Fenwick warf Bess einen entnervten Blick zu, aber sie achtete nicht auf ihn, und zu seiner Überraschung antwortete Nightingale.

»Ich bin traurig, weil ich zwei Menschen verloren habe und sie vermisse.«

»Sind sie tot?« Bess’ Stimme hatte sich zu einem Flüsterton gesenkt. Chris hörte aufmerksam zu.

»Ja.«

»Hatten Sie sie lieb?«

Nightingale holte tief Luft, und Fenwick betrachtete sie mit neuer Sorge, aber sie schien sich im Griff zu haben.

»Ja.«

»Das ist wirklich traurig.« Bess ging auf die andere Seite von Nightingale und nahm ihre Hand. Chris ergriff die seines Vaters, und zu viert gingen sie schweigend weiter, miteinander verbunden, bis sie zu Fenwicks Wagen kamen.

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»So, ihr zwei, rein mit euch. Vorher Stiefel aus. Nein, Chris … nicht in die Pfütze … Ich hätt’s mir denken können.« Er hob seinen Sohn hoch, weg von weiteren Versuchungen, und zog ihm die Stiefel aus.

»Kann sie noch mit zu uns kommen?« Es war eine seltsame Frage von seinem distanzierten und reservierten Sohn.

»Sie hat auch einen Namen. Die Dame heißt Sergeant Nightingale, und sie möchte bestimmt nach Hause.«

»Louise.« Alle drei starrten sie an. »Sagt Louise zu mir.«

»Kann Louise noch mit zu uns? Nur zum Tee, Daddy?«

Bess war so hartnäckig wie ihr Bruder.

Fenwick flüchtete sich in das umständliche Einpacken und Verstauen der Stiefel. Es wäre völlig falsch. Für ihn gab es eine klare Trennlinie zwischen Arbeit und Privatleben, erst recht, was die Kinder anging. Doch die Vorstellung, Nightingale in diesem Zustand allein nach Haus zu schicken, behagte ihm gar nicht. Sie ersparte ihm eine Antwort.

»Das ist sehr lieb von euch beiden, aber ich muss nach Hause. Vielleicht ein andermal, wenn ich besser aufgelegt bin.«

»Versprochen?« Chris blickte ernst, und Fenwick hätte sie am liebsten gewarnt, dass ein Versprechen, das man seinen Kindern gab, nicht auf die leichte Schulter zu nehmen war.

»Ja, wenn euer Daddy sagt, dass es passt.«

Er fuhr sie um den Wald herum zu ihrem Wagen und sah zu, wie sie die Tür entriegelte.

»Kommen Sie wirklich allein klar?«

»Ja, danke. Ach, Moment noch …« Sie wollte sich den Pullover ausziehen.

»Nein, behalten Sie ihn an. Sie können ihn bei Gelegenheit zurückgeben.«

»Danke. Bis dann.«

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»Bis dann, Nightingale. Passen Sie auf sich auf.«

Er sah zu, wie sie vorsichtig ihren Wagen zurücksetzte und dann in die Dämmerung hineinfuhr.

»So, ihr beiden Hübschen. Wollt ihr immer noch ein Eis?«

»Verdammt!«

Der Mann kam hinter einem Baum hervor und trat wü-

tend gegen einen Stein, der über den Parkplatz flog und den Lack an dem einzigen Auto beschädigte, das noch hier stand.

Es war leicht gewesen, ihr zu folgen, und als er sah, dass sie in den Wald trabte, dachte er, dass das Glück ihm hold wäre, doch als er geparkt und den Helm abgenommen hatte, war sie schon verschwunden. Laufen konnte das Miststück, das musste man ihr lassen. Also hatte er beschlossen zu warten, bis sie wiederkam. Doch dann hatte irgend so ein edler Ritter ihm die Tour vermasselt, und er konnte wieder von vorn anfangen. Eine Polizistin zu entführen war nicht leicht, besonders eine, die praktisch nie ausging.

Normalerweise konnte er sich auf seinen Charme verlassen, mit dem er sie alle betörte, doch die hier war anders, und er konnte verstehen, warum es Griffiths nicht gelungen war, sie in Ruhe zu lassen. Sie stellte die größte Herausforderung dar. Die Frau verließ ihre Wohnung praktisch nur, um zur Arbeit zu gehen, und als er sie einmal im Supermarkt, wo sie die kläglichen Lebensmittel einer Magersüchtigen einkaufte, angesprochen hatte, hatte sie durch ihn hindurchgesehen.

Geduld war nicht gerade seine Stärke. Unter anderen Um-ständen hätte er aufgegeben und sich eine andere gesucht, aber sie war kein Zufallsopfer. Sergeant Louise Nightingale musste für ihre Unverschämtheit büßen. Sie hatte Griffiths ausgetrickst, Geschworene von seiner Schuld überzeugt und so eine perfekte Partnerschaft zerstört. Dafür musste sie ster-84

ben, aber vorher wollte er ihr panische Angst einjagen. Es war eine ungewohnte Taktik, die sowohl seine Kreativität als auch seine Selbstdisziplin auf die Probe stellte, doch der Gedanke, ihr Selbstvertrauen zu zerstören und ihr Leben mit Furcht zu durchdringen, war eine angemessene Entschädigung, zumindest bis jetzt.

Es war ihm ungeheuer wichtig, dass sie vor ihrem Tod Todesangst empfand. Er hatte sein Spiel unauffällig gespielt, passend zu ihrem Stil, doch nun fand er, dass er zu dezent vorging. Sie zeigte keinerlei Anzeichen von Unruhe und hatte nicht einmal ihre Kollegen informiert, dass sie terrorisiert wurde – zumindest war keine Polizei in ihrer Wohnung gewesen und man hatte auch nicht ihren PC sichergestellt. Er würde die Daumenschrauben anziehen, aber zuvor musste er dem armen Wayne das Leben ein bisschen leichter machen.

Eine weitere Fahrt nach Norden in die Gefängnisstadt war erforderlich, danach würde er sich ohne weitere Ablenkung ganz der Polizistin widmen können.

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Kapitel sechs

Mittwochsabends sorgte im Bird in Hand normalerweise der Auftritt einer Stripperin für Schwung. Sasha gefiel Saunders am besten. Die schwabbeligen Oberschenkel verzieh er ihr, weil er einmal ihre Hängebrüste hatte begrap-schen dürfen, als sie beide nicht mehr ganz nüchtern waren.

Die Vorstellung, dass ihm das Vergnügen ein weiteres Mal gewährt werden könnte und vielleicht sogar noch mehr, trieb ihn immer wieder in den Pub, wenn er keine Nachtschicht im Gefängnis hatte.

Leider wurde Saunders bei seinem ersten Besuch im Juni enttäuscht, denn die kleine Bühne war unbeleuchtet und von einer Tänzerin fehlte jede Spur.

»Was ist los?«

»Ärger mit dem Ordnungsamt.« Der Wirt mochte Saunders nicht, wohl aber sein Geld, das er unweigerlich mit vollen Händen ausgab, bis er sturzbetrunken war und nicht mehr allein zur Tür fand.

»Sie waren lang nicht da.«

»Nachtschicht. Ich kann das Geld gebrauchen, und wir sind knapp mit Personal. Deshalb hatte ich gehofft, ich könn-te mich heute ’n bisschen amüsieren.«

Er sah sich um, als würde er überlegen, wieder zu gehen.

Ein Bier und ein Whisky zum Nachspülen tauchten im Nu auf der Theke auf.

»Die Runde geht aufs Haus. Keine Sorge, nächste Woche läuft hier wieder alles normal.«

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Der Wirt sah sich nach der neuen Aushilfe um, die er zum Bierzapfen engagiert hatte und damit sie die Gäste bei Laune hielt, bis die Stripperin wieder auftreten durfte. Er suchte nicht mehr per Inserat nach Serviererinnen. Es war besser, die Mädchen wussten, was von ihnen erwartet wurde.

»Milly! Beweg deinen süßen Hintern hierher und begrüße Mr Saunders, er ist einer unserer nettesten Stammgäste.« Er wandte sich mit einem vielsagenden Blick an den Gefängniswärter. »Sie ist neu – vielleicht haben Sie Glück.«

Nach acht Bier und ebenso vielen Whiskys wusste Saunders, dass er heute kein Glück haben würde. Doch da er in Millys Augen ein verheißungsvolles Funkeln sah, würde er am nächsten Tag wiederkommen. Er hatte fünfzehn Zigaretten gequalmt, und in der fälschlichen Annahme, Milly anzu-machen, hatte er sie mit lüsternen Anzüglichkeiten nur beleidigt. Auf dem Klo pinkelte er sich auf die Schuhe, und als er anschließend verlangte, dass Milly als Stripteasetänzerin ein-sprang, »half« man ihm mit Nachdruck zur Tür.

Auf dem Nachhauseweg kam Saunders an einem indi-schen Imbiss vorbei. Er übergab sich in den Rinnstein, fühlte sich sogleich besser und bestellte ein Rindfleisch-Curry, Reis, Zwiebel-Bhajees, pikante Pappadums und zwei Lamm-Samosas zum Mitnehmen.

Zu Hause in der Küche nahm er die Deckel von den Verpackungen und ging mit dem Essen ins Wohnzimmer. Er hockte sich vor den Fernseher und schlug sich den Magen voll, während er sich bei einem Erotikfilm im Pay-TV aus-malte, was er beim nächsten Mal mit der eingebildeten Bar-dame alles anstellen würde. Um Mitternacht hatten der Alkohol und das schwere Essen Wirkung gezeigt, und er schlief tief und fest, schnarchte mit dem Kopf nach hinten vor dem laufenden Fernseher.

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Draußen kletterte eine große Gestalt über die Gartenmauer, sprang lautlos herunter und huschte zur Hintertür. Sie war unverschlossen, eine lachhafte Nachlässigkeit für einen Gefängniswärter, und führte in eine kleine Küche, die nach Curry, altem Müll und schmutzigem Geschirr stank.

Der Eindringling trug ein dunkles Polohemd und eine schwarze Jeans. Beide Kleidungsstücke waren teuer, ganz im Gegensatz zu den billigen Turnschuhen an seinen Füßen. Er hatte eine längliche Tasche dabei, wie ein altmodischer Arzt-koffer, und er öffnete sie leise. Aus dem Wohnzimmer waren die Geräusche eines Softpornos und Schnarchen zu hören, und er konnte sich lebhaft vorstellen, was für ein Anblick ihn dort erwartete. Er lächelte. Es war kein nettes Lächeln. Es war das Lächeln, das er sich für die Nacht und verdunkelte Räu-me aufsparte. Die Menschen, die es sahen, lebten nur selten noch lange genug, um es zu beschreiben.

Er nahm einen schwarzen Plastikmüllbeutel aus der Tasche und faltete ihn kaum hörbar auseinander. Er zog den Pullover aus, dann die Jeans, die er vorsichtig über die Turnschuhe schob, und verstaute beides in dem Plastikbeutel. Unter den Sachen trug er einen eng sitzenden Gummianzug, der seine Haut streichelte, wenn er sich bewegte. Der Anzug war ebenfalls schwarz, die Latexhandschuhe dagegen hautfarben, aber sie verschwanden gleich darauf unter einem anderen Paar aus feinem schwarzen Leder. Dann setzte er sich die Maske auf, genoss den Geruch des Leders, als es sein Gesicht bedeckte. Er sah sich nach einem Spiegel um. In Schlafzim-mern befanden sich immer Spiegel, in denen er die endgültige Wirkung begutachten konnte, leider nicht in Küchen, aber diese kleine Unannehmlichkeit war zu verkraften. Er wusste, wie er aussah, und der Gedanke füllte ihn mit warmer Energie. Er war der leibhaftige Tod. Er würde das Allerletzte 88

sein, das diese armselige Kreatur zu Gesicht bekam. Er war Gott.

Im Wohnzimmer waren die Vorhänge bereits zugezogen.

Saunders lag lang ausgestreckt wie ein gestrandeter Wal auf dem Sofa, sein behaarter weißer Bauch ragte aus dem offenen Hemd hervor, ein Fuß hing seitlich in den Resten eines dunklen, übel riechenden Currys. Sein Gürtel war offen, seine Hose mit irgendeiner braunen Soße bekleckert. Ein Stückchen Röstzwiebel hatte sich um einen oberen Schnei-dezahn gewickelt. Der Eindringling starrte fasziniert darauf, während dieses Schwein von einem Mann vor ihm grunzend und sabbernd in Gott weiß was für Träumen schwelgte.

Ein heftiger Schlag mit einem schweren Totschläger be-förderte Saunders vom Schlaf in die Bewusstlosigkeit, und der Eindringling machte sich mit sparsamen Bewegungen, die auf gute Vorbereitung und Erfahrung schließen ließen, an die Arbeit. Er klebte Saunders mit einem Stück dickem Packband den Mund zu und fesselte ihm die Hände mit Handschellen auf dem Rücken. Er entblößte ihn von der Taille abwärts, rümpfte angewidert die Nase, als ihm beim Ausziehen der Hose der Körpergeruch entgegenschlug. Die Socken ließ er dem Mann an, eine amüsante Note. So sah das Schwein noch lächerlicher aus. Ein nackter Unterschenkel wurde mit Ny-lonschnur, die in die Haut schneiden würde, wenn Saunders sich zu befreien versuchte, an ein vorderes Bein der Couch gebunden. Den anderen fesselte er mit einem langen Stück Stromkabel an den Heizkörper neben dem Fernseher.

Saunders lag auf dem Rücken, die Beine weit gespreizt, das breite Gesäß auf der Kante des Sofapolsters. Der Mann führte eine weitere Schnur unter den Achseln hindurch und über die Rückenlehne des Sofas, sodass Saunders straff nach hinten gezogen wurde und sich nicht bewegen konnte. Er 89

wollte nicht, dass der Wärter sich zu viel wand, weil das seine Arbeit erschwert hätte. Als er Saunders fest verschnürt hatte, ging er in die dreckige Küche, nahm alles, was er brauchte, aus der Tasche, und legte es vorsichtig neben den Beutel mit seiner Kleidung. Beim Anblick der Staubschicht auf dem Tisch schnalzte er missbilligend mit der Zunge. Er warf einen Berg schmutziger Wäsche aus einer Schüssel auf den Boden und füllte sie mit kaltem Wasser.

Es war herrlich mit anzusehen, wie Saunders rotzend und hustend wieder zu Bewusstsein kam. Er liebte diesen Augenblick, wenn Entsetzen die Verwirrung ablöste, Unglauben folgte, dann wieder Furcht.

»Nng?«

Saunders sträubte sich gegen seine Fesseln, Panik in dem verschwitzten Gesicht. Er zog und wand sich, bis ihm die Schnüre ins Fleisch schnitten. Als er wieder gegen das Polster sackte, war seine Haut bleich und ölig. Eine Sekunde lang fürchtete der Eindringling, der Wärter würde ersticken, und er wollte nicht, dass er so starb, aber der Moment verging, und er entspannte sich wieder ein wenig.

»Hallo, Mr Saunders.« Er sprach im Plauderton, mit sanfter Stimme, aber er wusste, dass seine Augen seine wahren Ge-fühle verraten würden, und er genoss dieses Spiel. »Tja, Sie kennen mich vermutlich nicht, aber ich kenne Sie über einen gemeinsamen Bekannten, der sehr verärgert über Sie ist. Die Liste derjenigen, die da in Frage kommen, ist bestimmt sehr lang, aber ich helfe Ihnen. Der Betreffende ist noch immer hinter Schloss und Riegel.«

Ein Ausdruck der Verwirrung glitt über Saunders’ Gesicht.

»Noch immer zu viele? Na schön, das ist mir ohnehin zu langweilig. Kennen Sie einen netten jungen Mann namens Wayne Griffiths? Ja, genau, stellen Sie sich vor, der gute klei-90

ne Wayne hat Freunde an hoher Stelle. Ich wette, damit haben Sie nicht gerechnet, als Sie anfingen, ihn zu schikanieren und zu misshandeln.«

Saunders wand sich jetzt wieder, seine Augen über dem Knebel quollen hervor. Der Mann lachte, genoss den Anblick.

»Ich habe dieses kleine Szenario geplant, seit er mir von Ihnen erzählt hat, und ich habe mir alle möglichen Raffines-sen überlegt. Leider Gottes können wir nicht alle umsetzen, da wir nicht genug Zeit haben. Im Idealfall würden wir uns einen ganzen Tag amüsieren. Das würde mir Freude machen.«

Saunders versuchte, gegen den Knebel zu schreien. Mit übermenschlicher Anstrengung schnellte er hoch, riss sich dabei die Schienbeine blutig, und das Sofa hüpfte einen Zentimeter hoch in die Luft.

»Hmm, alle Achtung. Sie sind ja doch beweglicher, als ich Ihnen zugetraut hätte. Ich brauche etwas mehr Hilfe. Nicht weglaufen, bin gleich wieder da.«

Er eilte in die Küche und kramte in seiner Ledertasche, während er vor sich hinredete.

»Meine kleine Zaubertasche. Oh, Saunders, Sie wären begeistert, wenn Sie wüssten, was ich alles hier drin habe. Da ist es ja.« Er klang wie ein kleiner Junge, der ein lange vermisstes Spielzeug wiedergefunden hatte.

In ein Kletterseil band er eine Schlinge, die er Saunders über den Kopf streifte. Sie zog sich augenblicklich zu, und als er das andere Ende des Seils um den Treppengeländerpfosten in der Diele gebunden hatte, war Saunders im Gesicht blau angelaufen und rang nach Luft.

Er lockerte die Schlinge ein wenig und wartete geduldig, bis sein Opfer wieder blass war vor Panik.

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»So ist’s besser. Nicht dass Sie mir hier vorzeitig wegster-ben. Wir mögen ja nicht viel Zeit haben, aber die, die wir haben, möchte ich genießen.« Er blickte auf seine neue italienische Uhr.

»Es ist gleich Viertel vor drei, und ich denke nicht, dass Sie vor Schichtbeginn um acht vermisst werden. Wie spät gehen Sie morgens zur Arbeit? Bestimmt immer auf die letzte Minute, damit hätten wir sechs Stunden. Jede Menge Zeit!«

Saunders war in eine verwirrte Benommenheit gefallen, er war erschöpft von dem vorangegangenen Sauerstoffmangel und schien sich vor lauter Angst dumpf in sein Schicksal zu fügen. Der Eindringling spürte, dass weitere Worte, zarte, fast sinnliche Drohungen, die er so oft im Geiste geübt hatte, nicht mehr viel bewirken würden. Er brachte seine Utensilien ins Wohnzimmer und arrangierte sie auf dem Teppich zwischen Fernseher und Couch. Er hielt inne, blickte auf die Pornographie auf dem Bildschirm und musste breit grinsen.

»Ein passender Hintergrund, finden Sie nicht auch? Wenn die Schmerzen zu stark werden, können Sie ja versuchen, sich auf die drei da zu konzentrieren. Aber zunächst möchte ich Ihnen zeigen, was ich zu unserer Unterhaltung mitgebracht habe. Ich habe mir ein einfaches Thema überlegt – ›Do it yourself‹ –, obwohl ich handwerklich nicht sehr begabt bin.

Viel Übung habe ich leider nicht, aber ich glaube kaum, dass uns das den Spaß verderben wird.«

Während er sprach, rückte er seine Requisiten erneut zurecht: drei geschärfte Schraubenzieher, zwei Kneifzangen, Elektrokabel, ein Hammer, eine Bügelsäge und einen kleinen Elektrobohrer.

»So. Es kann losgehen. Die Frage ist nur noch, wo wir anfangen.« Er blickte über die Schulter, kurz abgelenkt durch das Geschehen auf dem Bildschirm.

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»Na, sieh sich das einer an!«, sagte er belustigt. »Inspiration. Dann wollen wir mal.«

Er nahm die Bügelsäge und richtete sein ganzes Augen-merk auf den korpulenten Mann auf der Couch.

Draußen war es schon hell, als er endlich seine Ausrüstung zusammenpackte. Er hatte eine größere Schweinerei veranstaltet, als er beabsichtigt hatte, und es dauerte eine Weile, bis alles wieder sauber war und er ins Bad gehen konnte. Angewidert vom schmutzigen Zustand der Dusche suchte er sich aus der überraschend großen Auswahl im Badezimmerschrank ein Antischuppenshampoo aus. Die Dusche war erfrischend, und er genoss es, anschließend seine sauberen Sachen überzu-ziehen. In den Müllbeutel stopfte er jetzt den blutverschmierten Gummianzug und das Werkzeug. Die Handschuhe waren noch klebrig vom trocknenden Blut, und er hätte sie am liebsten liegen lassen, entschied sich aber vorsichtshalber dagegen. Er fühlte sich unglaublich sicher, als stünde er unter Schutz, aber er musste die Gefahr ja nicht unnötig herausfordern.

Er verließ das Haus um halb acht und verschwand durch den Garten, der total verwahrlost war, ganz wie sein verstorbener Besitzer. Seine Fluchtroute war genau geplant, und er erwischte mühelos den 25er Bus. Als er am Gefängnis vorbeikam, hob er seine Zeitung vors Gesicht, weniger, um sich zu verstecken, als um ein verächtliches Grinsen zu verbergen. Sie würden sich bald fragen, wo Saunders blieb. Wie würde man auf seine Ermordung reagieren? Der Gedanke an ihre Verwirrung und das Entsetzen hatte eine unglaublich erregende Wirkung auf ihn, und er ließ den Blick suchend durch den Bus gleiten. Weiter vorne saß eine Krankenschwester. Er seufzte genüsslich auf, und eine alte Frau gegenüber belohnte ihn mit einem ruhigen Lächeln.

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»Furchtbarer Ort«, sagte sie, und er nickte ernst.

»Voller schrecklicher Leute«, pflichtete er ihr bei.

Irgendetwas in seinem Tonfall musste die Frau irritiert haben, denn sie beäugte ihn neugierig. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, den Bus zu nehmen. Er tat so, als würde er ein Plakat studieren, und die Frau schaute weg, doch als er spürte, dass sie ihm immer wieder Blicke zuwarf, beschloss er, an der nächsten Haltestelle auszusteigen. Die Krankenschwester musste er sich jetzt ohnehin aus dem Kopf schlagen.

Er ging die letzte Meile zu Fuß zu einem kleinen Park-haus, das er ausgewählt hatte, weil es keine Überwachungs-kameras hatte, und holte sein Fahrzeug. Intelligenz war seine stärkste Waffe, und die Vorstellung amüsierte ihn, wie die Polizei sich bei der Untersuchung seines Werkes das Hirn zermartern würde.

Er hatte vorher noch nie einen Mann getötet, und es war überraschend befriedigend gewesen. Er hatte keinen Druck gespürt, kein Verlangen, das er hatte bändigen müssen, sodass er die Schmerzen fast mit wissenschaftlicher Präzision hatte zufügen können. Als er davonfuhr, hatte er viel gelernt, und es machte ihm Spaß, sich auszumalen, wie er diese Erfahrung bei dem Miststück von der Polizei umsetzen könnte. Wenn er nicht fest davon ausgegangen wäre, dass ihre Aussage kein Gewicht haben würde, hätte er sie schon vor dem Prozess umgebracht. Das war ein Fehler gewesen, er hatte sie unterschätzt, was bedeutete, dass ein einfacher Tod nicht genügen würde. Sie hatte mehr verdient.

Der Telefonterror machte noch immer Spaß, und er glaubte, dass er langsam Wirkung zeigte. Sie aß kaum noch und hatte sich noch mehr von ihren Freunden und Bekannten zurückgezogen. Er wollte, dass sie genauso litt, wie Way-94

ne leiden musste, dass sie sich in ihrem eigenen Leben eingesperrt fühlte, bevor er es ihr nahm. Aber es war bald so weit.

Er war nicht für seine Geduld bekannt, und Selbstbeherrschung hielt er normalerweise für Energieverschwendung.

Sobald sie vollends verängstigt war, würde er sie töten, direkt vor der Nase ihrer Kollegen.

Er hielt an einem Zebrastreifen und winkte eine Mutter mit Kind hinüber, lächelte freundlich, als ihre Lippen ein Dankeschön formten, und fuhr weiter.

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Kapitel sieben

Bis zum Ende der Woche hatte Nightingale weitere dreiundzwanzig anonyme Anrufe erhalten sowie vier E-Mails von Pandora, in denen sie aufgefordert wurde, ein Spielchen zu spielen, und Dr. Batchelor hatte noch zweimal um ein Treffen gebeten. Schließlich überprüfte sie seine Angaben und willigte dann doch in ein Gespräch am Telefon ein, nur um ihn loszuwerden.

Batchelor hatte es anscheinend nicht eilig, über Griffiths zu sprechen, und Nightingale war nicht gewillt, das Thema von sich aus anzusprechen.

»Sie werden mich nicht fragen, nicht wahr?«

»Wonach fragen, Doctor?«

»Nach Griffiths.«

»Wieso sollte ich?«

»Na schön. Reden wir nicht drum herum. Es kommt vor, dass ein Opfer ein anhaltendes Interesse am Täter zeigt. Das ist ganz alltäglich.«

»Ich bin nicht alltäglich«, sagte sie, »und ich bin kein Opfer.« Sofort bedauerte sie ihre Bemerkung. Sie hatte es nicht nötig, ihm irgendwas zu erklären.

»Aber Sie wurden überfallen. Und verletzt.«

»Na und? Das ist passiert, als er sich gegen seine Festnahme gewehrt hat.«

»Verstehe.« Er sollte ihr Fragen zu Griffiths stellen, nicht sie analysieren.

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»Kommen Sie zur Sache, Doctor, ich hab viel zu tun.«

»Also gut. Ich spreche ein- oder zweimal die Woche mit Wayne. Nach seiner Verurteilung war er selbstmordgefährdet, jetzt ist er nur noch depressiv.«

»Er macht ja richtig Fortschritte.«

Batchelor nahm ihre Bemerkung ernst.

»Ja, aber jetzt komme ich einfach nicht mehr weiter mit ihm.«

»Sie arbeiten doch erst sechs Wochen mit ihm. Sie müssen Geduld haben.«

»Aber ich finde keinen Weg, wie ich seine Fassade durch-brechen kann. Ich suche nach irgendeiner Erkenntnis, die mir bei der Therapie weiterhilft.«

»Dass Sie sich an jemanden wie mich wenden, entspricht nicht gerade den Vorschriften. Sprechen Sie mit seinen Angehörigen oder haben Sie Geduld. Ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen soll.«

»Er hat keine Angehörigen, zumindest behauptet er das, und in seiner Akte steht auch nichts von irgendwelchen Freunden.«

»Tja, tut mir Leid, Dr. Batchelor, aber ich kann Ihnen wirklich nicht helfen … es sei denn, Sie verschweigen mir irgendwas.« Es war eine Feststellung, keine Frage, aber kaum hatte Nightingale die Worte ausgesprochen, hätte sie sie am liebsten wieder zurückgenommen. Sie wollte nichts mehr mit Griffiths zu tun haben. Sie hatte schon genug Albträume und brauchte keinen Stoff für weitere. Batchelor reagierte mit spürbarer Erleichterung.

»Sie haben Recht. Ich wollte Ihnen keine Angst machen, aber mir bleibt anscheinend keine andere Wahl. Griffiths hat Artikel über die Ermittlungen und den Prozess gesammelt.

Ich dachte, es würde ihm helfen, die Schuldgefühle zu verar-97

beiten, die meiner Ansicht nach seinem Problem zugrunde liegen.«

»Ich bitte Sie! Der Mann ist ein Soziopath. Er weiß gar nicht, was Schuldgefühle sind. Er wird einzig und allein von dem Verlangen getrieben, über jeden Menschen, auf den er sich fixiert, Macht und Kontrolle auszuüben.«

»Das ist eine Sichtweise«, erwiderte Batchelor mit uner-wartetem Sarkasmus, »ich habe eine andere.«

Seine gespielte Ruhe ging Nightingale auf die Nerven.

»Dann würde mich interessieren, wie Ihre Sichtweise aussieht.«

»Meine Diagnose unterliegt der Schweigepflicht.«

»Ich dachte, Sie hätten noch keine Diagnose gestellt.«

Sie konnte aus dem Seufzer Verärgerung heraushören und beschloss, das Gespräch zu beenden. Es reichte.

»Moment.« Batchelor klang bedrückt. »Die Wahrheit ist, ich habe ein paar unausgegorene Ideen. Wenn ich auf Ihre Diskretion zählen darf …«

»Wem sollte ich denn wohl irgendwas erzählen?«, konterte sie spöttisch.

»Also dann. Ich habe vorhin erwähnt, dass er Artikel sammelt. Er hat zwei Alben, eines ist voll mit Zeitungsausschnitten und ausgedruckten Artikeln aus dem Internet.«

»Internet! Sind Sie noch bei Trost? So hat er seine Opfer ausfindig gemacht und ihnen nachgestellt!« Die unerfreuliche Erinnerung an Pandoras Nachrichten tauchte in ihr auf und es überlief sie kalt.

»Er darf nur unter meiner direkten Aufsicht ins Internet.

Ich lasse ihn nach jeder Sitzung zur Belohnung fünf Minuten surfen, aber die Direktorin will auch das verbieten. Ich beobachte ihn die ganze Zeit. Er darf nur surfen und ausdrucken.

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Es ist völlig ausgeschlossen, dass er Nachrichten verschickt oder erhält.«

»Trotzdem halte ich das für ein unnötiges Risiko, aber Sie sprachen von zwei Sammelalben. Was ist in dem zweiten?«

»Sie. Es ist voll mit Zeichnungen und Fotos, und mit allem, was während und nach dem Prozess über Sie geschrieben wurde.«

»Wieso?«

»Ich hatte gehofft, das könnten Sie mir sagen.«

»Ich habe keine Ahnung. Und nur ich bin da drin? Keins seiner anderen Opfer?« Sie biss sich auf die Lippe und hoffte, dass er ihren Versprecher nicht bemerkt hatte.

»Nur Sie. Was ist passiert, dass Sie so wichtig für ihn sind?«

»Ich habe ihn festgenommen, und meine Aussage hat zu seiner Verurteilung geführt. Klar, dass er wütend auf mich ist, mich vielleicht sogar hasst.«

»So einfach ist das nicht. Es geht hier nicht um Zorn oder Hass.« Irgendwie schwante ihr, dass er mehr wusste, als er zugab.

»Was verschweigen Sie mir?«

Batchelor seufzte, plötzlich unsicher.

»Als keine Artikel mehr erschienen, fing er an zu zeichnen. Nach der Vorlage eines Fotos von Ihnen. In seinen Zeichnungen sehen Sie aus wie eine Kreuzung aus Königin und Kriegerin.«

»Er zeichnet Artemesia, die Jägerin.«

»Interessant. Wenn Sie Recht haben, sind Sie für ihn eine Art Erscheinung. Die Porträts sind perfekt.«

»Und er hat keine anderen Figuren aus THE GAME gezeichnet?«

»Nur Sie.«

»Tja, meine laienhafte Analyse ist die, dass er davon fanta-99

siert, Macht über mich auszuüben. So, jetzt muss ich aber wirklich Schluss machen.«

»Können Sie mir mehr über Artemesia erzählen?«

»Kaufen Sie sich THE GAME, da ist alles drin. Ach, übrigens«, sie hoffte, dass ihre Stimme beiläufig klang, »hat er Zugang zu einem Telefon?«

»Nein, noch nicht. Die Direktorin hat seinetwegen noch zu große Bedenken. Warum?«

»Rein interessehalber.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, ließ sie das Telefonat noch einmal Revue passieren. War Griffiths der anonyme Anrufer?

Wenn ja, dann musste er unerlaubten Zugang zu einem Telefon haben, und zwar Tag und Nacht, und das war unmöglich. Er konnte es nicht sein.

»Aufwachen, Nightingale, Ihr Typ wird verlangt.« Ein Papierkügelchen prallte harmlos von ihrem Kopf ab. Detective Sergeant Randall schüttelte den Kopf. »Sie sollten vor fünf Minuten in einer Besprechung sein.«

Nightingale blickte auf ihre Uhr, fünf nach drei. Sie hatte kurz nach zwei den Hörer aufgelegt und konnte sich nicht erinnern, seitdem irgendetwas getan zu haben. Eine ganze Stunde futsch! Sie schnappte sich ihr Notizbuch und lief aus dem Zimmer.

Sergeant Cooper war schlecht gelaunt, was immer öfter der Fall war. Seit rund einem Jahr war Detective Inspector Blite bei den schwereren Fällen sein direkter Vorgesetzter, ein Mann, dem er kaum noch mit Höflichkeit, geschweige denn mit Respekt begegnen konnte. Kaum war D.C.I. Fenwick an die Londoner Polizei ausgeliehen worden, hatte Blite sich in einem Anfall von Selbstüberschätzung eingebildet, er könne Fenwicks Platz einnehmen. Nach Coopers Meinung reichte Blites Arroganz zwar für zwei, doch sein Talent nur für einen 100

halben Mann. Cooper hielt Blite für ein As, wenn es ums Speichellecken und Arschkriechen ging, aber als Polizist war er eine Null.

Blite brüstete sich damit, der erfolgreichste Ermittler der Abteilung zu sein, wofür Harper-Brown ihn mit Lob überschüttete. Die Leute in seinem Team jedoch litten unter dem Druck, den er ausübte, und unter den Überstunden, die er ihnen abverlangte. Zur Zeit arbeiteten sie an einer Serie von brutalen Raubüberfällen in einer heruntergekommenen Siedlung. Blite war davon überzeugt, dass die Überfälle mit Dro-genkriminalität zu tun hatten, aber Cooper bezweifelte das.

Sein Instinkt sagte ihm, dass es sich bei den Tätern um eine Bande Jugendlicher handelte, denen es einfach Spaß machte, Leute zu überfallen und zusammenzuschlagen, die schwächer waren als sie.

»So, alle mal herhören. In der Siedlung Parklea treiben zwei bekannte Drogenbanden ihr Unwesen. Ich möchte, dass ihr euch auf diese beiden konzentriert. Bisher haben wir keine Zeugen, und von unseren Informanten hat auch noch keiner was zu berichten. Das letzte Opfer, Emily Thornton, hat die Täter zwar gesehen, aber ihr wurde bei dem Überfall die Brille runtergeschlagen, und ohne die ist sie blind wie ein Maulwurf, also keine große Hilfe.«

Nightingale kam herein, als gerade Kopien mit Informationen verteilt wurden. Ein Blick genügte, und Cooper wusste, dass etwas nicht stimmte. Er fürchtete, dass sie sich selbst überforderte. Die Ermittlung im Fall Griffiths war zu weit gegangen. Blite hatte die Idee gehabt, Nightingale als Lockvogel einzusetzen, aber es war ihre Entscheidung gewesen, sich darauf einzulassen. Cooper hatte Bedenken gehabt und sogar Fenwick informiert, obwohl der damals noch bei der Londoner Polizei gewesen war. Der DCI hatte sich auch 101

prompt eingeschaltet, hatte aber nur die schroffe Antwort erhalten, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.

Als er Nightingale jetzt betrachtete, bedauerte Cooper noch mehr, dass es ihnen nicht gelungen war, den Fall anders zum Abschluss zu bringen. Für viele galt die Sache als großer Erfolg, nicht zuletzt für Blite, der immer wieder gern darauf zu sprechen kam, aber Cooper war überzeugt, dass sie mit traditionelleren Methoden das gleiche Ergebnis hätten erzie-len können. Es hätte länger gedauert, vielleicht auch mehr Geld gekostet, aber die menschlichen Opfer wären weniger schmerzlich gewesen.

Er fing Nightingales Blick auf und nickte, ohne eine Spur von Vorwurf wegen ihrer Verspätung. Sie lächelte ihn an, aber das Lächeln erreichte nicht ihre Augen, die dunkel ge-rändert waren, wie er jetzt bemerkte.

Nach der Besprechung wartete sie beim Hinausgehen auf ihn.

»Hallo, Sergeant.« Trotz ihrer Beförderung brachte es Nightingale nicht fertig, Cooper mit Vornamen anzureden.

»Tag, Nightingale. Da haben Sie ja wieder das kürzere Streichholz gezogen und müssen mit mir arbeiten, was?«

»Ich freu mich drauf. Wird auch langsam Zeit, dass ich mich mal wieder in einen anständigen Fall verbeißen kann.

Kann ich eine Überwachung übernehmen? Ich hab schon seit Wochen Innendienst.«

Cooper erlebte es nicht oft, dass sich jemand freiwillig für Überwachungsarbeit anbot, und er willigte rasch ein.

»Sie fangen morgen früh um sieben an. Ihr Partner ist Detective Constable Rike. Ein erfahrener Mann. Halten Sie den Mund geschlossen und die Augen offen, dann finden Sie vielleicht was heraus.«

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Er sah ihr nach, als sie sich entfernte, und ging dann zu Fenwicks Büro, um nachzusehen, ob der Chief Inspector aus dem Sonderurlaub wegen des Todes seiner Frau zurück war.

Er war es und winkte ihn in sein Büro.

»Sind Sie so lieb und bringen uns zwei Kaffee, Anne? Mit viel Milch und Zucker für Bob.« Fenwick bedeutete Cooper, auf einem der unbequemen Besucherstühle Platz zu nehmen.

Der Sergeant betrachtete das enge Metallgestell mit einem Gefühl, das an Hass grenzte, zwängte sich aber hinein. Der Chief Inspector sah ihn erwartungsvoll an. Er war kein Mann, der etwas für Smalltalk oder Klatsch übrig hatte.

»Ich wollte Ihnen nur kurz sagen, ich bin froh, dass Sie wieder bei uns sind. Wir vermissen Sie, ich und die anderen, und es wäre schön, wenn Sie wieder mehr in die tägliche Arbeit einbezogen würden …« Seine Stimme verlor sich.

Was redete er denn da? Er hatte gerade durchblicken lassen, dass Fenwick praktisch kaltgestellt worden war, obwohl sie sich vor Arbeit nicht retten konnten.

»Ich werd’s mir merken.«

Cooper verzog das Gesicht. Er hatte sich nie an Fenwicks Sarkasmus gewöhnt, der beißend wie Essig und ungefähr ebenso schmackhaft war. Er räusperte sich.

»Und ich wollte Ihnen auch noch mein Beileid aussprechen. Meine Frau und ich waren sehr traurig, als wir das von Ihrer Frau gehört haben.«

Es war, als senkte sich ein dünner Schleier über Fenwicks Gesicht. Eigentlich war seine Miene unverändert geblieben, aber er hatte sich hinter eine Maske zurückgezogen, die jede Emotion verhüllte.

»Danke. So, wenn das alles ist …«

Cooper ging, den unangetasteten Kaffee noch in der Hand, und rieb sich den rechten Oberschenkel, um wieder 103

Gefühl hineinzubekommen. Den Besuch hätte er sich besser sparen sollen.

Hinter ihm schloss Fenwick die Tür. In der Ungestörtheit seines Büros setzte er sich schwerfällig hin und rieb sich die Stirn, um den dumpfen Schmerz zu vertreiben, der ihn seit der Beerdigung quälte. Er konnte kaum schlafen, wollte aber keine Tabletten nehmen. Monique fehlte ihm wieder genauso schrecklich wie damals, als sie ins Krankenhaus gekommen war.

Die Kopfschmerzen waren mit der glühenden Vormittags-sonne stärker geworden, und die Wirkung der Schmerztablet-ten hatte nachgelassen. Er kramte in der Schreibtischschub-lade nach Aspirin und fand einen halben Streifen. Obwohl er wusste, dass es besser war, noch eine Stunde zu warten und höchstens zwei zu nehmen, schluckte er drei mit dem Rest seines Kaffees. Es klopfte zögernd an der Tür.

»Telefon für Sie. Ein Anruf von Claire Keating.« Anne sah ihm kurz ins Gesicht und nahm seine leere Tasse mit, um nachzuschenken.

»Claire.«

»Andrew, endlich. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie Leid mir das mit Ihrer Frau tut. Wie geht’s den Kindern?«

»Einigermaßen. Ich bin etwas in Eile. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich weiß, der Zeitpunkt ist nicht gerade günstig, aber ich würde Sie gern treffen. Ich schreibe eine Fallstudie über die McMillan-Ermittlungen, und der Termin drängt. Ich hätte Sie sonst diese Woche nicht damit belästigt.«

»Die Sache liegt doch Jahre zurück.«

»Ja, aber sie bedeutet einen Durchbruch in der forensischen Psychiatrie, und Sie können mir sicher einiges darüber sagen. Sie haben die Ermittlungen geleitet.«

»Verstehe.« Er versuchte, nicht allzu unwillig zu klingen, 104

als sie einen Termin verabredeten. Dann legte er erleichtert auf.

Der Gefangene hatte zugenommen. Er machte zwar jeden Tag Liegestütze, Kniebeugen und Sit-ups, aber er war trotzdem schwerer geworden. Er stellte sich vor, wie gelbe Fett-kügelchen sich unter seiner Haut sammelten, und der Gedanke ekelte ihn an. Die seltenen Male, die er auf den Hof durfte, joggte er die ganze Stunde lang, mit kurzen Sprinteinla-gen. In der viel zu kurzen Zeit konnte er das Brennen in den Muskeln spüren, und der Schmerz war herrlich. Es waren kurze orangerote Blitze in einem ansonsten grauen Leben.

Aus irgendeinem Grund durfte er plötzlich nicht mehr an den Computer. Die Direktorin hatte sich weder durch Bitten noch durch Argumentieren erweichen lassen. Stattdessen hatte der Doktor ihm die Brettversion von THE GAME gebracht. Griffiths hatte dem Spiel in seiner Zelle keine Beachtung geschenkt, weil er beleidigt war. Über eine Woche lang hatte es unangetastet in Plastik eingepackt dagelegen und Staub angesetzt.

Er war ein Großmeister gewesen. Sein Punktestand hatte bei der magischen und rein zufälligen Zahl 666101 gelegen.

Das war der unangefochtene Rekord für den Dämonenkönig, zumindest damals. Einer der vielen Gründe, warum er unbedingt wieder freikommen wollte, war der, dass er sich vergewissern musste, ob seine Überlegenheit noch immer unangetastet war. Was waren schon Kunststofffiguren gegen die Realität eines Live-Spiels?

Heute war der Tiefpunkt seit seiner Verhaftung gewesen, und er konnte sich selbst nicht ausstehen. Er hatte lange Fingernägel und durfte kein Maniküre-Set haben, um sie zu pflegen. Sein Haar rollte sich über dem Kragen, ein ganzes 105

Stück länger, als er es je getragen hatte. Die Gefängnishose kniff ihn in der speckigen Taille. Und gestern Abend hatte er das Brettspiel ausgepackt.

Der Anblick des Dämonenkönigs aus plumpem, schwarzem Kunststoff hatte ihm Tränen in die Augen getrieben. Es war grotesk, als hätte seine eigene Gewichtszunahme die Form seines Alter Ego verschwommen gemacht. Er hatte die Figur angewidert angestarrt und war dann schlecht gelaunt auf die Pritsche gesunken. Zum ersten Mal war ihm der Gedanke gekommen, dass er womöglich den Rest seines Lebens in dieser Zelle fristen musste, wie es der Richter gewollt hatte. Als er vor Tagesanbruch erwachte, war er noch immer deprimiert und dachte zum ersten Mal an Selbstmord.

Es war paradox, dass er zuvor eine suizidale Neigung vorgetäuscht hatte, ohne je die Absicht zu haben, sich etwas an-zutun. Jetzt waren die Behörden entspannter, durch seine Schauspielerei überzeugt, dass er sich langsam mit seinem Schicksal abfand, und zum ersten Mal reizte ihn der Gedanke zu sterben, wirklich. Es war eine tröstliche Vorstellung, dass er sich umbringen konnte, und darüber nachzudenken, wie er es am besten anstellte, war eine intellektuelle Herausforderung, mit der er sich die Zeit vertreiben konnte. Er hatte weder einen Gürtel noch Hosenträger, und seine Gefängniskluft ließ sich nicht zerreißen. Er wurde auch nicht in die Nähe von scharfen Gegenständen gelassen. Vielleicht würde sich eine Gelegenheit bieten, wenn er eine Krankheit vortäuschte und auf die Krankenstation kam.

Er übte gerade schmerzverzerrte Gesichter, als ein warnendes Schlüsselgeklimper einen Störenfried ankündigte. Er rechnete damit, Saunders zu sehen, es war seine Schicht, doch stattdessen stand da ein anderer Wärter, der den Daumen in Richtung offene Tür schnellen ließ.

106

»Dein Seelenklempner ist da. Bewegung, marsch.«

Batchelor erwartete ihn. Er trug wie immer sein langweiliges Sportsakko, und auf der Strickkrawatte hatte er einen Essensfleck. Griffiths verbarg seine Verachtung hinter einem angedeuteten Lächeln.

»Dr. Batchelor. Schön, dass Sie mich wieder besuchen.«

»Wie geht’s?«

Gedanken an Selbstmord, an die Krankenstation, vielleicht an Flucht wirbelten dem Gefangenen durch den Kopf. Wollte er sterben? Er war sich nicht sicher. Am besten ließ er sich alle Möglichkeiten offen.

»So lala. Ich hab öfters krampfhafte Bauchschmerzen.

Nicht lange, aber es ist unangenehm.«

Sogleich zeichnete sich Besorgnis auf Batchelors Gesicht ab.

»War ein Arzt bei Ihnen?«

»Nur Sie.«

»Ich meinte einen Mediziner.«

»Nein, ich hab nicht drum gebeten. Ich warte erst noch mal ab. Ist bestimmt harmlos.«

Schon bald waren sie bei dem üblichen Psychogeschwafel, das angeblich eine Analyse sein sollte. Jetzt, wo der Gefangene wusste, dass er nicht mehr an einen Computer durfte, sah er wenig Sinn in den Gesprächen. Er war gelassen und zwanglos, hatte sich aber stets unter Kontrolle. Um den Doktor nicht allzu sehr zu frustrieren, spielte er ihm ab und zu eine depressive Verstimmung oder einen Anflug von Selbst-erkenntnis vor, damit er wiederkam.

Ein unerfreulicher Gedanke überkam ihn. Heute musste er seine Niedergeschlagenheit nicht vortäuschen.

» … würde Sie interessieren.«

»Bitte?«

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»Ich sagte, ich habe mit Detective Sergeant Nightingale gesprochen.«

Ihm war, als hätte er einen Schlag auf die Brust bekommen. Für den Bruchteil einer Sekunde wusste er nicht, wie er reagieren sollte, dann begriff er, dass ihm der Schock anzusehen sein musste. In dem blasierten Gesicht des Mistkerls vor ihm blitzte ein befriedigter Blick auf. Griffiths fühlte sich reingelegt, von einem unfähigen Psychoschwätzer ausgetrickst, und sein Selbstwertgefühl schrumpfte noch mehr.

»Wieso haben Sie das getan?« Griffiths war stolz, dass seine Stimme ruhig klang.

»Ach, hat sich so ergeben. Ich dachte, es würde Sie interessieren.«

Er sagte nichts. Als klar war, dass er weiter schweigen würde, versuchte Batchelor seinen nächsten taktischen Zug.

»Ich kann gut verstehen, dass sie in die Rolle von Artemesia geschlüpft ist. Sie ist sozusagen die perfekte Jägerin, finden Sie nicht auch?«

Griffiths sagte nichts. Zorn glühte in seinem Innern, sammelte sich für die Zukunft.

»Was war ihr bestes Ergebnis gegen Sie?«

»27500 Punkte.«

»Das ist gut, nicht?«

»Fast das beste.« Er blickte dem Arzt nicht in die Augen.

»Haben Sie Spaß an dem Brettspiel?«

Wie gern hätte er Batchelor gesagt, dass er es nicht einmal ausgepackt hatte, wie gern hätte er ihm das glänzende Plastik-paket in die Arme gedrückt, ungeöffnet. Aber das ging nicht mehr.

»Ich habe nicht gespielt. Ohne Gegner fehlt die Spannung.«

»Wieso?«

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Jetzt geht das wieder los, dachte er, die gleichen dämlichen Fragen. Die konnte er parieren, so lange er wollte. Mit einem Lächeln fiel Griffiths in den gewohnten Trott.

In seiner Zelle öffnete der Gefangene den Karton, nachdem er stundenlang mit sich gerungen hatte, und packte den Inhalt aus. Die sechs Hauptfiguren waren fast acht Zentimeter groß, ihre Gefolgsleute höchstens vier. Der Dämonenkönig war schwarz, bemalt mit roten und silbernen Verzierungen, die Hexe blau und silbern, und der Ritter, eine lächerliche Figur, hatte Blondhaar, eine weiße Rüstung und goldene Waffen. Jeder männliche Neuling bei THE GAME wollte der Ritter sein. Die meisten »starben«. Er war tapfer, mutig, ehrlich und daher leicht zu bezwingen. Was er sagte, musste der Wahrheit entsprechen, denn er war an die Gesetze der Ritterlichkeit gebunden. Im Durchschnitt triumphierte der Dämonenkönig bei drei von fünf Malen über ihn, aber wenn Griffiths ihn gespielt hatte, immer.

Der Söldner war ein interessanterer Herausforderer. Er tat sich oft mit der Hexe zusammen, obwohl auf seine Treue kein Verlass war. Und die Jungfrau – ah, Griffiths liebte sie, genau wie den Söldner. Bei ihm konnte man nie sicher sein, ob er die Regeln des Geldes oder der Liebe befolgte, aber wenn man die Jungfrau gefangen nahm, stellte man den Söldner damit meistens kalt.

Er betastete das weiße Kunststoffkleid und das lange blonde Haar. Sie hatte eine weiße und eine rote Rose in der Hand, Symbole ihrer Jungfräulichkeit und Verwundbarkeit.

Sie griff niemals an, aber wenn sie auf die falsche Weise gerettet wurde, saugte sie die Kraft ihres Möchtegernretters in sich auf. Griffiths hielt sie für die verdorbenste von allen Figuren. Jedesmal, wenn er eine Jungfrau fing, benutzte er sie als Köder, bevor er sie tötete, was nicht direkt gegen die 109

Regeln verstieß, aber für die anderen Spieler ein Schock war.

Er nahm Artemesia in die Hand. Aus irgendeinem Grund waren ihre Gesichtszüge feiner, traten klarer hervor als bei allen anderen. Ihre Waffen – Bogen, Pfeile, Messer und Speer

– waren detailgetreu dargestellt. Er starrte sie lange an.

Sie trug ein langes, grünes Gewand, wie eine griechische Tunika, mit Schlitzen an den Oberschenkeln. Es umwallte sie, als spielte ein Phantomwind damit, betonte ihre Brüste und ihr Becken wie Botticellis Flora. Er stellte sich ihre warme Haut unter dem dünnen Stoff vor, und es erregte ihn. Er legte sie behutsam hin und griff nach seinen Zeichenutensi-lien.

Trotz des wachsenden Drucks in ihm hielt er sich genau an sein Ritual. Das Papier kam exakt in die Mitte des Tisches, Zeichenstifte und Radiergummi rechts, Aquarellpinsel und eine kleine Plastikschüssel Wasser links. Mit einem feinen Stift skizzierte er die Figur, glitt mit langen und fließenden Strichen gekonnt über das glatte Papier. Er zeichnete das Gesicht des Miststücks wirklichkeitsgetreu, den Körper darunter aber fülliger. In seiner Zeichnung trug sie kein Gewand mehr. Durch den Wind hatten sich ihre Brustwarzen zu harten, rosa Spitzen aufgerichtet; ihr Geschlechtsteil trat hübsch wie ein Kuss unter üppigem, auberginefarbenem Schamhaar hervor. Bei ihrem Anblick fing er an, stoßweise zu keuchen, und er vergaß seine Zeichnung.

Beim Höhepunkt stöhnte er irgendetwas laut heraus – ein Knurren, einen Namen, er wusste es nicht, aber es war eine köstliche Erlösung. Zum ersten Mal vergaß er das Guckloch in der Tür, während er sich entblößt auf seinem Stuhl zu-rücklehnte. So hatte er sich lange nicht mehr gefühlt … seit, ja, seit das Miststück sein Leben zerstört hatte.

110

Er wusch sich gründlich. Als er sauber war, wollte er die neueste Zeichnung in sein Sammelalbum stecken. Das Papier war zerrissen. In seiner Ekstase hatte er auf sie eingestochen.

Eine große, klaffende, rote Wunde hatte ihre Papierbrüste und die Kehle zerfetzt. Er strich mit den Fingerspitzen über die Zeichnung, verharrte auf dem Gesicht und dem leuchtend roten Riss.

Die Zeichnung musste verschwinden. Die Wärter durch-suchten seine Zelle regelmäßig, und Batchelor bestand darauf, sein Album zu sehen, doch er brachte es nicht über sich, das Bild einfach zu zerstören und wegzuwerfen. Es war zu einem Totem geworden, einer Verheißung von etwas jenseits der Gefängnismauer. Der Gedanke, dass er ja jederzeit ein neues Bild zeichnen konnte, schwächte nicht sein Verlangen, das hier zu behalten. Er wollte mit dem Wissen schlafen gehen, dass er es hatte, es nach dem Aufwachen heimlich hervorho-len und sich an den Geschmack ihrer Tränen erinnern können. Seine Verhaftung würde gerächt werden. Das Versprechen war gegeben worden, und er wusste, dass es eingelöst werden würde, früher oder später. Bis dahin würde das Bild sein Talisman sein.

Er suchte nach einem Versteck. Sein Blick fiel auf das Spiel, das verstreut auf dem Boden lag. Die Kunststoffschicht auf dem glänzenden Brett war gesprungen und hob sich von der Kartonverstärkung ab. Er nahm das Spielbrett auf, löste mit einem langen Fingernagel Beschichtung und Pappe voneinander und schob die gefaltete Zeichnung in die Öffnung.

Dann drückte er das Brett wieder fest zusammen. Niemand würde die Beschädigung bemerken.

Statt THE GAME wegzupacken, las er das Heft mit den Regeln. Nach dem Abendessen fing er an zu spielen, warf die bunten Würfel mit immer größerem Geschick. Er merkte 111

sich die möglichen Kombinationen und Folgen von jedem Spielergebnis. Es gab zigtausend Variationen, selbst bei dieser Spielversion. Mit einem leisen, zufriedenen Brummen griff er nach Papier und Bleistift und notierte seine ersten Ideen, wie er es in dieser neuen GAME-Version zur Meisterschaft bringen konnte.

112

Kapitel acht

Die Siedlung Parklea war so spät in den Siebzigerjahren entstanden, dass es für ihre architektonischen Fehler keine Entschuldigung gab. Die Häuser ragten sechzehn Stockwerke hoch und waren verbunden durch ein hässliches Betonspinnennetz aus halb überdachten Gehwegen. Sie wölbten sich kreuz und quer über längst abgestorbene Rasen-flächen, warfen Schatten und stellten eine wunderbare Ab-schussrampe für die Wurfgeschosse dar, die von der jüngeren Generation auf die alte abgefeuert wurden.

Am Montagmorgen war die Siedlung trocken, heiß und stickig. Es stank so widerlich nach Urin und Hunde- oder Menschenkot aus zahlreichen versteckten Ecken, dass es den Beamten, die sich in der Wohnung Compton 6B versteckt hielten, den Atem verschlug. Die ehemaligen Mieter waren einer Zwangsräumung zuvorgekommen und hatten die Wohnung total verwahrlost zurückgelassen. Die Stadtverwal-tung hatte sich die Renovierung erspart und dadurch erst Hausbesetzer, dann Penner angelockt. Nachdem ein Feuer ausgebrochen war, das auf den bewohnten Teil des Blocks überzugreifen drohte, entschied sich die Verwaltung schließ-

lich, die Räumlichkeiten zu versiegeln. Seitdem stand die Wohnung leer.

Leider eignete sich 6B ausgezeichnet zur Überwachung des offenen Geländes zwischen den Hochhäusern, das teilweise im Schatten, teilweise im gleißenden Sonnenlicht lag. De-113

tective Sergeant Nightingale hatte die erste Schicht. Ihr Partner trug seine Undercover-Verkleidung – einen fünf Tage alten Bart und langes, fettiges Haar – mit Stolz. Er war gerade in einem Café auf der anderen Seite der Siedlung, um etwas zum Frühstück zu holen.

Detective Constable Rike hatte ihr nach einem Blick auf ihre Designerjeans und das frisch gewaschene und ge-bügelte T-Shirt geraten, sich lieber bis Schichtende versteckt zu halten. Das bedeutete, dass sie noch genau sechs Stunden und zwölf Minuten in diesem stinkenden Loch hocken musste.

Morgen würde sie ein paar Müllsäcke als Sitzunterlage mitbringen, doch im Augenblick hatte sie nur die Wahl, unbequem stehen zu bleiben oder mit irgendetwas Widerlichem in Berührung zu kommen, das an die Wände geschmiert oder auf dem Boden hinterlassen worden war. Sie entschied sich fürs Stehen.

Die Tür wurde aufgerissen, und sie fuhr zusammen. Es war Richard Rike, der mit heißen Getränken zurückkam.

»Gott, stinkt das hier!«

»Ich merk es kaum noch. Angeblich passt sich das olfakto-rische System nach zwanzig Minuten an und neutralisiert den Geruch.«

»Das was?«

Er gab ihr einen von den Styroporbechern, und als sie den Deckel hob, kam ein dünnes, milchiges Getränk zum Vorschein. Sie hatte schwarzen Kaffee gewollt, ohne Zucker. Sie trank einen Schluck. Er war lauwarm und süß.

»Die Nase riecht nichts mehr – das Gehirn blendet den Gestank aus.«

Rike schaute auf seine Uhr.

»Dann sind’s jetzt nur noch neunzehn Minuten und drei-114

ßig Sekunden. Ich wusste nicht mehr, ob Sie Tee oder Kaffee wollten, also hab ich Ihnen Tee mitgebracht, wie ich die Frauen mag: weiß und süß.« Er grinste schon in Erwartung ihrer Entrüstung.

Nightingale verzog keine Miene.

»Schade, ich wollte Kaffee, wie ich die Männer mag: schwarz und stark.«

Er lachte laut auf und warf ihr eine Tüte zu.

»Was ist da drin?«

»Ein Donut mit Zuckerguss. Von gestern. Der Wagen mit der frischen Lieferung war noch nicht gekommen, aber man kann sie essen. Ich hab meinen schon auf.«

Nightingale starrte auf das zuckerstarrende fette Gebäck und versuchte, Hunger zu empfinden. Sie hatte nur einen Apfel gefrühstückt, und das war zwei Stunden her.

»Wollen Sie ihn nicht?«

»Nicht, wenn Sie noch Hunger haben. Mögen Sie?«

Er stopfte sich den Donut mit drei großen Bissen in den Mund. Sie versuchte nicht hinzusehen, um sich den Anblick der verklebten Zähne zu ersparen, als er triumphierend lä-

chelte.

»Der Schnellste in der Kantine«, nuschelte er stolz.

»Das glaub ich gern.«

Die Unterhaltung erwies sich für beide als Höhepunkt des Tages.

Um vier Uhr nachmittags wurden sie abgelöst, und Rike fuhr ins Präsidium, um Blite kurz Bericht zu erstatten.

Es war halb fünf durch, als sie nach Hause kam. Sie ging auf Socken die Treppe zu ihrer Wohnung hoch. Sobald sie drinnen war, stopfte sie alles, was sie am Leib trug, in die Waschmaschine und füllte extra viel Pulver ein. Es war ihr diesmal egal, ob sich T-Shirt und Unterwäsche blau verfärb-115

ten, Hauptsache, die Sachen wurden sauber. Sie duschte zweimal.

Gegenüber dem Park war ein Pub, und sie beschloss, ihren Wein dort zu trinken, statt zu Hause zu bleiben. So konnte sie sich wenigstens vormachen, dass sie keine einsame Trinke-rin war. Es versprach ein herrlicher Abend zu werden, kühl nach der Hitze des Tages. Sie war fast am Ziel, als sie mit einem gut aussehenden Mann zusammenstieß, der plötzlich ihren Weg kreuzte.

»Tut mir Leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.«

»Macht nichts.« Sie wollte an ihm vorbei, aber er sprach sie an.

»Sie wissen nicht zufällig, wo ich hier ein anständiges Bier trinken kann?«

Er hatte erstaunliche Augen, ein charmantes Lächeln, und er kam ihr irgendwie bekannt vor, deshalb nahm sie sich die Zeit zu antworten, obwohl sie es ein wenig seltsam fand, dass er ihr praktisch direkt vor einem Pub so eine Frage stellte.

»Die Kneipe da ist ganz gut.«

Er blickte sich um und schien überrascht, als er das Schild direkt über seinem Kopf hängen sah.

»Das hab ich glatt übersehen! Sie müssen mich ja für blöd halten. Wollten Sie auch da rein? Wenn ja, darf ich Sie zu einem Gläschen einladen, als Entschuldigung für meine Dummheit?«

Nightingale war fast versucht, doch die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als sie von der anderen Straßenseite jemanden rufen hörte. Sie erkannte die Stimme.

»Hallo, Sergeant.« Cooper kam zwischen den langsam fah-renden Autos hindurch auf sie zu geeilt. Als sie sich wieder zu dem unbekannten Mann umdrehte, war er verschwunden.

Sie zuckte die Achseln und vergaß ihn.

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»Ich bin auf dem Weg nach Hause. Dot möchte, dass ich mindestens einmal die Woche zu Fuß gehe, sagt, das ist gesund. Sollen wir beide schnell was zusammen trinken?«

»Tja, ich …«

»Kommen Sie, das Dog and Duck hat gutes Bier, und meine Frau sagt, der Wein ist ganz passabel.«

Trotz der Wärme hatte er wie gewohnt ein Tweedjackett an. Es musste recht neu sein, da die Ellbogen noch nicht die üblichen Lederflicken trugen. Sein Gesicht strahlte, als sie den Biergarten betraten, einen gepflasterten Hof, auf den man Klapptische und Bänke zwischen Blumenkübel gezwängt hatte, die üppig mit Geranien bepflanzt waren. Sie suchten sich einen Tisch im Schatten an der Hauswand.

»Was möchten Sie?«

»Ein Glas Weißwein bitte, und ein Mineralwasser.«

Er war rasch wieder zurück, trug die Getränke auf einem runden Blechtablett, auf dem die letzte überlebende Privat-brauerei der Gegend Reklame machte. Zwischen die Gläser waren zwei Päckchen Chips geklemmt.

»Bitte sehr. Ohne alles oder Käse und Zwiebeln?«

»Ich hab keinen …«

»Dann ohne alles. Na los, essen Sie. Ich wette, Sie haben heute Mittag nichts Anständiges in den Magen gekriegt.«

Sie konnte ihm nicht widersprechen, weil er Recht hatte.

Als sie die Packung öffnete, lief ihr von dem Geruch nach Salz, Kartoffeln und Öl das Wasser im Munde zusammen.

Cooper erzählte ihr von seinem letzten Fall, von seiner schwangeren Tochter, deren Baby praktisch täglich kommen konnte, vom Job seines Sohnes, dem Garten seiner Frau und dass sie ihn auf Diät gesetzt hatte. Nach einer Viertelstunde stand er abrupt auf und ging neue Getränke holen. Während 117

Nightingale wartete, merkte sie überrascht, dass sein zwangloses Geplauder sie entspannt hatte.

Alle Tische waren besetzt, und das allgemeine Stimmengemurmel war eine angenehme Geräuschkulisse. Sie klinkte sich innerlich aus und blickte über den Holzzaun auf die par-kenden Autos dahinter. Ein silberner Saab kam auf den Parkplatz gerollt, und ihr Magen machte einen Satz, als sie ihn erkannte. Fenwick stieg auf der Fahrerseite aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. Sie hatte die Frau mit den rötlich braunen Haaren schon einmal gesehen, aber der Name fiel ihr nicht ein. Die Frau sagte etwas, das Fenwick zum Lachen brachte, und Nightingale musste den Blick abwenden.

»So, noch ein Glas Chablis, ein Mineralwasser und das hier.« Cooper reichte ihr einen Teller mit Sandwiches. »Räucherlachs auf Roggenbrot mit Zitrone für Sie, und Roastbeef mit Senf für mich«, er stockte, zog die Stirn kraus, weil er so voreilig gewesen war, und sagte: »Es sei denn, Sie wollen tauschen. Das ist nur ein Snack vor dem Abendessen.«

»Das war doch nicht nötig, Sergeant.«

»Seien Sie nicht albern. Sie müssen was essen. Sie sind ja nur noch Haut und Knochen, auch wenn ich das wahrscheinlich nicht sagen sollte. Ich wette, Sie haben nur Kanin-chenfutter im Kühlschrank.«

Sie öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, schloss ihn aber wieder mit einem gequälten Lächeln. Er hatte Recht. Cooper grinste und rückte den Teller und eine Papierserviette für sie zurecht. Gerade wollte er mit einem einzigen Bissen ein Viertel seines Sandwiches verdrücken, als er eine vertraute Stimme vernahm. Er drehte sich um und blickte über die Schulter.

»’n Abend, Bob.«

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»’n Abend, Sir.« Cooper war nun mal niemand, der alte Gewohnheiten leicht über Bord warf.

»Nein, bleiben Sie sitzen. Hallo, Nightingale, wie geht es Ihnen?« Er klang fröhlich.

»Gut, danke.« Sie rang sich ein Lächeln ab.

»Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen.« Er drehte sich um und ging zu seiner Begleiterin zurück, die an der Tür wartete.

Cooper legte sein unangebissenes Sandwich hin.

»Na, das nenn ich eine Überraschung!« Er trank einen Schluck Bier und blickte kopfschüttelnd zur Tür, die sich schloss. »Hätte nicht gedacht, dass er schon wieder ausgeht.

Nicht, dass daran was auszusetzen wäre.«

»Was meinen Sie mit ›schon‹?«

Der Sergeant blickte sie verwundert an.

»Wussten Sie das nicht? Seine Frau ist gestorben. Sie hat jahrelang im Koma gelegen, und dann ist sie schließlich gestorben. Ein Segen für alle Beteiligten.«

Er trank noch einen Schluck Bier und blickte sie besorgt an.

»Alles in Ordnung?«

»Ich … ich hatte keine Ahnung.« Sie blinzelte ein paar Mal und blickte auf ihren Wein, während sie trank. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen.

Cooper sagte nichts, aber sie konnte spüren, dass er sie beobachtete, während er zügig sein Sandwich aß und es mit Bier herunterspülte.

»Noch einen Wein?«

Sie blickte überrascht auf ihr leeres Glas.

»Nein, danke. Ich muss jetzt wirklich los.«

»Sie sollten was essen.«

»Ich hab im Moment keinen Hunger. Kann ich das mit-119

nehmen?« Sie war schon dabei, das Sandwich sorgfältig in die Papierserviette zu packen.

»Aber Sie müssen mir versprechen, dass es nicht im Mülleimer landet.«

Ihre Finger zögerten kurz.

»Versprochen. Ich muss los. Danke für den Wein, das war sehr nett von Ihnen.«

In ihrer Wohnung begrüßte sie das leise Surren des Kühlschranks, der sich anstrengte, seinen Inhalt eiskalt zu halten.

Sie öffnete die Tür und stellte den Regler niedriger, der zu ihrer Verwunderung auf höchster Stufe stand. Hatte sie das heute Morgen getan? Ein schriller Alarmton erklang, als sie die Wohnungstür abschloss. Automatisch überprüfte sie den Rauchmelder, aber der war aus. Als sie die Schlafzimmertür öffnete, wurde der Ton lauter. Sie brachte den Wecker zum Schweigen und sah verdattert, dass er auf zwanzig nach sieben eingestellt war, dabei war sie doch morgens um sieben schon aus dem Haus gewesen.

Die Haut zwischen ihren Schulterblättern kribbelte. Sie war sich ganz sicher, dass sie die Weckzeit nicht verstellt hatte. Es musste eine logische, harmlose Erklärung dafür geben, aber ihr fiel keine ein. Mit zitternden Händen stellte sie den Wecker zurück auf den Nachttisch. Wenn sie weder die Kühlschranktemperatur noch den Wecker verstellt hatte, musste jemand anders das getan haben, und dieser Jemand konnte noch immer in der Wohnung sein.

Sie stieß mit voller Wucht gegen die Badezimmertür, sodass sie aufflog, mit der Klinke gegen die Wand prallte und zurückschwang. Die Dusche war voll aufgedreht, aber es lauerte niemand hinter dem Vorhang.

Das Gästezimmer war leer, der eingebaute Kleiderschrank so voll gestopft mit Sachen, dass sich niemand darin ver-120

steckt haben konnte. Damit blieb nur noch das Wohnzimmer.

Nightingale zog ein großes Messer aus dem hölzernen Block in der Küche und vergewisserte sich, dass kein anderes fehlte. Sie zwang sich, gleichmäßig und leise zu atmen, während sie auf die halb offene Tür zuschlich. Sie bückte sich und spähte durch den Spalt zwischen den Scharnieren. Als sie sah, dass sich niemand hinter der Tür versteckte, betrat sie das Zimmer, spürte, dass der Messergriff vom Schweiß ihrer Handfläche glitschig geworden war. Das Sofa stand da, wo es immer stand, direkt an der Wand. Blieben noch die Vorhän-ge an den beiden großen Fenstern. Eins ging nach Süden, das andere nach Westen. Die Vorhänge waren zugezogen. Hatte sie das am Morgen gemacht, damit das Zimmer kühl blieb?

Sie glaubte es nicht, und ihre Hände fingen an zu zittern. Es gelang ihr kaum, die Atmung zu kontrollieren, ihre Kehle war wie zugeschnürt, und ihr Herz pochte so rasend, dass ihr das Blut in den Ohren rauschte.

Nightingale nahm das Messer in die andere Hand und trocknete sich die Handfläche am T-Shirt ab, bevor sie den Griff noch fester umklammerte. Im Selbstverteidigungskurs hatte sie gelernt, sich entschlossen zu bewegen und nur dann eine Waffe zu tragen, wenn sie überzeugt war, sie auch richtig benutzen zu können. Sie holte tief und lautlos Luft und runzelte die Stirn. Welches Fenster? Wenn sie sich für das falsche entschied, würde sie dem Eindringling den Rücken zukehren.

Sie wollte sich eben für das Südfenster entscheiden, als der rechte Vorhang am Westfenster sich bewegte. Kaum merklich. Als sie blinzelte, hing der Stoff wieder reglos, doch ihre Entscheidung war gefallen. Sie rannte zu den Vorhängen und riss sie auf, die Messerhand erhoben.

Ein furchtbares Fauchen ertönte, und eine dicke schwarze 121

Katze fuhr zu ihr herum, machte einen Buckel und zischte wütend, genauso angriffsbereit, wie Nightingale es gewesen war. Die sprang vor Schreck zurück und überprüfte rasch, dass sich niemand hinter dem anderen Vorhang versteckte.

Die Katze beobachtete sie mit nacktem Hass, während ihre Krallen büschelweise Wolle aus dem cremefarbenen Teppichboden rissen.

Zunächst wusste Nightingale nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, dann merkte sie, dass sie beides tat. Wer auch immer ihr diesen Streich gespielt hatte, denn etwas anderes konnte es ja nicht sein, konnte unmöglich gewusst haben, dass sie als Kind panische Angst vor Katzen gehabt hatte, besonders vor schwarzen. Ihre Mutter hatte eine ganz ähnliche Katze wie diese da gehabt, ein bösartiges Vieh, das sie aus irgendeinem Grund nicht ausstehen konnte. Einmal hatte es ihr auf der Treppe aufgelauert und gewartet, bis sie darunter vorbeiging, um ihr dann mit eifersüchtigen Krallen die Kopfhaut aufzukratzen.

Das Tier musste weg. Solange es in der Wohnung war, würde sie keinen klaren Gedanken fassen können. Doch die Katze blickte selbstsicher zu ihr hoch, als würde sie sich schon ganz wie zu Hause fühlen. Ohne sie aus den Augen zu lassen, wich Nightingale zurück in die Diele, wo sie ihre Tasche abgestellt hatte. Sie öffnete den Verschluss und nahm das ein-gepackte Sandwich heraus, rümpfte die Nase, als sie den noch warmen Räucherlachs roch. Das Klicken von Krallen auf Holz ertönte, die Katze kam in die Diele stolziert, Nase und Schwanz zuckten im Takt. Nightingale warf ein Stück Lachs auf den Boden, und die Katze machte ein paar Schritte darauf zu. Mit großem Misstrauen beäugte sie Nightingale, die jetzt bis zur Wohnungstür zurückwich, um dem Tier mehr Platz zu geben. Die Katze ging in Angriffsstellung. Nightingale wartete in der Hoffnung, dass die Gier das Misstrauen besie-122

gen würde. Minuten vergingen, dann erbebte das Hinterteil und der Schwanz schnellte hin und her, genau wie damals bei dem Viech ihrer Mutter, wenn es Jagd auf junge Vögel machte. Wieder ein Beben, und die Katze stürzte sich auf den Leckerbissen.

Das Stück Lachs verschwand, und die Katze leckte die Stelle auf dem Fußboden ab, wo der Fisch gelegen hatte, bevor sie in Erwartung eines Nachschlags hochblickte. Nightingale öffnete die Wohnungstür und legte ein weiteres Stück Lachs draußen hin, dann ein drittes auf die oberste Treppenstufe, bevor sie das letzte nach unten auf den Treppenabsatz warf.

Die Katze lief zu dem zweiten Stück, schnappte es sich und wich aus, als Nightingale nach ihrem Hinterteil trat, es aber verfehlte. Die Katze lief trotzdem den Flur entlang, und Nig-tingale schlug die Tür zu. Durch den Spion beobachtete sie, wie die Katze sich umdrehte und auf die Tür blickte, bevor sie das dritte Stück verschlang und weiter zum letzten die Stufen hinablief.

Mit zitternden Händen schloss Nightingale die Tür erneut ab und klemmte einen Stuhl unter die Klinke. Sie wischte den Fußboden sauber, saugte den Teppichboden und putzte überall, wo die Katze gewesen sein könnte. Dann ließ sie sich ein Bad einlaufen. Der Einbruch in ihre Wohnung, der Anblick von Fenwick mit Claire und die Nachricht, dass seine Frau gestorben war, das alles hatte ihre Gefühle bis zum Zerreißen gespannt. Ihr kam der Gedanke, dass sie endlich an einem Punkt angelangt war, wo sie eine klare Entscheidung treffen musste. Sie konnte sich dem Zustand des Selbstmitleids und der Angst überlassen, der sie seit der Gerichtsverhandlung zu befallen drohte, oder sich am Riemen reißen.

Derjenige, der ihr die Katze in die Wohnung gesetzt hatte, wollte ihr Angst einjagen und sie paranoid machen, aber sie 123

würde ihn enttäuschen. Sie spürte, wie ein Teil ihres alten Mutes zurückkehrte, ein Körnchen der zähen Unabhängigkeit, die sie schon für immer verloren gewähnt hatte.

Während die Wanne voll lief, hörte sie den Anrufbeantworter ab: sechs Anrufe, fünfmal schweres Atmen und eine Nachricht. »Willkommen daheim«, sagte eine Männerstimme und lachte dann. Die feinen Härchen auf ihren Armen richteten sich auf, und sie rieb kräftig darüber. Auf dem PC hatte sie drei E-Mails von »Pandora«. Sie löschte sie alle.

Ausgestreckt im warmen, nach Lavendel duftenden Wasser schloss sie die Augen und versuchte nachzudenken. Psychisch fühlte sie sich allmählich besser. Körperlich war sie ein Wrack. Sie konnte ihre Rippen zählen, ihre Handgelenk-und Fußknöchel waren spitzig, der Kopf tat ihr weh und ihre Augen brannten. Gut möglich, dass sie Fieber hatte. Sie redete sich ein, dass sie einfach mal richtig durchschlafen und etwas Anständiges essen musste, und sie glaubte es fast.

Nach dem Bad machte sie sich Rührei auf Toast und zwang sich, alles aufzuessen. Sie fühlte sich krank, aber sie war so wachsam wie schon lange nicht mehr. Bevor sie ins Bett ging, überprüfte sie alle Möglichkeiten, in ihre Wohnung einzudringen. Es war alles gesichert, und es gab keinerlei Spuren, die darauf hindeuteten, wie sich der Eindringling Zugang verschafft hatte, trotzdem suchte sie die Nummer eines Schlüsseldienstes heraus, den sie am nächsten Morgen anrufen wollte. Um neun Uhr nahm sie eine halbe Schlaftab-lette und hoffte, dass sie am nächsten Morgen den Wecker hören würde. Das Nächste, was sie bewusst wahrnahm, war das Schellen des Weckers, der sie pünktlich um sechs aus dem Schlaf riss. Mit verklebten Augen und trockenem Mund stand sie auf, um sich dem neuen Tag zu stellen.

Blite erwartete das Team am vereinbarten Treffpunkt. Es 124

waren bereits zweiundzwanzig Grad, obwohl es noch keine sieben Uhr war. Trotz der Wärme trug der Inspector einen Pullover unter seinem Jackett, und er sah fürchterlich aus. Das gesamte Team sollte sich in der Siedlung verteilen und unsichtbar Posten beziehen. Einer der erfahreneren Beamten meldete Bedenken an.

»Wir sind nur zu zehnt, mit Ihnen. Wären mehr Leute nicht besser?«

»Personalverschwendung. Sämtliche Überfälle haben im Umkreis von dreihundert Metern vom hiesigen Postamt stattgefunden.«

Seine Hand, die ein schmuddeliges Taschentuch hielt, deutete auf einen Plan der Siedlung, der ausgebreitet auf der Motorhaube seines Wagens lag. Zweidimensional war das einleuchtend, aber Blite war erst einmal in der Siedlung gewesen. Vielleicht hatte er die Gehwege und Treppenaufgänge vergessen, das Labyrinth, das dieses Areal durchzog. Sie würden nicht alles abdecken können.

Nightingale unterdrückte einen Nieser und trank einen Schluck Wasser aus einer der Flaschen, die sie vorsorglich mitgebracht hatte. Zwei weitere hatte sie tiefgefroren in einem Rucksack verstaut, wo sie die Hitze des Tages hoffentlich möglichst lange einigermaßen kühl überstehen würden.

Blite hustete heftig, spuckte Schleim auf den rissigen Teerbe-lag und legte sich eine Hand auf die Rippen. Nightingale schüttelte innerlich den Kopf. Blite war instinktlos und als Einsatzleiter untauglich.

Sie studierte den Plan, mit ihren begrenzten Kenntnissen der Siedlung. Falls die Täter aus der Nähe des Postamtes flüchteten, hatten sie mindestens vier Fluchtwege zur Auswahl, von denen einer nahe an der heruntergekommenen Wohnung vorbeiführte, in der sie den ganzen Tag mit Ri-125

chard Rike, dem Donut-Monster, eingesperrt sein würde.

Selbst mit ihrer kurzen Berufserfahrung schätzte sie, dass sie noch vier weitere Kollegen brauchen würden. Sie öffnete den Mund, um ebenfalls Bedenken anzumelden.

»Bei allem Respekt, es wird äußerst schwer werden, sämtliche Fluchtmöglichkeiten zu sichern. Die Leute an der Peri-pherie sind zu weit weg, wenn ein Überfall passiert.«

Blite blickte sie erstaunt an, und nur seine Knollennase und die tränenden Augen milderten seine Verachtung.

»Sergeant, wenn ich Ihre Meinung hören will, melde ich mich. So, jetzt keinen Ton mehr und alle auf ihre Posten, bevor wir noch die ganze Siedlung aufwecken.«

Rike zog Nightingale am Ärmel, und sie folgte ihm.

»Das war mutig«, sagte er mit einem Seitenblick zu ihr,

»aber es bringt nichts, das hätte ich Ihnen gleich sagen können. Ich hab schon so oft mit ihm zusammengearbeitet, dass ich mir gar nicht mehr die Mühe mache. Uns passiert schon nichts, er hat meistens ein Teufelsglück. Ich schätze, er hat seine Seele verkauft.«

»Hauptsache, er verkauft nicht auch noch unsere.«

Rike öffnete eine fettfleckige Tüte und hielt sie ihr hin.

»Schinkensandwich? Von Linda, meiner Frau. Sie ist extra früh aufgestanden, um mir welche zu machen.«

Er sagte das mit Stolz, und sie nahm eins, um ihn nicht zu kränken.

»Wieso betraut Superintendent Quinlan Blite mit so schwierigen Sachen?«

»Und nicht Fenwick, meinen Sie?« Er musterte sie scharf, aber sie war eine gute Pokerspielerin. »Es wird gemunkelt, dass Harper-Brown möglichst bald ein paar Erfolge mehr auf Blites Konto sehen will. Er denkt, Quinlan hat ihn zu sehr im Hintergrund gehalten.«

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Das konnte sein. Die Gerüchteküche, die sich nur selten irrte, hatte vermeldet, dass für eine Beförderung inzwischen wieder mehr »konkrete« Polizeierfahrung verlangt wurde.

In dem stinkenden Versteck fröstelte Nightingale und unterdrückte wieder ein Niesen. Sie schimpfte innerlich auf Blites virenverseuchte Einsatzbesprechungen. Die erste Flasche Wasser war schnell leer, aber da sie so stark schwitzte, brauchte sie sich kein anderes Zimmer zu suchen, wo sie sich ungestört erleichtern konnte. Der Schüttelfrost fing vor acht Uhr an, und sie nahm zwei Nurofen. Rike schien wohlauf.

»Ich bin nie erkältet. Hab die Konstitution eines Ochsen.

Mein Großvater ist dreiundneunzig geworden, und zwei seiner Schwestern leben noch. In meiner Familie werden alle alt. Donut? Bei Erkältung soll man essen, sagt man.«

Nightingale schüttelte den Kopf und rieb sich mit einer der eiskalten Flaschen die Stirn. Schweiß rann ihr zwischen den Brüsten und den Rücken hinab. Richard ging Kaffee holen, und diesmal merkte er sich ihre Bestellung. Sie trank die bittere, schwarze Flüssigkeit, und auf einmal war ihr nicht mehr heiß, sondern sie fror. Es fühlte sich eher nach einer Grippe an, und sie verfluchte ihren Körper wegen seiner Schwäche. Das spielt sich alles bloß im Kopf ab, redete sie sich ein und musste dreimal niesen. Ihr Funkgerät krächzte laut, und Richard eilte hin, um es leiser zu stellen. Detective Inspector Blite meldete sich aus der Einsatzzentrale und schickte Rike zu einem anderen Beobachtungsposten etwa dreißig Meter entfernt. Er schob sich das Funkgerät in die Tasche und wandte sich zum Gehen.

»Hier, nicht vergessen.« Nightingale reichte ihm seine ku-gelsichere Weste, und er tippte sich zum Dank an die Stirn.

Eine Stunde später sah sie ihn in seinen schmuddeligen Hemdsärmeln auf und ab gehen, um sich die Beine zu vertre-127

ten. Ihre eigenen Muskeln verkrampften sich solidarisch, und der Rücken tat ihr weh. Irgendwo in ihrem Kopf sagte eine Stimme, dass es vernünftig wäre, sich krank zu melden, doch dann fiel ihr ein, dass es Blite um einiges schlimmer erwischt hatte, und sie schätzte, dass er ihr bestimmt nur sagen würde, sie solle auf ihrem Posten bleiben. Aber als sie sich dabei er-tappte, dass sie auf dem Weg war, die Wohnung zu verlassen, um frische Luft zu schnappen, ließ ihre Dummheit sie erschaudern. Jetzt hatte sie keinen Zweifel mehr, dass sie nach Hause musste. Ein Anruf bei der Einsatzleitung, und Ersatz wäre unterwegs.

Sie sah sich nach ihrem Funkgerät um, doch es war nirgends zu sehen. Rike hatte es bestimmt aus Versehen eingesteckt, nachdem er es leise gedreht hatte. Aber sie hatte ja noch ihr Handy. Die Nummer des Präsidiums in Harlden war gespeichert, und sie wartete ungeduldig, dass sich die Zentrale meldete.

Als D. I. Blite zusammenbrach, gab es im Einsatzraum einige Unruhe. Sergeant John Adams, der als Ersthelfer ausgebildet war, genoss es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, doch seine Freude ließ jäh nach, als er auf Blites korpulente Gestalt blickte und daran dachte, wie ansteckend der Mann war.

»Das ist eine Virusgrippe«, sagte Sergeant Wicklow wissend, während er zusah, wie Adams Blite den Puls fühlte und dann den Rettungswagen rief. »Meinen Nachbarn hat’s auch erwischt. Dem geht’s richtig dreckig. Seit einer Woche im Bett, und der Arzt kommt alle zwei Tage.« Er deutete mit der Hand auf den Mann, der bewusstlos auf dem Boden lag.

»Hätte zu Hause bleiben sollen. Hat uns nur die Viren hier reingeschleppt.«

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Adams war zwar kein Fan von Blite, doch dass der Mann schwer krank war, daran bestand kein Zweifel.

»Könnte eine Lungenentzündung sein. Ein bisschen mehr Mitgefühl, dem armen Kerl geht’s beschissen.«

Wicklow schniefte mitleidslos und widmete sich wieder seiner Arbeit. Zuallererst galt es, den Superintendent darüber zu informieren, dass sein Einsatzleiter außer Gefecht war.

Quinlans Reaktion war vorhersehbar.

»Fenwick verständigen, sofort.«

Der Chief Inspector wurde bei einer weiteren endlosen Besprechung über neue Ermittlungsmethoden aufgespürt, die ihm der Superintendent aufgehalst hatte. Er lauschte aufmerksam und beriet sich dann mit Cooper. Trotz der gespielten Neutralität des Sergeants teilte Fenwick nach nicht einmal fünf Minuten dessen Sorge, dass nicht genug Leute mit der Überwachung betraut waren. Er schluckte eine spitze Bemerkung herunter, die seine schlechte Meinung von Blite verraten hätte, und machte sich auf den Weg zu Quinlans Büro. Unterwegs erkundigte er sich bei Cooper, der auf der Treppe kaum mitkam, wie die Bande normalerweise vorging.

»Sind sie bewaffnet?«

»Mit Baseballschlägern. Bisher weder Schusswaffen noch Messer.« Cooper blieb auf einem Treppenabsatz kurz stehen, um zu verschnaufen.

»Baseballschläger sind schlimm genug. Wie viel Verstärkung haben wir?«

»Das Minimum. Für den Notfall gibt’s eine Alarmbereit-schaft.«

»Dieser dämliche, knauserige Scheißkerl.«

»Wie meinen, Sir?«

»Nichts. Bis gleich.«

129

Und er eilte voraus.

Kaum war er durch die Tür von Quinlans Büro: »Wir brauchen mehr Leute, Sir.«

»Das ging aber schnell!« Quinlan lachte. »Ich hatte mit ...«, er tat so, als würde er auf seine Uhr schauen, »mindestens einer Stunde bis zu dieser Bitte gerechnet.«

»Ich meine es ernst. Ich glaube, der Einsatz steuert auf eine Katastrophe zu. Wenn wir Glück haben, scheitert er, wenn wir Pech haben, wird jemand verletzt.«

»Wie viele brauchen Sie?«

»Acht, mindestens sechs, bloß für den Rest des Tages.

Dann muss ich neu überlegen.«

Es klopfte zögerlich an der Tür, und Cooper kam herein.

»Bob, helfen Sie Andrew, sechs Leute aufzutreiben. Ich bewillige das. Und ich nehme an, Sie fahren sofort raus.«

»Selbstverständlich.«

Schweiß tropfte von Nightingales Kinn auf das nackte Holz der Fensterbank, wo er binnen dreißig Sekunden im Sonnenlicht verdunstete. Sie schaute fasziniert, fast wie hypnotisiert zu, wie der dunkle Klecks schrumpfte, bis nichts mehr von ihm zu sehen war. Die Einsatzleitung hatte ihr gesagt, sie solle sich nicht von der Stelle rühren, bis jemand sie ablösen kam.

Sie zählte die Sekunden nicht mehr, maß die Zeit nur noch daran, wie oft sie in der Minute nieste. Der bisherige Rekord lag bei sechs Mal.

Jedes Gelenk in ihrem Körper tat weh, sogar die Knöchel in den Fingern und Zehen pochten. Gelegentlich verschwamm ihr alles vor den Augen, nichts Dramatisches, bloß eine leichte Trübung an den Rändern des Gesichtsfeldes. Was für ein Virus sie sich bei Blite auch eingefangen hatte, es schien sich rasend schnell in ihrem Körper auszubreiten, und 130

ihre Kräfte schwanden rasch. Um ein Uhr trank sie den letzten Rest von ihrem Wasser und versuchte, einen Apfel zu essen, den sie mitgebracht hatte. Nach einigen halbherzigen Versuchen hineinzubeißen, warf sie ihn weg. Rike war nicht zurück in die Wohnung gekommen, und er hatte noch immer ihr Funkgerät.

Von draußen kam ein Geräusch, nicht beunruhigend, bloß ungewöhnlich. Sie spähte zum Fenster hinaus, und Richards Kopf tauchte über einer Mauer auf, aber weder er noch sie konnte irgendetwas entdecken.

Sie hörte wieder ein Geräusch, diesmal eindeutig ein lautes Rufen, und sie stellte sich auf die Zehenspitzen. Auf der anderen Seite des Platzes, zirka zweihundert Meter entfernt, sah sie zwei Gestalten um die Ecke schleichen. Junge Burschen, einer höchstens sechzehn, der andere noch jünger. Sie versteckten sich, dermaßen angespannt, dass Nightingale es selbst auf diese Entfernung spüren konnte, wie zum Sprung bereite Katzen.

Ein alter Mann kam aus einem Durchgang auf den Platz gelaufen und blickte ängstlich über die Schulter. Die Bande hatte sich anscheinend aufgeteilt – in Treiber und Fänger.

Nightingale musste tatenlos zuschauen, wie die beiden Jungs ihrem Opfer auflauerten, sie konnte ohne Funkgerät keine Hilfe rufen. Der alte Mann hatte seine Angreifer fast erreicht, doch der Platz blieb leer. Nightingale musste sich entscheiden – zuschauen und warten, in der Hoffnung, dass Hilfe kam, oder ihr Versteck aufgeben, um den alten Mann vor Schaden zu bewahren, aber mit dem Risiko, dass die Angreifer das Weite suchten. Im Grunde hatte sie keine Wahl.

Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi, aber sie bewegte sich, so schnell sie konnte, und legte dabei die Schutzweste an. Draußen war es, als würde sie durch Wasser laufen. Der 131

Platz war riesig, der alte Mann viel zu weit entfernt. Einer der Jungs hatte schon einen Arm um seinen Hals.

»Polizei.« Ihr Schrei war ein schwaches Krächzen. Sie räusperte sich und versuchte es erneut. »Polizei!«

Schon besser. Ein weiterer Ruf erschallte, wie ein Echo,

»Polizei«, aus dem Mund von Richard, der weit hinter ihr auf den Platz gelaufen kam. Auch er trug seine Schutzweste.

Die Teenager ließen ihr Opfer einfach zu Boden fallen und rannten auf Nightingale zu. Sie hatte gedacht, sie würden abhauen, doch sie hatte ihr Aggressionspotenzial unterschätzt.

Als sie schon ziemlich nah waren, erkannte sie an ihren Augen, dass sie unter Drogen standen. Dann sahen die beiden Richard. Sie zögerten, und der jüngere der beiden wich Richtung Durchgang zurück. Zu zweit gegen eine Frau hätten sie vielleicht eine Chance gehabt, aber Richard erweckte den Eindruck, dass er zu allem entschlossen war.

Nightingale verlangsamte ihren Laufschritt, damit Richard sie einholen konnte.

»Los, komm. Wir machen die Biege!« Der Jüngere wollte Reißaus nehmen, aber sein Kumpel achtete nicht auf ihn. Mit loderndem Blick ging er vor Richard in Angriffsstellung.

»Verzieh dich, du Arschloch.«

Richard blieb stehen, als er Nightingale erreicht hatte. Der Junge fuchtelte wie wild mit einem Messer herum, während Richard die Hände hochhielt, Handflächen nach außen, als Friedensgeste.

»Ist ja gut, Junge. Lass das Messer fallen.« Er war außerhalb der Reichweite des durchgedrehten Burschen, aber nicht vor einem plötzlichen Angriff geschützt.

Der Junge hörte gar nicht zu. Er schwang jetzt wieder aufgeregt das Messer und tanzte von einem Fuß auf den anderen.

Der alte Mann lag reglos auf der Erde.

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»Verzieh dich, du verdammtes Arschloch. Einen Schritt und ich mach dich kalt.«

»Immer mit der Ruhe. Ich tu ja nichts, ich bleib einfach nur hier stehen.« Richard warf Nightingale einen Blick zu und flüsterte leise aus den Mundwinkeln.

»Wo bleibt die Verstärkung? Ich hab sie angefordert. Die müssten längst da sein.«

»Sie haben mein Funkgerät«, murmelte sie so leise wie möglich, damit der Junge nichts verstand. Der geriet allmählich in Panik. Seine Augen huschten von einer Seite zur anderen, als würde er krampfhaft überlegen, wie und wann er am besten angreifen sollte.

»Schnauze, ihr Bullen.« Der Junge kam einen Schritt nä-

her. Adrenalin rauschte Nightingale durch den Körper. Ob halbes Kind oder nicht, der Bursche war imstande, sie beide zu töten.

Hinter ihnen ertönten Stimmen. Sechs Beamte kamen um die Ecke des Blocks gestürmt, der am weitesten entfernt war.

Der Junge sah sie und drehte durch. Statt wegzulaufen, sprang er vor und stieß mit dem Messer nach Richard. Die Klinge rutschte von der Schutzweste ab, erwischte ihn aber am Unterarm. Augenblicklich wurde das Hemd rot. Beim Anblick des Blutes rastete der Junge vollends aus. Er stach wie wild drauf los und schnitt Richard, der den Angriff abwehren wollte, die Handflächen auf.

Überall war Blut, pumpte hellrot aus der Schlagader. Nightingale versuchte, die Aufmerksamkeit des Jungen auf sich zu lenken, indem sie ihn anschrie, zum Angriff herausforderte, doch der Junge hatte nur Augen für den Mann. Sie sah, wie Richard stolperte, das Gesicht kalkweiß, und sie griff nach ihm, um ihn zu stützen. Sie presste eine Hand mit aller Kraft auf die stark blutende Wunde, und sie wichen beide vor dem 133

Jungen zurück, der prompt wieder aufschloss. Wie ein wildes Tier, dessen Killerinstinkt durch den Geruch und den Anblick von Blut geweckt worden war, ließ er nicht von seiner Beute ab.

Sie sah Leute über den Platz rennen, aber sie waren zu weit weg. Der Junge hechtete wieder nach vorn, zielte auf Richards Hals, die Augen rot und schwarz vor Hass. Die Klinge kratzte die Haut an, und Blutstropfen kamen zum Vorschein. Nightingale versuchte, Richard hinter sich zu bugsieren, aus dem Gesichtsfeld des Jungen heraus, um so vielleicht den Aggressi-onsbann zu brechen, der sie miteinander verband. Der Junge stieß einen Zornesschrei aus und sprang, riss sie beide zu Boden.

»Jetzt seid ihr dran!«, schrie er und stach auf sie ein.

Nightingale spürte, wie die Klinge über ihren geschützten Rücken glitt und ihr den Arm aufschnitt, bevor sie auf Richard zuglitt, knapp sein Auge verfehlte und ihm ein schmales Stück oben vom Ohr abrasierte. Er hob abwehrend die blutverschmierten Hände, als das Messer wieder zustach.

»Hilf mir. Um Himmels willen!«

Nightingale hörte die Angst in seiner Stimme. Mit übermenschlicher Anstrengung wuchtete sie ihn hoch und rollte sich mit ihm weg. Ihr Angreifer war jetzt auf allen vieren und bleckte fauchend die Zähne. Nightingale stemmte sich hoch und zog Richard weiter weg, als die ersten der zu Hilfe eilenden Kollegen gegen den Jungen krachten, ihn zu Boden schleuderten und ihm das Messer entrissen. Ein ziemlich schwerer und fuchsteufelswilder Polizist drückte ihn mit seinem ganzen Gewicht nach unten, riss ihm die Arme auf den Rücken und legte die Handschellen so eng an, dass die Haut weiß wurde.

Während zwei Beamte den spuckenden, fluchenden Jun-134

gen festhielten, kümmerten die übrigen sich um Richard und Nightingale und redeten beruhigend auf sie ein. In der Ferne hörte Nightingale die Sirene eines Rettungswagens und drückte noch fester auf die blutende Wunde ihres Partners.

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Kapitel neun

»Kommen Sie rein, Louise.« Superintendent Quinlan blickte auf und lächelte sie an. »Nehmen Sie Platz.

Wie geht es Ihnen?«

»Gut, danke.« Sie setzte sich gehorsam, das Gesicht ausdruckslos.

»Ah, Andrew. Schön.«

Nightingale fuhr zusammen, hielt aber das Gesicht nach vorn gerichtet. Sie war über eine Woche krankgeschrieben gewesen, und eine diskrete interne Untersuchung hatte sie inzwischen vollständig entlastet. Die Schuld war eindeutig dort abgeladen worden, wo sie hingehörte, nämlich auf den

»grippegeplagten Schultern von Inspector Blite«. Er hatte seine krasse Fehleinschätzung der Erkrankung zugeschrieben, und der Assistant Chief Constable war geneigt, das zu akzeptieren. Quinlan hatte sich in diplomatischer Zurückhaltung geübt, doch in den Umkleideräumen und an Kantinenti-schen, wo niemand ein Blatt vor den Mund nehmen musste, herrschte Einigkeit, dass Blites kleinkarierte Erbsenzählerei nun endlich ans Licht gekommen war.

D.C. Richard Rike würde mindestens einen Monat ar-beitsunfähig sein, vielleicht noch länger, falls die durchtrennte Sehne an seinem Handgelenk ein zweites Mal operiert werden musste. Nightingale hatte die ihr empfohlene psychologische Beratung abgelehnt. Nach einem Pflichtbesuch für das Gutachten hatte sie sich mit Grippemedikamenten, Aspirin 136

und Mrs Coopers Suppe zu Hause eingeschlossen. Die Psychologin, die sie besucht hatte, war beunruhigt, und ihr Bericht war einer von vielen, den Superintendent Quinlan studiert hatte, bevor seine beiden Mitarbeiter eintrafen.

Für eine so junge Beamtin war Louise Nightingales Personalakte schon erstaunlich dick. Sie enthielt eine Belobigung wegen Tapferkeit, Hinweise auf zwei Krankenhausaufenthalte aufgrund von Verletzungen, die sie sich im Dienst zugezogen hatte, und ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft, in dem ihre Aussage im Griffiths-Prozess gelobt wurde.

Er senkte den Blick auf die Unterlagen, tief in Gedanken und ohne das Schweigen, das jetzt in seinem Büro herrschte, unangenehm oder überraschend zu finden. Weder Fenwick noch Nightingale mochten Smalltalk. Er hatte immer gedacht, beide hätten vieles gemeinsam, doch inzwischen war er sich da nicht mehr so sicher.

Andrew Fenwick wirkte irgendwie verjüngt. Er war sonnengebräunt und machte einen fitten und energiegeladenen Eindruck. Die schreckliche Anspannung, die sich in den Jahren während der Krankheit seiner Frau fest um seinen Mund und seine Kinnpartie gelegt hatte, schien endlich zu weichen.

Im Gegensatz dazu war Nightingale kreideweiß und hager.

Ihre Handgelenke sahen aus wie dünne Äste, die unter einem festen Griff zerbrechen würden. Die violetten Halbmonde unter den Augen waren die einzige Farbe in ihrem Gesicht.

Obwohl sie wie immer ordentlich und adrett wirkte, war ihr Haar stumpf, und die Kleidung schlotterte ihr am Körper.

Sergeant Cooper hatte sie zweimal besucht, während sie sich auskurierte, und ihr das Beste gebracht, was die Küche seiner Frau zu bieten hatte. Er hatte seine tiefe Besorgnis nicht in einen offiziellen Bericht gekleidet, sondern in privaten Gesprächen unter Kollegen geäußert, und schließlich 137

waren seine Befürchtungen auch dem Superintendent zu Ohren gekommen. Cooper hatte erzählt, dass Nightingale die ganze Woche allein gewesen sei. Ihre einzige Gesellschaft sei eine streunende Katze gewesen, in deren Maul, so Coopers Verdacht, die meisten Fleischpasteten seiner Frau gelandet seien.

Nightingale brauchte eine radikale Veränderung. Die Versetzung, die er vorschlagen wollte, wäre genau das Richtige für sie.

»Sind Sie auch wirklich wieder ganz auf dem Damm, Louise?«

»Vollkommen, Sir. Ich hätte schon am Montag wieder gearbeitet, wenn der Arzt nicht so ein Feigling gewesen wä-

re.« In ihrer Stimme lag eine ungewohnte Härte.

»Verstehe«, Quinlan runzelte die Stirn, »wenn das so ist, spricht ja wohl nichts dagegen, die längst fällige Unterhaltung über Ihre weitere Zukunft zu führen. Wie ich schon bei unserem letzten Gespräch sagte, steht Ihrer Karriere nicht das Geringste im Weg, aber eine Versetzung wäre ausgesprochen empfehlenswert. Es gibt da zwei offene Stellen, über die Sie nachdenken sollten.«

Nightingale öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Quinlan hob die Hand und sprach weiter.

»Zufällig kenne ich die Chief Constable in Leeds, und ich könnte ein Wort für Sie einlegen. Sie gilt als äußerst kompe-tent und leitet eine ausgezeichnete Truppe. Sie würden gut dorthin passen.«

Sie konnte sich nicht länger beherrschen.

»Aber, Sir, ich will nicht versetzt werden. Ich fühle mich hier sehr wohl.«

»Sie können nicht ewig in Harlden bleiben.«

Aber Nightingale war nicht zur Einsicht zu bringen. Sie 138

widersprach mit einer Leidenschaft, die Fenwick ihr gar nicht zugetraut hätte. Er sah, dass Quinlan allmählich ärgerlich wurde, und merkte, dass Nightingale anscheinend nicht klar war, dass es sich nicht um einen diskutierbaren »Vorschlag«

handelte. Sie war dabei, mit ihrer Halsstarrigkeit einen ein-flussreichen Vorgesetzten vor den Kopf zu stoßen, und er hielt es für besser, einzugreifen.

»Nightingale«, er konnte sich nicht dazu durchringen, sie Louise zu nennen, das kam ihm unnatürlich vor, »Sie sehen das nicht ganz richtig. Das hier ist keine Diskussion. Es wird Zeit, dass Sie Harlden verlassen.«

Sie sah ihn an, als habe er sie geohrfeigt. Leuchtend rote Flecken erschienen auf ihren Wangen, und einen fürchterli-chen Moment lang dachte er, sie würde in Tränen ausbrechen.

Sie stand auf, die Augen auf ihn gerichtet, das Gesicht starr.

»Ich verstehe. Wenn das so ist, werden Sie mich entschuldigen.« Sie ging aus dem Zimmer, ohne die Erlaubnis abzu-warten. Fenwick sprang auf.

»Nightingale!« Sie hielt nicht mal einen Moment inne.

»Lassen Sie’s gut sein, Andrew. Weiß der Himmel, was in sie gefahren ist. Je eher sie wieder in eine normale Umgebung kommt und nicht mehr mutterseelenallein vor sich hin grü-

belt, umso besser. Weiber!«

Fenwick zog die Augenbrauen hoch, und Quinlan lachte.

»Ich weiß. So was darf ich heutzutage nicht mehr sagen, aber glauben Sie mir, sie sind eine Spezies für sich.«

»Tja, ich will weiß Gott nicht behaupten, dass ich sie verstehe, aber irgendwas stimmt da nicht.«

»Für mich liegt der Fall auf der Hand: Sie hat ihre Eltern verloren, wäre fast einem Serienvergewaltiger zum Opfer gefallen und dann passiert auch noch die Sache mit den Jugendlichen, ausgerechnet, wo für sie alles wieder halbwegs 139

normal läuft. Ach, und sie hat keinen Freund. Ein netter Mann würde ihr schon die Flausen austreiben.«

»Du lieber Himmel, Sir. Passen Sie auf, was Sie sagen.

Und außerdem«, Fenwick runzelte nachdenklich die Stirn,

»kann ich mir das eigentlich nicht vorstellen. Eine so attraktive Frau wie Nightingale hat doch bestimmt an jedem Finger zehn. Wieso ist sie allein?«

»Was weiß ich. Ich sag ja, Weiber, aus denen wird keiner schlau.«

Nightingale starrte auf das verkratzte Holz ihres ramponierten Schreibtisches und versuchte angestrengt, einen klaren Gedanken zu fassen. Man – er – wollte sie nicht mehr in Harlden haben. Als der Superintendent beim ersten Mal von Versetzung gesprochen hatte, hatte sie das als kurzlebige Überreaktion auf den Medienrummel im Fall Griffiths betrachtet, aber das war ein Irrtum gewesen. Man wollte, dass sie ging, und der Gedanke war ihr unerträglich.

Was glaubten die eigentlich, was sie alles mit sich machen ließ? Für ihre Vorgesetzten war Harlden lediglich eine Sprosse auf der Karriereleiter, die man bereitwillig hinter sich ließ.

Aber sie irrten sich gewaltig, Harlden war nicht nur ein Job, Harlden war ihr Leben. Denn hier arbeitete Fenwick. Auch wenn er eine Beziehung mit Claire Keating hatte – es hieß, sie habe sich sehr hartnäckig um ihn bemüht –, die Geschichte musste nicht von Dauer sein.

Ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Vielleicht sollte sie lieber nach Hause fahren. Blackie hatte bestimmt schon wieder Hunger. Der Kater war ein nicht mal besonders hübscher Nimmer-satt und ließ sie einfach nicht in Ruhe. Obwohl er deutlich zeigte, dass sie für ihn nur eine praktische Verköstigungsstätte darstellte, war er ihr in den letzten zwei Wochen trotz ihrer 140

anfänglichen Angst ans Herz gewachsen. Sie musste immer schmunzeln, wenn er vor ihrer Wohnungstür hockte oder draußen vor dem Haus in den Blumenbeeten herumstromerte.

Natürlich wusste sie, dass ihr Bedürfnis, gebraucht zu werden, und wenn es nur von einem bestechlichen Tier war, bemitlei-denswert war, aber zumindest war sie so ehrlich, sich das einzugestehen.

Jemand wünschte ihr alles Gute, als sie den Raum verließ.

Eine Stimme rief ihr zu, sie solle sich schonen. Ihr Gesicht nahm die Form eines Lächelns an. Zu Hause machte sie Tee und zwang sich dann, den Anrufbeantworter abzuhören. Ihr graute davor, wieder nur Schweigen zu hören. Inzwischen lag etwas Bedrohliches darin. Vielleicht bildete sie es sich ja nur ein, aber irgendwie spürte sie, dass sich die Art des Schweigens verändert hatte.

Blackie stupste mit dem Kopf gegen ihre Wade, und sie machte ihm eine Schüssel mit Milch und Corned Beef zurecht.

Sie fand den Geruch von Katzenfutter widerlich, aber Blackie aß alles, Hauptsache es war Fleisch. Mrs Coopers Rindfleisch-pasteten waren seine Lieblingsspeise. Es war ein tröstlicher Anblick, wenn er genüsslich vor sich hin kaute, vorzugsweise auf der Seite des Mauls, wo er noch alle Zähne hatte.

Als sie ihm sein Fressen auf einer alten Zeitung hinstellte, klingelte das Telefon und sie zuckte zusammen.

»Hallo.«

Sie hörte das vertraute leise Atmen am anderen Ende der Leitung, aber diesmal vernahm sie im Hintergrund Verkehrs-geräusche und den unverkennbaren Hall eines Handys.

»Hören Sie, das wird allmählich öde. Sie langweilen mich zu Tode.« Sie legte auf und fragte sich erneut, ob sie sich eine Geheimnummer geben lassen sollte.

Blackie kletterte zu ihr auf den Schoß, als sie sich setzte 141

und den Anrufbeantworter ganz abhörte. Vier weitere stumme Anrufe. Der Kater maunzte protestierend, als sie aufstand, und kratzte an der Tür, weil er rauswollte. Er trollte sich beleidigt, und Nightingale schaltete den PC ein.

Acht E-Mails warteten auf sie, an jedem Tag, den sie krankgeschrieben gewesen war, hatte sie eine erhalten. Alle waren von Pandora. Die Erste war fast poetisch, wenn die Bedrohung nicht mitschwingen würde.

WARUM BRINGST DU ES NICHT ZU ENDE,

ARTEMESIA? WENN DIE NACHT BEGINNT

UND IHR TÖDLICHES LIED ERKLINGT.

SCHÖNHEIT UND TOD. WIE OFT IST NICHT

BEIDES IN DER KUNST VEREINT? VERSTECK

DICH NICHT DORT OBEN ALLEIN IM DUN-

KELN. KOMM HERAUS UND SPIEL MIT MIR.

Das musste aufhören. Vielleicht würde Pandora ja das Interesse verlieren, wenn sie eine abschlägige Antwort gab. Sie schrieb: Wer immer du bist, das Feld gehört dir. Ich brauche das Spiel nicht mehr.

Als sie die restlichen E-Mails las, war sie froh, dass sie kurz und knapp reagiert hatte. Sie wurden zunehmend beleidigender.

Nightingale löschte sie alle, und tat dann, was sie immer tat, wenn ihr nichts Besseres einfiel: Sie ging joggen. Die Konzentration auf die sportliche Anstrengung und die anschließende Erschöpfung waren zumeist ein gutes Mittel, um den Kopf auszuschalten, doch diesmal blieb die Wirkung aus.

Als sie zwei Stunden später nach Hause kam, war sie noch immer verwirrt und wütend, und als sie die Wohnung betrat 142

und das Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter blinken sah, knallte sie aus Frust die Tür mit einem Tritt zu. Sie riss das Telefonkabel aus der Buchse und nahm einen Energydrink aus dem Kühlschrank. Der Bildschirm meldete eine neue E-Mail, und sie schlug mit den Fingern heftig auf die Tastatur, um die Nachricht aufzurufen.

DU DRECKIGES FLITTCHEN! FÜR WEN

HÄLTST DU DICH EIGENTLICH? PROSTI-

TUIERST DICH IM NAMEN EINES GESETZES,

DAS ZU KORRUPT IST, UM DER LEUTE, DIE

DU VERACHTEST WÜRDIG ZU SEIN. DU BIST

NICHT BESSER ALS EIN TIER. EINE STIN-

KENDE, RÄUDIGE KATZE, DIE ES MIT ALLEN

UND JEDEM TREIBT. WARTE NUR. DEINE

ZEIT IST BALD GEKOMMEN. GLAUB NICHT,

DU SEIST IN SICHERHEIT. DORT OBEN IN

DEINEM STILLEN KÄMMERLEIN IM FÜNFTEN

STOCK. DU BIST ES NICHT. VERRIEGLE NUR

RUHIG DEINE TÜREN UND FENSTER. ICH

KRIEG DICH TROTZDEM. EINES TAGES, EI-

NES NACHTS, WENN DU AM WENIGSTEN

DAMIT RECHNEST, IST DEINE ZEIT GEKOM-

MEN.

Nightingale starrte entsetzt auf den irren Text, las die hasser-füllten Worte ein zweites Mal. Der Absender wusste, wo sie wohnte, und dass sie das Schloss ihrer Wohnungstür ausgetauscht hatte, seit Blackie da war. Sie nahm einen Schluck von ihrem Getränk und versuchte trotz zitternder Hände, die Nachricht mit ihrem analytischen kriminalistischen Verstand einzuschätzen. Sie musste sich eingestehen, dass ihr 143

Stalker sie nicht in Ruhe lassen würde.

Zum ersten Mal hatte sie das Wort benutzt, um die Situation zu beschreiben, die ihr Angst machte. Ein Stalker wurde in der Regel gewalttätiger, wenn seine Obsession wuchs. Ihr blieb jetzt nichts anderes mehr übrig, als ihre Kollegen zu informieren. Es würde peinlich werden, weil sie schon so lange bedroht wurde, aber die Sache war zu ernst geworden, um sie noch länger herunterzuspielen.

Mitternacht. Es war drückend warm. Fenwick stützte sich auf einen Ellbogen und blickte auf Claire hinab. Ein Laken bedeckte ihren schlanken Körper. Er versuchte, sich vorsichtig aus dem Bett zu schieben, damit sie nicht wach wurde.

»Gehst du?«

Er unterdrückte ein Seufzen und ließ seine Stimme unbeschwert klingen.

»Ja, ich muss los. Die Kinder fragen sonst beim Frühstück, wo ich bin.«

Sie setzte sich auf und knipste die Nachttischlampe an, ließ das Laken bis zur Taille herunterrutschen. Das Licht fiel auf ihren Körper, und er verglich sie automatisch mit Monique.

Er verbannte den Gedanken mit einem schuldbewussten Kopfschütteln.

»Irgendwann, Liebling, musst du aber mal hier bleiben.

Ich würde gern morgens mit dir aufwachen. Dir das Frühs-tück machen …«

Er beugte sich vor und küsste sie rasch auf den Mund, um die Worte aufzuhalten, die das Bild von trauter Zweisamkeit heraufbeschwören wollten.

»Lass mich dir wenigstens einen Kaffee machen, damit du für die Fahrt nach Hause wach wirst.«

»Na schön. Ich meine, danke.« Er zog sich schnell an, 144

während sie ihre Nacktheit mit einem Morgenmantel bedeckte und nach unten ging.

Der Kaffee war viel zu heiß, aber er trank ihn trotzdem, um sie nicht zu kränken. Sie hatte für sich selbst Tee gekocht.

»Wenn wir schon nicht morgen früh miteinander reden können, erzähl mir doch jetzt, wie dein Tag war. Wir haben gestern Abend ja kaum ein Wort gewechselt.« Sie kicherte, und Fenwick stöhnte innerlich auf. Ihm stand wirklich nicht der Sinn nach Reden, aber ihr zuliebe rang er sich durch.

»Kein guter Tag. Zu viel Papierkram, ein deprimierender Besuch bei Richard Rike und anschließend eine Besprechung, bei der Quinlan mich unbedingt dabei haben wollte und die schlecht gelaufen ist.«

»Worum ging’s denn? Ich dachte, ihr zwei kommt prima miteinander klar.«

»Tun wir auch, aber an uns lag es nicht.«

»Harper-Brown? Hat er sich in Harlden mal wieder unters Fußvolk gemischt?«

Fenwick lachte.

»Nein, jemand vom anderen Ende der Hierarchie. Eine junge Kollegin, die keine Ratschläge annehmen will und keine Ahnung hat, was gut für sie ist.«

»Wer?« Claires Neugier auf Klatsch und Tratsch aus dem Präsidium war unbezähmbar und fing an, ihm auf die Nerven zu gehen.

»Du kennst sie nicht, Louise Nightingale.«

Claires Augen verengten sich, und sie sah ihn an, während er noch einen Schluck Kaffee wagte.

»Natürlich kenne ich sie. Groß, ein bisschen dünn und energisch. Gute Polizistin, leider mit einem Hang zu Unfällen.

Sieh an, sieh an. Was hat sie denn jetzt wieder angestellt?«

Fenwick spürte stellvertretend für Nightingale einen Anf-145

lug von Entrüstung.

»Ach, nichts Schlimmes. Hat einem Mann das Leben gerettet, wurde dabei verletzt, hat sich die Grippe eingefangen und weigert sich, ihre Medizin zu nehmen. Soll heißen, sie weigert sich, unseren Rat anzunehmen.«

»Worum geht’s denn genau?« Claire setzte sich auf einen Küchenstuhl, die Augen gebannt auf sein Gesicht gerichtet.

Er fand ihren forschenden Blick unangenehm, doch um des lieben Friedens willen erzählte er ihr von der Besprechung.

Sie fragte geschickt nach – nicht umsonst war sie Psychologin

– und entlockte ihm Einzelheiten über Nightingales schlimmes Jahr und ihre Zukunftsängste. Als er auf seine Begegnung mit ihr im Wald zu sprechen kam, stockte er, weil es ihm zu persönlich erschien.

»Erzähl doch weiter. Nicht aufhören, wo es gerade interessant wird.«

Er fuhr fort, beschränkte sich aber auf das Wesentliche.

»Eins würde mich interessieren«, Claire lächelte, und er kannte den Ausdruck, die Analyseübung machte ihr Spaß,

»war der Pullover gewaschen, als sie ihn zurückgegeben hat, oder nicht?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Na, sag schon.«

»Weder noch. Sie hat ihn noch nicht zurückgegeben. Ich hatte bis jetzt auch nicht mehr dran gedacht.«

Claire hob tadelnd eine Augenbraue. Sie wirkte verärgert und spülte ihre Tasse schweigend unter fließendem Wasser ab. Ihre funktionale, moderne Küche war makellos. Die Tasse wurde abgetrocknet und weggeräumt.

»Was ist?«

»Was soll denn sein?«

»Hab ich irgendwas Falsches gesagt?« Fenwick spülte seine 146

Tasse ab und kippte die Hälfte seines Kaffees heimlich unter dem laufenden Wasser weg. Als er sich nach dem Geschirrtuch umdrehte, wurde ihm die Tasse aus der Hand gezogen.

»Nein, hast du nicht. Wenn du gehen musst, beeil dich.

Ich muss schlafen. Ich hab morgen einen anstrengenden Tag.«

»Claire …«, Fenwick stockte ratlos. »Ich versteh nicht.«

»Da gibt es auch nichts zu verstehen, aber du solltest den Pullover zurückverlangen. Sonst wird es dir noch zur Gewohnheit, deine Sachen an Bedürftige zu verschenken.«

Verwirrt gab er ihr einen Kuss auf die Wange und wünschte ihr eine gute Nacht. Claire ging wieder ins Bett, konnte aber lange nicht einschlafen.

147

Kapitel zehn

Zum zweiten Mal wurde er in den Besucherraum gerufen, aber diesmal ging er mit einer gewissen Ungeduld hin.

»Du hast dir ganz schön Zeit gelassen.«

Der aggressive Unterton in Griffiths’ Stimme war neu und gefiel seinem Besucher gar nicht. Er tat so, als wollte er wieder gehen, eine kleine Geste, die die gewünschte Wirkung erzielte.

»Nein, tut mir Leid. Geh nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier drin ist. Bitte bleib hier.«

Griffiths’ flehender Tonfall stimmte seinen Besucher versöhnlich, und er nahm wieder Platz.

»Aber ohne Saunders ist es erträglicher, nicht?«

»Ja, er war der Schlimmste. Woher weißt du, dass er tot ist

…« Der Mund des Gefangenen klappte auf, als sein durch die Haft träge gewordener Verstand begriff, was die Bemerkung seines Besuchers bedeutete. »Das hast du für mich getan?«

»Ich tue alles für einen alten Freund, das weißt du doch.«

»Und kannst du noch was für deinen alten Freund tun?«

»Oh, ich bin noch nicht fertig, ich muss mich noch um deine Nemesis kümmern.«

»Meine was?«

»Artemesia. Reiß dich zusammen. Du könntest wenigstens lesen und deine grauen Zellen trainieren, solange du hier bist.

Ich glaube, das kleine Szenario, das ich mit ihr laufen habe, würde dir gefallen. Natürlich kann ich nicht ins Detail gehen, 148

aber sagen wir einfach, ich habe sie in ein Spiel hineinge-zogen, und sie ist schon jetzt dabei, es zu verlieren. Ich möchte noch einen letzten Streich mit ihr spielen, und dann mach ich dem Ganzen ein Ende. Allmählich wird es nämlich langweilig.«

»Sonst bist du doch nicht so zögerlich. Normalerweise hast du keine Bedenken zu tö-« Griffiths bremste sich rechtzeitig.

»So ist es besser, glaub mir. Meine übliche Methode hätte nicht funktioniert, weil sie viel zu misstrauisch ist, aber lange musst du nicht mehr ausharren. Hab Geduld.«

»Du hast gut reden, du hockst schließlich nicht hier drin.«

Er senkte den Kopf und zischte: »Ich muss hier raus, bitte, du musst mir helfen.«

»Ein Weilchen musst du schon noch durchhalten, aber ich habe einen Plan. Die Sache geht vielleicht nicht so schnell über die Bühne, wie du es gern hättest, aber der Plan funktioniert.«

»Was hast du vor?«

Sein Besucher rutschte unruhig hin und her. Bei jemand anderem hätte Griffiths das als Zeichen von Verlegenheit auf-gefasst. Aber er wusste, dass der Mann, der ihm gegenüber saß, geschlossene Räume nicht vertragen konnte, wenngleich das Thema tabu war.

»Ich werde mich um neue Gründe für eine Berufung kümmern.«

»Ich hab dir doch gesagt, mein Anwalt meint, ich hab keine Chance.«

»Dann müssen wir dir diese Chance verschaffen. Überleg doch mal. Wodurch lässt sich die Polizei am einfachsten davon überzeugen, dass sie den Falschen erwischt haben?«

Griffiths kratzte sich am Kopf, versuchte angestrengt, einen eigenen Gedanken zu fassen.

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»Ich weiß nicht.«

Sein Besucher seufzte ungehalten und beugte sich vor, damit er besonders leise sprechen konnte.

»Dadurch, dass die, ähm, Vorfälle, die zu deinem Aufenthalt hier geführt haben, weitergehen, während du hier drin bist. Natürlich heißt das, dass ich dich nicht mehr besuchen kann, weil man dich wieder genau unter die Lupe nehmen wird. Also weiterhin kein Wort über mich.«

»Ist doch klar.« Griffiths griff nach der Hand des Mannes, doch sie wurde zurückgezogen, und er wechselte das Thema, um die Zurückweisung zu überspielen.

»Die Bücher sind angekommen. Ich hab die Nachricht entschlüsselt.«

»Sehr gut, dann ist ja alles klar. Ich muss los. Denk dran, hab Geduld und sei schlau.«

Der Mann, der Griffiths’ einziger Bruder und Freund war, ging. Falls der Plan scheiterte, würde er ihn nie wieder sehen.

Der Gedanke deprimierte ihn noch mehr. In seiner Zelle schaute er erneut auf den Brief, den er erhalten hatte, dann auf seine sorgsam versteckte Entschlüsselung, auf die er ungemein stolz war. Das Original lautete: Lieber Freund,

du hattest mich gebeten, dir etwas Passendes zum Lesen zu schicken. Die beiliegende Lektüre ist eines meiner Lieblingsbücher. Es ist die Geschichte eines bemerkenswerten Seefahrers, der ab einer der ersten unsere Küsten erkundet hat. Die Seiten 2, 12, 46, 17

und 15 sind besonders interessant. Der Autor hat nicht nur dasselbe Geburtsdatum wie ich, Tag, Monat und Jahr, sondern wohnte zufällig auch in einem Haus, das dieselbe Nummer hatte wie meines, 125. Ist das nicht merkwürdig? Ich schreibe dir bald wieder, mit liebem Gruß,

Agnes

150

Er schlug die Seite 2 auf und suchte anhand der Ziffern des Geburtsdatums – 17. Juli 1976 – das 17., das 7., das 19. und 76. Wort und schließlich anhand der Hausnummer das 125.

Wort heraus. Auf den Seiten 12, 46, 17 und 15 verfuhr er genauso und nach einer Viertelstunde hatte er die Nachricht entschlüsselt:

Flucht nicht möglich; besserer Plan: erneut zuschlagen, gleiche Methode wie vorher, während Gefangener im Knast. Erst Nach-tigall fangen, dann weiter, halt durch.

Er spülte sein Werk, das er erst jetzt richtig verstand, in der Toilette herunter, steckte den Originalbrief hinten in das Buch und legte sich aufs Bett. »Agnes« würde eine neue Vergewaltigungsserie starten, nach seiner Methode. Dann würde die Polizei dumm dastehen, und er hätte Grund, in Berufung zu gehen. Und Agnes würde sich nicht mit Vergewaltigung begnügen. Der Gedanke durchströmte ihn wohlig, wie ein guter Brandy. Er sank langsam in einen süßen Schlaf, ein en-gelhaftes Lächeln auf dem Gesicht.

»He, trödeln Sie nicht rum, der Superintendent will Sie sprechen.« Cooper schüttelte ungehalten den Kopf.

Er sah ihr nach, wie sie durch die Tür schlurfte, am Ende mit seinem Verständnis. Wie seine Mutter immer gesagt hatte: »Wer sich nicht selbst hilft, dem ist nicht zu helfen.«

»Recht hatte sie«, knurrte er vor sich hin, »verdammt Recht.« Zehn Minuten später war sie wieder da, kreidebleich im Gesicht, aber gefasst.

»Noch einen Monat. Ende Juli werde ich versetzt.« Sie sprach es aus, als wäre es ein Todesurteil. Cooper versuchte, sie mit ein paar Plattitüden aufzumuntern, doch er konnte 151

nicht sagen, ob sie ihn überhaupt gehört hatte. Achselzuckend wandte er sich wieder dem Papierkram vor sich zu. Er musste später ins Gericht, wo einer seiner Fälle verhandelt wurde. Als er um drei zurück war, sah er zu seinem Erstaunen, dass Nightingale nicht an ihrem Schreibtisch saß. Er erkundigte sich nach ihr und erfuhr, dass sie wieder früher Feierabend gemacht hatte. Fluchend rief er bei ihr zu Hause an, aber sie ging nicht dran. Nach mehrmaligen vergeblichen Anläufen wählte er ihre Handynummer und sprach ihr eine Nachricht auf die Mailbox.

Den Rest des Nachmittags versuchte er es immer wieder auf beiden Nummern, doch stets ohne Erfolg. Schließlich beschloss er, auf dem Weg nach Hause bei ihr vorbeizufah-ren. Er sagte sich, dass sie schließlich nicht einfach ohne Er-klärung vor Dienstschluss verschwinden konnte; so kam er sich nicht ganz so albern vor.

Die Wohnung war zu heiß und die Luft zu stickig. Normalerweise hätte Nightingale die Fenster aufgelassen, aber aus Sicherheitsgründen hatte sie sie lieber geschlossen. Jetzt, wo sie zu Hause war, machte sie sie ganz weit auf, auch wenn das riskant war. Die Brise von draußen bewegte allmählich die schwüle Luft, während sie sich eine ausgebeulte, abgeschnittene Jeans und ein weißes Top anzog. Wie die Wohnungstür waren jetzt auch die Fenster mit einem Riegelschloss versehen. Die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen hatten gefruch-tet, denn ihre Wohnung war nach wie vor unangetastet.

Sie hatte keinen Appetit und wollte sich nicht zum Essen zwingen. In ihr war etwas Selbstzerstörerisches am Werk, an dem sie festhielt wie eine verstörte Jugendliche. Sie goss sich ein großes Glas gekühlten Sauvignon ein und knabberte an einer Brotstange, während sie ihren Anrufbeantworter abhörte.

152

Nur vier Anrufe, aber jedes Mal war einfach aufgelegt worden. Sie zuckte die Achseln und löschte die Anrufe, zog den Telefonstecker aus der Dose und schaltete ihr Handy aus.

Sie hatte fest vorgehabt, jemandem im Präsidium von den Anrufen und E-Mails zu erzählen, aber dann war sie in Quinlans Büro zitiert worden und hatte sich anschließend in tiefes Selbstmitleid fallen lassen.

Der Computer meldete eine neue Mail von der Server-ID, die sie inzwischen fürchtete. Sie drückte die Eingabe-Taste und wartete, was passierte. Ein schwarzer Kasten mit weißer Schrift erschien mitten auf dem Bildschirm: Warnung: nicht jugendfreies Foto. Sie trank rasch noch einen Schluck Wein und ballte die Hände unbewusst zu Fäusten.

Es dauerte lange, bis sich das Bild zusammensetzte. Ab-strakte Farbblöcke blitzten auf und formierten sich allmählich zu einem erkennbaren Ganzen. Sie schnappte nach Luft, als sie ein echt wirkendes Tatortfoto erkannte. Der nackte Körper einer Frau lag verdreht da, die Füße am oberen Bild-schirmrand, den linken Arm über den nackten Unterleib gelegt. Irgendwie wirkte die Hand beunruhigend vertraut.

Weiße Lücken füllten den Rest des Fotos aus.

Der Oberkörper erschien in einer plötzlichen Anhäufung von Farben, bedeckt mit Blutergüssen und Schnittverletzun-gen, dann der tote Kopf mit einer entsetzlichen Wunde an der Gurgel. Nightingale brauchte volle dreißig Sekunden, bis sie merkte, was da nicht stimmte. Das war keine anonyme Horrormaske, von der sie angestarrt wurde. Es war ihr eigenes Gesicht.

Es war ihr Haar, das mit geronnenem Blut verklebt war, ihre Augen, die blicklos in die Kamera starrten, ihr Hals, der gewürgt und dann aufgeschlitzt worden war.

Der Geschmack von bitterem Wein stieg ihr in die Kehle, 153

und sie hätte sich fast übergeben müssen. Wer immer der Absender war, er hatte sich große Mühe gegeben, sein Opfer herzurichten. Es war ein akribisches und präzises Werk. Sie sah sich noch einmal die Hand an, die über dem nackten Bauch lag. Kein Wunder, dass sie ihr bekannt vorgekommen war – es war ihre Hand. Ihr Siegelring zierte den kleinen Finger.

Nightingale schloss die Augen und spürte, wie ihr auf der Stirn und im Nacken der Schweiß ausbrach. Er rann ihr den Rücken hinunter. Wer konnte sie so sehr hassen?

In der Küche trank sie ein Glas Leitungswasser, was ihren Magen wieder ein wenig beruhigte. Nach dem Schock spürte sie jetzt eher Wut als Angst. Der Gedanke, dass der Stalker sich stundenlang damit beschäftigt hatte, dieses Foto zu kreie-ren, war zwar zutiefst verstörend, aber sie war nicht gewillt, sich dadurch zum Opfer machen zu lassen. Jetzt hatte sie keine andere Wahl, als den Albtraum zu melden, mit dem sie seit einiger Zeit lebte, und die Folgen hinzunehmen. Gleich am nächsten Morgen würde sie ihren PC mit aufs Präsidium nehmen.

Um vier Uhr nahm sie Tabletten gegen die hämmernden Kopfschmerzen. Blackie ließ sich nicht blicken, aber das war nicht verwunderlich. Er war ein unabhängiges Tier und tauchte selten auf, wenn er keinen Hunger hatte. Sie öffnete eine Packung Räucherlachs und teilte den Inhalt zwischen einem Sandwich und Blackies Schüssel auf, wobei der Kater etwas mehr abbekam als sie selbst.

Als sie gerade ihr Sandwich gegessen hatte, klingelte es an der Tür, und sie erstarrte instinktiv. Sie blickte durch den Spion, konnte aber im Flur und auf der Treppe niemanden sehen. Als sie die Wohnungstür öffnete, lag auf der Fußmatte ein großes Paket mit braunem Packpapier, auf dem ihr Name 154

in Großbuchstaben stand. Es war nicht mit der Post gekommen, sondern persönlich gebracht worden, und ihr sträubten sich die Nackenhaare, als ihr die schlimmste Möglichkeit einfiel. War ihr Stalker in der Lage, ihr eine Paketbombe zu schicken?

Sie nahm das Paket und legte es in der Diele auf den Boden, schloss dann die Tür und verriegelte sie. Es wäre eine große Dummheit, das Paket zu öffnen, doch sie war in einer fahrlässig fatalistischen Stimmung. Nachdem sie es lange angestarrt hatte, holte sie ein Messer aus der Küche, schnitt das Klebeband durch und entfernte das Papier.

Zum Vorschein kam ein Karton, der dick in Zellophan eingewickelt war. Ein schlechtes Zeichen, aber sie ignorierte es und setzte vorsichtig das Messer an, bis sie wusste, wie sich der Deckel öffnen ließ. Sie hielt inne und holte Bettdecke und Kopfkissen, die sie wie Sandsäcke um den Karton arrangierte. Dahinter stapelte sie die Sofapolster und eine Schaum-stoffmatratze.

Auf einmal bemerkte sie einen merkwürdigen Geruch, der zunehmend penetranter wurde. Danach zu schließen, war der Inhalt des Pakets eher unangenehm als gefährlich. Trotzdem verkrampfte sie sich, als sie den linken Arm mit dem längsten Messer, das sie finden konnte, durch eine Lücke zwischen den improvisierten Sandsäcken schob.

Zunächst bewegte der Deckel sich keinen Millimeter, doch sie blieb geduldig und hebelte ihn rundherum Stück für Stück höher, bis er endlich herunterflog. Der Gestank war unerträglich. Sie musste würgen, als sie die Polster beiseite schob und in den Karton blickte.

»Oh nein.«

Nightingale holte alte Zeitungen und legte sie in einer dicken Schicht auf dem Fußboden aus. Tränen trübten ihre 155

Sicht, als sie den Inhalt vorsichtig aus dem Karton hob, als hätte sie Angst, dem Wesen darin noch mehr Schmerzen zuzufügen, aber Blackie war eindeutig tot. Sein Mörder hatte ihm den Bauch aufgeschlitzt, so dass ein Teil der glitschigen, grauen Eingeweide herausrutschte, als Nightingale das verfilz-te Fellbündel behutsam auf den Boden legte.

Der Gestank lenkte sie ein wenig von ihrer Trauer ab.

Blackie war anscheinend furchtbar gequält worden. Wer sich an solch einer Folter ergötzte, konnte nur ein Sadist der schlimmsten Sorte sein. Sie riss sich aus ihrer Traurigkeit, indem sie ihre ganze Wut auf den Täter richtete.

Als es ein zweites Mal klingelte, packte sie das lange Kü-

chenmesser und riss die Tür auf, bereit, es mit dem Scheiß-

kerl aufzunehmen, der das getan hatte.

Cooper wich entsetzt vor Nightingale und dem Gestank zurück, der ihm entgegenschlug.

Unter den gegebenen Umständen reagierten sie dann jedoch beide bemerkenswert ruhig.

»Kommen Sie rein.« Als er zögerte, packte Nightingale seinen Arm beunruhigend fest und zerrte ihn über die Schwelle.

»Schauen Sie lieber nicht hin, es ist Blackie. Irgendwer hat mir gerade die Leiche in einem Paket geschickt.«

»Was?« Er blickte sie verdattert an.

»Meine Katze. Jemand hat sie gequält und getötet und sie mir in einem Paket vor die Tür gelegt. Als Sie geklingelt haben, dachte ich, es wäre der Scheißkerl, der das getan hat.«

Cooper griff nach dem Messer, und sie ließ es sich teilnahmslos aus der Hand nehmen. Er brachte es in die Küche, wo es hingehörte, dann bückte er sich und nahm das tote Tier genauer in Augenschein.

»Das ist keine Katze, das ist eine Trappermütze mit Fell-156

schwanz. Jemand hat Innereien und Blut darüber gekippt.

Wer macht denn so was?«

Nightingale hatte Mühe, vor Erleichterung nicht loszu-heulen, bevor sie antwortete.

»Derselbe, der mich seit der Gerichtsverhandlung terrorisiert. Ich hab ständig Anrufe auf dem Anrufbeantworter, wo jemand bloß schwer atmet, und ich krieg obszöne E-Mails.«

Sie sah Zweifel in seinen Augen und nahm ihn mit in ihr Arbeitszimmer. Der Computer befand sich auf Stand-by, doch als sie die Leertaste drückte, erwachte der Bildschirm sofort zum Leben und zeigte das Foto.

Cooper sah es und ließ sich dann schwerfällig in den Sessel sinken.

»Das ist …«

»Die neueste perverse E-Mail, die ich erhalten habe. Ich hab sie geöffnet, kurz bevor das Paket kam.«

»Aber wieso ist das Ihr Gesicht?«

»Man kann heutzutage jedes Foto manipulieren.« Sie griff an ihm vorbei und klickte auf Zoom, bis ein Teil des Fotos so vergrößert war, dass sich kaum noch etwas erkennen ließ.

»Sehen Sie die kleinen Quadrate da? Wer sich damit aus-kennt, kann Farbe und Schattierung nach Belieben verändern. Da hat sich jemand stundenlang mit beschäftigt.«

»Wieso haben Sie das nicht gemeldet?«

»Wollte ich ja, gleich morgen früh.« Irgendetwas in ihrem eisigen Tonfall löste sich. »Ehrlich. Als ich das da geöffnet habe, war mir klar, dass jetzt ein Punkt erreicht ist, wo ich was unternehmen muss – und das war, bevor-«

Coopers Misstrauen schlug in Sorge um, und er ging zum Telefon, um die Spurensicherung zu rufen.

»Es ist ausgestöpselt, Moment.« Sie bückte sich und steckte den Stecker wieder ein.

157

»Machen Sie das öfter?«

»Dauernd. Sonst krieg ich nachts kein Auge zu. Manchmal klingelt das Telefon bis zum frühen Morgen.«

Cooper sprach mit Sergeant Wicklow, auf dessen Diskretion er sich verlassen konnte, und ließ sich dann von Nightingale zwei Mülltüten geben. Er packte den Karton und die besudelte Fellmütze hinein und verschloss die Tüten mit einem festen Knoten. Während er auf die Kollegen wartete, nahm er Nightingales Aussage auf, wobei er so taktvoll und einfühlsam zu Werke ging, wie es ihm wohl nur wenige zugetraut hätten. Jetzt, da die unmittelbare Krise vorbei war und ein anderer die Sache in die Hand genommen hatte, verlor Nightingale die Fassung. Als sie einen Schluck Tee trinken wollte, zitterten ihre Hände so stark, dass sie das meiste verschüttete, ein guter Vorwand, um ein Glas Wein zu bitten.

Cooper ließ sich die Fakten schildern, ohne einen Kommentar abzugeben.

»Haben Sie eine Ahnung, wer dahinter stecken könnte?«

»Nicht die geringste. Die Anrufe fingen gegen Ende des Gerichtsverfahrens an, glaube ich, dann ging das mit den E-Mails los. Erst hab ich das nicht weiter ernst genommen.

Aber als ich Blackie in meiner Wohnung fand, hab ich sicherheitshalber das Schloss von der Wohnungstür aus-wechseln und sogar die Fenster mit Sicherheitsriegeln versehen lassen, obwohl ich im obersten Stock wohne. Ich wollte morgen Meldung machen.« Sie blickte auf und sah ihn beschwörend an, wollte unbedingt, dass er ihr glaubte.

Sie waren noch im Gespräch, als die Spurensicherung eintraf.

»Es wäre vielleicht besser, wenn Sie zu Ihrem Bruder ziehen, bis die Sache geklärt ist.«

»Nein.«

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Eine klare Aussage, die jede weitere Diskussion überflüssig machte. Die vorgeschobene Unterlippe und das Kopfschütteln erinnerten Cooper an seine zweijährige Enkeltochter, kurz bevor sie einen Wutanfall bekam.

»Sie können nicht hier bleiben, Louise.«

Die Worte waren sanft, trotzdem schossen ihr Tränen in die Augen.

»Ich könnte in ein Hotel gehen.«

»Auf keinen Fall. Nicht nach dem, was Sie durchgemacht haben. Sie haben doch sicher eine Freundin, bei der sie vorü-