um ihre Anschrift zu ermitteln. Er ist mit dem Bus zur Schule gefahren, der hatte die Nummer 69, was er lustig fand. Von zu Hause bis zur Bushaltestelle war es eine halbe Stunde zu Fuß, dann fünfundvierzig Minuten Fahrt nach Telford. Er hat gesagt, dass er bei jedem Wetter zu Fuß gehen musste, und wenn der Fluss über die Ufer getreten war, musste er einen Umweg von einer Meile machen, um zu einer hohen Brücke zu kommen.«

Knotty schrieb jetzt hektisch mit. Wenn er sich konzentrierte, schob er die Zungenspitze zwischen die Zähne, wo-durch er aussah wie ein Sechzehnjähriger.

»Der Rest des Berichtes befasst sich mit seiner Arbeit als Software-Entwickler, und das meiste davon haben wir schon in den Akten.«

»Knotty hat sich in der Firma in Telford erkundigt, bei der Griffiths beschäftigt war. Die Buchhaltung hat die Bankverbindung rausgesucht, an die sein Gehalt überwiesen wurde, aber er hat das Konto aufgelöst, kurz nachdem er gekündigt hat.« MacIntyre reichte ihm den Vermerk.

»Wieso hat er da aufgehört?«

»Es wurde ihm nahe gelegt. Eine Kollegin hatte behauptet, er sei zudringlich geworden, nachdem sie mit mehreren Kollegen noch was trinken waren. Seine Kumpel haben ihn ver-teidigt und gesagt, die Frau sei sturzbetrunken gewesen und Griffiths habe ihr nur helfen wollen, ein Taxi zu finden. Aber jemand aus der Personalabteilung hat daraufhin bei seinem vorherigen Arbeitgeber angerufen und erfahren, dass seine Referenzen gefälscht waren. Anscheinend hatte sich bei seiner Einstellung keiner die Mühe gemacht, das zu überprü-

fen.«

»Das passt. Dieser Mann erfindet seine Vergangenheit ständig neu.«

371

»Ist aber riskant.«

»Nicht unbedingt, bis zu dieser Beschwerde war er damit durchgekommen. Was hat er nach seiner Kündigung gemacht?«

»Freier Mitarbeiter in der IT-Branche, soweit wir feststellen konnten. Und wir wissen nicht, wie er schließlich in Sussex gelandet ist, ohne festen Job oder festen Wohnsitz.«

MacIntyre schickte Knotty raus und brachte Fenwick dann auf den neuesten Stand, was sich inzwischen in Wales und hier in London ergeben hatte.

»Die Abdrücke auf dem Messer sind zwar eine Verbindung zu dem Mord an Lucinda, aber kein zweifelsfreier Beweis. Sie befanden sich bloß auf einem Barhocker, und die Überprüfung von Lucindas Verletzungen hat nichts Konkretes ergeben. Fest steht, wir brauchen noch mehr. Der Pathologe versucht, die Bisswunden bei beiden Frauen abzuglei-chen. Wenn ihm das gelingt, wäre das ein schlüssiger Beweis, aber im Augenblick sind wir Täter B noch kein Stückchen näher gekommen.

Wir werden von sämtlichen Polizeistellen im Land informiert, wenn irgendwo eine Frau einem Gewaltverbrechen zum Opfer fällt. In den letzten zehn Tagen hat es in ganz Großbritannien drei weitere brutale Sexualverbrechen gegeben, aber bei keinem passt die Täterbeschreibung auf unseren Mann.«

»Haben Sie die Abdrücke von dem Messer mit den Ab-drücken verglichen, die wir in Nightingales Wohnung gefunden haben?«

»Nein …«, der Superintendent stockte und unterdrückte einen Seufzer, »aber ich werde es veranlassen.«

Um sich die Zeit bis zu Knottys Rückkehr zu vertreiben, 372

nahm Fenwick an MacIntyres Fallbesprechung teil, doch es drückte nur seine Stimmung, dass so gut wie keine Fortschritte gemacht wurden. Der Constable kam gegen Mittag wieder, und seine Akne leuchtete rosa vor Aufregung.

»Ich habe die Schule und das Kinderheim gefunden. Mr Custer ist im Ruhestand, aber sein Nachfolger war äußerst hilfsbereit. Wir wissen jetzt den Namen seiner Pflegeeltern und wo sie gewohnt haben. Wir haben dort angerufen, aber es hat sich bloß eine Frau gemeldet, die noch nie von den Leuten gehört hatte. Sie hat das Haus seit einem Jahr gemietet, und davor war es auch schon vermietet gewesen.«

»Und der Name der Pflegefamilie?« Fenwick wusste, dass er ein idiotisches Grinsen im Gesicht hatte, aber es war ihm egal.

»Smith.«

Bei der Reaktion seines Chefs zuckte Knotty zusammen.

Fenwick sah Knottys Freude dahinschmelzen. Etwas in seinem Ausdruck erinnerte ihn an seinen Sohn Chris, und er sagte zuversichtlicher, als ihm zumute war: »Aber es ist ein Fortschritt. Wir haben eine Adresse, eine Familie, die wir aufspüren, und eine Schule, der wir einen Besuch abstatten können. Hatten die Smiths Kinder?«

»Ja, einen Sohn namens David, etwas älter als Griffiths.«

»Wir müssen so viel wie möglich über diesen David Smith und seine Eltern herausfinden. Legen Sie los. Ich denke, ich würde Custer gern persönlich befragen.«

MacIntyre hielt nicht viel von der Idee.

»Das ist ein weiter Weg für etwas, das wahrscheinlich nicht viel bringt. Schicken Sie Knotty hin. Er ist gut in so was, und Sie sind hier von größerem Nutzen.«

»Ich möchte lieber selbst hinfahren.«

Fenwick konnte MacIntyre nicht erklären, warum er den 373

Drang verspürte, den Ort zu besuchen, wo Griffiths einen Teil seiner Kindheit verbracht hatte. So etwas sollte ein Chief Inspector eigentlich nicht tun, durch halb England brausen, um einer zehn Jahre alten Spur nachzugehen, schon gar nicht, wenn dieser Chief Inspector der Londoner Polizei zugeordnet war, sodass seine Aktionen doppelt genau beobachtet wurden. Letztlich kapitulierte der Superintendent jedoch vor Fenwicks Hartnäckigkeit, wenn auch nur äußerst widerwillig.

Fenwick dachte nicht mehr an MacIntyres Gereiztheit, als er mit Knotty in einem zivilen Polizeiwagen über die M1 raste.

Sobald der Superintendent einen deutlicheren Zusammenhang zwischen der Vergewaltigung in Wales und dem Mord an Lucinda hergestellt hatte, würde er wieder das Interesse an der Verbindung zu Griffiths verlieren. Wenn er mit Hilfe von Claires Arbeit nichts Handfestes finden konnte, würde die Suche nach Nightingale drangegeben und nichts unternommen, um sie vor Täter B zu schützen. Verdammt, dass sie seine Warnung einfach so abgetan und mit keinem Wort er-wähnt hatte, wo sie war. Sie war noch störrischer als er.

Diese Fahrt war seine letzte Hoffnung. Falls David Smith Täter B war, wäre er sehr wahrscheinlich längst verschwunden, aber irgendetwas von ihm musste noch da sein, eingeprägt in die dortige Erde, und Knotty würde es niemals finden.

Die Begrüßung, mit der man sie im Polizeirevier Telford empfing, war gedämpft. Der Atmosphäre nach zu schließen, arbeiteten die Kollegen gerade an einem wichtigen Fall, und Besucher aus London waren da nur eine unwillkommene Ablenkung. Knotty kehrte mit frischem Kaffee und dem neusten Klatsch in das winzige Büro zurück, das man ihnen zur Verfügung gestellt hatte.

»Vor einer Woche hat es einen Mord und einen versuch-374

ten Mord gegeben. Ein Fahrgast in einem Taxi ist plötzlich durchgedreht oder so und hat seine Freundin und den Fahrer angegriffen. Der Taxifahrer ist tot, aber das Mädchen hat überlebt. Es hat Riesenärger gegeben. Anscheinend hat der Mann über Handy die Polizei und einen Rettungswagen gerufen, aber die haben eine Ewigkeit gebraucht, um ihn zu finden, und als sie endlich ankamen, war er schon so gut wie tot.«

»Tatsächlich.« Fenwick warf ihm einen von seinen »Man-steckt nun mal nicht die Nase in anderer Leute Angelegenheiten«-Blicken zu und tippte auf das Fax, das er gerade erhalten hatte. »Konzentrieren Sie sich auf das da und auf nichts anderes, mein Junge. Das ist alles, was wir über David Smith haben.«

Und es war weiß Gott dürftig. David Smith war vor siebenundzwanzig Jahren in Cressage, zehn Meilen von Telford entfernt, zur Welt gekommen. Seine Schulzeit war ereignislos verlaufen, bis auf eine langwierige Krankheit, durch die er über ein Jahr verloren hatte. Fenwick rechnete kurz im Kopf nach. Er und Griffiths hätten Klassenkameraden sein können, knapp. Kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag ging er von der Schule ab, ohne den Abschluss zu machen, obwohl er immer gute Noten gehabt hatte und vor allem in Informatik ein As war.

Fenwick rief den für die Recherche zuständigen Beamten in London an und erkundigte sich nach dem Namen des Kumpels, der sich für Griffiths eingesetzt hatte, als ihm sexuelle Belästigung vorgeworfen worden war. Zwei Stunden später hatte er die Bestätigung. Der Name in der Akte lautete David Smith, und ein Kreis schloss sich.

»Knotty, Sie machen sich jetzt auf die Suche nach Mr und Mrs Smith. Ich werde mich mit Custer unterhalten. An-375

schließend treffen wir uns wieder hier und entscheiden, wie wir weiter vorgehen.«

Sein Gespräch mit Custer war enttäuschend. Der Mann hatte Griffiths als ein introvertiertes Kind mit wenigen Freunden in Erinnerung. Er hatte sich nie ernsthaft Ärger eingehandelt, ja, Custer konnte sich nur an einziges Mal erinnern, wo Griffiths bestraft werden musste, und selbst in dem Fall waren andere Jungs die Übeltäter gewesen und er hatte bloß den Sünden-bock abgegeben.

»Dann gab es nichts an ihm, was irgendwie auffällig gewesen wäre?«

»Nein. Wie ich schon sagte, Chief Inspector, er war ein stiller Bursche, der nicht viele Freunde hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die Verbrechen begangen hat, von denen Sie sprachen. Er wurde schon rot, wenn ein Mädchen ihn auch nur ansah.«

»Und schulisch?«

»Überdurchschnittlich, ein Computergenie. Im Heim hatten wir keine Computer, aber in seiner Schule gab es ein paar, und dort hat er Kurse gemacht. Das hat dann auch dazu geführt, dass er Pflegeeltern fand.«

»Inwiefern?«

»In der Informatikgruppe war ein anderer Junge, älter als Wayne, der sich mit ihm anfreundete und schließlich seine Eltern dazu überredete, ihn als Pflegekind aufzunehmen.«

»Mr und Mrs Smith?«

Custer nickte, und ein weiteres Fragezeichen verschwand aus Fenwicks Kopf.

»Ja. Sie standen zwar auf keiner Warteliste, doch der Vater arbeitete hier in irgendeinem Amt, und seine Frau war Krankenschwester gewesen. Sie durften Wayne für eine Probezeit 376

zu sich nehmen, und die wurde dann verlängert. Es hat mich sehr gefreut für den Jungen.«

Fenwick rief Knotty an und sagte ihm, er solle herausfinden, wo Smith senior gearbeitet hatte, aber er fuhr mit einem unzufriedenen Gefühl zurück zum Revier. Seine Vermutungen waren bestätigt worden, aber er hatte sich einen größeren Durchbruch erhofft. Knotty wartete mit ähnlich enttäuschenden Ergebnissen auf ihn.

»Keine Spur von Smith senior oder seiner Frau, seit sie von Cressage weggezogen sind. Laut Grundbucheintrag ge-hört ihnen das Haus noch immer, aber es ist vermietet. Ich hab in dem zuständigen Maklerbüro nachgefragt, und die haben mir bestätigt, dass sie vor acht Jahren mit der Vermie-tung beauftragt wurden.«

»Vom Vater?«

»Das hab ich nicht gefragt. Aber ich vermute es.«

»Vermuten ist ganz schlecht. Rufen Sie noch mal da an, und lassen Sie sich die genauen Einzelheiten durchgeben.

Was ist mit Smiths Arbeitsstelle?«

»Er war dreiundzwanzig Jahre beim Vermessungsamt und ist vor zehn Jahren in den Ruhestand gegangen. Ich habe die Bankverbindung rausgefunden, auf die sein Gehalt überwiesen wurde. Vielleicht hat die Sparkasse ja eine Adresse dazu.«

Er sah Fenwick erwartungsvoll an, doch der nickte bloß, als sei das polizeiliche Routinearbeit. Knotty war sich schon beinahe genial vorgekommen.

»Wieso ist er in den Ruhestand gegangen?«

»Keine Ahnung. Ich meine, danach hab ich nicht gefragt, Sir. Ich kümmere mich sofort darum.« Knotty begriff allmählich, dass Fenwick fast allergisch auf offene Fragen reagierte.

»Tun Sie das.« Fenwick sah dem davoneilenden Constable kopfschüttelnd nach und besorgte sich dann eine Straßenkar-377

te, mit deren Hilfe er die letzte bekannte Anschrift der Smiths aufsuchte.

Die Fahrt war vergeblich. Janine Grey, die derzeitige Mie-terin, gab an, dass ihr Mann und sie nichts über die Besitzer wussten und sie auch nie kennen gelernt hatten. Sie bat Fenwick weder ins Haus, noch zeigte sie sich kooperativer, als er die Dringlichkeit seiner Ermittlungen erwähnte. Frustriert machte er sich auf den Rückweg nach Telford. Er kam sich töricht vor, dass er diese Fahrt unternommen hatte, anstatt seine Zeit sinnvoller zu nutzen und an den Strategiebespre-chungen mit den Kollegen in London teilzunehmen. Doch anstatt zum Revier zurückzukehren, kontaktierte er Knotty über Funk, ließ sich die Adresse der Sparkasse geben und fuhr selbst dorthin, getrieben von dem Bedürfnis, irgendetwas zu tun, statt nachzudenken. Letzteres brachte ihn ja nicht weiter.

Die Sparkasse Coalbrook and Watersmere hatte den Status einer Genossenschaft beibehalten, weil sie für ihre Mitglieder da sein und die Gemeinde unterstützen wollte. Sie hatte drei Zweigstellen und sehr treue Kunden.

Das und einiges mehr erfuhr Fenwick, während er dem Präsidenten zuhörte, der ihm langatmig erklärte, wieso er der Polizei ohne die entsprechenden Genehmigungen keine ver-traulichen Informationen über die Finanzen seiner Kunden zur Verfügung stellen würde. Selbst die Worte »Vergewaltigung« und »Serienmorde« zeigten nicht die gewünschte Wirkung, und Fenwick ging nach fruchtlosen zehn Minuten, als die Bank gerade schloss.

Er trottete zu seinem Wagen, ohne auf die Umgebung zu achten, daher nahm er nicht wahr, dass eine ziemlich atemlose Frau eine Zeitlang neben ihm hertrippelte. Als er es schließlich merkte, blieb er abrupt stehen, und sie tat es ihm gleich.

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»Kann ich was für Sie tun?«

Die Frau hatte in der Sparkasse hinter dem Schalter gestanden, als er hereingekommen war und sich vorgestellt hatte. Er hatte ihr keine große Beachtung geschenkt und nur bemerkt, dass sie ein Twinset trug, das genauso aussah wie das, das er seiner Mutter zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie blickte sich verstohlen um und winkte ihm dann, näher zu kommen.

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, sagte sie im lauten Flüsterton, »aber nicht hier. Drüben an der Ampel ist ein Ca-fé, das Black Kettle. Ich warte dort auf Sie.« Dann hastete sie davon und ließ Fenwick stehen, der ihr verblüfft nachstarrte und sich fragte, ob sie ihn vielleicht mit jemandem verwechselt hatte.

Sie saß an dem Ecktisch, der am weitesten vom Eingang entfernt war. Eine Kanne Tee für zwei Personen und ein Teller Kekse wurden ihr gerade serviert, als er hereinkam.

»Emily«, sagte sie und streckte ihm eine vogelähnliche Hand entgegen. »Emily Spinning.«

Er nahm ihre Hand und schüttelte sie kurz.

»Ich bin D- …«

»Pssst, ja, ich weiß, wer Sie sind. Nehmen Sie Platz.« Sie blickte sich um, als habe sie Angst, belauscht zu werden, aber es war niemand in der Nähe. »Sie waren bei Mr Winkworth und haben sich nach einem Kunden erkundigt, David Smith.«

»Woher wissen Sie das?«

»Die Wände sind sehr dünn, Chief Inspector. Bei Coalbrook and Watersmere gibt es nur wenige Geheimnisse. Tee?«

»Sie sagten, Sie könnten mir vielleicht weiterhelfen?«

»Ja, aber wenn Mr Winkworth davon erfährt, kriege ich einen Riesenärger.«

»Verstehe. Ich will Sie natürlich nicht zu irgendwas er-muntern, das möglicherweise …«

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»Ach, Quatsch, das ist völlig in Ordnung. Als ich hörte, dass Sie Polizist sind, wusste ich gleich, dass es um den armen Mr Smith gehen würde.«

Fenwick trank einen Schluck von seinem Tee und tat sein Möglichstes, äußerlich ruhig zu bleiben.

»Erzählen Sie.«

»Ich bin jetzt seit vierundzwanzig Jahren bei der Sparkasse, seit meiner Schulzeit, und David Smith senior war einer meiner Kunden. Sein Sohn wurde auch David genannt. Mr Smith war immer nett zu mir, auch als ich noch blutige An-fängerin war und hin und wieder mal was falsch gemacht ha-be. Wollen Sie sich keine Notizen machen?«

»Doch, natürlich.« Fenwick holte ein selten genutztes Notizbuch hervor und schrieb sich ihren Namen, die Anschrift und – nach einigem Geziere – ihr Alter auf.

»Sie kannten also Mr Smith. Was für ein Mensch war er?«

»Oh, sehr still, schüchtern. Nicht gerade gesprächig, aber für mich hatte er immer ein Lächeln und ein freundliches Wort.«

»Kannten Sie seinen Sohn?«

»Den jungen David. Kaum. Zu Anfang kam er öfter mal mit seinem Vater in die Filiale, aber später nicht mehr. Ich denke, er steckte in Schwierigkeiten.«

»Was für Schwierigkeiten?«

»Er war krank oder so, und ziemlich lange von zu Hause weg. Mr Smith hat mal erwähnt, dass ihn das schulisch zu-rückgeworfen hat.«

»Wieso dachten Sie, dass mein Besuch mit Mr Smith zu tun hat?«

»Er ließ sein Gehalt bei uns aufs Girokonto überweisen, und er hatte außerdem ein Sparkonto. Ein sehr verlässlicher Mann, unser Mr Smith. Einmal im Monat kam er rein, um 380

sein Sparbuch nachtragen zu lassen. Das wäre eigentlich nicht nötig gewesen, aber er hat gesagt, er habe es gern, wenn alles seine Ordnung hat. Tja, und auf einmal, das muss vor rund fünfzehn Jahren gewesen sein, kommt er rein und hebt dreihundert Pfund ab, in bar!«

»Das finde ich an und für sich nicht ungewöhnlich.«

»Das war sehr viel Geld, Chief Inspector, und es blieb nicht bei dem einen Mal. Von da an hat er jeden Monat dreihundert Pfund abgehoben. Innerhalb von ein paar Jahren schrumpfte sein Sparkonto von mehreren tausend Pfund auf nichts.«

»Und was schlossen Sie daraus, Miss Spinning?«

»Ich machte mir Sorgen, weil er bis dahin so ein umsichtiger Sparer gewesen war. Und ich dachte, dass er vielleicht angefangen hatte zu spielen. Einmal, als er da war, machte ich eine Andeutung in diese Richtung, aber er erwiderte, dass er in seinem ganzen Leben noch kein einziges Mal gewettet habe. Also dachte ich, dass er vielleicht eine Geliebte hatte.

Aber ich hatte ihn und Mrs Smith oft zusammen gesehen und konnte das eigentlich nicht glauben. Deshalb kam ich schließ-

lich zu dem Schluss, er wird erpresst.«

Das letzte Wort schleuderte sie Fenwick dramatisch entgegen und blickte ihn dann erwartungsvoll an, während er versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen.

»Eine interessante Theorie, Miss Spinning.«

»Emily, bitte. Was sagen Sie nun?«

»Können Sie das durch irgendetwas erhärten?«

Sie schaute ihn entgeistert an.

»Haben Sie Beweise?«, fragte er und hoffte, nicht so ungeduldig zu klingen, wie ihm zumute war.

»Ah, nein, nichts Handfestes, aber mit der Zeit sah er immer bedrückter aus.«

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»Geldsorgen?«

»Ich glaube nicht. Er hatte gerade nach fünfundzwanzig Jahren die Hypothek auf das Haus abbezahlt, und er hatte einen guten Posten im öffentlichen Dienst.«

Fenwick trank seinen Tee aus, stand auf und wollte sich verabschieden.

»Bleiben Sie doch noch. Was wollen Sie jetzt machen?«

»Natürlich versuchen, Mr Smith zu finden, und seine Frau.«

Sie blickte ihn finster an, aber er hatte keine Zeit, auf ihre Enttäuschung Rücksicht zu nehmen.

»Dann glauben Sie also nicht, dass er tot ist?«

»Wie bitte?« Er setzte sich abrupt. »Wieso sollte er tot sein?«

»Ich weiß nicht. Nur so ein Gefühl. Wenn er erpresst wurde, wäre es nicht abwegig, dass er sich umgebracht hat, als das Geld alle war.«

»Aber Sie haben mir doch gerade gesagt, dass er ein eigenes Haus hatte.«

»Stimmt, aber warum sollte er sonst einfach so verschwinden? Irgendwann, es war im Sommer, kam er plötzlich nicht mehr. Es gab noch ein paar Briefe und Anrufe, danach nichts.«

»Vielleicht sind er und seine Frau weggezogen.«

»Dann hätte er sein Konto aufgelöst – in solchen Dingen war Mr Smith penibel.«

»Verstehe, tja, äh, Emily, Sie haben mir da reichlich Stoff zum Nachdenken geliefert.«

»Gut. Ich hoffe, dass er lebt und Sie ihn finden. Er war ein netter Mann.«

»Irgendeine Idee, wo ich suchen könnte?«

»Fangen Sie mit seinem Bruder Frederick an. Die beiden 382

haben sich nicht gut verstanden, angeblich haben sie sogar kein Wort mehr miteinander geredet, aber er ist nun mal sein Bruder, also wäre es einen Versuch wert.«

»Ich wusste nicht, dass er einen Bruder hat. Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Er hat ein Haus auf der Elm Street. Lebt von der Sozial-hilfe. Der Mann hat in seinem ganzen Leben nicht einen Tag lang richtig gearbeitet. Verschieden wie Tag und Nacht, diese Brüder. Der arme Mr Smith.«

Fenwick bezahlte den Tee und ging, doch Emily kam ihm hinterhergelaufen.

»Falls Sie ihn finden, würden Sie ihm bitte Grüße von mir bestellen und ihm sagen, dass ich noch immer in der Sparkasse arbeite?«

»Gern.«

Fenwick ging das kurze Stück zur Elm Street zu Fuß und fand schließlich das Haus von Frederick Smith. Die Farbe blätterte von den Fensterläden, und auf dem Rasen vor dem Haus stand eine alte Waschmaschine, die drei Autos in unter-schiedlichen Phasen der Demontage Gesellschaft leistete. Aus einem Schuppen irgendwo weiter hinten plärrte ein Radio, und Fenwick folgte dem Geräusch.

Ein kleiner untersetzter Mann stand vor einer Werkbank über eine Autobatterie gebeugt.

»Mr Smith?«

»Wer will was von ihm?« Der Mann drehte sich nicht mal um.

»Detective Chief Inspector Fenwick, Kripo Harlden.«

Der Mann erstarrte für einen Moment, dann arbeitete er mit gespielter Lässigkeit weiter.

»Was wollen Sie?«

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»Mich ein paar Minuten mit Ihnen über David Smith unterhalten.«

Daraufhin drehte er sich um. Fenwick blickte in das fleckige Gesicht, in dem ein drei oder vier Tage alter Bart prangte, und sah verblüfft, dass der Mund lächelte.

»Schön, schön. Na endlich. Was wollen Sie wissen?«

»Wo ich ihn finden kann.«

»Ha!« Der Mann lachte auf und spuckte in den öligen Staub zu seinen Füßen. »Als ob ich das wüsste! Ich hab ihn schon ein paare Jahre nicht mehr gesehen. Ist auch gut so.«

»Könnten Sie mir sagen, wann genau Sie ihn das letzte Mal gesehen haben?«

Smith kratzte sich zwischen seinem T-Shirt und der Jeans, was einen schwarzen Streifen auf der Haut hinterließ.

»Das muss … so gegen Weihnachten vor drei Jahren gewesen sein. Er war mit irgendwem zusammen in irgend so einem Einkaufszentrum. Wo, weiß ich nicht mehr.«

»Sie haben Ihren Bruder vor drei Jahren gesehen?«

»Nein, ich rede von seinem Sohn, David. Meinen Bruder hab ich schon länger nicht mehr gesehen.«

»Haben Sie mit Ihrem Neffen gesprochen?«

»Was? Sie machen wohl Witze. Sobald der Scheißkerl mich gesehen hat, ist er abgehauen. Der hat gewusst, was ich mit ihm gemacht hätte, wenn ich ihn erwischt hätte.«

»Und was wäre das gewesen?«

Smith klappte den Mund zu und verzog ihn zu einem bitteren Grinsen.

»Das geht Sie gar nichts an. Familienangelegenheiten.«

»Sie sagen, er hatte jemanden bei sich, Mann oder Frau?«

»Ein junger Bursche. Der, den sie eingelocht haben. Die beiden waren dicke Freunde.«

»Wayne Griffiths?«

384

»Wenn Sie das sagen. Den Namen hab ich nicht gewusst.«

»Sie sind davon ausgegangen, dass ich den Sohn suche, nicht den Vater, warum?«

Aber mehr war aus Smith nicht herauszuholen, so hartnä-

ckig Fenwick es auch versuchte. Schließlich sah er ein, dass er nur seine Zeit vergeudete.

»Falls Ihnen noch irgendwas einfällt, rufen Sie mich bitte unter dieser Nummer an. Es ist sehr wichtig.«

»Was hat er denn angestellt?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir müssen ihn aber dringend finden. Möglicherweise ist er im Besitz von Informationen, die uns weiterhelfen könnten.« Fenwick klappte erneut sein schmuddeliges Notizbuch auf, und Smith musterte ihn mit deutlichem Misstrauen.

»Was soll denn das werden?«

»Ich muss mir Ihren Namen und Ihre Anschrift notieren, Sir.«

Smith ratterte hastig alles herunter, um ihn möglichst schnell loszuwerden.

»Und Sie wohnen hier mit …«

»Meiner Frau, June.«

»Kinder?«

Smith wurde rot und sah nach unten auf seine Werkbank.

»Wir leben allein.«

»Aber Sie haben Kinder?«

»Das tut ja wohl nichts zur Sache.«

»Reine Formalität.« Fenwick sah eine Ader seitlich am Kopf des Mannes pulsieren.

»Eine Tochter, Wendy.«

»Wie alt?«

Smith rieb sich die Stirn und hinterließ dabei eine schleimige Ölspur.

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»Dreiundzwanzig. Hab sie eine ganze Weile nicht gesehen.«

»Kannten Sie David Smith junior gut?«

»Das geht Sie einen feuchten Kehricht an.« Smith trat einen Schritt vor, mit bebendem Körper und rotem Gesicht.

»Und jetzt raus aus meinem Haus, und lassen Sie sich ohne Durchsuchungsbefehl nicht mehr hier blicken.«

Fenwick schrieb seine mageren Berichte und fragte sich, was seine Vorgesetzten wohl von den spärlichen Ergebnissen halten würden, die der Arbeitstag eines Chief Inspectors erbracht hatte. Wahrscheinlich nicht viel, aber zumindest konnte er jetzt allmählich Fragen formulieren, die seine Ermittlung vor-antreiben würden. Warum war Frederick Smith direkt davon ausgegangen, dass er wegen David Smith junior gekommen war? Und warum hatte er »na endlich« gesagt?

Er rief Emily Spinning an, die ihn bat, sich einen Moment zu gedulden, da sie rasch den Videorecorder für eine Folge von den »East Enders« programmieren wollte.

»So, da bin ich wieder, Chief Inspector. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe mit Frederick Smith gesprochen.«

»Aha. Was hat er Ihnen erzählt?«

»Er erwähnte, dass er eine Tochter hat.«

»Ach ja, Wendy. Ein liebes Ding. Ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Hab sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Wollte immer Krankenschwester werden.«

»Erinnern Sie sich an irgendetwas aus Wendys Kindheit?

Wie gut kannte sie Mr und Mrs Smith?«

»Meine Güte. Da muss ich aber weit zurückdenken. Mal überlegen …« Es trat längeres Schweigen ein. »Ich kann mich irren, aber ich glaube, dass Mr und Mrs Smith sie oft mit in 386

die Ferien genommen haben. Sie hatten ein hübsches Som-merhaus, das sie Jahre vorher gekauft hatten, draußen auf dem Land. Ich glaube, Wendy war öfter mit ihnen dort, ehe die beiden Brüder sich zerstritten haben.«

Das war alles, woran sie sich erinnern konnte. Fenwick legte auf und sah auf die Uhr. Er hatte noch Zeit, die Kinder anzurufen, bevor sie ins Bett mussten. Knotty kam in dem Augenblick herein, als er Bess gerade einen Kuss durchs Telefon schickte, und er machte auf dem Absatz kehrt. Fenwick rief ihn zurück.

»Ehe Sie loslegen, hören Sie erst mal mir zu. Nehmen Sie Platz und entspannen Sie sich, Mann.«

Knotty klappte seine lange, schlaksige Gestalt auf dem nächstbesten Stuhl zusammen. Er sah aus wie eine Stabheu-schrecke, auf deren Gesicht sich eine unheimliche Pilzerkran-kung ausbreitete. Die Akne hatte sich im Laufe des Tages verschlimmert.

»Wir wissen inzwischen Folgendes über die Smiths: Mr und Mrs Smith haben einen Sohn, David, der heute siebenundzwanzig Jahre alt ist. Vor zehn Jahren haben Sie Wayne Griffiths, der damals fünfzehn war, als Pflegesohn aufgenommen. Er und David junior waren Klassenkameraden und anscheinend gut befreundet. Mr Smith senior hat vier Jahre lang jeden Monat dreihundert Pfund in bar von seinem Sparkonto abgehoben, bis zu dem Zeitpunkt seines Verschwindens. Er hatte sich mit seinem Bruder Frederick überworfen, obwohl er zuvor seine Nichte Wendy öfters mit in die Sommerferien genommen hat. Was schließen Sie daraus?«

Constable Knots starrte ihn verständnislos an. Fenwick wartete. Von der Stille verunsichert, zwang sich der arme Kerl schließlich zum Sprechen.

»Äh, das wir nicht viel haben, wo wir ansetzen können, Sir?«

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Fenwick verzog müde das Gesicht.

»Möglich, aber wir haben die ersten Teile eines Puzzles, wir wissen nur noch nicht, zu welchem Bild wir sie zusam-mensetzen müssen. Wir brauchen eine glaubwürdige Hypothese, die es uns ermöglicht, weitere Fragen zu stellen, um unsere Vermutungen zu überprüfen und das Bild zu vervollständigen.«

Verständnislosigkeit machte purer Verwirrung Platz. Fenwick wünschte, Cooper und Nightingale wären da. Seine Sergeants hätten ihm mit ihren eigenen Zweifeln und Theorien weitergeholfen. Er seufzte tief, und auf Knots’ Gesicht verwandelte sich die Verwirrung in Verzagtheit.

»Holen Sie mir bitte einen frischen Kaffee, schwarz, ohne Zucker. Lassen Sie Ihre Berichte hier.«

Knots war vielleicht nicht einer der Schlauesten, aber er war schnell. Fenwick hatte die Akte gerade erst durchgelesen, da kam er mit einem Tablett zurück.

»Abendessen, Sir. Ich hab mir gedacht, dass wir noch länger hier sein werden. Hühnchen-Schinken-Pastete oder ein Würstchen in Blätterteig?« Fenwick entschied sich für die Pastete, und Knottys Gesicht hellte sich auf.

Er aß, während er schrieb, und Knotty kaute derweil so leise wie möglich.

»Also, Knotty, das hier steht für uns morgen auf dem Programm.«

Constable Knots schluckte und las die Notizen mit halb offenem Mund.

Hypothese: David Smith jr. lernt Wayne Griffiths im Informa-tikkurs kennen, wird wichtige Bezugsperson für ihn. Er überredet Eltern, Griffiths als Pflegekind aufzunehmen. Die beiden verüben eine Reihe von kleineren (Sexual-)Straftaten 388

und/oder vergehen sich an Wendy. Frederick Smith findet das heraus und erpresst Bruder.

Fragen/Maßnahmen:

1. Von Arzt Krankenunterlagen der Familie Smith besorgen.

2. Richterlichen Beschluss zur Einsicht in die Finanzun-terlagen von Frederick und David Smith beantragen 3. Befragung von Leuten im Umfeld von David Smith (sen./jr.) – Arbeitsstellen, Clubs, Nachbarn etc.

4. Archiv: Gibt es in der Gegend für die Zeit, als die beiden hier lebten, ein Muster von Bagatelldelik-ten/Sexualdelikten?

5. Wendy Smith finden. Wir kennen ihre Eltern, ihr Alter und ihren Beruf, Krankenschwester.

6. Mit Profiler über den Hintergrund der Jungen und Wendy sprechen.

»Mannomann!«

Fenwick wusste, dass er angab, und noch dazu vor einem ausgesprochen anspruchslosen Publikum, aber die Bewunde-rung tat ihm gut. Hätte er Knots allein losgeschickt, um die Arbeit zu erledigen, wären sie noch keinen Schritt weiter.

»Sie können mit Punkt drei anfangen, eine Liste von Leuten aufstellen, die wir befragen sollten.«

»Und was machen Sie, Sir, wenn ich fragen darf?«

»Ich such mir eine Polizistin und fahr mit ihr noch mal raus zum alten Haus der Smiths. Wir treffen uns wieder hier.«

389

Kapitel vierundzwanzig

Seit zwei Tagen kämpfte er gegen den Drang an, aus Rache für das Überleben des Mädchens durch Telford zu wüten. Er konnte sich nichts vormachen, sie hatte ihn ausgetrickst, sie hatte sich tot gestellt, sodass der Taxifahrer zurückkehren und den Helden spielen konnte. Um sich abzureagie-ren, wanderte er von Sonnenaufgang bis -Untergang durch die Berge beim Cottage und versuchte, die Erinnerung aus dem Kopf zu vertreiben. Schon zweimal war es ihm nicht gelungen, die Aufgabe zu erfüllen, die er sich selbst gestellt hatte. Das war alles nur Griffiths’ Schuld. Er hatte ihm mit seinen blöden Briefen und den schwachsinnigen Einfällen alles vermasselt. Die Polizei hatte die Frau, die er in London getötet hatte, noch immer nicht mit Griffiths’ Vergewaltigungen in Verbindung gebracht.

Während er einen Hang hinauf- und dann den nächsten wieder hinunterhastete, was sein Blut richtig in Fahrt brachte, nahm allmählich ein neuer Gedanke Gestalt an. Als er die höchste Anhöhe erklommen hatte, hielt er inne und atmete tief durch. Es war simpel. Er brauchte Griffiths doch einfach nur im Gefängnis vergammeln zu lassen. Er war schließlich so blöd gewesen, sich schnappen zu lassen, sollte er doch dafür bezahlen. Wayne war für ihn nie mehr gewesen als ein Bewunderer. Wieso hatte er sich überhaupt so einen Versager aufgehalst? Smith konnte sich nicht eingestehen, dass ihm einmal die Lobhudeleien eines Menschen wie Griffiths gut 390

getan hatten. Als er zurück zum Cottage ging, spürte er, wie sich alle Bindungen zu ihm auflösten.

Er würde tun, was er tun wollte, und zwar auf seine Art, und er würde mit einer Stippvisite bei Wendy anfangen. Das munterte ihn normalerweise auf, wenn er das Gefühl hatte, in dem Cottage langsam durchzudrehen, wie immer nach ein paar Tagen. Er fühlte sich wie eingeschlossen, und das hielt er nirgendwo lange aus. Er musste sich bewegen, mal hier, mal dort sein, nur so konnte er die Anspannung lindern, die jetzt ständig in ihm war.

Er fuhr unangekündigt zu Wendy und weckte sie.

»Irgendwelche Briefe?«

Er wollte das Postfach abmelden und alle Verbindungen zu Griffiths kappen.

»Ich war nicht auf der Post. Du weißt doch, dass ich nicht hinkann, wenn ich Nachtdienst habe.«

»Du brauchst aber doch nicht den ganzen Tag zu verpen-nen, oder? Du faules Luder.«

»Mir ging’s nicht gut. Ich war sogar ziemlich krank.«

»Schlapp wie ein Putzlappen bist du. Kein Stehvermögen.

Hör zu, ich will wissen, ob Post für mich da ist. Schieb los.«

Sie kroch aus dem Bett, um ihm ein Bier und etwas zu essen aus dem Kühlschrank zu holen.

»Ich mach das morgen.« Schweigen trat ein, und sie zupfte sich ein Stückchen trockene Haut von der Spitze ihrer dünnen Nase, eine Angewohnheit, die er widerwärtig fand. Eines Tages würde er sie dafür umbringen. »Wie lange bleibst du?«

»Keine Ahnung. Ich arbeite an einem Projekt. Könnte ein Weilchen dauern.«

»Was für ein Projekt?«

»Geht dich nichts an.«

»Oh.«

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Das war’s. Ende der Unterhaltung. Wendy ließ einiges zu wünschen übrig, aber das bisschen Elan, das sie mit auf die Welt gebracht hatte, war ihr von ihrem alten Herrn ausgeprügelt worden. Ihre mangelnde Vorstellungskraft und ihre geringe Intelligenz hielt er für ihre größten Pluspunkte.

Als er am nächsten Morgen erwachte, war seine Ent-schlusskraft wieder da. Seine ziellose Wut war von der Begeisterung für einen Plan verdrängt worden, der so gewagt war, dass ihm seine eigene Verwegenheit fast den Atem nahm. Er trainierte eine halbe Stunde, bis er sich wieder stark und mächtig fühlte, und wog dann sein Verlangen, die Polizistin aufzuspüren, gegen seine über Nacht getroffene Entscheidung ab, die Sache mit dem Taxi-Mädchen zu Ende zu bringen.

Beides war unumgänglich, doch das Töten spezieller Opfer zu planen war eine neue Erfahrung.

Es war zehn Jahre her, dass er zum ersten Mal Zeuge des Todes gewesen war und das köstliche Gefühl der Befreiung erlebt hatte. Trotz des starken Eindrucks, den es auf ihn gemacht hatte, mit eigenen Augen zu sehen, wie Menschenleben erlosch, hatte es noch sieben Jahre gedauert, bis er die Grenze überschritt und tötete, und dann auch noch ohne Absicht. Erst hinterher, als er sich von ihr gelöst und die blutunterlaufenen Augen und die aufgequollene Zunge gesehen hatte, war ihm bewusst geworden, was er getan hatte.

Nach seinem ersten Mord waren die nächsten leichter gewesen, aber zunächst noch selten. Er war vorsichtig geblieben, hatte oft die Gegend gewechselt, um keine erkennbaren Regelmäßigkeiten entstehen zu lassen. Die Randgebiete gro-

ßer Städte lieferten zum einen Anonymität, zum anderen war willkürliche Gewalt dort an der Tagesordnung. Dieses Jahr hatte er innerhalb eines Monats zweimal getötet, ein Schnitt, 392

der ihn entzückte. Aber er hatte auch zweimal versagt und nicht getötet, wie er sich grimmig in Erinnerung rief.

Nachdem Wendy gegangen war, vertat er eine ganze Stunde damit, den Tod des Taxi-Mädchens zu planen, bevor er ganz auf einen Plan verzichtete, weil es zu viele Unwägbarkeiten gab. Er würde die Sache einfach so durchziehen, wie er es am besten konnte, auf alle Eventualitäten gefasst sein und sich auf seinen Instinkt verlassen und darauf, dass sich ihm eine günstige Gelegenheit bot. Es würde ihm gelingen, trotz des hohen Risikos.

Mit frischem Selbstbewusstsein öffnete er die Dateien, die er dem Computer der Polizistin abspenstig gemacht hatte. Sie war in einem Internetcafé online gegangen, daher war der größte Teil uninteressant. Den Rest des Tages verbrachte er damit, Hunderte von Dokumenten zu sichten, und sein Hochgefühl flaute allmählich ab. Als Wendy von der Arbeit kam, verpasste er ihr ein paar Ohrfeigen, weil sie zu laut gewesen war, dann verstaute er die übrigen Ausdrucke, seinen Laptop und die Disketten in einer Tasche. Sobald sie ihn be-kocht und er sich mit ihr vergnügt hätte, würde er fahren.

Die Vorstellung, noch eine weitere Nacht mit ihr in der Wohnung eingesperrt zu sein, widerte ihn plötzlich an.

Es war später Abend, als er abfuhr. Auf dem Weg nach Hause dachte er darüber nach, welche Konsequenzen es hätte, wenn er Griffiths aufgab. Wayne könnte reden. Es war unwahrscheinlich, aber er musste darauf gefasst sein. Das bedeutete, er würde Haus und Cottage verkaufen müssen und dann verschwinden. Ins Ausland wäre gut. Wendy würde entsorgt werden müssen, aber erst im letzten Moment, für den Fall, dass er sie noch brauchte. Die Vorstellung, die letzten Reste seiner Vergangenheit auszulöschen und neu anzufangen, war reizvoll. Bei seinen Eltern war 393

ihm das gelungen, bei ihm selbst müsste es daher ein Kinderspiel sein.

Der Gedanke weckte eine alte Erinnerung und löste Unbehagen in ihm aus. Hatte er wirklich jede Spur von ihnen ge-tilgt? Im Cottage war garantiert nichts mehr, aber was war mit dem alten Haus der Familie? Er konnte nicht sicher sein, ob er damals schon so gründlich gewesen war. Die Sache ließ ihm keine Ruhe. Er musste auf Nummer sicher gehen, dass nichts mehr auf seine Existenz hindeutete, sonst wäre der Neuanfang, den er vorhatte, von vornherein mit einem Makel behaftet. Er beschloss spontan, noch an diesem Abend zum Haus zu fahren und sich zu vergewissern, dass auch wirklich alle Spuren der Familie Smith ausradiert worden waren.

Janine schaltete den Fernseher ab und schob das Schutzgitter vor den Kamin. Selbst mitten im Sommer war das Haus irgendwie klamm. Es war ein einsam gelegenes und altmodisches Haus, aber etwas Besseres konnten sie sich nicht leisten.

Seit der Polizist bei ihr gewesen war, fühlte sie sich unruhig.

Ihre Stimmung hatte auf Carl abgefärbt, denn er war seit seinem Mittagsschlaf quengelig gewesen, bis sie ihn schließlich ins Bett brachte.

Janine hatte immer heftige Sehnsucht nach ihrem Mann, wenn er eine lange Tour ins Ausland hatte. Außerdem war ihr etwas mulmig so ganz allein hier draußen. Als es dunkel wurde, beschloss sie, früh ins Bett zu gehen und noch ein bisschen fernzusehen. Die Türen waren verriegelt, aber die alten Schiebefenster waren leicht aufzubrechen. Da musste man nur die Scheibe einschlagen und den Haken lösen. Sie kuschelte sich unter die Decke.

Er versteckte sich draußen, aufgeregt und zu ungeduldig, um bis zum Morgen zu warten. Er hatte in seinem Leben ja 394

schon einige hässliche Weiber gesehen, aber die Schlampe da drinnen schoss den Vogel ab. Er würde der Welt einen Dienst erweisen, wenn er sie von ihrem Elend erlöste. Wenigstens ging sie zu einer anständigen Uhrzeit ins Bett. Nicht mehr lange, und er konnte beruhigt einsteigen. Er sagte sich, dass er nur nach irgendwelchen Sachen seines Vaters suchen würde, Zeug, das er schon längst hätte verbrennen sollen.

Falls sie nicht aufwachte und falls er nicht ins Schlafzimmer musste, würde er ihr nichts tun. Zumindest redete er sich das ein, während er gierig an der Zigarette sog, doch seine freie Hand tastete nach dem neuen Messer, das in der Tasche seiner Jeans steckte. Er strich über die warme, glatte Oberfläche und dachte, wie anders es sich doch anfühlte, wenn die Klinge ausgeklappt war.

»Beeilung, Constable, wir haben schon nach acht. Es ist sowieso schon unverschämt, so spät noch da aufzutauchen. Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie wüssten eine Abkürzung?«

»Hab ich auch, ich meine, weiß ich auch, Sir, aber das Schild war umgekippt. Der Fluss ist da drüben, also muss ich bloß die nächste rechts nehmen.«

Fenwick atmete langsam, um seine Gereiztheit in den Griff zu bekommen. Es war immer unklug, die Beherrschung zu verlieren, auf fremdem Terrain umso mehr und vor allem bei einer Frau. Außerdem durfte er nicht vergessen, dass sie schließlich ihm einen Gefallen tat. Constable Powell hatte gerade Feierabend machen wollen, als er ihr in der Kantine über den Weg gelaufen war und ihr sein Problem geschildert hatte.

»Wir sind gleich da.«

Sie lenkte den Streifenwagen auf eine Nebenstraße und bog dann in die Einfahrt. Das Haus war dunkel.

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»Na prima, das hat uns gerade noch gefehlt. Sie ist schon im Bett.«

»Vielleicht schläft sie ja noch nicht.«

Sie warteten an der Haustür eine Weile ab, bevor sie ein zweites Mal klingelten. Janine öffnete die Tür einen Spalt, sah die Uniform der Polizistin und zog die Tür ganz auf.

»Bill?«, sagte sie, das Gesicht verzerrt vor sprachloser Angst um ihren Mann. Constable Powell beruhigte sie, stellte sich dann vor und erklärte, dass sie sie wegen einer dringenden Angelegenheit stören müssten.

»Dann kommen Sie rein, aber seien Sie um Himmels willen leise. Mein Kind hat einen leichten Schlaf.«

Sie führte sie in die Küche.

»Was wollen Sie?«

Ihre Stimme klang so trotzig, dass Fenwick sofort auf-merkte.

»Haben Sie irgendwelche Unterlagen gefunden, irgendetwas, das den Besitzern des Hauses gehören könnte?«

»Nein, aber das hab ich Ihnen doch schon gesagt. Wir sind nicht die ersten Mieter. Wenn noch irgendwas hier gewesen ist, haben das bestimmt die Vormieter an den Makler weiter-gegeben.«

»Wie sieht’s mit dem Speicher aus?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass da oben was ist, nach so vielen Jahren.«

»Dürften wir mal nachsehen? Und auch im Schuppen und in der Garage? Sie würden sich wundern, was manche Leute so alles vergessen.«

»Tja, draußen können Sie meinetwegen rumsuchen, wenn Sie versprechen, leise zu sein, aber ich lasse Sie nicht auf den Dachboden. Sie wecken mir nur Carl auf.«

Robyn Powell ging los, um die Nebengebäude zu durch-396

suchen. Als Fenwick mit der Frau allein war, verhärtete sich seine Miene.

»Mrs Grey.« Sein Tonfall hatte sich verändert, und sie fuhr zusammen. »Ich interessiere mich nicht im Geringsten dafür, was Ihr Mann so treibt.«

Sie war kalkweiß geworden und starrte ihn an, als könnte er Gedanken lesen.

»Ich will einen Mörder fassen, einen gefährlichen Killer, der seine Opfer foltert, bevor er sie umbringt. Falls es in diesem Haus irgendwelche Spuren gibt, die er zurückgelassen hat, will ich sie finden, und wenn ich dafür Ihr ganzes Haus auf den Kopf stellen muss. Wenn Sie sich jetzt weigern, komme ich einfach mit einem Durchsuchungsbefehl zurück, und das würden Sie bestimmt nicht wollen, oder?«

»Und Sie versprechen, dass Sie nichts verraten?«

»Was verraten?«

Die arme Frau sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben. Es war an der Zeit, auf verständnisvoll umzuschalten.

»Hören Sie«, sagte er mit einem traurigen Lächeln, »Sie können nichts daran ändern, dass ich nun mal hier bin. Wenn Sie mir helfen, werde ich persönlich nichts sagen, was ich möglicherweise gesehen habe, einverstanden?«

»Und Ihre Kollegin?«

»Ich kann nicht für sie sprechen. Wenn wir also oben nachsehen wollen, sollten wir das jetzt machen, während sie noch beschäftigt ist.«

Janine rieb sich unschlüssig den Kopf, ging dann aber zu einer Küchenschublade und nahm einen Schlüsselbund heraus.

»Auf den Dachboden gehen Sie aber allein, ich hasse die Leiter. Lassen Sie mir einen Moment Zeit.«

Er zählte bis zehn, dann ging er ihr nach.

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Sie hatte einen Bettbezug und einen Morgenmantel über einen Stapel Kartons ausgebreitet. In einer Lücke konnte er die Namen bekannter Zigarettenmarken lesen und seufzte erleichtert auf. Nur harmlose Schmuggelware. Er hatte Drogen be-fürchtet. In dem Fall hätte sein Versprechen wenig bedeutet.

Der Dachboden war sehr niedrig und fast leer. Er nahm eine Handlampe, die an einem Haken hing, und als er dann über raue Dielenbretter kroch, stieß er mit dem Knie gegen einen vorstehenden Nagel. Seine Hose zerriss, und er schürfte sich schmerzhaft die Haut auf.

»Scheiße! Immer das Knie!«

Schimpfend kroch er weiter und kam sich von Sekunde zu Sekunde lächerlicher vor. Er sah einen verbeulten Koffer, einen Müllsack und einen Karton mit dem Aufdruck »A4-Papier«. Der Koffer enthielt Kleidungsstücke, die nach Mot-tenkugeln stanken, der Müllsack alte Gardinen, aber als er den Karton öffnete, sah er gleich zuoberst ein gerahmtes Fo-to. Er kroch zur Luke zurück.

»Könnten Sie mir mal helfen? Ich werde jetzt etwas in ei-ne Gardine wickeln und es zu Ihnen runterreichen. Haben Sie’s?«

»Sie bluten ja«, sagte sie, als er die Leiter wieder hinunter-gestiegen war, »und die Hose haben Sie sich auch ruiniert.

Ich hoffe, das hier ist es wert.«

»Das hoffe ich auch. Jetzt müssen Sie mir noch unterschreiben, dass Sie mir das hier freiwillig ausgehändigt haben.«

»Das soll wohl ein Witz sein!«

»Das vereinfacht die Sache erheblich. Eine Hand wäscht die andere.«

Sie unterschrieb missmutig und starrte ihn feindselig an, aber das kümmerte ihn nicht.

Constable Powell wartete unten auf sie. Auf dem Weg 398

zum Wagen sagte sie zu Fenwick: »Irgendwas stimmt hier nicht, Chief Inspector. Sie war so nervös.«

»Haben Sie einen Verdacht?«

»Ich hab mich gründlich umgesehen und Dutzende leere Pappkartons entdeckt, wie Großhandelsverpackungen für Zigarettenstangen. Der Mann ist doch Lkw-Fahrer, nicht wahr?«

»Richtig.«

»Na bitte. Was denken Sie?«

»Ich denke, Sie sind clever. Das sollten Sie unbedingt in Ihrem Bericht erwähnen.«

»Wollen Sie denn der Sache nicht nachgehen?«

»Nicht mein Bezirk, nicht mein Fall, und die Lorbeeren haben Sie sich schließlich verdient.« Er lächelte in die Dunkelheit.

Er wartete, bis die Rücklichter des Polizeiwagens verschwunden waren, und überlegte dann, was er tun sollte. Der Mann hatte etwas getragen, und er konnte sich denken, was.

Einen Karton, der eines Tages aus dem Büro seines Dads aufgetaucht war, und er hatte ihn erst mal weggestellt, um sich später darum zu kümmern. Er hatte so viel Kram verbrannt, wie konnte er den Karton da bloß vergessen haben?

Einem Impuls folgend, schob er sein Motorrad auf die schmale Straße. Er war es nicht gewohnt, dass ihm die Dinge entglitten, und er musste herausfinden, warum die Polizei im Haus gewesen war. Als er die Landstraße erreichte, war der Wagen schon außer Sichtweite, aber er ging davon aus, dass er Richtung Telford fuhr, und hatte ihn Minuten später ein-geholt. Die Polizistin und der Mann gingen ins Polizeirevier, doch die Frau kam fast augenblicklich wieder heraus. Er ließ sie gehen und wartete auf den Mann.

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Er musste lange warten. Erst um elf kam der Typ wieder heraus und hatte diesmal eine kleine Reisetasche in der Hand.

Ein anderer Mann war bei ihm, viel jünger, mit abscheulicher Akne. Sie gingen zu Fuß, also ließ er seine Maschine stehen und folgte ihnen unauffällig. Er konnte sich unsichtbar machen, wenn es nötig war.

Die Straße war wie ausgestorben, und er bekam einzelne Gesprächsfetzen mit.

»… ein Spaziergang wird uns gut tun, Knotty. Ist ja nicht weit.«

»Aber Sir, meine Blasen!«

»Jammern Sie nicht.«

Sie hielten vor einer Pension, und der Jüngere ging auf die Haustür zu.

»Das ist es?«

»Ja, Sir. Die Hotels waren so teuer.«

»Na prima. Dann klingeln Sie mal.«

Die Tür wurde sofort von einer Frau geöffnet.

»Aha, Chief Inspector Fenwick. Wir haben schon auf Sie gewartet. Die Polizei ist uns immer willkommen. Herein mit Ihnen. Sie werden sich bei uns wie zu Hause fühlen. Sie kommen aus London, richtig?«

Sie gingen hinein, die Tür schloss sich wieder, und er stand in der Dunkelheit. Ein Chief Inspector aus London in seinem alten Haus. Das könnte Zufall sein, aber wenn ja, warum hatte er dann die Schachtel mitgenommen?

Auf der Fahrt zurück durch die hügelige Landschaft gelang es ihm fast, sich einzureden, dass seine Furcht grundlos war.

Die Polizei konnte keine Ahnung von seiner Existenz haben oder davon, was er getan und geplant hatte. Er hatte nie fürchten müssen, geschnappt zu werden, na ja, bis auf das eine Mal vor vielen Jahren, doch seitdem war er erheblich 400

schlauer geworden. Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand.

Aber dieser Fenwick war in dem Haus gewesen. Das bewies, dass sein Instinkt, endgültig mit der Vergangenheit zu brechen und ganz von vorn anzufangen, richtig gewesen war. Er hatte wirklich immer Recht.

Constable Powell hatte ihre Meinung über Fenwick geändert.

Zuerst hatte sie ihn für einen arroganten Schnösel aus London gehalten, der andere nur herumkommandieren konnte und einfach erwartete, sofort durch die Gegend kutschiert zu werden, wenn er nur mit dem Finger schnippte. Für arrogant hielt sie ihn noch immer, aber er hatte sie immerhin ermuntert, für das alte Haus der Smiths einen Durchsuchungsbefehl zu beantragen, was ihr sicherlich als Verdienst angerechnet werden würde. Er hatte ein sympathisches Lächeln und attraktive Augen, war aber kein bisschen selbstgefällig, wie das bei vielen Männern der Fall war. Deshalb freute sie sich, bei der Diensteinteilung zu hören, dass Fenwick speziell sie angefordert hatte. Sie ignorierte die anzüglichen Zurufe und Pfiffe ihrer Kollegen und machte sich auf die Suche nach ihm. Man hatte ihm ein winziges Büro zugeteilt, aber das schien ihm nichts auszumachen, und er hatte die Wände mit großen Blättern von einem Flipchart tapeziert.

»Aha, Robyn, gut, dass Sie kommen. Das ist Constable Knots, genannt Knotty. Knotty, das ist Robyn Powell. Sie war mir gestern Abend im Haus der Smiths behilflich und wird mit uns zusammenarbeiten. Das hier ist eine Liste von dem, was wir in dem Karton gefunden haben, plus Abzüge von wichtigen Fotos.«

»Das ging aber schnell, Sir.« Robyn sah auf die Uhr. Es war erst acht Uhr morgens. Es war keine zwölf Stunden her, dass sie den Karton gefunden hatten, irgendwann musste er ja 401

auch gegessen und geschlafen haben. Fenwick ging über ihre Bemerkung hinweg und las laut vor:

»Ein Foto mit drei Personen drauf, vermutlich Mr und Mrs Smith und David junior. Der Junge sieht aus wie zwölf.

Ich lasse das Bild von ihm am Computer älter machen, sodass wir es mit den Phantombildern in London vergleichen können.

Ein Terminkalender, aber die einzigen Einträge scheinen berufliche Termine zu sein. Ein kleiner Glücksfall jedoch: Name und Telefonnummer des Arztes von David senior sind ganz hinten notiert. Darum werden Sie sich kümmern, Knotty. Zwei Angelzeitschriften und ein Entwurf für einen Beschwerdebrief an die Schule seines Sohnes. Ich weiß nicht, ob er je abgeschickt wurde, aber wenn ja, könnte es sein, dass die Schulleiterin und die Lehrer sich an ihn erinnern.«

»Worüber beschwert er sich denn?«

»Sein Sohn war ohne triftigen Grund aus der Theatergruppe der Schule ausgeschlossen worden. Hier ist eine Kopie für Sie, Knotty.«

»Nicht gerade viel, für die Mühe, die wir uns gemacht haben.« Constable Powell klang enttäuscht.

»Vielleicht.« Fenwick überspielte seinen Ärger über Robyns fehlende Begeisterung. »Aber der Karton war mit Fingerabdrücken übersät, und ich wette, da sind auch welche von David Smith junior drauf. Ich schicke sie zur Überprü-

fung nach London.

So, nun zum heutigen Programm. Robyn, Sie gehen bitte alle unaufgeklärten Sexualdelikte von vor zehn Jahren durch und konzentrieren sich auf diejenigen, die in einem Umkreis von zehn Meilen von David Smiths Wohnort und seiner Schule passiert sind.«

Sie machte ein langes Gesicht.

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»Jaja, ich weiß. Das ist ein Haufen Arbeit, aber das Such-gebiet stellt ja schon ein Auswahlkriterium dar.«

»Und wonach suche ich genau?«

»Nach Mustern. Meine Theorie basiert auf den psychologischen Profilen, dass Täter B, also möglicherweise Smith, und Griffiths schon als Jugendliche straffällig geworden sein könnten – Voyeurismus, Exhibitionismus, sexuelle Belästigung. Laut den Profilen ist es ungewöhnlich, dass ein Sexualtäter gleich mit Vergewaltigung und Mord anfängt. Und bevor Sie fragen, warum ich das wissen muss, nenne ich Ihnen zwei Gründe. Erstens, ich suche nach allem, was auf zwei Täter hinweist, und zweitens, Smith ist verschwunden, deshalb suchen wir nach irgendwelchen Hinweisen auf seinen möglichen Aufenthaltsort.«

»Meinen Sie, es gibt eine Verbindung zu unserem aktuel-len Mordfall, dem Taxifahrer?«, erkundigte sich Robyn, und Knotty versuchte vergeblich, ein Lächeln zu unterdrücken.

Fenwick hatte sich längst seine Gedanken über einen Zusammenhang gemacht – beunruhigende Gedanken –, doch er wollte, dass die beiden Polizisten sich konzentrierten.

»Das weiß ich nicht, aber es ist immerhin ein Zufall, auf den ich in London hinweisen werde. Wir treffen uns um sechs Uhr wieder hier. Falls Sie irgendwas Interessantes herausfinden, rufen Sie mich an.«

Es lag eine skeptische Stimmung in der Luft, die Fenwick wie feuchten Nebel auf der Haut spürte.

»Hören Sie, Sie halten das vielleicht alles für blöd, und ganz bestimmt finden Sie es komisch, dass ein Chief Inspector extra hierher kommt, um mit Ihnen Hintergrundermittlun-gen durchzuführen, aber wir müssen irgendwo anfangen, und hier bin ich nützlicher als in London. Superintendent MacIntyre hat noch immer über dreißig Leute an dem Fall, die Po-403

lizei in Wales nicht mitgerechnet. Aber, und das ist wichtig«, er hielt inne und blickte die beiden eindringlich an, »sie haben bisher nicht eine einzige heiße Spur. Wir müssen wirklich jeden Aspekt abdecken, um den Mann zu finden, bevor er erneut zuschlägt.«

»Warum sind Sie so sicher, dass er wieder zuschlagen wird?« Die Frage von Robyn klang eher respektvoll als un-gläubig, und Fenwick entspannte sich. Beamte, die das Ge-fühl hatten, mit einer sinnlosen Aufgabe betraut worden zu sein, gingen nie so engagiert zu Werke wie diejenigen, die voll mit einbezogen wurden, bis auf Nightingale natürlich.

Sie war sogar hundertprozentig bei der Sache, wenn sie Kaffee holen ging. Bei dem Gedanken an sie hatte er plötzlich vor Anspannung einen dicken Kloß in der Kehle, und in seiner Stimme lag ein noch eindringlicherer Ton, als er den beiden von seiner Befürchtung erzählte, Smith könne noch brutaler werden, wenn er Nightingale in die Hände bekam.

»Ich hab einiges über die Sache gelesen. Die Presse hat aus ihr eine Heldin gemacht.«

»Sie ist eine Ausnahmepolizistin, aber sie ist beurlaubt, und wir haben keine Ahnung, wo sie sich aufhält, deshalb können wir sie nicht unter Polizeischutz stellen. Wir machen das hier für sie und für all die anderen jungen Frauen, die das Pech hatten, Täter B über den Weg zu laufen.«

Er verspürte nicht die geringste Lust, ihnen zu erzählen, wie schwierig das Gespräch gewesen war, das er als Erstes heute Morgen mit MacIntyre geführt hatte, dem er nur mit Mühe und Not noch einen weiteren Tag weg von London hatte abringen können. MacIntyre hatte zwar ein großes Team, aber der Superintendent hatte nun mal speziell ihn angefordert, damit er ihm direkt bei der Leitung der Ermittlungen zur Seite stand, nicht damit er sich, einer spontanen 404

Eingebung folgend, auf dem Lande »herumtrieb«, wie MacIntyre, so meinte Fenwick sich zu erinnern, es ausgedrückt hatte.

Fenwick verdrängte den Gedanken und machte sich auf die Suche nach dem Leiter der Ermittlungen im Falle des Taxifahrermordes und der Vergewaltigung von Virginia Matthews. Der zuständige Kollege war Chief Inspector Ca-ve, ein stämmiger Mann, der keinen Hehl daraus machte, dass er Fenwick und seinen Motiven mit Argwohn gegenü-

berstand. Fenwick setzte auf seinen Charme und seine Überzeugungskraft. Schließlich räumte Cave ein, dass es nicht völlig abwegig war, wenn Fenwick ihn nach dem Fall befragte, aber als er das Gespräch anschließend zusammen-fasste, war nicht zu überhören, dass er meinte, seine Zeit nur vertan zu haben.

»Also, dieser Griffiths sitzt wegen Vergewaltigung, und Sie

glauben, er hatte einen Partner, der jetzt im Alleingang weitermacht.«

»Korrekt.«

»Weil den Opfern ein Finger abgeschnitten wurde.«

»Und auch wegen der anschließenden Morde und Vergewaltigungen. Und wir haben erfahren, dass einer von den Gefängnisaufsehern, der Griffiths besonders schikaniert hat, unglaublich brutal ermordet worden ist.«

»Zufall.«

Fenwick erwiderte nichts und blieb ruhig, aber nur mit Mühe. Cave wartete kurz ab, ob er eine Reaktion provoziert hatte, und sprach dann weiter, mit einem ironischen Lächeln im Gesicht, das Fenwick zunehmend reizte.

»Mal angenommen, Sie haben Recht, und er hatte wirklich einen Partner, und dieser Smith hat Geoffrey Minny umgebracht und Ginny Matthews vergewaltigt. Warum sollte er 405

plötzlich durchdrehen und einen Mann töten? Und warum ist er so dumm, nach Telford zurückzukehren?«

»Nicht dumm, arrogant. Er versucht, Griffiths nachzuah-men und seine Opfer im Freien anzugreifen. Seine bevorzugte Methode dagegen ist es, die Frauen zu umgarnen, bis sie ihn mit zu sich nach Hause nehmen. Die Sache mit Virginia Matthews sieht mir ganz nach einer Kombination von beiden Methoden aus.«

»Nur dass Virginia etliche Meilen in die entgegengesetzte Richtung vom Tatort wohnt.«

»Das Haus, in dem er früher gewohnt hat, liegt weniger als eine Meile vom Tatort entfernt.«

»Noch so ein Zufall. Das hat nichts zu bedeuten.«

»Vielleicht, aber Virginia hat genau das Alter seiner typischen Opfer, sie ist schlank, hübsch, dunkelhaarig und selbstbewusst.«

»Genau wie Hunderttausende anderer Frauen im Land.«

»Sind am Tatort beweiskräftige Spuren gefunden worden?«

»Jede Menge. Leider lag in dem Wäldchen auch ziemlich viel Abfall rum, es kann also eine Weile dauern, das alles aus-zusortieren.«

»Irgendwelche Spuren an dem Mädchen?«

»Sie war in einem Bach gewaschen worden, der am Rand der Wiese verläuft, aber wir haben ein Schamhaar gefunden, das nicht von ihr stammt, also hoffen wir auf die DNA. Kein Sperma.«

»Das Waschen passt zu den anderen Fällen. Das geht in einem Bach nicht so gründlich, aber der Täter muss sich in der Gegend gut auskennen, wenn er von dem Bach gewusst hat.«

Cave öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn aber wieder, als ihm kein schlagkräftiges Gegenargument einfiel, und kam auf etwas anderes zu sprechen.

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»Dem Mädchen ist GHB verabreicht worden.« Gamma-Hydroxy-Butyrat hatte Rohypnol als beliebteste Vergewalti-gungsdroge abgelöst. »Das passt nicht ins Muster.«

»Ist sehr viel einfacher als Verführung oder Überfall, und er musste sie für die Fahrt wehrlos machen. Wieso hätte er das Risiko mit dem Taxi eingehen sollen, wenn der Tatort ihm nicht wichtig gewesen wäre?«

Dieselbe Frage hatte sich Cave auch schon gestellt, aber er hatte keine Lust, noch länger mit diesem arroganten Pinkel über seinen Fall zu diskutieren.

»Sonst noch was?«

»Die Beschreibung, die das Mädchen von dem Täter geliefert hat. Haben Sie ein Phantombild machen lassen?«

»Das war alles sehr vage. Sie stand ja schließlich unter Drogen. Der Kellner im Restaurant hat auch noch bei dem Bild mitgeholfen, aber viel gebracht hat es nicht. Hier, können Sie behalten.«

Fenwick sah sich das Phantombild an. Es zeigte einen attraktiven Mann mit einem faltenlosen Gesicht, weit auseinander stehenden grünen Augen, glatt rasiert, mit einem Ohrring. Die Frisur war völlig anders und veränderte die Form des Gesichts, sodass keine große Ähnlichkeit zu anderen Phantombildern bestand.

»Das wäre dann ja wohl alles.« Cave konnte Fenwicks Enttäuschung spüren.

»Vorläufig. Haben Sie was dagegen, wenn ich mit dem Mädchen spreche?«

Cave erstarrte.

»Allerdings hab ich das. Sie ist nach der Geschichte völlig durch den Wind und erst gestern aus dem Krankenhaus gekommen. Eine Kollegin, die auf Vergewaltigungsfälle spezialisiert ist, versucht, ihr Informationen zu entlocken, aber bislang haben wir herzlich wenig erreicht.«

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»Könnte ich dann mit der Kollegin sprechen?«

»Wenn’s unbedingt sein muss.«

Fenwick floh aus dem Büro und war sehr zufrieden mit seiner außergewöhnlichen und für ihn untypischen Selbstbeherrschung.

Er parkte den Wagen vor Virginias Elternhaus, Beech Pass Nr. 23, und wartete. Die auf die Betreuung von Vergewalti-gungsopfern spezialisierte Beamtin war gleich nach dem Aufwachen des Mädchens eingetroffen und noch im Haus. Sie müsste eigentlich bald wieder gehen. Kaum eine Viertelstunde später verließ eine rothaarige Frau das Haus und ging den Bürgersteig entlang. Als sie Fenwick aus dem Wagen steigen sah, blieb sie stehen und musterte ihn misstrauisch.

»Ich bin nicht von der Presse, keine Sorge. Chief Inspector Andrew Fenwick, Kripo Harlden.«

Sie sah sich seinen Ausweis genau an und verglich sein Gesicht mit dem auf dem Foto.

»Harlden?«

»Das liegt in West-Sussex. Ich bin hier, weil ich denke, dass es möglicherweise einen Zusammenhang gibt zwischen dieser Straftat und anderen, in denen wir ermitteln. Chief Inspector Cave ist damit einverstanden, dass ich Ihnen einige Fragen stelle.«

»Schön, unterhalten wir uns doch in meinem Auto.«

Sobald sie im Wagen saßen, entspannte sie sich ein bisschen.

»Schießen Sie los.«

»Hat er irgendwas gesagt, als er Virginia …«

»Ginny, so nennen ihre Freunde sie. Er hat sie beschimpft.

Sie dreckiges Miststück genannt, miese Schlampe. Hat gesagt, Frauen seien doch alle gleich. Sein Hass war offensichtlich. Er verachtet Frauen.«

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»Und davor, in dem Restaurant?«

»Sie kann sich nicht mehr richtig erinnern, aber sie glaubt, dass er da ganz normal gewirkt hat.«

»Selbstbewusst? Redegewandt?«

»Ich kann nur sagen, dass er nichts gesagt oder getan hat, was ihr ein ungutes Gefühl gegeben hat.«

»Welche Verletzungen hat sie davongetragen?«

»Er hat sie geschlagen und mit dem Messer verletzt, und ihr ganzer Körper ist mit Bissspuren übersät.«

»Bisse? Sind Fotos davon an die Londoner Polizei geschickt worden, damit die Bisswunden mit denen bei den anderen Opfern verglichen werden können?«

»Keine Ahnung, aber ich werde Inspector Cave fragen, wenn ich wieder im Revier bin. Mehr haben wir bis jetzt nicht aus Ginny herausbekommen.«

Nachdem sie abgefahren war, starrte er zu dem Haus hoch. Er hätte furchtbar gern mit Ginny gesprochen, um sich von ihr selbst alles erzählen zu lassen, aber das hätte die müh-same Arbeit der Spezialistin gefährdet. Nach kurzem Nachdenken setzte er sich in seinen Wagen und fuhr davon. Hinter ihm startete unbemerkt ein Motorradfahrer seine Maschine und folgte ihm.

Ginny stand hinter der Gardine des Wohnzimmerfensters und beobachtete den Mann und Siobahn, die nette Polizistin. Er sah ganz sympathisch aus, aber sie war froh, dass er keine Anstalten gemacht hatte, ins Haus zu kommen, um mit ihr zu sprechen. Ihr Gesicht sah von den Blutergüssen noch immer furchtbar aus, obwohl ihre Mum beteuerte, es werde schon besser. Sie war schlimm erkältet, und sie hatte Pickel wie eine Dreizehnjährige. Ihre Haare müssten dringend gewaschen werden, aber sie konnte sich noch nicht überwinden, es selbst 409

zu tun, und hatte den sanften Vorschlag ihrer Mutter abgelehnt, ihr zu helfen.

Sie wollte nie wieder attraktiv aussehen. Die Therapeutin im Krankenhaus hatte ihr erklärt, dass sie widersprüchliche Gefühle haben werde, und ihr einige Beispiele genannt, aber keines der Worte dieser Frau konnte die Selbstverachtung beschreiben, die Ginny empfand. Tränen des Selbstmitleids stiegen ihr in die Augen, und sie konnte nicht mehr klar sehen.

Sie ging zurück zum Sofa und kuschelte sich in die Decke.

Es war gemütlich, und sie versuchte zu schlafen. Tagsüber ein Nickerchen zu machen war besser, als nachts zu schlafen, denn dann kamen die Albträume und ließen sie in der Dunkelheit aufschrecken. Tagsüber hörte sie Mum oder Dad irgendwo im Haus rumoren. Die beiden nahmen sich abwech-selnd frei, damit sie zu Hause nicht alleine war. Sogar ihr Bruder war lieb zu ihr. Er hatte von seinem Taschengeld im Body Shop was für sie gekauft, als Willkommensgeschenk.

Ihre kleine Schwester war der reinste Engel und malte ihr jeden Tag ein Bild. Alex war erst zehn und wusste nicht, was passiert war, aber sie wusste, dass irgendjemand ihrer großen Schwester wehgetan hatte, und ihre Augen waren vor Traurigkeit ganz groß geworden.

Sie vermisste ihre Geschwister. Dad hatte sie zu Grandma gebracht, um ihnen die Besuche der Polizei und die Anrufe der Journalisten zu ersparen. Es war besser, dass sie nicht da waren, sagte sie sich, bedauerte aber zugleich, dass sie hier geblieben war. Die Vorstellung, einen Schritt vor die Tür zu machen, war ihr aber unerträglich gewesen. Sie trug immer nur Schlafanzug und Bademantel seit … schon lange Zeit.

Manchmal glaubte sie, dass sie kurz davor war, verrückt zu werden. Das Leben würde nie wieder so sein wie vorher, was 410

sie unendlich traurig machte. In einer Sitzung bei der Therapeutin im Krankenhaus sollte sie so kurz und prägnant wie möglich beschreiben, wie sie sich fühlte. Zu ihrer eigenen Verblüffung hatte sie gesagt »wie in Trauer«, und sie hatte gleich gewusst, dass das stimmte. Sie trauerte um sich selbst, um die Ginny, die keine Angst vor der Dunkelheit hatte, die zehn Stunden schlafen und mit einem Lächeln aufwachen konnte, die sich auf das Erwachsenwerden und auf alles, was es mit sich bringen würde, gefreut hatte.

Die alte Ginny war für immer fort. Es war genauso, als wäre sie in jener Nacht gestorben. Wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht. Sie nahm eins von Dads großen weißen Taschentüchern aus der Tasche ihres Bademantels und drückte es sich ans Gesicht, dann zog sie sich die Decke bis über die Ohren und rollte sich in Embryonalhaltung zusammen, der Welt den Rücken zugewandt.

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Kapitel fünfundzwanzig

Im Revier wartete Constable Knots schon auf ihn.

»Was haben Sie rausgefunden?«

»Ich hab mit der Schulleiterin und den damaligen Lehrern von Smith und Griffiths gesprochen. Sie konnten sich gut an die beiden erinnern, an Smith besser als an Griffiths. Sie haben gesagt, Smith war intelligent und arrogant und hat gern die kleineren Jungs schikaniert.«

Er steckte sein Notizbuch weg.

»Ist das alles?«

»Ja, Sir.«

»Und waren die beiden befreundet?«

»Der Informatiklehrer hält das für möglich. Sie saßen in der Klasse nebeneinander.«

»Was ist mit der Lehrerin, die die Theatergruppe geleitet hat? Wieso hat sie Smith rausgeschmissen?«

Knotty hob flehentlich die Hände.

»Ich hab sie noch nicht gefunden. Es sind Schulferien, und sie war nicht da, als ich bei ihr zu Hause angerufen hab.«

»Der Arzt?«

»Steht als Nächster auf meiner Liste.«

»Und was machen Sie dann noch hier? Ab mit Ihnen.«

Fenwick sah ihm nach, wie er mit hängenden Schultern und schweren Schritten loszog. Vielleicht hätte er nicht so barsch sein sollen. Knotty tat sein Bestes, und er hatte nur zwei Stunden gehabt. Beim nächsten Mal würde er verständnisvoller mit ihm umgehen.

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Chief Inspector Cave wollte gerade gehen, als Fenwick zu ihm ins Büro kam. Er war merklich ungehalten, weil Fenwick ihn aufhielt.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Danke für Ihre Hilfe heute Morgen. Ich habe mit Siobahn gesprochen.«

»Dann verlassen Sie uns jetzt wohl.«

»Ja.«

Cave wandte sich zum Gehen.

»Nur noch eins.«

»Falls es um die Bissspuren geht, das ist geregelt.«

»Prima. Aber ich dachte, es würde Sie interessieren, dass vor dem Haus der Matthews kein Polizist zu sehen war.«

»Na und? Wahrscheinlich war gerade Schichtwechsel.«

»Na ja …« Fenwick spürte den Widerstreit in sich toben, der kluge Diplomat, der zu werden er sich bemühte, rang mit dem direkten, unverblümten Besserwisser, der er in Wirklichkeit war. »Meinen Sie nicht auch, dass das Haus keine Sekunde unbewacht bleiben sollte? Das Mädchen ist sozusagen eine noch offene Rechnung.«

»Falls es derselbe Täter ist, worauf bisher nichts hindeutet.«

Cave wollte sich an ihm vorbeidrängen, doch Fenwick trat ihm in den Weg, stand jetzt so dicht vor ihm, dass er schalen Kaffee in Caves Atem riechen konnte.

»Bitte. Ich weiß, ich hab hier nichts zu sagen, aber was schadet es denn, auf Nummer sicher zu gehen. Ein Beamter mehr kostet nicht die Welt und wäre eine zusätzliche Abschre-ckung. Allmählich komme ich dahinter, wie Smith denkt …«

»Sie entwickeln da eine fixe Idee. Virginia ist keine Sekunde allein, denn von ihren Eltern ist immer einer bei ihr, wir haben vor dem Haus einen Wagen postiert, wenn nicht gerade Schichtwechsel ist, und es kommt zusätzlich regelmä-

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ßig eine Streife vorbei. Und das alles, obwohl es absolut keinen Hinweis gibt, dass das Mädchen noch in Gefahr ist.«

Und damit ging er.

Wieder zurück in seinem engen Büro rief Fenwick Robyn an, doch sie hatte gerade erst mit der Durchsicht alter Straftaten angefangen und konnte ihm noch nichts sagen. Wenn er sich beeilte, könnte er den nächsten Intercity nach London erwischen und am frühen Nachmittag dort sein.

Während der Zug vor Euston auf das Signal zur Weiterfahrt wartete, klingelte Fenwicks Handy. Der Chief Inspector, dem es unangenehm war, in dem voll besetzen Abteil zu telefonieren, meldete sich im Flüsterton.

»Ähm … ja?«

»Knots hier. Chief Inspector?«

»Ja.«

»Alles in Ordnung, Sir?«

»Ja natürlich.«

»Aber Sie klingen … eigenartig.«

»Nein, ich sitze im Zug.«

»Immer noch? Du Schande, da haben Sie ja Stunden Verspätung.«

»Stimmt. Was gibt’s denn?«

»Ach so. Ich sollte Sie auf jeden Fall anrufen, wenn ich was rausgefunden habe, egal w as.«

»Ja.« Die Betonung in Knottys Stimme machte ihm nicht gerade viel Hoffnung.

»Über die Schulleiterin konnte ich ein paar Leute aufspü-

ren, die mit Griffiths zusammen in der Schule waren.«

»Und die Lehrerin von der Theatergruppe?«

»Noch immer nicht zu Hause, aber diese Leute …«

»Die Lehrerin ist wichtig.« Die Frau auf der anderen Seite des Ganges zog die Augenbrauen hoch und schielte verstoh-414

len zu ihm herüber. Er achtete nicht auf sie. »Was wollten Sie sagen?«

»Also, diese Leute, das heißt eine davon, Daphne Middle-ton, war in derselben Klasse und erinnert sich ziemlich gut an Griffiths. Sie hat gesagt, dass er sich dauernd bei den Umkleideräumen der Mädchen rumgetrieben hat und dass er irgendwann angefangen hat, ihr von der Schule bis nach Hause nachzulaufen. Das ging eine ganze Weile so.«

»In welchem Alter?«

»Etwa vierzehn.«

»Verstehe. Sonst noch was?«

»Im Augenblick nicht.«

Die Enttäuschung war Knotty deutlich anzuhören, und Fenwick fiel wieder ein, dass er sich vorgenommen hatte, beim nächsten Gespräch positiver zu sein. Aber ein überfülltes Zugabteil war nicht der richtige Ort, um damit anzufangen, also verschob er den Vorsatz auf später.

»Sehr schön, äh, bleiben Sie am Ball und melden Sie sich wieder.«

Es war schon später Nachmittag, als Fenwick endlich in London eintraf, deshalb beschloss er, direkt nach Hause zu fahren. MacIntyre rechnete nicht mit ihm, und er hatte die Kinder seit drei Tagen nicht gesehen.

Bei der Begrüßung hob sich seine Stimmung. Sogar Alice freute sich, ihn zu sehen. Nach dem Tee, einigen Spielen und einer Gutenachtgeschichte ließ Fenwick sich in einen Sessel sinken und gönnte sich einen Single Malt. Seine gute Laune verpuffte, als er über die vergangene schwierige Woche nachdachte und dann zwangsläufig auch über seine Karriere.

Er trat auf der Stelle, und zwar nicht nur in diesem Fall, ruhte sich auf seinem Image als knallharter, schwer arbeitender und erfolgreicher Detective aus. Und die Wirklichkeit?

415

Da wurde er irgendeiner Sonderkommission in London zugeteilt, die nicht mal genug für ihn zu tun hatte, und selbst seine kleine Spritztour in den Nordwesten, um dort ein bisschen herumzuschnüffeln, entpuppte sich als totaler Fehlschlag. Und in Harlden vermisste ihn anscheinend auch keiner. Er fragte sich, wann die Ersten ihn durchschauen würden, und es beschlich ihn ein ungewohntes Gefühl von Unsicherheit.

Er goss sich noch einen Whisky ein. Dass Nightingale noch immer nicht wieder aufgetaucht war, bereitete ihm großes Unbehagen. Er ließ sie im Stich, und das machte ihm größere Sorgen als seine ins Stocken geratene Karriere. Er leerte gerade sein zweites Glas, als das Telefon klingelte und die Stille zerriss.

»Ja?«

»Du meine Güte! Vielleicht rufe ich lieber ein anderes Mal an, wenn du besser gelaunt bist.«

Er erkannte Claires Stimme. Sie erinnerte ihn nur daran, dass auch sein Liebesleben ein absolutes Vakuum war, und er knurrte eine Antwort.

»Andrew. Hallo! Den Ton kenne ich. Du warst zu lange allein mit dir, und das würde jeden unglücklich machen.«

»Ha, ha. Sehr witzig. Übrigens, wieso bist du so gut gelaunt?«

»Es gibt einen neuen Mann in meinem Leben.«

»Das freut mich, ehrlich.«

»Nein, das erleichtert dich. Aber deshalb rufe ich nicht an.

Hast du heute Abend was vor?«

»Eigentlich nicht.«

»Kann ich dann bei dir vorbeikommen? Ich muss dir was sagen, aber nicht am Telefon.«

»Klingt ja düster.«

»Nein, es ist nur wichtig. Also?«

416

»Klar, komm ruhig. Ich bin den ganzen Abend zu Hause.«

Claire war eine Stunde später da. Sie hatte ein Leuchten im Gesicht, das Fenwick noch nie bei ihr gesehen hatte. Sie bemerkte das leere Whiskyglas und zog eine Augenbraue hoch.

»Du trinkst allein?«

»Was bleibt mir anderes übrig, ich lebe nun mal allein.«

»Setz dich, Andrew, ich will nicht, dass du gleich aus dem Zimmer stürmst, weil du mit dem, was ich dir sagen werde, nicht klarkommst.« Sie hörte sich an wie die ältere Schwester, die er nie gehabt hatte.

Er ließ sich auf der Kante seines Sessels nieder, wie auf dem Sprung, um gleich die Flucht anzutreten. Sie schloss die Tür und setzte sich dann auf den Boden neben seinen Füßen.

Es war eine bewusst nicht-bedrohliche Position, und er bewunderte sie für ihre manipulativen Fähigkeiten. Obwohl er wusste, dass es Absicht war, fühlte er sich gleich entspannter.

»Es geht um Louise Nightingale.«

»Weißt du, wo sie ist?« Die Hoffnung in seiner Stimme war schmerzlich.

»Nein, leider nicht. Aber ich kann mir denken, warum sie abgetaucht ist.«

»Sie war wegen der Arbeit durcheinander – sie musste mal raus, Abstand gewinnen.«

»Es hat nicht nur mit der Arbeit zu tun, Andrew«, Claire blickte ihn traurig an, die Augen voller Mitgefühl, »auch mit dir.«

»Mit mir? Ich hab sie doch immer unterstützt. Ich hatte …

habe wirklich großen Respekt vor ihr.«

»Das ist ja das Problem.«

Er schüttelte verständnislos den Kopf.

»Du begreifst es wirklich nicht, was? Mein Gott, Andrew, 417

für einen Mann, der wegen seiner raschen Auffassungsgabe bekannt ist, kannst du unglaublich begriffsstutzig sein, wenn Menschen dir nahe kommen. Louise Nightingale ist hoffnungslos in dich verliebt. Deshalb musste sie weg von hier.

Sie weiß, dass du in ihr nur die Polizistin siehst, nicht die Frau. Damit ist sie schließlich nicht mehr klargekommen.«

»Ausgeschlossen, das hätte ich gemerkt.« Er schüttelte ver-neinend den Kopf, doch im selben Moment spulten sich vor seinem inneren Auge Bilder ab: wie er sie völlig verzweifelt im Wald gefunden hatte, wie er in ihrer Wohnung gewesen war, wie er bei der Zusammenarbeit mit ihr eine ungeheure gleiche Wellenlänge gespürt hatte. Er wollte Claire widersprechen, doch mit einem Mal schwante ihm, dass sie Recht haben könnte.

»Woher weißt du das?«

»Der Verdacht kam mir, als ich sie in deiner Gegenwart beobachtet habe, und dann habe ich einmal gesehen, wie sie uns gefolgt ist. Daraufhin habe ich sie zu Hause besucht.«

Claire hatte den Anstand, rot zu werden.

»Du hast sie zur Rede gestellt?« In seiner Stimme schwang Entrüstung, und Claire schaute weg.

»Nicht richtig, aber ich musste es wissen. Ich dachte, ich sei in dich verliebt. Heute ist mir klar, dass da sehr viel Schwärmerei mit im Spiel war – und Lust.« Sie sah ihn aus den Augenwinkeln an und wurde erneut rot. »Ich wollte unbedingt, dass du meine Gefühle erwiderst, aber das hast du nicht getan. Und da keimte in mir der Verdacht, dass zwischen euch beiden irgendwas läuft.«

»Das ist lächerlich. Ich würde nie etwas mit einer Mitarbeiterin anfangen.«

»Heute weiß ich das, und die arme Nightingale hat das auch kapiert, aber sie ist eine Frau, und du bist ein allein ste-418

hender Mann … die meisten Männer würden viel dafür geben, eine Beziehung mit Louise Nightingale zu haben, das kann ich dir versichern.«

»Hat sie es dir gegenüber zugegeben?«

»Nicht mit Worten, aber das, was sie nicht gesagt hat, war deutlich genug.«

»Wieso hast du mir nichts gesagt?«

»Weil sie mich drum gebeten hat, das ist zumindest der Grund, den ich mir damals eingeredet habe, aber wenn ich ehrlich bin, hatte ich Angst davor, dass du sie vielleicht auch lieben könntest. Sieh mich nicht so an.«

»Wie konntest du das nur denken? Ich …« Fenwick stolperte über seine eigenen Worte.

Er wollte sagen, dass er außer Respekt vor ihren berufli-chen Fähigkeiten nichts für sie empfand, doch im selben Augenblick, als ihm die Worte auf der Zunge lagen, wusste er, dass sie gelogen waren. Er empfand mehr für sie, aber diese Empfindung konnte doch nicht Liebe sein. Ihre Unverblümtheit amüsierte ihn, ihr Mut und ihre Intelligenz nötigten ihm enormen Respekt ab, vielleicht gab es da sogar eine gewisse Zuneigung, und er machte sich tatsächlich große Sorgen um sie. Aber das war doch wohl nicht Liebe, oder? Nichts davon erinnerte ihn an die alles verzehrende Leidenschaft, die er für seine Frau empfunden hatte, von dem Augenblick an, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Er merkte, dass er schon länger schwieg. Claire betrachtete ihn mit einem wissenden Ausdruck im Gesicht, als könne sie seine Abwehrmauern durchschauen. Sie stand auf und gab ihm einen Kuss aufs Haar.

»Jetzt weißt du’s. Was du mit dem Wissen, mit deinen Gefühlen anfängst, liegt ganz bei dir. Ich rate dir bloß, gehe klug mit der Information um. Mach was draus. Sei dir selbst 419

gegenüber ehrlich. Das bist du ihr schuldig. Die Liebe einer Frau ist ein kostbares Geschenk, also ignorier es nicht einfach, selbst wenn du, wie bei mir, zu dem Schluss kommst, dass du die Gefühle nicht erwidern kannst.«

Sie ging und ließ einen Fenwick zurück, der die Stelle auf dem Teppich anstarrte, wo sie gesessen hatte.

Er konnte nicht schlafen. Immer wieder gingen ihm Bilder von dem letzten Mal, als er sie gesehen hatte, durch den Kopf.

Ihre Augen, die Lippen, das dunkle Haar, so glänzend, dass es nass aussah. Was sollte er machen? Vernünftig wäre es, die Finger von ihr zu lassen. Sie war zu gefährlich. Er würde alles aufs Spiel setzen, wenn er sie ins Visier nahm. Und dennoch …

Und dennoch bekam er sie nicht aus dem Kopf. Er konnte sie nicht ignorieren, jetzt nicht mehr. Wenn er das Glück hätte, sie zu finden und eine Weile ungestört mit ihr zusammen zu sein, was dann?

Ihr Gesicht verfolgte ihn mehr und mehr. An Fotos bestand kein Mangel, Aufnahmen aus Zeitungsausschnitten, die ihr Aussehen betonten und diese Augen. Er hatte gesehen, wie sie sich mit Tränen füllten, hatte beobachtet, wie sie vor Schmerz und Angst ganz groß wurden. Es waren wunderbare Augen.

Ihm wurde heiß zwischen den Beinen, und er schob die Hand unter die Decke. Es war erregend, an sie zu denken, aufreizender als alles, was ihn in letzter Zeit beschäftigt hatte.

Er malte sich aus, was er alles mit ihr anstellen würde, wenn sie sich endlich gegenüberstanden, und sein Begehren wurde immer stärker. Als er zum Höhepunkt kam, schrie er auf und biss sich in den Handballen, bis es wehtat. Kein Zweifel, er musste sie haben. Sie war eine offene Rechnung. Er musste sich selbst beweisen, dass er alles mit ihr machen konnte, was er wollte, nicht etwa, weil er selbst in dieser Richtung ir-420

gendwelche Zweifel gehabt hätte, sondern weil ein richtiger Mann das eben so machte.

Weil er nicht einschlafen konnte, wusch er sich und goss sich dann ein großes Glas Gin mit einem Schuss Tonic ein.

Er musste hier weg, und schon bald würde er keinen Stütz-punkt mehr brauchen. Sogar hier im Cottage fühlte er sich mittlerweile eingesperrt. Er würde es genauso leicht aufgeben können wie damals sein Elternhaus.

Als die Nachbarn irgendwann fragten, wann denn seine Eltern von ihrer spontanen Weltreise zurückkämen, mit der er ihr Verschwinden erklärt hatte, war es Zeit, sich zu verabschieden. Er hatte das Haus mit dem Briefpapier und der gefälschten Unterschrift seines Vaters einem Makler in Telford angeboten.

Als jemand vom Maklerbüro kam, um sich das Haus anzusehen und die Sache perfekt zu machen, erklärte er ihm, seine Eltern seien unterwegs, und schickte dann den unterschriebe-nen Vertrag und die Bankverbindung per Post zu.

Wenn einer vom Maklerbüro anrief, imitierte Wayne die Stimme seines Vaters, was er perfekt eingeübt hatte. Danach waren sie zusammen in das Cottage gezogen. Der erste Winter war ruhig verlaufen. Das Feuer im Kamin schützte gegen die Eiseskälte, und sie lebten sparsam von dem Geld, das sie vom Konto seines Vaters abhoben. Sämtliche Daueraufträge waren gekündigt worden, und die Makler zahlten die Raten.

Er hatte an alles gedacht.

Als ihnen dann doch allmählich das Geld ausging, nahm Wayne ganz in der Nähe einen Job in der Computerabteilung einer Firma an. Er war tüchtig, und man bot ihm eine Fest-anstellung an. Es war eine langweilige Arbeit, aber gut bezahlt, und er besuchte Abendkurse, um sich zu qualifizieren.

Nach einem Jahr wurde er befördert und verdiente richtig Geld.

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Eine Zeitlang hatten sie gut von Waynes Gehalt leben können.

Schließlich waren seine Vergnügungen, mal abgesehen von den Videos, alle kostenlos, doch dann hatte er die Frei-zeitdrogen entdeckt, einfaches Zeug, doch es steigerte seine euphorischen Stimmungen und machte den Depressionen ein Ende. Geld wurde zum Problem. Klauen wäre leicht gewesen, aber er wollte das Risiko nicht eingehen, deshalb kopier-te er Waynes Abschlusszeugnis und suchte sich einen Job.

Damals konnte noch jeder einen Job finden, der halbwegs was vom Programmieren verstand.

Mit Hilfe von kreativ aufgebesserten Lebensläufen fingen sie dann bei einer Firma in Telford an, die Computerspiele entwickelte. Er spezialisierte sich auf Computersicherheit und Wayne auf Entwicklung. Das war die schönste Zeit gewesen.

Er und Wayne waren unverdrossen ihren gemeinsamen Interessen nachgegangen und mit jedem Experiment besser geworden. So hätte das Leben weitergehen können, wenn sie nicht wegen Waynes Dummheit rausgeflogen wären. Von da an war es mit Wayne bergab gegangen, das war ihm jetzt klar.

Sie hatten mit den Prüfungen angefangen, um ihrem Leben wieder ein Ziel zu geben. Er überlegte sich Aufgaben für Wayne: zum Beispiel einen Ort, eine Frau, die eine bestimmte Farbe trug, eine Tageszeit, und Wayne musste die Aufgaben erfüllen. Manchmal lief es auch umgekehrt, und Wayne testete ihn, aber seine Aufgaben waren immer zu leicht. Er war Wayne in jeder Hinsicht überlegen: Technik, Risikobe-reitschaft und Intelligenz.

Bei dem Gedanken fiel ihm erneut seine noch offene Rechnung in Telford ein. Es war ein Geniestreich gewesen, dem Polizisten zu folgen. Natürlich hatte er die Adresse des Taxi-Mädchens schon im Telefonbuch nachgeschlagen, aber 422

es hatte so eine süße Ironie, sich von einem Bullen den Weg zeigen zu lassen.

Er fing an, das Haus auszuräumen, arbeitete sich von oben nach unten durch. Er würde es verkaufen; das Geld konnte er gut gebrauchen, und er hatte die Besitzurkunde. Er würde sich vor seiner Abreise einen Notar suchen, der die Sache erledigen sollte. Es war schon nach zwei Uhr morgens, aber er war nicht müde. Schlaf war weniger eine Notwendigkeit als ein Luxus. Mit Hilfe von ein paar Pillen kam er wochenlang mit nur drei bis vier Stunden pro Nacht aus und fühlte sich morgens frisch. Um vier Uhr hatte er die Sachen ausgesucht, die er mitnehmen würde, und sie in die Satteltaschen seines Motorrads gepackt. Alles andere brannte im Kamin oder steckte in einem Müllsack gleich neben der Hintertür.

Sein Laptop war noch immer mit der Telefonbuchse verbunden. Er wollte ihn gerade wegpacken, als er wieder an die Polizistin dachte. Er musste sie finden, so mühselig das auch war. Erst wenn er sie getötet hatte, konnte er das Land erhobenen Hauptes verlassen. Sie hatte ihm ernsthaft Unannehm-lichkeiten bereitet und musste sterben, damit er sich wieder frei fühlen konnte.

Er zwang sich zur Konzentration und schaltete den PC

ein, als das erste Tageslicht auf den Rand des Sees fiel. Vielleicht lag es an der Klarheit des frühen Morgens oder an der Frische seines Gehirns, aber in diesem Augenblick begriff er mit einem Schlag, dass er mit dem Durchforsten der Dateien seine Zeit vertan hatte. Das war gar nicht nötig. Das Internetcafé, in dem sie gewesen war, gehörte mit Sicherheit einem Computerfreak: Es hatte einen eigenen Server, was höchst ungewöhnlich war und bedeutete, dass das Café einen regist-rierten Standort und eine eigene IP-Adresse hatte, die er herausfinden konnte. Die zwei Jahre, die er im Bereich IT-423

Sicherheit gearbeitet hatte, waren also doch nicht vergeblich gewesen. Es war zwar schon über ein Jahr her, dass er derlei Suchaktionen gemacht hatte, aber so etwas verlernte man nicht.

Er dehnte die Finger, dass die Knöchel knackten, und beugte sich dann über die Tastatur. Die Jagd war eröffnet. Er würde den Standort des Internetcafés ausfindig machen, die Sache in Telford erledigen und dann die Polizistin aufspüren.

Ein Sonnenstrahl drang durch das offene Fenster, und er wusste plötzlich genau, dass es ein ganz besonderer Tag werden würde.

424

Kapitel sechsundzwanzig

Nightingale erwachte spät, blieb aber noch liegen und starrte auf die Schatten, die das Sonnenlicht auf die Schlafzimmerwände warf. Körperlich fühlte sie sich hervorra-gend, aber sie war ruhelos. Nach dem Aufstehen ging sie mit einer Tasse schwarzem Kaffee in den Garten und sah, dass zwischen ihren Stangenbohnen schon wieder Unkraut wucherte. Über zwei Dutzend Schnecken waren im Vollrausch in den mit Bier gefüllten Fallen ertrunken, die sie aufgestellt hatte, und Vögel hatten am Salbei herumgepickt. Sie machte sich daran, die Nebengebäude der Farm zu erkunden, wie jemand, der am Strand das Treibgut durchsucht, um sich die Zeit zu vertreiben. In der ehemaligen Käserei waren alte Äpfel zu einer eingetrockneten braunen Masse verrottet. Der süße Mostgeruch, der unter dem Staub verblieben war, hatte Hunderte von Schwalbenschwanz-Schmetterlingen angelockt, die nun wie ein bunter Teppich tot auf dem verdorrten Obst lagen. Neben den Schmetterlingen entdeckte Nightingale einen alten Koffer, den sie ins Freie schleppte.

Es war eigentlich eine Reisetruhe, in der ihre Tante aus-rangierte Kleidung aufbewahrt hatte. Sie öffnete sie und verteilte den Inhalt auf eine Decke. Ganz unten, unter vergilbten Seidenunterröcken, fand sie eine lederbezogene Schatulle voller Fotos und Bündel von Briefen, die mit Bändern zusammengebunden waren. Nach kurzen Bedenken siegte die Neugier, und sie machte sich an die Durchsicht.

425

Das erste Foto zeigte drei Personen beim Picknick – ihre Tante, ihren Vater und Lulu. Auf dem nächsten, auf dessen Rückseite »Weihnachten« stand, waren ihre Tante und ihr Vater zu sehen, der aus vollem Halse lachte. Nightingale blinzelte fest, bevor sie das Foto schnell mit einem anderen bedeckte, das jedem Anflug von Tränen ein Ende bereitete.

Auf dem Schwarzweißbild küsste ihr Vater Lulu mitten auf den Mund. Dem Datum auf der Rückseite nach zu schließen, war es dasselbe Jahr, in dem ihre Eltern geheiratet hatten. Auf einem anderen Foto saß Lulu gegen ihn gelehnt, ihr Kopf ruhte entspannt unter seinem Kinn, und sie blickte ernst, aber nicht traurig. Die Hände ihres Vaters lagen auf Lulus gewölbtem Bauch. Kein Zweifel: Sie war schwanger.

Nightingale starrte in die Augen ihres Vaters und erlebte plötzlich einen überraschenden Zornesausbruch. Sie hatte die Ehe ihrer Eltern als eine Beziehung gesehen, die von sachlicher Akzeptanz geprägt war, nüchtern und bequem, durchsetzt von gelegentlichen Streitereien. Beschämt wurde ihr klar, dass sie keine Ahnung gehabt hatte, woran die Liebe ihrer Eltern gescheitert war.

Sie riss das Band vom ersten Bündel Briefe, die, wie sie feststellte, aus demselben Zeitraum stammten wie die Fotos.

In einem schrieb Tante Ruth an ihren Bruder: Lieber Henry,

hoffe, Dir geht’s gut. Du hast uns am Wochenende gefehlt –

das heißt, Mutter hast Du gefehlt. Es war ihr Geburtstag, und Du hattest versprochen zu kommen. Aber genug davon.

Ich möchte mich nicht auch noch unter die vielen Nörgler ein-reihen. Hoffentlich ist das nicht erblich!

Wie geht’s Mary, ist ihr morgens immer noch so oft schlecht?

Mutter meint, es werden Zwillinge – stell Dich schon mal 426

drauf ein, von solchen Dingen versteht sie nämlich was.

Lulu fragt noch immer nach Dir. Ich weiß, Du magst es nicht, wenn ich von ihr schreibe, aber sie ist meine Freundin, und ich kann nur schwer mit ansehen, wie sie sich Hoffnungen macht.

Du bist ihr eine Erklärung schuldig. Es geht ihr nicht gut, und ihre Arbeit leidet darunter. Du könntest ihr wenigstens einen Abschiedsbrief schreiben, damit sie anfangen kann, über Dich hinwegzukommen.

Die träge Handschrift ihres Vaters füllte den Raum am Ende des Briefes: Nachricht erhalten und verstanden.

Ungeduldig durchsuchte sie die übrige Korrespondenz und fand eine Notiz, die drei Monate später geschrieben worden war.

Liebe Ruth,

ich werde für ein paar Wochen auf Besuch kommen. Mary ist zurzeit etwas schwermütig und will zu ihren Eltern – ein grässlicher Gedanke, dass ich mitmüsste, und, ehrlich gesagt, eine Pause würde mir gut tun. Die Ehe ist ein hartes Brot, und wir haben noch nicht mal Kinder. Herr, stehe uns bei.

Was soll ich nur mit zweien anfangen? Eins reicht schon. Es ist ein Albtraum.

Wieder wurden Nightingales Augen feucht. Zweitgeborenes Kind, Mädchen. Sie hatte nie das Gefühl gehabt, gewollt zu sein, und die kalten Worte ihres Vaters taten weh. Sie blinzelte und las weiter. In der letzten Zeile wurde Lulu erwähnt.

Lulu hat mich auf der Arbeit angerufen. Sei nicht böse, aber ich habe gesagt, ich würde mich mit ihr treffen. Nur um zu reden, um einiges zu klären. Sie hat mir erzählt, dass sie den Sommer 427

bei Dir verbringt. Das ist sehr lieb von Dir. Ich weiß, ich habe mich nicht gut benommen. Ich war zu weich, das ist das Problem, aber diesmal bin ich wirklich zerknirscht. Ich habe ihr wehgetan, ja, aber auch Dir, und das schmerzt am meisten. Ich wür-de gern wieder alles in Ordnung bringen, aber ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Du wirst mir doch beistehen, nicht wahr? Du bist ihr eine gute Freundin, und ich brauche Dich sehr. Ich kann es kaum erwarten, Euch wieder zu sehen – nächsten Dienstag komme ich.

Nightingale versuchte, den aufsteigenden Zorn auf ihren Vater niederzukämpfen. Er hatte alles auf den Schultern seiner jüngeren Schwester abgeladen, sie sollte die Dinge in Ordnung bringen, sich sogar um seine schwangere Exgeliebte kümmern, und er hatte sich nicht mal entschuldigt. Die emotionale Erpressung in dem Brief war unübersehbar.

Und was war aus ihrer eigenen Mutter geworden, die mit Zwillingen schwanger war? Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand Nightingale Mitleid für sie. Das Band um das dritte und letzte Bündel Briefe war zu einem festen Knoten verschnürt, und sie brauchte einige Minuten, ihn zu lösen. Das Datum des ersten Briefes verriet ihr sofort, dass er drei Tage vor ihrer Geburt geschrieben worden war.

Ruth, ich brauche Dich. Mary ist in zwei Wochen so weit, aber sie will das Kind unbedingt zu Hause bekommen.

Komm zurück und bleib bei uns. Es tut mir Leid, dass ich Deine Ferien unterbreche, aber bitte komm!

Ansonsten waren keine Briefe von ihrem Vater mehr dabei. Ein vergilbter Zeitungsausschnitt verkündete die Geburt von Simon John und Diane Nightingale am 3. September.

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Zum Schluss stieß sie auf drei Briefe, die noch in den Umschlägen steckten und alle auf blasslila Papier geschrieben waren. Nightingale betrachtete die Briefmarken. Sie waren in dem Herbst nach ihrer Geburt in London abgestempelt worden.

Liebe Ruth, danke für Deinen Brief. Mir geht es eigentlich ganz gut, und ich bin froh, dass alle wohlauf sind. Nein, ich habe keine Nachricht für Henry, und ich möchte wirklich nicht, dass du ihm meine Anschrift gibst. Ich habe mich um einen Job in einer Privatgalerie beworben. Nichts Tolles, aber der Besitzer macht auf mich einen ganz anständigen Eindruck …

Lulu schien ihr Leben im Griff zu haben. Was war aus dem Baby geworden? Vielleicht war es zur Adoption freigegeben worden. Ihr Mitgefühl für Lulu ließ nach, als sie die restlichen Briefe öffnete.

Liebe Ruth, großartige Neuigkeiten. Roger – das ist der Ga-lerist – hat Interesse an meiner Arbeit geäußert. Er ist sehr freundlich …

Es kam noch sehr viel mehr über Roger, und Nightingale überflog das Blatt, nur daran interessiert, wie Lulu ohne ihr Baby klarkam, aber das Kind wurde mit keinem Wort er-wähnt.

Liebe Ruth, Du musst mich nicht ständig auf dem Laufenden halten. Es wäre mir sogar lieber, wenn Du es bleiben ließest.

Ich habe in der Woche vor Weihnachten eine Ausstellung.

Kommst Du?

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Das letzte Blatt in dem Bündel war ein Ausschnitt aus einer Illustrierten aus dem Jahr darauf. Es war ein Porträtfoto von Miss Lulu Bullock zum Anlass ihrer Verlobung mit Mr Roger Appleby, dem Sohn von Colonel und Mrs A. Appleby aus Windsor. Lulu sah zauberhaft aus, und der Verlobungsring war so groß, dass er für ihre Hand fast zu schwer wirkte.

Also keinerlei Reue.

Nightingale packte die Briefe wieder zusammen und war seltsam enttäuscht. Die Abenteuerlust, mit der sie sich auf diese Erkundung gemacht hatte, war verflogen, sie war erschöpft und spürte, dass sie Kopfschmerzen bekam. In der Nacht konnte sie lange nicht einschlafen, und als ihr schließ-

lich doch die Augen zufielen, träumte sie von verlassenen, weinenden Kindern und vom Lachen ihres Vaters hinter einer Reihe verschlossener Türen. Um ein Uhr morgens holte sie sich ein frisches Glas Wasser und lag wieder lange wach, hörte die Uhr ihres Großvaters die Stunden schlagen. Irgendwann nach drei fiel sie wieder in einen unruhigen Schlummer, in dem sie von Träumen aus ihrer Kindheit heimgesucht wurde. Als sie mühsam wieder aufwachte, san-gen die ersten Vögel.

Nach dem Frühstück joggte Nightingale lange oben auf den Klippen, ließ sich anschließend aufs harte Seegras fallen und starrte in den Himmel. Körperlich war sie so fit wie seit Jahren nicht mehr. Sie war nicht mehr knochig, sondern hatte geschmeidige Muskeln unter einer braun gebrannten Haut.

Ihr Gesicht schien um Jahre verjüngt, und von den Anspan-nungsfalten, die sie nie wieder loszuwerden befürchtet hatte, war nichts mehr zu sehen. Sie war nicht gewillt, wieder zu einem nervösen Wrack zu werden.

Zurück im Haus trank sie einen halben Liter Orangensaft und machte sich dann an die Gartenarbeit, den Kopf voller 430

bitterer Kindheitserinnerungen. Sie war ein kräftiges Kind gewesen, im Gegensatz zu ihrem kränklichen Bruder. Simon war wie etwas Kostbares und Zartes behandelt worden, während sie die Zähe gewesen war, von der man erwartete, dass sie ihr Leben ohne Probleme bewältigte.

Zuerst hatte sie versucht, sich die Zuneigung ihrer Eltern dadurch zu verdienen, dass sie das klügste und bravste Kind der Welt war. Gut in der Schule, Auszeichnungen bei den Pfadfindern, Schwimmpokale, Korbballtrophäen, sie hatte alles nach Hause gebracht. Und es hatte nichts geändert. Tropfen fielen auf die Blätter der Sonnenblumen, die sie gerade hoch-band. Sie sagte sich, es sei Schweiß, und schniefte laut.

Als es nichts gebracht hatte, die beste Tochter der Welt zu sein, war sie die schlechteste geworden. Eine Rebellin, fle-gelhaft, unordentlich, schwierig. Vor ihrem vierzehnten Le-bensjahr war sie schon von zwei Schulen geflogen, und ihre Mutter hatte die Hoffnung aufgegeben, dass aus ihrer Tochter einmal etwas Anständiges werden würde. Ihr Vater war ihr mit unterkühltem Humor begegnet, wenn sie im Grunde nur mal in den Arm genommen werden wollte. Mehr wäre gar nicht nötig gewesen, ein bisschen Wärme von ihm und ihrer Mutter, Mary, der Eiskönigin.

Plötzlich kam ihr die Erinnerung an ein Familienpicknick.

Sie war von einer Wespe gestochen worden, und ihre Tante und ihr Vater hatten sich besorgt um sie gekümmert, den Stich ausgesaugt, Salbe drauf geschmiert, sie mit dem Versprechen getröstet, ihr ein Eis zu kaufen. Ihre Tante hatte sie fest in beide Arme genommen und die geschwollene Hand geküsst, damit sie nicht mehr so wehtat, doch ihre Mutter hatte sie weggezogen. »Meine Güte, nun mach nicht so ein Getue um sie. Sie ist sowieso schon viel zu verwöhnt!« Sie war acht Jahre alt gewesen.

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Wieder musste Nightingale blinzeln und stellte dann frische Schneckenfallen auf, bis ein kräftiger Westwind eine Regenfront herantrieb, die die Farm mit einem undurch-dringlichen Vorhang aus Wasser umhüllte. Trotzdem hatte sie das dringende Bedürfnis, einen Spaziergang zu machen, zog sich ihre Regenjacke über und trat nach draußen. Der Regen prasselte ohrenbetäubend auf sie nieder. Er hatte die Wucht und Dichte einer Massagedusche, und sie gab ihren ursprünglichen Plan auf, zur Klippe hinaufzugehen und das Unwetter in der Bucht zu beobachten. Stattdessen schlug sie den Weg zu dem kleinen Dorf und der Kirche ein.

Amelia arrangierte gerade die Blumen auf dem Altar. Die schwere Eichentür knarrte, als Nightingale sie aufzog, und Amelia fuhr herum. Nightingale schob ihre Kapuze zurück und winkte beruhigend. Ihr dunkles Haar klebte am Kopf, zersaust und wieder länger. Amelia öffnete erschrocken den Mund. Ihre Hand zuckte nach oben, als wollte sie einen Schlag abwehren, dann beruhigte sich ihr Gesicht.

»Louise, Sie haben mich erschreckt.« Sie versuchte zu lä-

cheln, doch ihre Augen blieben weiterhin groß und starr.

»Entschuldigung.« Nightingale ging über die Karofliesen des Mittelganges und wich dabei automatisch der abgewetz-ten Grabplatte aus Messing aus. »Ich musste mal aus dem Haus.« Amelia starrte sie noch immer an und hatte die Blumen vergessen, während Wasser über das Altartuch rann und auf die Fliesen tropfte. »Kann ich Ihnen helfen?«

Amelia drehte sich abrupt um und wischte mit ihrer Schürze über den größer werdenden Fleck.

»Ich muss nur noch zwei Gestecke machen, Danke.« Sie hielt Nightingale den Rücken zugewandt, während sie sprach, doch ihr Körper strahlte Abwehr aus, als sei sie bei irgendeiner Taktlosigkeit ertappt worden.

432

Nightingale schüttelte verwundert den Kopf und zog sich zum Taufbecken mit seinem kraftvollen pantheistischen Relief zurück. Sie ließ die Fingerspitzen darüber gleiten. Es hatte etwas Ursprüngliches an sich. Sie war überzeugt, dass Lulu trotz ihrer eigenartigen Lebensweise und sonderbaren Vorstellungen dieses Taufbecken, das ja heiliges Wasser aufnehmen sollte, mit großer Frömmigkeit gestaltet hatte. Hinter ihr hastete Amelia umher. Vielleicht lag es an dem düsteren Tag oder an einer übellaunigen Reaktion auf das Wetter, aber Nightingale spürte, wie Ärger in ihr aufstieg. Sie musste an die Geschichte von Maria und Martha denken.

Amelia war wie Martha, fleißig und gewissenhaft, man konnte sich auf sie verlassen, aber sie wusste nicht, worauf es wirklich ankam.

»Fertig!« Amelia stellte ein Blumenarrangement unter das Taufbecken und trat zufrieden einen Schritt zurück. »Um diese Jahreszeit kann man keinen Rittersporn nehmen. Der hält sich einfach nicht. Das hab ich Lily gesagt, als sie die Blumen gebracht hat, aber sie wollte nichts davon hören. Die Chrysanthemen hier sind viel praktischer.«

Nightingale warf einen Blick auf die Wolke aus robusten rotbraunen Blüten und sah rasch weg. Wieder fuhr sie mit den Fingern über das Relief.

»Es gefällt mir. Irgendwie spricht es mich an.«

Nightingales schlichte Feststellung löste bei Amelia ein nervöses Kichern aus.

»Ja, es ist sehr hübsch«, sagte sie, den Kopf geneigt. Sie zupfte an den Blumen herum, machte sich unnötig mit ihren Wurstfingern daran zu schaffen. Nightingale war sicher, dass Amelia ihr nur nicht in die Augen schauen wollte, und ihre berufliche Neugier war augenblicklich geweckt.

»Was für ein Mensch war Lulu?«

433

Amelia drehte Nightingale den Rücken zu und nahm ihren Mantel von einer Kirchenbank.

»Warum fragen Sie das?«

Irgendetwas, ein Instinkt oder ein Gedanke, der so tief in ihrem Unterbewusstsein vergraben war, dass er noch nicht wirklich Gestalt angenommen hatte, veranlasste Nightingale, so zu antworten, als wüsste sie weit mehr, als es der Fall war.

»Was glauben Sie, warum ich das frage? Habe ich denn nicht das Recht, es zu wissen?«

Der Zorn und der Schmerz in ihrer Stimme überraschten sie beide. Amelia wandte sich ihr zu, hielt aber die Augen auf ihre Handtasche gerichtet, an deren Verschluss sie herum-fummelte.

»Das ist alles so lange her, Louise. Sie sind jetzt aufgeb-racht, aber ich halte es für das Beste, die Vergangenheit ruhen zu lassen.«

»Aber es ist meine Vergangenheit, und ich habe doch wohl das Recht, alles zu erfahren. Meine Eltern sind tot, also wem könnte es noch schaden? Sie sind Christin. Wahrheit und Mitgefühl müssten Ihnen doch wichtig sein. Wenn Sie mir nicht mehr zu sagen haben, dann schwören Sie es, jetzt, hier in der Kirche.«

Endlich blickte Amelia sie an, und Nightingale war beschämt, als sie Tränen in ihren Augen sah.

»Das kann ich nicht; es steht mir nicht zu, Ihnen die Wahrheit zu sagen. Ich habe mein Wort gegeben, und auch wenn der Mensch, dem ich mein Wort gegeben habe, nicht mehr lebt, kann ich es trotzdem nicht brechen.«

»Können Sie es nicht oder wollen Sie es nicht?« Jegliches Mitleid, das sie beim Anblick der alten Frau empfunden hatte, verpuffte in einem Anfall von Frustration, der ihre Augen auflodern ließ. Amelia machte einen Schritt zurück, die 434

Handtasche schützend vor die Brust gehoben. Nightingale spürte, dass ihr Widerstand schwächer wurde, und hakte nach, vermischte Lügen mit noch unausgegorenen Gedanken.

»Denken Sie, ich wüsste es nicht schon längst? So dumm bin ich nicht! Warum können Sie mir nicht einfach die Wahrheit bestätigen?

Wochenlang haben Sie so getan, als wären Sie meine Freundin, aber die ganze Zeit über haben Sie mir Dinge ver-schwiegen, wichtige Dinge, die zu wissen ich ein Recht ha-be. Ich musste Nachforschungen anstellen und herumspeku-lieren. Nett ist das nicht, oder? Nicht zu fassen, dass Sie so grausam sein können.«

Während sie sprach, merkte Nightingale mit Entsetzen, dass ihre angeblichen Gefühle tatsächlich Realität wurden.

Amelias Reaktion hatte ihr Angst gemacht. Sie konnte nicht mehr klar sehen, weil ihr Tränen in die Augen schossen, obwohl sie zu wütend war, um weinen zu wollen.

»Wie konnten Sie nur?« Sie schleuderte die Worte nach hinten über die Schulter in Amelias aschfahles Gesicht und floh aus der Kirche.

Sofort durchnässte der Regen ihr Haar und kühlte sie ab.

Sie streifte sich die Kapuze über und rannte weiter, froh, dass ihre Tränen fortgespült wurden. Als sie Mill Farm schließlich erreichte, war sie erschöpft und bereute ihren Ausbruch in der Kirche aus tiefstem Herzen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie hatte sich manipulativer Vernehmungsmethoden bedient und war dann selbst so von ihnen mitgerissen worden, dass sie das so schnell nicht vergessen würde. Amelia musste sie ja für gefährlich labil halten. Mit ihrer Freundschaft war es vermutlich vorbei. Sie bedauerte das nicht ganz so sehr, wie sie es eigentlich hätte tun müssen, denn die Frau 435

war schließlich sehr nett zu ihr gewesen, aber ein schlechtes Gewissen hatte sie trotzdem.

Bei dem Dauerregen wurde es bald dunkel, und sie ging lächerlich früh ins Bett. Ein unbekanntes Geräusch schreckte sie auf. Im Licht der Taschenlampe, die sie immer griffbereit hatte, sah sie auf die Uhr: zehn vor zehn. Vielleicht hatte eine heftige Windböe sie aufgeweckt, aber sie wusste, dass sie nicht wieder einschlafen würde, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, dass sie allein war.

Als sie gerade die Treppe hinuntergehen wollte, hörte sie ein lautes Scheppern. Eindeutig das Geräusch eines alten Melkeimers, der umgestoßen worden war, und sie wusste genau, wo sie ihn stehen gelassen hatte, neben der Hintertür.

Sie schaltete die Taschenlampe aus und wartete ab, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten.

Das Dröhnen des Blutes in ihren Ohren ahmte das Ge-räusch des Regens draußen nach, als sie leise die Treppe hi-nunterschlich und dabei darauf achtete, nicht auf die morschen Eckstufen zu treten, die ihr Gewicht nicht mehr tragen würden. Draußen fiel von der Vorderseite des Hauses schwaches Licht in den Garten. Drinnen war die Dunkelheit undurchdringlich. Nightingale schob sich vorwärts, ertastete mit der linken Hand den Küchentisch und die Stühle, während sie mit der Rechten fest die Taschenlampe umklammert hielt.

Ein jähes Klopfen an der Hintertür ließ sie fast vor Panik aufschreien.

»Louise? Louise, sind Sie da?« Es war eine Frauenstimme.

Amelia.

Vor Erleichterung leise fluchend, schaltete Nightingale die Taschenlampe wieder an und öffnete die Tür. Eine Alkohol-fahne schlug ihr entgegen.

»Gott sei Dank! Das ganze Haus war dunkel, und ich 436

dachte schon … Ach, ist ja auch egal, was ich gedacht habe.

Sie sind wohlauf, Gott sei Dank. Warten Sie, ich geh schnell ums Haus und mach das Licht an meinem Auto aus, bevor die Batterie den Geist aufgibt.«

Sie trippelte mit der Taschenlampe davon. Nightingale schaltete die Lampen ein und war gerade dabei, den Ofen wieder anzuheizen, als ihre Besucherin zurückkam.

»Sie sind ja pitschnass, Amelia. Setzen Sie sich hierher und wärmen Sie sich auf. Tee oder einen Grog?«

»Lieber einen Grog, bitte.«

Was hatte sie anderes erwartet?

Amelia streckte Hände und Füße zum Ofen und seufzte tief.

»Das tut gut.«

»Was um alles in der Welt machen Sie hier?«

»Ich hab mir Sorgen um Sie gemacht. Ich musste daran denken, was Sie gesagt haben, das mit dem Mitgefühl, das ich hätte zeigen sollen. Und Sie waren richtig außer sich. Je mehr ich an Sie gedacht habe, desto besorgter wurde ich. Schließ-

lich hab ich es nicht mehr ausgehalten und musste mich einfach vergewissern, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt komme ich mir natürlich albern vor, und anscheinend hab ich Sie auch noch aus dem Bett geholt.«

»Das macht nichts. Hier, nehmen Sie das.« Das Wasser war noch nicht heiß, aber schon warm genug.

Amelia nahm einen so tiefen Schluck, dass Nightingale sich bemüßigt sah, ihr gleich wieder nachzuschenken. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil ihr Ausbruch eine über sechzigjährige Frau dazu veranlasst hatte, in einer regneri-schen Nacht in der Dunkelheit über unbefestigte Straßen zu fahren. Aber so groß war ihre Reue auch wieder nicht, dass 437

sie den Versuch unterlassen hätte, aus der Sorge ihrer Besucherin Kapital zu schlagen.

»Sind Sie gekommen, um es mir zu erzählen?«

»Aber Sie wissen es doch schon.«

»Ich muss es aus Ihrem Munde hören, um es wirklich glauben zu können.«

»Ich hab jetzt so lange nichts gesagt, nicht mal Ruth gegenüber, obwohl ich sicher bin, dass Ihr Vater es ihr erzählt hat.

Wie sind Sie dahinter gekommen?«

»Ich hab die Papiere meiner Tante durchgesehen, Fotos entdeckt, die Daten, die mir bekannt sind, mit denjenigen in ihren Tagebüchern verglichen.«

Amelia nahm wieder einen langen Schluck und drückte sich dann das warme Glas an die Stirn.

»Ich hätte es wissen müssen. Sie sind so gescheit, genau wie Ihre Mutter. Es war klar, dass Sie es herausfinden würden. Na ja, zumindest breche ich mein Wort nicht, wenn Sie es schon wissen. Ich musste es Ihrem Vater in der Kirche auf die Bibel schwören, ein paar Tage nach Ihrer Geburt. Er hat mich eine Zeitlang ziemlich regelmäßig besucht.« Sie lächelte wehmütig und sagte dann traurig: »Aber seine Besuche wurden immer seltener und hörten bald ganz auf.«

Amelia trank erneut einen Schluck und schien verblüfft, wie wenig noch im Glas war. Nightingale machte für sie beide einen frischen Grog, einen schwachen für sich, einen kräftigen für Amelia, und stellte außerdem Käse und Kräcker auf den Tisch.

»Erzählen Sie weiter.«

»Er war wochenlang völlig aufgewühlt, vor Trauer außer sich. Ich kann das gar nicht beschreiben. Wir haben uns oft einfach in den Armen gelegen und gemeinsam geweint. Als er in jener Nacht zu mir ins Haus kam, war George natürlich 438

mal wieder unterwegs, wie ja fast immer. Ich dachte, er wollte Lulu besuchen, aber nein, er wollte zu mir.« Sie lächelte triumphierend. »Ich hab ihn nur in meinen Armen gehalten, bis er sprechen konnte.«

Nightingale lehnte sich aus dem kreisrunden Lampen-schein zurück, sodass ihr Gesicht im Schatten lag und ihre verwunderte Miene nicht zu erkennen war. Amelias Worte waren ihr ein Rätsel, aber sie schwieg, weil sie fürchtete, jede Frage könnte den Redefluss zum Versiegen bringen. Amelia trank ihren Rum, und ihre Augen leuchteten, während sie ihre Erinnerungen durchlebte.

»Wissen Sie, es tut so gut, endlich reden zu können. Seit Ihrer Ankunft habe ich an nichts anderes mehr gedacht. In meinem Kopf überschlagen sich die Erinnerungen. Als Sie an dem ersten Sonntag in die Kirche gekommen sind, dachte ich, ich kriege einen Herzinfarkt.«

»Wussten Sie gleich, wer ich bin?«

»Aber natürlich. Father Patrick hatte uns gesagt, dass Henrys Tochter vielleicht kommen würde, und als Sie reinkamen, habe ich sie sofort erkannt. Sie sehen genauso aus wie sie.

Wirklich erstaunlich. Die Mundpartie ist ähnlich wie die von Ihrem Vater, und Sie haben seine Augen, aber ansonsten schlagen Sie ganz nach ihr. Obwohl Sie groß sind und Lulu ein zierliches kleines Ding war …«

Plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Ihr Panikgefühl war so stark, dass sie auf einmal anfing zu keuchen und ihre Atemzüge nicht mehr genügend Sauerstoff in die Lunge beförderten.

Amelia merkte es nicht. Ihre Wangen waren rosig, ihre Augen glänzten, während sie weiterplapperte. Nightingale brachte ihre Atmung unter Kontrolle und bannte jeden Ausdruck aus ihrem Gesicht.

»Louise?«

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Nightingale streckte den Arm aus, um einen Schuss Rum in ihren schwachen Grog zu gießen, und erschrak über das unkontrollierte Zittern ihrer Hände.

»Louise, alles in Ordnung? Sie zittern ja am ganzen Körper.«

Sie brachte ein Nicken zustande, von dem sie hoffte, dass es überzeugend wirkte, doch Amelias Miene verriet ihr, dass dem nicht so war. Auch ein kräftiger Schluck Grog half nichts.

»Mir geht’s gut.« Nur dass ihre Stimme jetzt das Gegenteil bekundete.

»Sie wussten es gar nicht.« Amelia war entsetzt. »Sie haben mich reingelegt!«

Der anklagende Ton brachte Nightingale wieder ein bisschen zur Besinnung.

»Das stimmt nicht. Ich hatte rausgefunden, dass die Affäre meines Vaters auch mit seiner Hochzeit noch nicht zu Ende war und dass ich … dass er … aber nicht, dass ich … dass …«

Ihre Stimme erstarb, und sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Ich verstehe das nicht. Ich habe doch meine Geburtsurkunde. Das ist unmöglich.«

Die Empörung der älteren Frau verlor sich, als sie sah, wie unglücklich Nightingale war. Sie streckte eine von der Arbeit gerötete Hand aus und tätschelte die von Nightingale, die noch immer das Grogglas umklammerte.

»Haben Sie denn nie etwas geahnt? Hatten Sie nie irgendwelche Zweifel?«

Nightingale erinnerte sich an ihr Gefühl, nicht dazuzuge-hören, an die ständigen Auseinandersetzungen mit ihren Eltern, an die eisige Korrektheit ihrer Mutter, ihre verweigerte Liebe. Sie nickte.

»Als ich in die Pubertät kam – aber ich dachte, sie behan-440

delten mich deshalb so, weil ich sie enttäuscht hatte.« Sie ließ den Kopf auf das raue Holz der Tischplatte sinken. »Oh Gott!

Einmal hab ich sogar meiner Mutter vorgeworfen, sie würde nur so tun, als sei ich ihre Tochter.« Bei der Erinnerung daran durchlief es sie kalt, und sie fröstelte. »Da hat sie mir die Geburtsurkunde unter die Nase gehalten.«