicht beieinander. Sie saß noch immer in der Falle, konnte nirgendwohin, außer zurück, und er war dicht hinter ihr, kam immer näher, während sie in diesem sargähnlichen Hohlraum kostbare Zeit vertat. Er würde jeden Zentimeter des Hauses absuchen, und sie war sicher, wenn er sie nicht fand, würde er es niederbrennen. Falls ihr die Flucht nicht gelang, würde sie hier sterben, so oder so.

Die Vorstellung, wie sie hier unter dem Dach in der Falle saß, während Flammen das trockene Holz fraßen und den 600

Getreidestaub entzündeten, war grauenhafter, als sich Smith zu stellen. Sie hatte keine andere Wahl, als zurück in den Hauptgang zu kriechen, den sie so hoffnungsvoll verlassen hatte, und von dort aus weiterzumachen. Sie riss sich von dem Mondlicht los und kehrte in die beängstigende Dunkelheit zurück. Ihre Augen suchten hektisch nach irgendeiner Fluchtmöglichkeit. Kurz bevor sie die Stelle erreichte, wo es zurück in den Hauptteil des Speichers ging, sah sie rechts von sich die schattenhaften Umrisse eines großen Gegenstandes aufragen. Sie kroch auf wunden Knien darauf zu, kämpfte den brennenden Schmerz in den Oberschenkeln und im Rücken nieder. Ihre ausgestreckte Hand berührte Holz, eine dicke, schräg gestellte Schaufel. Sie griff höher und ertastete eine weitere Schaufel, darüber noch eine. Es war das Mühlrad, das wuchtig bis hier unters Dach aufragte und umbaut worden war. Sie musste zuvor in der Dunkelheit daran vor-beigekommen sein, aber das kleine bisschen Mondlicht ge-nügte, um es jetzt zu erkennen.

Rund um das Rad war eine Lücke im Boden, nicht groß, aber vielleicht gerade groß genug für sie, um hindurchzurut-schen. Sie ertastete den Abstand mit den Händen. Es war sehr eng, aber sie war so verzweifelt, dass sie ohne lange zu überlegen die Füße hindurchschob. Sie musste sich winden, um Hüften und Gesäß durch den Spalt zu schieben, und sie strampelte mit den Beinen, bis ihre Laufschuhe auf einer der Holzschaufeln weiter unten Halt fanden. Die Taille glitt leicht hindurch, dann ihre Brüste. Sie versuchte gerade, den Kopf seitlich verdreht durch die Öffnung zu bekommen, als Licht vom Eingang zum Dachspeicher hereinfiel und sie blendete.

Sie hörte Smith auflachen: »Na, wen haben wir denn da?«

Doch im selben Moment zog sie den Kopf auch schon durch 601

die Öffnung nach unten und klammerte sich an dem alten Mühlrad fest, wie eine Spinne in einem monströsen Spinn-gewebe.

Er würde versuchen, ihr den Weg abzuschneiden. Sie konnte nur hoffen, dass er sich in dem Labyrinth unter dem Dach verirren würde. So schnell sie konnte, tastete sie sich über die Holzspeichen des Rades nach unten, zwängte sich durch die Engstellen des zweiten und des ersten Stockes, bis sie endlich unten auf die Fliesen in der Mühlkammer springen konnte. Sie befand sich jetzt ziemlich am Rand des Anwesens. Nightingale lief durch den Raum, dessen Boden feucht war von der kühlen Luft, die vom Bach aufstieg, und zog die Tür auf. Sie sprintete quer über den Hof. Ein Schatten löste sich von der Hauswand und sprang auf sie zu. Er schlug ihr so heftig gegen den Kopf, dass sie zu Boden stürzte.

Er setzte nach und hatte schon den rechten Arm erhoben, um erneut zuzuschlagen, aber sie riss das Bein hoch, rammte ihm das Knie in den Unterleib und stieß den Kopf unter sein Kinn, sodass er aufheulte. Sie landete einen Fausthieb seitlich an seinem Kopf, aber dann traf sie die Taschenlampe mit voller Wucht unter dem Auge.

Der Schmerz lähmte sie. Sie verstand nicht, warum er kein Messer benutzte oder eine Pistole. Es war, als wollte er sie nicht sofort töten, sondern erst bewusstlos schlagen. Der Gedanke, was das bedeuten könnte, verlieh ihr neue Kraft, und sie wehrte sich gegen sein Gewicht. Er drückte jetzt mit einem Arm auf ihren Hals, schnitt ihr die Luft ab, während die andere Hand ihr einen Arm gegen den Körper presste. Er war wie ein wildes Tier, die Augen weit aufgerissen, die Pupillen umringt von blutunterlaufenem Weiß, die Zähne gefletscht.

Schwarze Punkte begannen vor ihren Augen zu tanzen, während sie nach Luft rang und das Blut ihr in den Ohren 602

rauschte. Ihr rechter Arm klemmte unter seinem Körper, der linke wurde von ihm wie in einer Schraubzwinge gehalten.

Gleich würde sie das Bewusstsein verlieren. Ein verzweifelter Überlebenswille durchströmte sie. Sie zog die Beine an, stemmte die Füße auf das Kopfsteinpflaster und stieß mit dem letzten Rest an Kraft, der ihr noch blieb, die Hüften nach oben.

Er schwankte zur Seite, hielt sie aber weiter fest. Erneut stieß sie die Hüften wie in einer absurden Parodie des Liebe-saktes nach oben, und er presste sich gegen sie. Sie spürte etwas Hartes gegen ihre Hüfte drücken und hielt es für seine Erektion. Dann verlagerte er das Gewicht, und durch die Bewegung merkte sie, dass sie sich getäuscht hatte. Der harte Gegenstand rutschte nach unten über ihre Hüften, weg von seinem Schritt. Sie begriff, dass er in seiner Tasche stecken musste.

Noch immer hielt er ihren Arm fest, und sie hatte keine Kraft mehr, ihn zu bewegen. Mit ihrem letzten bisschen klaren Verstand tat sie so, als würde sie ohnmächtig. Sie ließ den Kopf zur Seite sinken, hielt die Augen geschlossen. Die Dunkelheit, ihre zusammengepresste Lunge und das brennende Feuer in der Kehle machten ihr klar, wie nah die Verstellung an die Wahrheit heranreichte. Wenn er nicht bald aufhörte, wäre alles vorbei.

Einen langen Augenblick hielt er sie weiter fest. Ihre Zunge füllte ihren Mund aus, und sie hatte das Gefühl zu fallen.

Dann lehnte er sich zurück, und sie konnte wieder atmen. Sie spürte, dass er sie beobachtete und bereit war, sofort wieder zuzudrücken, deshalb atmete sie langsam ein, obwohl ihr Körper nach mehr Luft schrie, und hielt die Augen geschlossen. Er ohrfeigte sie fest, und ihr Kopf schlug seitlich aufs Pflaster, aber sie schrie nicht auf. Anscheinend glaubte er 603

jetzt, dass sie wirklich bewusstlos war, denn sie merkte, wie er sich aufrichtete. Sie stellte sich seinen Körper vor, die Hosentasche mit dem harten Gegenstand darin. Was auch immer es war, es war ihre einzige Chance, sich einen Vorteil zu verschaffen.

Als er gerade auf die Beine kam, holte sie tief Luft und schnellte hoch. Ihr Kopf prallte so fest auf sein Kinn auf, dass er zur Seite taumelte. Ihre Hand glitt in seine Tasche und schloss sich um das glatte Plastik, das sie darin ertastete. Es fühlte sich an wie ein Feuerzeug. Damit konnte sie ihm Brandwunden zufügen.

Er warf sein Gewicht wieder auf sie, und jetzt waren ihre beiden Arme unter seinem Körper eingeklemmt. Sie wand sich, bis es ihr gelang, ein Bein freizubekommen, und sie versuchte verzweifelt, ihm ihr Knie in die Seite zu stoßen. Aber seine Hände lagen jetzt um ihren Hals und drückten zu. Auf den Steinen neben sich sah sie verschwommen sein Messer, bereit zum Einsatz. Sie versuchte, sich an ihre Selbstverteidigungskurse zu erinnern. Augen und Weichteile, das sind die empfindlichen Punkte. Mit ihren eingeklemmten Armen konnte sie sein Gesicht nicht erreichen, aber ihre Hände mussten ganz nah an seinem Schritt sein.

Er hatte sich etwas höher geschoben, um sie besser würgen zu können. Sie stieß eine Hand nach unten, fand seine Hoden und quetschte sie. Smith schrie vor Schmerz auf, und sein Griff lockerte sich. Sie konnte ihre Arme hochreißen und nach außen drücken, sich aus seiner Umklammerung befreien. Dann rammte sie ihm sicherheitshalber noch einmal das Knie in den Schritt und rollte sich weg, war jetzt auf allen vieren und rang nach Luft.

Er war schneller auf den Beinen, als sie gedacht hatte, und er griff sofort nach seinem Messer.

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»Ganz wie du willst, du verdammtes Miststück. Dann stirbst du eben hier und jetzt.«

Er wollte ihr in die Rippen treten, aber sie schwankte zur Seite, hielt die Augen auf ihn und das Messer in seiner Hand gerichtet. Es war ein Fahrtenmesser mit einer etwa fünfzehn Zentimeter langen Klinge. Nightingale wusste, was für Verletzungen ein solches Messer anrichten konnte, und sie weigerte sich, die Möglichkeit zu akzeptieren, dass er das mit ihr machen würde.

»Versuchs doch, du krankes Schwein.« Sie hob schwan-kend den Oberkörper und setzte einen Fuß auf, um sich hochzuhieven, aber sofort drehte sich ihr alles, deshalb stützte sie sich wieder mit den Händen ab, wie ein verletzter Stier, angeschlagen, aber noch nicht besiegt.

Er lächelte jetzt, umkreiste sie und schwang sein Messer.

»Mach mir nichts vor. Du bist doch halb wahnsinnig vor Schiss.«

Sie stieß ein Lachen aus, das zwar nicht echt klang, ihr aber gut tat. Dieser Mann wollte sehen, wie sie verängstigt um ihr Leben bettelte, ehe er sie tötete. Aber da hatte er sich verrechnet. Jetzt, wo das Schlimmste passierte, war sie von einem neuen Mut erfüllt, der aus ihrem Wunsch zu leben entsprang.

»Du lächerliche Figur.« Sie wollte ihn provozieren, damit er näher kam und sie ihm mit der Feuerzeugflamme das Gesicht verbrennen konnte, aber er hielt Abstand. Er beschrieb jetzt langsam und genüsslich, was er mit ihr machen würde, vor und nach ihrem Tod. Sie achtete nicht auf die Worte und ließ ihn reden, weil sie damit Zeit gewann, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Unauffällig tastete sie den Gegenstand in ihrer Hand ab, suchte nach dem Zündrädchen und dem Drücker. Als sie nichts spürte, außer glatter Fläche 605

und einem Metallrand, riskierte sie einen kurzen Blick nach unten.

Es war gar kein Feuerzeug, es war ein Taschenmesser. Zuerst war sie enttäuscht, weil sie sich so darauf konzentriert hatte, die Flamme zu entzünden und ihn zu versengen. Doch dann wurde ihr klar, was sie da hatte, und neue Hoffnung erfüllte sie. Ein Messer, um gegen ein Messer zu kämpfen.

Damit waren die Chancen zwar noch nicht gleich verteilt, aber sie spürte, wie ihr Selbstvertrauen zurückkehrte. Ein Vorteil für sie würde sein, dass sie keine Angst mehr hatte, denn sie glaubte kaum, dass je eines seiner Opfer wütender und entschlossener gewesen war als sie. Sie ließ das Taschenmesser aufschnappen.

Plötzlich sprang er auf sie zu. Sie rollte sich blitzschnell zur Seite ab und landete in der Hocke. Er setzte nach, das Messer in der ausgestreckten Hand, um zuzustechen. Sie wartete, bis er nah genug war, dann wich sie seitlich aus und stieß mit ihrer eigenen Waffe nach unten. Ein überraschter Schrei er-tönte, und sie sah Blut auf ihrem Arm. Er hatte sie verletzt, aber auch an ihrem Messer war Blut, und sie sah, dass er an seinem Handgelenk saugte und mit der anderen Hand in der Hosentasche wühlte.

»Das ist mein Messer, verdammt!« Die Empörung in seiner Stimme stand in keinem Verhältnis zu der lächerlich kleinen Klinge.

»Dann komm und hol’s dir.« Sie stand jetzt, taumelte zwar wie eine Betrunkene, aber spürte in sich eine nie gekannte Wildheit.

Sie starrte ihm in die Augen, hob den Arm an den Mund und kostete ihr eigenes Blut. Die Geste hatte nichts Ängstliches oder Verstörtes an sich, nein, sie hinterließ blutige Schlieren auf Kinn und Wangen und färbte ihre Zähne rot.

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Der Geschmack von Eisen und Salz weckte in ihr das primitive Verlangen, dem Menschen, der sie verletzt hatte, Schmerz zuzufügen. Anscheinend spiegelte sich etwas davon auf ihrem Gesicht, denn Smith machte einen Schritt zurück, blieb stehen und musterte sie prüfend.

Dann griff er unvermittelt wieder an. Sie sprang zur Seite, aber ihr Verstand arbeitete schneller als ihr verwundeter Körper, und sein Messer schnitt in das Fleisch unter ihrem Arm.

Der Schmerz durchzuckte sie, war aber sofort wieder vergessen, weil sie erneut ausweichen musste, als er blitzschnell zum nächsten Angriff ansetzte. Er kam immer näher, siegessicher und im Umgang mit dem Messer geübt. Ihre Füße waren schwer, und sie zwang sich, durch den Nebel ihrer Blutlust hindurch zu denken. Siegesgewissheit war nicht gleich Sieg.

Ihr Gegner war fitter, stärker und fast unverletzt. Falls sie nicht cleverer war als er, würde sie sterben.

Als er wieder angriff, blieb sie ruhig stehen. Erst im letzten Moment trat sie mit voller Wucht gegen sein Knie und stieß das Taschenmesser im Bogen nach unten. Er stolperte, verfehlte sein Ziel und Blut erschien auf seinem Wangenkno-chen, wo ihr Messer eine alte Wunde geöffnet hatte. Zwei Zentimeter höher, und er wäre blind gewesen.

Er schrie auf und drang auf sie ein. Sein Messer zischte durch die Luft, dicht an ihrem Hals vorbei, und ein paar schwarze Haarlocken fielen zu Boden. Sie versuchte, einen weiteren Tritt zu landen, diesmal in die Kniekehle, aber er reagierte schnell und sprang außer Reichweite ihrer langen Beine.

Jetzt umkreisten sie sich geduckt, beide mit gefletschten Zähnen, ohne jedes Schmerzempfinden und mit dem gleich starken Bedürfnis, den Gegner zu vernichten und zu verstümmeln. Sie sah, dass er einen Angriff auf ihre rechte Seite 607

antäuschte, aber seine Augen verrieten ihn, und sie wich nicht aus. Als er auf sie zustürmte, ließ sie sich im letzten Moment zu Boden fallen, rollte sich zusammen und brachte ihn zu Fall. Es war eine unorthodoxe Art der Verteidigung, aber sie war wirkungsvoll.

Sie warf sich auf ihn, versuchte, ihn mit dem Messer am Hals zu erwischen, während sie seine rechte Hand mit ihrer linken abwehrte. Er war stärker, aber sie hatte ihn überrumpelt, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass sie zum Angriff übergehen würde. Es gelang ihr, seine Messerhand zu verlet-zen, eine tiefe Wunde, die vom Gelenk über den Handteller verlief. Als sie erneut zustoßen wollte, hielt er ihren Arm fest und rollte sie auf den Rücken, sodass sie aufeinander lagen, beide ein Messer in der rechten Hand. Seine Linke quetschte ihr Handgelenk, bis ihr Tränen in die Augen schossen. Ihre Linke tastete nach der Verletzung seiner Messerhand und riss an der klaffenden Haut, bis er vor Schmerz aufstöhnte, zu-rückwich und das Messer fallen ließ.

Es klirrte auf die Steine. Bevor er es mit seiner unverletzten Hand aufheben konnte, war Nightingale schon wieder auf den Beinen und kickte es weg, in den Schatten des Hauses, wo es gegen einen Eimer schepperte. Er zog ein Skalpell aus dem Schuh und fluchte frustriert.

Dann trat Stille sein. Er hielt den verletzten Arm quer vor die Brust und starrte sie an. Sie spürte keinerlei Schmerz. Blut hatte ihr T-Shirt getränkt und sickerte an ihren nackten Beinen hinab in die Joggingschuhe, aber das war unwichtig. Er sah besiegt aus, trotz des kleinen Messers in seiner Hand. Sie griff an.

Plötzlich zog er mit der unverletzten Hand eine Schlinge aus der Tasche und richtete sich gerade auf. Seine Schwäche war nur vorgetäuscht gewesen. Er war noch immer stärker als sie. Sie sprang trotzdem vor, doch er bekam ihr Handgelenk 608

zu fassen und verdrehte es so heftig, dass ihre Finger das Taschenmesser fallen ließen.

»Nein«, kreischte sie und stieß mit dem Kopf nach ihm.

»Lass mich los, du Dreckschwein.« Sie wollte ihm in den Magen treten, aber er hielt ihren Fuß fest und zog, sodass sie das Gleichgewicht verlor. Sie schlug schwer auf der Seite auf, aber der Schwung ihres Sturzes riss ihn mit. Jetzt war er nur noch darauf konzentriert, ihr die Schlinge über den Kopf zu streifen. Die Vorstellung, wie ein Schlachttier gefesselt zu werden, verlieh ihr noch mehr Kraft für ihren verzweifelten Kampf.

»Oh nein, so nicht.«

Mit einem Ruck ließ sie den Kopf zurückschnellen und traf genau seine Kinnspitze. Bei dem Geräusch, wie seine Zähne aufeinander schlugen, grinste sie wie eine Wilde. Sie sprang auf und trat mit voller Wucht auf seine verletzte Hand, die prompt das Skalpell fallen ließ. Mit einer reflexarti-gen Bewegung hob sie es auf.

Er war auf allen vieren, noch ganz benommen von dem Schlag, schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. Der Wunsch, ihn zu töten, war übermächtig: einen Schritt nach vorn, ihm den Kopf nach hinten reißen und ihm die Kehle aufschlitzen. Es wäre in Sekundenschnelle vorbei, und sie hätte sich von dem Bösen befreit, das da auf den Steinen vor ihr herumkroch. Sie würde der Welt einen Gefallen tun. Fast ohne nachzudenken, berührte sie die winzige Klinge in ihrer Hand, staunte, wie scharf sie geschliffen war. Sie machte einen Schritt auf ihn zu.

Der Mann sah auf, seine Augen huschten von dem Messer zu ihrem Gesicht und weiteten sich vor Entsetzen. Der Anblick entzückte sie.

»Nein, bitte nicht.« Er wollte aufstehen, aber die wieder-609

holten Schläge gegen sein Kinn hatten sein Nervensystem endlich doch betäubt, und er schaffte es nur, auf ein Knie zu kommen, fast wie zu einem Heiratsantrag. »Ich flehe dich an.

Um Gottes willen, nein.«

Als sie den Mann so hilflos vor sich sah, wie er zu ihr hochschaute und um Gnade bettelte, wurde sie von einem köstlichen Gefühl der Lust übermannt. Ihr Gesicht rötete sich, und sie öffnete den Mund vor Freude. Er schien den Ausdruck zu erkennen, hatte ihn vielleicht früher in seinem eigenen Spiegel gesehen, denn er wich vor ihr zurück.

Sie trat auf ihn zu, ohne jede Eile, jetzt, wo er außer Gefecht gesetzt war.

»Nein!«

»Und warum nicht, du krankes Schwein? Du hast es verdient. Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

Sie hob das Messer.

»Das kannst du nicht machen. Du bist Polizistin, du kannst mich nicht töten. Das darfst du nicht.«

Sie lachte, ein schreckliches Geräusch, und er kam mühsam auf die Beine, blieb geduckt vor ihr stehen.

»Knie dich wieder hin und bettle.« Sie spuckte ihm die Worte förmlich entgegen. Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte er, dann gehorchte er.

»Und jetzt lass hören, warum du es verdient hast weiterzu-leben.«

»Ich habe Rechte. Das kannst du nicht machen.«

»Du hast gerade versucht, mich zu töten. Ich verteidige mich nur – töten oder getötet werden. Alle Welt wird mir glauben, dass es Notwehr war.«

»Das stimmt nicht, du siehst doch, ich ergebe mich!« Er legte die blutigen Handgelenke zusammen und hob die Ar-me, als wollte er sich Handschellen anlegen lassen.

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Sie schnaubte höhnisch.

»Siehst du, siehst du, ich ergebe mich! Du kannst mich nicht umbringen. Ich bin jetzt dein Gefangener.«

Er schluchzte jetzt, und ein Rotzfaden tropfte ihm aus der Nase. Es war jämmerlich.

Nightingales Hass ließ nach, und auf einmal konnte sie wieder klar denken. Entsetzt begriff sie, dass sie um ein Haar einen Menschen getötet hätte, der sie um Gnade anflehte, und durch die Erkenntnis wurde ihr körperlich schlecht.

Mit ihrem Blutrausch verschwand aber auch ihr All-machtsgefühl. Sie war eine halbnackte Frau, vermutlich schwerer verletzt, als ihr bewusst war, und hielt auf einer einsam gelegenen Farm einen Serienmörder mit einem seiner eigenen Messer in Schach. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, ihn zu provozieren und seine angebotene Kapitulation nicht anzunehmen?

Nightingale schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen. Der Mann kniete noch immer mit erhobenen Armen vor ihr. Sie wusste nicht, ob er ihren Gesinnungs-wandel spürte, aber er blickte sie jetzt fragend an, nicht mehr voller Angst. Und ihr war klar, falls er irgendeine Schwäche bei ihr witterte, würde er sofort wieder zum Angriff übergehen.

Sie setzte eine harte Miene auf und biss sich entschlossen auf die Zähne, aber hinter dieser Maske überlegte sie krampfhaft, was sie jetzt machen sollte. Ein Teil von ihr wollte ihn noch immer töten, weil er sonst auch in Zukunft eine Bedrohung für sie darstellen würde, aber sie wurde nicht mehr von Hass angetrieben, nur noch von tiefstem Abscheu. Die Vorstellung, ihn anzufassen, widerte sie an.

»Bind deine Fußknöchel zusammen. Los, dalli.« Der Klang ihrer Stimme erschreckte sie. Sie schien einem anderen Men-611

schen zu gehören, brutal und skrupellos. Er zögerte. »Mach schon, verdammt, sonst schneid dir die Kehle durch.«

Er ließ sich nach hinten rollen und hob die Knie an, als wollte er ihr gehorchen, aber irgendetwas hatte sich verändert. Nightingale duckte sich leicht, tänzelte angriffsbereit, doch dann merkte sie, dass er sie nicht mehr ansah. Er starrte über ihre Schulter hinweg in den Himmel.

»Alter Trick«, dachte sie und ignorierte die unausgesprochene Aufforderung, sich umzudrehen.

»Los, bind deine …« Sie verstummte.

Sie hörte nämlich etwas. Zuerst dachte sie, es sei ein Auto, das sich den Berg hinaufquälte, aber der Klang und der Rhythmus passten nicht dazu. Smith hatte dagegen schon begriffen. Es war ein Hubschrauber, und ein panischer Ausdruck glitt über sein Gesicht. Seine Augen huschten über den Hof und zum Wald hinüber, als habe er das Gefühl, in der Falle zu sitzen.

Als sich gerade ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, sprang er sie an. Die Wucht seines Sprungs und sein Gewicht reichten aus, um sie zu Boden zu reißen. Aber er griff sie nicht weiter an. Er war verschwunden, rannte auf die Bäume zu. Nightingale sah ihm erleichtert hinterher, doch die Erleichterung schlug sogleich in Angst um. Unter dem dichten Blätterdach des Waldes war er für den Hubschrauber unsichtbar, und er könnte meilenweit fliehen. Er würde entkommen, und sie würde in ständiger Angst leben, solange er auf freiem Fuß war. Sie weinte vor Zorn. Es war nicht fair.

»Nein!«, schrie sie und spürte, wie die Last der Entscheidung sie niederdrückte. Sie hob das Messer auf, das ihr am nächsten lag. Die Augen auf die Stelle gerichtet, wo er in den Wald gelaufen war, rannte sie los. Ihre langen Beine verrin-gerten rasch die Distanz zum Waldrand, ihre nackten Füße glucksten in den blutgetränkten Schuhen.

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Sobald sie zwischen den Bäumen war, blieb sie stehen und lauschte. Sie hörte ihn durchs Unterholz stürmen und folgte dem Geräusch. Farne und Dornengestrüpp griffen nach ihren Beinen, frisches Blut sickerte aus dem Schnitt in ihrer Seite, aber sie spürte keinen Schmerz. Sie hielt das Skalpell in der Hand umklammert wie einen Talisman. Immer wieder stoppte sie und lauschte. Der Abstand zu ihm verringerte sich, das konnte sie hören. Er rannte, versuchte nicht, sich zu verstecken, und sie war schneller als er.

Sie fand die Schlinge auf dem Boden. Als sie sie aufhob, bemerkte sie, dass das Seil an der Stelle, wo er es in der Hand gehabt hatte, voller Blut war. Sie schlang es sich wie einen Patronengurt quer über die Brust und hetzte weiter.

Er bahnte sich einen Weg durchs Unterholz, und die Ge-räusche klangen laut durch die Nacht. Dahinter hörte sie schwach das Rauschen des Meeres. Er arbeitete sich durch den dichtesten Teil des Waldes auf die Klippe zu. Sie musste einen Pfad finden, um sicherer und schneller vorwärts zu kommen und ihm den Weg abzuschneiden. Sie wurde langsamer und scherte aus. Nachdem sie ein paar Minuten im Zickzack gelaufen war, fand sie tatsächlich einen Wanderpfad und rannte so schnell sie konnte Richtung Klippe.

»Nein! Wohin läuft sie da?«

»In den Wald, Sir. Die holen wir niemals ein.«

Fenwick war mit seinem kleinen Rettungstrupp gerade rechtzeitig eingetroffen, um noch eben eine Gestalt, die er für Nightingale hielt, unter den Bäumen verschwinden zu sehen.

»Wir müssen ihnen nach. Ihr geht rechts und links von der Stelle rein, wo sie verschwunden ist. Haltet Funkkontakt.«

Er blickte zu dem Hubschrauber hoch, der für die nächtliche Fahndung in einem Waldgebiet praktisch nutzlos war, und 613

verfluchte MacIntyre dafür, dass er ihm so wenig Leute mitge-geben hatte. Er rief ihn über Funk und erfuhr, dass jetzt noch mehr Verstärkung von Clovelly aus zu ihm unterwegs war.

Sie verteilten sich und marschierten los, jeder mit einer Taschenlampe. Alle paar Minuten befahl Fenwick über Funk, dass sie einen Moment mucksmäuschenstill sein sollten, damit sie sich nicht am Ende noch gegenseitig durch die Bäume verfolgten. In einiger Entfernung waren rechts von ihm Ge-räusche zu hören, aber sonst nichts. Er dirigierte die Polizisten im Laufschritt dorthin und wiederholte dann die Proze-dur – stehen bleiben, lauschen, laufen – verzweifelt bemüht, Nightingale einzuholen.

Kurz nachdem er zum sechsten Mal den Befehl zum Anhalten gegeben hatte, entdeckte er vor sich eine deutliche Schneise aus niedergetretenem Farn und Blutspuren in Hüft-höhe. Er rief die anderen näher zu sich und folgte der Spur jetzt schneller, während die Geräusche vor ihm erstarben.

Das Knacken eines brechenden Astes klang durch die Nacht, und Nightingale erstarrte. Er war ganz nah. Sie duckte sich, versuchte, ihre Atmung unter Kontrolle zu bringen und durch das Rauschen in ihren Ohren hindurch zu lauschen.

Nicht weit entfernt hörte sie die Wellen sechzig Meter tiefer gegen die Felsen tosen. Sie mussten in der Nähe der Landzunge sein, von der ein uralter Schmugglerpfad nach unten in eine Bucht führte, die durch die überhängende Klippe nicht zu sehen war. Ein anderer schwacher Laut ertönte, unmöglich zu sagen von wo, dann Stille.

Sie wartete in der Dunkelheit. Wusste er, dass sie ihn verfolgte? Schlich er sich gerade von hinten an sie ran? Sie bekam eine Gänsehaut. Sie bewegte die Schulterblätter, um das Kribbeln dazwischen zu lindern, und riskierte einen raschen 614

Blick nach hinten. Nichts. Bloß Baumstämme und schwarze Finsternis. Sie schluckte, und es klang zu laut. Allmählich verlangsamte sich ihr Atem. Vielleicht war sie hier mutterseelenallein, und er war doch entwischt. Sie wartete. Wieder ein Knacken, eindeutig links von ihr. Sie legte sich auf die Erde und kroch vorwärts, hielt den Kopf tief im Farnkraut. Sie war fast am Rand des Waldes angekommen. Ein schwacher Lichtschein warf Schatten in ihre Richtung, und weiter vorn konnte sie eine Grasfläche sehen. Der Hubschrauber kam zurück, das Rotorengeräusch war noch leise, schwoll aber an.

Keine zehn Meter von ihr entfernt schob sich die Gestalt eines geduckten Mannes zwischen sie und das Mondlicht.

Wenige Augenblicke später und sie wäre praktisch auf ihn draufgekrochen. Als er auf die Klippe zulief, schlüpfte Nightingale hinter ihm her durch die Bäume. Er schaute nicht in ihre Richtung, sondern nach oben in den Himmel. Dann lief er zurück und tauchte in den Schutz des Waldes, nur drei Baumstämme von der Stelle entfernt, wo sie lag. Der Lärm des Hubschraubers war jetzt sehr laut, und dann fiel ein Scheinwerferstrahl auf die Klippe, schwang darüber hinweg und glitt weiter, setzte die Suche fort.

Der Mann wartete kaum ab, bis das Licht verschwunden war. Er rannte wieder über das Gras, aber diesmal war Nightingale direkt hinter ihm. Das Messer in der linken Hand, in der rechten einen abgebrochenen Ast, den sie wie eine Keule schwang. Sie stieß einen grässlichen Schrei aus, als sie auf ihn zusprang und mit voller Wucht zuschlug. Er drehte sich halb um, und der Schlag, schwer und voller Hass, erwischte ihn an Hals und Schulter.

Sie hörte etwas brechen, und er jaulte vor Schmerz auf.

Eine Bandage fiel ihm vom Gesicht, und Blut spritzte aus seinem Hals. Sein linker Arm hing schlaff herab.

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»Du verdammtes Miststück!«

Trotz des Schmerzes ging er kampfeslustig zum Angriff über. In der rechten Hand hielt er ein Stanley-Messer. Die bösartige dreieckige Klinge blitzte im Mondlicht. Er stieß zu, verfehlte nur knapp ihre Wange. Sie parierte den Hieb mit dem Ast, duckte sich und wich zurück, aber er setzte nach, griff mit einer Energie an, die unheimlich war angesichts der Verletzungen, die sie ihm zugefügt haben musste.

»Nichts ist gefährlicher als ein verwundetes Raubtier«, hatte ihr Vater immer gesagt, und der Satz bewahrheitete sich jetzt. Sie hätte den Mann töten sollen, als sie die Chance dazu gehabt hatte. Jetzt würde er sie umbringen, da war sie sich sicher, und wenn es ihn selbst das Leben kostete.

Sie versuchte, ihn erneut am Arm zu treffen, verfehlte ihn aber, und er nutzte den kurzen Moment, in dem sie aus dem Gleichgewicht war, um vorzuspringen, das Messer ausgestreckt wie ein Bajonett. Es erwischte sie am Unterarm. Die Wunde war nicht tief, aber durch den unerwarteten Stoß glitt Nightingale das Skalpell aus der Hand. Er lachte, ein furchtbares Triumphgeheul. Sie war jetzt vor Angst wie ge-lähmt, und offenbar spürte er das, denn er drang wieder auf sie ein, hieb wild mit dem Messer durch die Luft. Er schlug ihr den Ast aus der Hand und warf sich dann auf sie. Sie bekam sein Handgelenk zu packen, drückte das Messer von ihrem Gesicht weg und versuchte, ihm ihr Knie in den Unterleib zu stoßen, aber der Winkel war falsch. Ganz allmählich drückte sein Gewicht die Klinge immer näher an ihre Augen. Verzweifelt riss sie den Kopf seitlich nach oben und biss ihn so fest ins Kinn, dass ihre Zähne sich fast berührten.

Er heulte auf. Blut füllte ihren Mund, und sie spuckte es ihm in die Augen. Dann verdrehte sie sein verletztes Handgelenk so abrupt, dass ihm das Messer aus der Hand fiel.

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Er senkte den Kopf und wollte ebenso zubeißen wie sie, aber sie entwand sich ihm und landete einen Haken in seiner Magengrube, der ihm die Luft nahm. Er kam hoch, und die blutige Maske seines Gesichts starrte sie irre grinsend an. Aus dem Wald hinter ihnen drangen Geräusche, als hasteten mehre Personen durchs Gehölz, und sie schrie laut um Hilfe.

Die Geräusche wurden lauter, und dann kam der Hubschrauber von der weiter entfernt liegenden Landzunge zu-rück auf sie zugeflogen.

»Na schön, das Spiel ist aus. Dann werde ich also sterben.«

Er sagte das mit einer Stimme, die allzu tonlos und ruhig klang. »Nicht unbedingt das, was ich geplant hatte, aber immer noch besser als Gefängnis.« Ihn schauderte. Schon das Wort ließ ihn erzittern.

Sie trat zurück und sah zu, wie er die paar Meter zum Klippenrand ging. Er starrte nach unten, und sie wünschte sich, dass er sprang, empfand Erleichterung, dass es so enden würde. Doch da fuhr er herum, macht einen Satz auf sie zu und schlang die Arme um ihre Taille.

»Aber Scheiße, du kleine Schlampe kommst mit. Wir sterben zusammen, in alle Ewigkeit aneinander gefesselt. Ich könnte mich fast darüber freuen.«

Er hielt sie fest, als würden sie tanzen. Nightingale wehrte sich verzweifelt, als er sie zum Klippenrand zerrte. Sie legte die Hände unter sein verletztes Kinn, versuchte, ihm den Kopf nach hinten zu biegen, drückte so heftig gegen seinen Hals, dass er eigentlich brechen müsste, aber er schleifte sie weiter, in einem verrückten unsicheren Walzer. Sein unverletzter Arm hielt sie so fest umschlungen, dass sie nicht mehr richtig atmen konnte.

Sie sah, dass die Stelle, wo das Gras endete, noch höchstens drei Meter entfernt war. Mit dem linken Fuß trat sie 617

gegen sein Schienbein, dann gegen sein Knie, und er stolperte. Sie fielen zusammen ins Gras, aber seine Umklammerung lockerte sich nicht.

»Wunderbar«, zischte er, während Nightingales Hände seine Zähne von ihrem Hals wegdrückten. »Lass uns gemeinsam untergehen.« Kaum hatte er das gesagt, bog er den Rücken durch und rollte sie beide Richtung Abgrund.

Es war ein dummer Fehler. Ihr gemeinsames Gewicht drückte seinen verletzten Arm zu Boden, und er schrie vor Schmerz auf. Unwillkürlich ließ er los, und sie kroch auf Händen und Füßen weg, konnte sich fast befreien, bevor er mit seiner gesunden Hand ihren Knöchel zu fassen bekam.

Sie trat nach ihm, traf seine kaputte Schulter, aber er hielt sie fest, angetrieben von dem übermenschlichen Verlangen, sie zu töten.

Er zog und zerrte, und sie begannen eine Art Tauziehen, knapp zwei Meter vom Klippenrand entfernt, wobei Nightingales Beine das Tau waren. Sie grub die Hände in den Boden, riss büschelweise Grashalme aus, während er sie zum Abgrund und dem sicheren Tod zog. Sie schrie jetzt, am En-de ihrer Möglichkeiten und ihrer Kraft. Er sprach die ganze Zeit, peinigte sie mit Bildern des Todes, aber sie ließ sich nicht von ihrem Überlebenskampf ablenken. Die Messer lagen außerhalb ihrer Reichweite. Der Boden war glatt, ohne auch nur einen Baum oder Felsen, an den sie sich hätte klammern können. Es war bloß noch eine Frage der Zeit, bis sie abstürzten. Die Rufe aus dem Wald wurden lauter. Sie gaben Nightingale Kraft für ein letztes Aufbäumen, und sie schaffte es, ihn zu bremsen.

Er hörte auf zu sprechen und legte nun all seine Energie darein, an ihren Beinen zu ziehen. Sie hatte keine Tränen mehr. Beide waren sie in einem reglosen Tableau im Mond-618

licht erstarrt, wie Statuen in einem grotesken Werk moderner Kunst, nur noch der Natur und der Zeit ausgeliefert. Nightingales Muskeln begannen vor Anspannung zu zittern. Der Schmerz im Bein und in der verletzten Seite war unerträglich. Sie spürte, wie sie schwächer wurde, und sie wusste, dass sie ihm diesmal wirklich nichts mehr entgegensetzen konnte.

»Himmel, bist du schön, von hier aus gesehen.« Er wechselte die Taktik, wollte ihre Konzentration stören. Sie hielt den Blick auf den Suchscheinwerfer des Hubschraubers gerichtet, der immer größer wurde, und dachte nur eins: bloß nicht lockerlassen. Er zog ruckartig an ihrem Bein, und ihr Knie rutschte. Sie verlor kostbare zehn Zentimeter, aber sie spannte die Muskeln an und kniff die Augen vor Schmerzen zusammen.

Der Suchscheinwerfer schwang im Halbkreis über die Klippe und wieder zurück, als starrte er fassungslos auf sie herab. Nightingale hörte das Dröhnen und spürte den Luftzug der Rotorblätter. Füße trommelten über den Boden, und jemand packte ihre Arme an den Handgelenken, um sie in Sicherheit zu ziehen.

Seine Hand glitt von ihrem Knöchel. Sie drehte sich um und sah Smith an, der aufstand und einen halben Satz auf den Abgrund zumachte. Der Mann, der sie befreit hatte, ließ jetzt los und setzte ihm nach, bekam ihn zu fassen, ehe er springen konnte, und riss ihn zu Boden. Sekunden später waren zwei Polizisten da und legten Smith Handschellen an. Er stieß einen entsetzlichen Schrei aus, als er spürte, wie ihm seine Freiheit genommen wurde, und wehrte sich verzweifelt, aber vergeblich. Er schluchzte, als sie ihn abführten. Dann war Smith verschwunden.

Nightingale lag erschöpft auf der Klippe. Es war ihr egal, dass ihr T-Shirt hochgerutscht war und das Mondlicht ihre 619

Nacktheit beschien. Sie sog den würzigen Duft des Grases ein, salzig und frisch. Jemand legte ihr eine Jacke um und wollte ihr beim Aufstehen helfen. Sie schaffte es nicht, und der Helfer kniete sich nieder und legte einen Arm um sie, achtete aber darauf, den Schnitt in ihrer Seite nicht zu berühren. Eine sanfte Hand strich ihr das Haar aus dem Gesicht und legte sich sachte in ihren Nacken, warm und tröstlich.

»Alles ist gut. Sie sind jetzt in Sicherheit. Kommen Sie, Nightingale, ich bring Sie nach Hause.«

Als sie Fenwicks Stimme hörte, entfuhr ihr ein Schrei der Erleichterung, dann lehnte sie den Kopf an seine Brust und ließ sich willenlos von ihm aufhelfen.

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