»Tut mir Leid, Dave, wirklich.« Sie wich zurück, als er näher kam, traute sich aber nicht wegzulaufen. »Ich hab nichts gesehen. Ich wollte nur fragen, was los ist.«

Er packte ihre beiden Handgelenke mit der linken Hand, und sie wusste, was sie erwartete, wie ihre angsterfüllten Augen verrieten. Er drückte zu, bis sie vor Schmerz wimmerte, was ihn erst recht erregte, und zerrte sie dann über den kleinen Flur. Als sie vor dem Schlafzimmer waren, wollte sie zurückweichen.

297

»Bitte, Dave! Nicht. Ich habe wirklich nichts gemacht. Es kommt nie wieder vor.«

Er achtete nicht auf ihr Gejammer und trat die Tür auf. Ihr Bademantel hing an einem Haken. Er riss den Gürtel heraus und band ihr die Hände auf dem Rücken fest. Ihre sommerliche Baumwollkleidung ließ sich leicht zerfetzen, und er konnte ihren mageren Körper in Augenschein nehmen.

Er hielt sich nicht damit auf, sich zu entkleiden, sondern zog nur den Gürtel aus der Hose und wickelte ihn sich einmal um die Handfläche. Sie weinte jetzt, sparte sich aber weitere Proteste, die ohnehin nichts bewirken würden, wie sie wusste. Als das Leder ihr auf die Haut klatschte, stieß sie einen kurzen Schrei aus.

»Aha, du willst, dass ich dir den Mund stopfe.«

»Nein! Bitte nicht. Ich bin auch ganz leise. Ich krieg keine Luft, wenn du das machst.«

»Mal sehen.« Er schlug wieder zu, härter, und lächelte, als er auf ihrem Oberschenkel einen schmalen Blutstreifen sah.

Sie biss sich fest auf die Unterlippe, und er drückte sie mit dem Gesicht ins Kopfkissen, damit sie keinen Laut mehr von sich gab. Nach einer Weile tat ihm der Arm weh, und er hörte auf. Als er mit Gewalt in sie eindrang, hielt sie das Gesicht von ihm abgewandt. Er biss sie in die Schultern, genoss den salzigen Geschmack ihres Blutes und starrte auf den dünnen Zweig ihres Halses. Als er sich vorstellte, ihr das Genick zu brechen, war es rasch vorbei.

Sie lag völlig reglos unter ihm und wartete, dass er von ihr abließ, wagte kaum zu atmen. Sie hätte auch tot sein können.

Er lächelte und beugte sich herab, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, die nass von Tränen war.

»Mach das nie wieder«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du weißt, ich kann ungezogene Mädchen nicht leiden.«

298

Er band ihr die Hände los, und als sie sich nicht rührte, ließ er sie einfach liegen, ziemlich sicher, dass sie noch am Leben war, trotz ihrer Blässe und Reglosigkeit. Seit acht Jahren konnte er sich auf sie verlassen, denn er wusste, dass sie zu große Angst hatte, um irgendetwas gegen ihn zu unternehmen. Alles in allem wäre es unpraktisch, wenn sie sterben würde.

Als er sich unter der Dusche einseifte, hörte er hinter dem Vorhang im Bad Bewegung. Er zog ihn auf und schaute ungerührt zu, wie sie sich die Wunden wusch und die schlimmsten desinfizierte. Als sie fertig war, wandte sie ihm ihr ge-spenstisches Gesicht zu.

»Eine Tasse Tee?«, fragte sie und rang sich zu einem Lä-

cheln durch.

299

Kapitel neunzehn

Die Wettervorhersage versprach einen sonnigen Sonntag, und Fenwick plante ein Picknick im Garten, beging dann aber den Fehler, den Kindern am Samstag davon zu erzählen. Sie aßen für ihr Leben gern draußen. Chris nannte es campen, obwohl Fenwick nichts anderes tat, als ein paar alte Decken über die Wäscheleine zu legen.

Am Sonntagmorgen wurde er früh von Donner geweckt, und prompt kamen die Kinder in sein Zimmer gelaufen und beschwerten sich über den Regen. Gegen zehn klarte es allmählich auf. Bess bemerkte das sofort und sagte, es sei an der Zeit, nach draußen zu gehen. Sie zog sich die Gummistiefel an und platschte hinaus in den Garten. Chris folgte ihr, und Fenwick sah ihnen skeptisch hinterher. Es war nun wirklich kein Wetter, um draußen ein Picknick zu veranstalten. Doch als er sah, wie seine Kinder herumtollten, hinfielen und sich stritten, wer auf die Lieblingsschaukel durfte – obwohl er zwischen beiden keinen Unterschied sah –, besserte sich seine Laune wieder. Es war seit langer Zeit das erste Wochenende, an dem er ganz für sie da war, und es sollte etwas Besonderes werden.

Er stöberte auf dem Dachboden herum, als Chris plötzlich auftauchte.

»Was machst du da, Dad?«

»Platz da, ich werf jetzt was runter. Nein, bis ganz an die Tür.«

300

Der Leinensack schlug mit einem dumpfen Knall und me-tallischem Scheppern auf. Chris starrte mit großen Augen darauf und folgte dann seinem Vater wortlos in den Garten.

Es dauerte fast eine Stunde, bis sie das Zelt aufgebaut hatten. Bess und Chris wollten unbedingt helfen, was das Ganze erheblich verzögerte. Es war ein altes Zelt, aber noch gut in Schuss. Sobald der letzte Hering eingeschlagen war, gingen die Kinder mit ihren Spielsachen hinein, nachdem sie ihre verdreckten Stiefel ausgezogen hatten. Der Reiz des Neuen, den das Zelt bei den Kindern auslöste, hielt so lange an, dass Fenwick in Ruhe den Grill aufbauen und ihr Mittagessen zubereiten konnte. Kaum waren sie mit dem Essen fertig, fing es wieder an zu regnen. Den Kindern machte das aber nichts aus, denn sie durften den Nachschlag Eis in ihrem gemütlichen Zelt essen.

Als sie anschließend gerade eine Partie Monopoly beginnen wollten, klingelte Fenwicks Handy.

»Ja?«

»DCI Fenwick? MacIntyre hier. Wir glauben, er hat wieder zugeschlagen, diesmal in Wales. Ich fahr jetzt hin. Dachte, Sie würden vielleicht auch gern mitkommen.«

Während Fenwick sich Notizen machte, überlegte er krampfhaft, wo er die Kinder bis sieben Uhr abends, wenn die Haushälterin wiederkam, unterbringen konnte. Die beiden Babysitter, die er normalerweise engagierte, waren in den Ferien, und Freunde, die er um den Gefallen bitten konnte, hatte er keine. Schließlich gab er sich einen Ruck und rief Sergeant Cooper an.

»Kein Problem. Ich würde auch gern mitfahren, wenn es Ihnen nichts ausmacht, und meine Frau meckert dann bestimmt nicht, wenn sie auf Ihre Kleinen aufpassen darf. Dann ist sie in ihrem Element.«

301

Fenwick ließ das Zelt stehen, löschte den Grill und packte die Kinder samt ausgewähltem Spielzeug ins Auto. Eine halbe Stunde später waren er und Cooper auf dem Weg nach Wales. Auf der M25 herrschte dichter Verkehr, und es war zehn Uhr, als sie in der mobilen Einsatzzentrale bei MacIntyre eintrafen. Sie stellten sich Superintendent Amos vor, dem dortigen Leiter der Ermittlungen, der sie kurz einwies.

»Tasmin Mackie, sechzehn Jahre alt, verschwand am Freitag von dem Campingplatz Sea View. Ihre Familie hat sie am Freitagabend gegen fünf Minuten vor halb acht zuletzt gesehen, als sie losging, um sich mit zwei Freundinnen am Haupteingang des Campingplatzes zu treffen. Die beiden warteten aber vergeblich auf sie.«

Fenwick und Cooper nickten. Das Verschwinden der Schülerin hatte landesweites Medieninteresse erregt.

»Trotz intensiver Suche fanden wir erst am Samstagmor-gen eine erste Spur von ihr, einen Schuh am Strand, drei Meilen vom Campingplatz entfernt. Wir konzentrierten die Suche auf den Küstenabschnitt, und ein Spürhund entdeckte sie gestern um achtzehn Uhr fünfundvierzig. Lebendig.«

Fenwick, der selbst für einen Polizisten eine erstaunlich unbewegte Miene aufsetzen konnte, nickte bloß. Cooper klappte der Unterkiefer runter.

»Wir haben eine absolute Nachrichtensperre verhängt. Als Tasmin heute Morgen wieder zu Bewusstsein gekommen ist, hat sie uns eine Beschreibung des Mannes gegeben, der sie vergewaltigt hat. Abgesehen von den Augen, die laut ihrer Aussage blau sein sollen, entsprach die Beschreibung verblüffend der des Täters von Knightsbridge. Wir haben ihr deshalb das Phantombild vorgelegt, das MacIntyre gefaxt hat, zusammen mit anderen Fotos einschlägig Vorbestrafter aus unserer Kartei. Sie hat ihn sofort herausgepickt.«

302

Fenwick kratzte sich verwirrt den Kopf.

»Ich versteh nicht, wieso er sie am Leben gelassen hat. Ist sie schwer verletzt?«

»Sie ist brutal vergewaltigt, verprügelt und fast ertränkt worden, aber aus irgendeinem Grund hat er sein Messer nicht benutzt. Er hat ihren Körper im Meer gewaschen und sie in einer niedrigen Höhle am Strand versteckt. Der Eingang ist bei Flut unter Wasser, deshalb haben wir sie bei der ersten Suche nicht gefunden.«

»Wieso ist sie nicht ertrunken?«

»Pures Glück. Die Höhle steigt zum Strand hin an, und er hat sie bis ganz hinten geschoben, so dass ihr Kopf über dem Wasserspiegel war.«

»Und am Strand hat sie niemand gesehen?«

»Wir denken, er hat sie nicht am Strand überfallen, aber erinnern kann sie sich nicht mehr. Auf einem Pfad, der zum Meer führt, haben wir allerdings eindeutige Schleifspuren gefunden. Wie es aussieht, hat er gewartet, bis der Strand leer war, und sie dann im Dunkeln zur Höhle gebracht.«

»Riskant«, sagte Fenwick kopfschüttelnd, »und untypisch.

Das letzte Mal hat er seinen Charme eingesetzt und die Frau in ihrer Wohnung mit einem Messer umgebracht. Warum geht er jetzt ganz anders vor? Das erinnert mehr an die Handschrift von Griffiths. Wenn das Mädchen ihn nicht auf dem Phantomfoto identifiziert hätte, hätten wir eine Verbindung zu Griffiths hergestellt.«

»Das hätten wir auf jeden Fall. Er hat versucht, dem Mädchen einen Finger abzutrennen, wir vermuten, mit einem scharfen Stein.« MacIntyre reichte ein Foto von der Verletzung herum.

Cooper wurde weiß im Gesicht.

»Das ist merkwürdig. Wieso benutzt er kein Messer? Ist 303

das Absicht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das Messer vergessen hat, dazu ist er zu systematisch und clever.«

»Vielleicht hat er es ja verloren.« Alle blickten Cooper überrascht an. »Ein Loch in der Tasche, oder es fällt ihm beim Klettern über einen Zaun aus der Tasche. Wäre doch möglich.«

»Wir haben jeden Quadratzentimeter vom Campingplatz abgesucht und nichts gefunden, aber wir könnten die Suche ausweiten und Plakate aufhängen, falls jemand ein Messer findet oder gefunden hat. Bis jetzt haben wir nichts, was uns weiterhilft.«

»Keine Täterspuren?«

»Nichts. Wir sind dabei, den Sand aus der Höhle abzutra-gen, falls er Haare verloren hat oder ihm ein Fingernagel abgebrochen ist, als er das Mädchen reingeschafft hat, aber das wird eine Weile dauern.«

»Wann sprechen Sie wieder mit Tasmin?«

»In sieben oder acht Stunden, wenn sie wach ist und falls die Ärzte einverstanden sind. Ihre Eltern sind kooperativ. Als sie gehört haben, dass der Täter noch einmal zuschlagen könn-te, haben sie versprochen, uns zu helfen, so gut sie können.«

Fenwick überlief es kalt, als er sich vor Augen hielt, zu welcher Gewalt der Mann imstande war. Von Nightingale fehlte noch immer jede Spur, und er war überzeugt, dass sie das ultimative Opfer sein sollte, obwohl die Einschätzung von Superintendent Quinlan und Harper-Brown diesbezüglich etwas zurückhaltender war. Sie sahen zwar ebenfalls einen Zusammenhang zwischen der Verwüstung von Nightingales Wohnung und dem anonymen Absender der Briefe an Griffiths im Gefängnis, aber damit hatte es sich auch. Beide waren der Ansicht, dass der Mord in Knightsbridge getrennt zu behandeln war.

304

»Haben Sie ein Foto von Tasmin?«

Amos reichte Fenwick eins, der es entgegennahm und resigniert den Kopf schüttelte. Er gab es Cooper, der augenblicklich herausplatzte: »Genau wie alle anderen, genau wie Nightingale.« Das Bild von dem hübschen, lächelnden, dunkelhaarigen Mädchen, das die langen Beine auf die Rückenlehne der Couch gelegt hatte, ließ ihn erschaudern. MacIntyre nahm es ihm aus der Hand und betrachtete es prüfend.

»Große Ähnlichkeit mit Lucinda, sieht älter aus als sechzehn. Es könnte derselbe Täter sein, trotz der fehlenden Mes-serverletzungen. Brauchen Sie zusätzliche Leute?«, fragte er Amos.

»Da sag ich nicht Nein.«

»Sie kriegen sie. Und ich dachte, Sie würden sich für die Gutachten der forensischen Psychologin und der FBI-Profiler interessieren.« Er warf Fenwick, der sie noch nicht gesehen hatte, einen entschuldigenden Blick zu.

Es war nach Mitternacht, aber Fenwick war so wach, als wäre es Mittag. Er trank eine Tasse schlechten Kaffee, während ein jüngerer Kollege Kopien von den Gutachten machte. Auf zwölf eng getippten Seiten hatte die Psychologin alle Morde und Vergewaltigungen auf Fenwicks ursprünglicher Liste untersucht und war zu dem Ergebnis gelangt, dass sie trotz der auffälligen körperlichen Ähnlichkeit zwischen den Opfern auf das Konto von zwei Tätern gingen. Täter A, bei dem es sich um Griffiths handeln könnte, unterschied sich vom Verhaltensmuster her von Täter B, dem Knightsbridge-Mörder, der als »expressiver« Mörder bezeichnet wurde.

Claire Keating hatte ihm mal erklärt, dass Mord für einen Serienmörder lediglich der Ausdruck des Wunsches zu töten ist, also reiner Selbstzweck. Für expressive Mörder war es 305

stimulierend, bei ihren Opfern die Kontrolle über Leben und Tod zu haben. Das beträchtliche Maß an Gewalt, das dem Opfer vor und nach dem Tod zugefügt wurde, sowie das lange Hinauszögern des eigentlichen Tötens wie bei dem Mord in Knightsbridge deutete darauf hin, dass für den Täter der eigentliche Lustgewinn nicht in der sexuellen Handlung lag, sondern in der Fähigkeit, die Kontrolle über einen langen Zeitraum auszuüben.

Bei Täter A, Griffiths, hatte die Psychologin einige Widersprüchlichkeiten eingeräumt. Die Kontaktaufnahme durch das Computerspiel THE GAME und das Stalking ließen ein gewisses Maß an Befriedigung durch Kontrolle vermuten, doch die Taten selbst, so brutal sie auch waren, hatten ein eindeutig sexuelles Motiv. Aussagen der Vergewaltigungsopfer be-stätigten die Vermutung, dass gerade so viel Gewalt ausgeübt wurde, um das Opfer zu überwältigen und zu vergewaltigen, aber nicht mehr.

Die Analyse des FBI schloss sich im Großen und Ganzen dem psychologischen Gutachten an. Sie war bezüglich B etwas ausführlicher und hatte die wesentlichen Ergebnisse zu-sammengefasst:

äußerliche Beschreibung: männlich, weiß, Ende zwanzig oder Anfang dreißig, gut gekleidet, gut aussehend, berufstätig, einigermaßen gutes Einkommen mit entsprechendem Lebensstil.

sozialer und kultureller Hintergrund: Die Opfer sind weiblich, postpubertär bis jung erwachsen, es ist daher nicht automatisch davon auszugehen, dass B als Kind missbraucht wurde. Es ist durchaus möglich, dass B eine relativ normale Kindheit hatte. Es ist allerdings ebenfalls möglich, dass das Verhältnis zu seinen Eltern (insbeson-306

dere der Mutter) von Spannungen gekennzeichnet war, z. B. könnte er das Gefühl gehabt haben, die Erwar-tungen seiner Eltern nicht zu erfüllen; emotionale Beziehungen waren unterentwickelt; Rivalität unter Ge-schwistern; Vater möglicherweise distanziert (oder von B als distanziert empfunden).

Anpassungsfähigkeit und Charme lassen auf einen guten Familienzusammenhalt und eine normale Schulbildung schließen. Bs Selbstvertrauen und sein mangelnder Respekt gegenüber gesellschaftlichen Normen lässt die Vermutung zu, dass er als Jugendlicher Bagatelldelikte beging, um sich Nervenkitzel zu verschaffen. Falls er dabei ungestraft davongekommen ist, hat das sehr wahrscheinlich sein Überlegenheitsgefühl gegenüber der Gesellschaft und der Polizei verstärkt.

eindeutige Anzeichen für soziopathisches Verhalten: Es ist anzunehmen, dass B für seine Taten keinerlei Schuld empfindet und vor Regeln keinen Respekt hat. Wahrscheinlich ein impulsiver Charakter. Es deutet nichts darauf hin, dass er seine Taten geplant hat, sie wirken vielmehr durch Begierden motiviert, die er nicht kontrollieren möchte. Auf Herausforderungen reagiert er negativ, und es ist davon auszugehen, dass ihn die Gesellschaft frustriert, weil sie ihm nicht das gibt, was er zu verdienen meint.

Es ist möglich, dass er eine schon länger währende Beziehung zu einer Frau hat: entweder verheiratet oder unverheiratet. Es kann sich nach außen hin um eine »normale«

Beziehung handeln, aber sie ist für ihn lediglich praktisch (für Sex, Verpflegung, Geld, Alltagsdinge oder als nützliche Tarnung, um der Gesellschaft seine Normalität zu beweisen).

307

Methode: Er fügt seinen Opfern extreme Gewalt zu, vor und nach Eintritt des Todes, und das über einen längeren Zeitraum. Ein Teil der Gewalt begleitet die eigentliche Vergewaltigung (z. B. das Beißen und Schlagen), doch die massiven Genitalverletzungen und die Verstümmelungen nach Eintritt des Todes sind Ausdruck seines Hasses auf Frauen und ihre sexuelle Macht. Im Unterbewusstsein verachtet er sein Bedürfnis nach Sex, da es bedeutet, dass Frauen letztlich Macht über ihn haben, eine Vorstellung, die er als ungeheuer bedrohlich empfindet. Die Gewaltanwendung ist für ihn daher sowohl eine Verschleierung seines sexuellen Bedürfnis-ses als auch Rache für seine Abhängigkeit.

Das Abtrennen eines Fingers steht nicht im Einklang mit seiner sonstigen extremen Gewaltanwendung und wirkt gekünstelt. Falls A und B einander kennen, könnte es ein einfaches Mittel sein, zur Erschwerung der polizeilichen Ermittlungen ihre jeweiligen Taten miteinander zu verknüpfen.

Sein Selbstvertrauen wird wachsen. Das könnte bedeuten, dass er Fehler macht, aber auch, dass er schneller wieder zuschlägt.

Die Beamten schwiegen, nachdem sie den Bericht gelesen hatten. Fenwick fühlte sich trotz der sachlichen Formulierun-gen durch den Inhalt besudelt, als hätte der Einblick in die Psyche des Mörders seine eigene infiziert. Schließlich brach er das Schweigen.

»Damit kommt es mir noch merkwürdiger vor, dass Täter B bei seiner letzten Tat die Methode von Griffiths kopiert hat. Warum hat er das wohl gemacht?«

MacIntyre gähnte und reckte sich.

308

»Die Frage ist nur dann relevant, wenn beide miteinander zu tun haben, und das ist nicht bewiesen.« MacIntyre warf Fenwick einen mahnenden Blick zu, Amos mit seinen Theorien bloß nicht zu verwirren. »Ich leg mich ein paar Stunden aufs Ohr, damit ich für die Pressekonferenz morgen früh fit bin. Ich freu mich schon auf die Gesichter, wenn sie erfahren, dass sie am Leben ist.«

Für die Beamten waren Campingwagen zur Verfügung gestellt worden. Cooper und MacIntyre verabschiedeten sich, doch Fenwick blieb noch bei Amos und studierte die Pinn-wände im Einsatzraum, die schon voller Informationen waren.

»Irgendwelche Geistesblitze?« Amos machte den Eindruck, so selbstbewusst zu sein, dass er auch die Meinung anderer zulassen konnte. Er war etwa in Fenwicks Alter, aber kräftiger und untersetzter. Er sah aus, als hätte er früher geboxt, und seine schiefe Nase schien das zu bestätigen.

»Täter B ist ein intelligenter Mann. Warum hat er Tasmin so nah am Campingplatz versteckt, statt sie mit dem Wagen wegzuschaffen?«

»Wir haben sie trotzdem erst nach sechsunddreißig Stunden gefunden. Unsere Hunde haben die Fährte des Täters verloren. Es hat gestern geregnet und das hat natürlich mitgeholfen, seine Spur zu verwischen.«

»Er konnte aber doch nicht wissen, dass es regnet. Irgendwas kommt mir da komisch vor.«

An der Wand hing eine Karte, auf der die für die Tat relevanten Orte mit Stecknadeln markiert waren. Fenwick deutete auf eine blaue Nadel an den Eisenbahnschienen.

»Was war da?«

»Da wurde gegen Mitternacht ein junger Mann gesehen.«

Fenwick starrte auf die Karte.

309

»Wir haben keinerlei Hinweise darauf, dass er bei irgendeiner Tat ein Auto benutzt hat. Könnte es nicht sein, dass er mit dem Zug gekommen und auch wieder weggefahren ist?«

»Ich habe an allen Bahnhöfen Plakate aufhängen lassen, und meine Leute befragen die ankommenden und abfahren-den Fahrgäste.« Er beäugte Fenwick mit Interesse. »Wieso sind Sie so erpicht darauf, den Mann zu finden? Sie haben doch keine offenen Fälle, die Ihnen Kopfzerbrechen machen müssten.«

Fenwick zögerte kurz, entschloss sich dann, dem Kollegen von seinen Befürchtungen für Nightingale zu erzählen, auch wenn er damit eine zynische Bemerkung riskierte. Er betonte, dass zwischen der Verwüstung ihrer Wohnung und dem Brief an Griffiths ein eindeutiger Zusammenhang bestand.

»Und Sie glauben, der Mörder ist Griffiths’ heimlicher Brieffreund?«

»Ja.«

»Könnte es nicht eher so sein, dass der Stalker ein Freund von Griffiths ist, der ihrer jungen Kollegin einfach das Leben zur Hölle machen will? Wieso glauben Sie, dass er der Mörder ist und dass die beiden zusammenarbeiten?«

»Die Ähnlichkeit zwischen den Opfern, die ungelösten Fälle, zwei unverwechselbare Methoden an Tatorten, die nah beieinander liegen, der extrem saubere Zustand von Griffiths’

Wohnung, in der natürlich keine Spuren zu finden waren. Es gibt jede Menge Indizien.«

»Aber keine eindeutigen Beweise.«

»Nein, aber ich weiß es einfach. Es klingt verrückt, und ich kriege häufig zu hören, dass ich zu Verschwörungstheo-rien neige, aber ich liege oft richtig.«

»Es ist seltsam, aber nicht verrückt. Ich hoffe, Ihre Nightingale ist die vielen Sorgen wert.«

310

»Oh ja, das ist sie.«

Am Montag saß Eddy in seinem Dienstabteil und griff nach der Daily Mail, während der Schnellzug zurück nach Birmingham sauste. Als er das Foto auf der Titelseite sah, erstarrte er. Das war der Mann, den er vor einer Woche in diesem Zug gesehen hatte, der Mann, der ihm Angst eingejagt hatte.

Er las den Artikel zweimal und sah verblüfft, dass der leitende Ermittlungsbeamte ein alter Sparringspartner von ihm war.

Sobald der Zug an der Endstation gehalten hatte, lief er zum nächsten Telefon.

»Derek Amos bitte. Es ist dringend.«

»Der Superintendent ist nicht zu sprechen. Kann ich was für Sie tun?«

»Nein, zum Donnerwetter, das können Sie nicht. Ich möchte mit Derek sprechen. Mein Name ist Eddie Swaine, und es geht um den Fall, an dem er arbeitet.«

Er dauerte eine Weile, und der Vorsteher warf ihm schon ungehaltene Blicke zu, aber er achtete nicht darauf. Derek klang gereizt, als er endlich an den Apparat kam.

»Ich rate dir, dass es wirklich wichtig ist, Eddie.«

»Ich hab ihn gesehen. Den Typen, hinter dem ihr her seid.

Letzte Woche im Zug von London nach Birmingham.« Er erzählte von seiner unheimlichen Begegnung mit dem Mann.

»Bis du sicher, dass es unser Mann ist?« »Ich habe alles notiert. Irrtum ausgeschlossen.« »Ich schicke sofort einen Beamten zu dir. Rühr dich nicht vom Fleck.«

311

Kapitel zwanzig

Fenwick machte sich mit Cooper und einer Kopie von Tasmins Akte auf den Weg nach Harlden und traf gegen Mittag im Präsidium ein. In Quinlans Büro breitete er den Inhalt auf seinem Schreibtisch aus und wartete schweigend auf die Reaktion.

»Mein Gott, das ist ja schauderhaft. Und die meinen, es war derselbe Täter?«

»Sicher sind sie nicht, aber er wollte ihr einen Finger abschneiden, und das Gesicht passt zu dem Knightsbridge-Mörder. Haar- und Augenfarbe sind anders, doch das lässt sich ja beides leicht verändern.«

»Wann war der Mord in London?«

»Vor zwei Wochen.« Die Antwort hing im Raum. »Ich mache mir Sorgen um Nightingale.«

»Damit müssen Sie aufhören, Andrew. Ich gebe ja zu, es besteht die entfernte Möglichkeit, dass dieser Täter irgendwie mit Griffiths zusammenhängt, aber Nightingale geht’s gut. Sie haben doch ihre Mail erhalten. Lassen Sie es sein – es ist eine unnötige Komplikation, die nur in Ihrem Kopf entstanden ist.«

»Aber die äußerliche Ähnlichkeit …«

»Gerade deshalb ist sie ja für den Einsatz ausgesucht worden. Hören Sie, MacIntyre möchte Sie in seinem Team haben. Das bedeutet, dass Sie in London sind, bis der Fall abgeschlossen ist, und Sie können Ihren persönlichen Kreuzzug nicht dorthin mitnehmen. Sind Sie bereit dazu?«

312

Fenwick dachte an die Kinder, die in den Ferien zu Hause sein würden, und atmete tief durch.

»Ja. Ich mach das.« Da Quinlan ähnlich skeptisch war wie MacIntyre, war es die einzige Chance, seiner Theorie weiter nachgehen zu können. Zum Teufel mit den Konsequenzen.

Das Problem, wie er Quinlan und MacIntyre davon überzeugen konnte, dass Nightingale ernsthaft in Gefahr war, nagte den Rest des Tages an ihm, auch noch, als er mit Bess und Chris zusammen war. Als er ihnen erklärte, dass er eine Zeit lang fortmüsse, gab es Tränen und schmollende Gesichter, aber als er sie schließlich ins Bett brachte, viel später als sonst, waren sie schon wieder Freunde. Mrs Knight versicherte ihm netterweise, dass sie nötigenfalls auf ihren freien Tag verzich-ten würde, und als er seinen kleinen Koffer packte, konnte er es kaum noch erwarten, mit der Arbeit anzufangen.

Auf dem Weg nach London am nächsten Morgen rief MacIntyre an und teilte ihm mit, dass er Batchelor zur Vernehmung ins Präsidium bestellt hatte, was dem Psychiater gehö-

rig gegen den Strich ging.

»Ich denke zwar noch immer, dass Täter B nichts mit Griffiths zu tun hat, aber ich muss mich in jeder Hinsicht absichern. Falls Griffiths eine Verbindung ist, würden ihn zu viele Vernehmungen misstrauisch machen, aber den Doktor können wir fragen, was wir wollen. Ich will mir selbst eine Meinung bilden.«

Batchelor wartete schon im Vernehmungsraum. Seine scheinheilige Selbstzufriedenheit hatte einem sorgenvollen Ausdruck Platz gemacht, wie Fenwick mit Genugtuung feststellte. MacIntyre führte das Wort.

»Wir vermuten, dass Griffiths in Kontakt zu einem Mann 313

steht, der junge Frauen vergewaltigt und ermordet. Wir müssen den Mann identifizieren, bevor er erneut zuschlägt, und dabei könnten uns Informationen von Griffiths helfen. Wie ich schon heute Morgen am Telefon sagte, falls Sie sich auf Ihre ärztliche Schweigepflicht berufen, werde ich alles Erforderliche tun, um Sie zur Kooperation zu zwingen. Der Innenminister persönlich ist an diesem Fall interessiert.«

»Es gibt keinen Grund, mir zu drohen, Superintendent.«

Ihm zitterten die Hände, als er nach einer Zigarette tastete und sie anzünden wollte.

»Hier drin ist Rauchen verboten.« MacIntyre stellte einen Kassettenrecorder auf den Tisch und schaltete ihn ein. Er nannte die anwesenden Personen, Uhrzeit und Datum und schaute den Arzt dann erwartungsvoll an.

»Wie würden Sie Griffiths beschreiben? Was für ein Mensch ist er?«

»Intelligent. Ich habe seinen IQ mehrmals getestet. Er kommt auf 110. Reserviert, schüchtern, nicht immer elo-quent. Es hat mich nicht überrascht, dass er als Software-Entwickler gearbeitet hat.«

»War er erfolgreich?«

»Sehr. Er hat mir mal erzählt, dass er in seinem besten Jahr 100000 Pfund verdient hat. Außerdem besaß er Aktien von einer der Firmen, bei denen er beschäftigt war. Ihm gefiel die Vorstellung, Aktionär zu sein, obwohl er auch frustriert war, weil er anders als andere seine Anteile nicht verkauft hat, als sie zehnmal so viel wert waren wie jetzt.«

Fenwick hob die Hand, und MacIntyre nickte.

»Sie haben gesagt, ›anders als andere‹. Was glauben Sie, welche anderen er damit gemeint hat?«

»Ich weiß nicht.«

»Es muss aber doch jemand gewesen sein, den er gut 314

kannte, schließlich spricht man nicht mit jedem über seine persönlichen Finanzen.«

»Vermutlich. Lassen Sie mich überlegen, was ich Ihnen sonst noch über den Mann erzählen kann.« Er lehnte sich zurück und strich sich über den dünnen Bart. Allmählich kehrte sein Selbstbewusstsein zurück. »Ich habe schon viele Patienten gehabt, die Gewaltverbrechen begangen haben.

Griffiths ist ganz anders. Ehrlich gesagt, kann ich mir kaum vorstellen, dass er zu solcher Gewalt gegen Frauen fähig ist.«

»Hat er je irgendwelche normalen Beziehungen zu Frauen erwähnt?« MacIntyre übernahm wieder.

»Er hat mir versichert, dass er in der Vergangenheit gesunde sexuelle Beziehungen und auch sonst keine Probleme im Umgang mit Frauen hatte – aber ich weiß nicht, ob ich das glauben soll. Er wurde als Kleinkind verlassen und wuchs in mehreren Kinderheimen auf, bis er als Teenager bei einer Pflegefamilie unterkam. Das beschreibt er als den Wende-punkt in seinem Leben.«

»Was hat er sonst noch über seine Kindheit erzählt?«

»Ich habe Tonbandaufnahmen von meinen Sitzungen mit ihm dabei. Möchten Sie das Band über seine Kindheit hören?«

Batchelor kramte in seiner Tasche herum, dann schob er eine nummerierte Kassette in seinen eigenen Recorder und ließ sie bis zu der betreffenden Stelle vorlaufen. Griffiths Stimme erfüllte den Raum.

»Die ersten Jahre waren schwierig. Keins von den Heimen wurde gut geleitet, und es gab ständig Prügeleien. Ich hab mich da rausgehalten, aber es war nicht leicht. Wir wurden auch von einigen Erziehern geschlagen.

Ich hätte nie gedacht, dass ich Pflegeeltern bekommen würde, aber mein Leben veränderte sich von Grund auf. Das Haus war auf dem 315

Land – bis dahin hatte ich noch nie richtige Schafe gesehen. Die Schule fing an, mir Spaß zu machen. Ich stellte fest, dass ich in einigen Fächern gut war: Mathe, Informatik. Wir hatten zu Hause keinen Computer, deshalb blieb ich oft länger in der Schule, um dort am Computer zu arbeiten. «

» Was denken Ihre Pflegeeltern über Ihre Haft?«

»Die sind tot, schon lange. Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich keine Verwandten habe. «

» Waren bei ihnen zu Hause noch mehr Kinder?«

Es entstand eine Pause, dann sprach Griffiths weiter.

»Nein, bloß ich. Wie ich schon sagte. Da war sonst niemand.«

MacIntyre streckte die Hand aus und stoppte das Band.

»Klingt wie eine Lüge, finden Sie nicht, Doctor?«

»Höchstwahrscheinlich. Er weicht aus, zweifellos. Meinen Sie, diese andere Person war auch ein Pflegekind, wie Griffiths? Faszinierend!«

»Hat er je irgendwelche Freunde oder Bekannte der Familie namentlich erwähnt?«

»Nein, nie. Das fand ich sehr auffällig. Er sprach meistens ganz ungezwungen, ohne irgendwelche erkennbaren Emo-tionen, aber es klang nie persönlich. Manchmal sprach er über Dinge, die wir schon abgehandelt hatten, aber seine Schilde-rungen und Aussagen waren immer identisch. Er hat sich nicht ein einziges Mal widersprochen.«

»Hat er mal erwähnt, wie seine Pflegeeltern gestorben sind?«

Batchelors Augen leuchteten auf.

»Oh ja! Das war eine überaus faszinierende Sitzung. Die müssen Sie sich anhören. Ich wechsle rasch das Band.«

316

Er hantierte wieder an dem Gerät herum, und dann erklang die Stimme des Psychiaters.

»Erzählen Sie mir mehr über Ihre Pflegeeltern. Mochten Sie sie?«

»Ob ich sie mochte? Doch, ja. Sie waren nett.«

» Wie sind sie gestorben?«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich nicht darüber reden möchte.«

»Ich denke aber, es wäre gut für Sie, Wayne. Es würde Ihnen wirklich helfen. «

(Schweigen)

» Was wollen Sie wissen?«

» Was möchten Sie mir erzählen?«

»Keine Ahnung. Ich hab noch nie darüber geredet.«

» Wie alt waren Sie?«

»Siebzehn. Es war an meinem Geburtstag …«

»Erzählen Sie. «

»Meine Pflegemutter hatte einen Kuchen gebacken. Es war halb sieben, als wir mit dem Tee fertig waren. Draußen war es dunkel.

Das Haus lag an einem See, in der Nähe eines Waldes. Ganz abgeschieden. Meine Mutter wollte noch einen Spaziergang mit dem Hund machen, obwohl es schneite. Sie zog ihren dicken Tweedman-tel an und nahm die Taschenlampe mit.

Als sie um Viertel nach sieben noch nicht wieder zurück war, machte Dad sich allmählich Sorgen. Um halb acht wollte er nach ihr suchen. Er setzte seine Mütze auf und nahm sich auch eine Taschenlampe. Als er die Tür aufmachte, um rauszugehen, kam der Hund reingerannt. Er hatte seine Leine um und winselte.

Mein Vater wurde sehr aufgeregt. Er zog seine Gummistiefel an, schwarze mit so einem Stulpenrand, und griff nach der Leine. Er wollte den Hund mit nach draußen nehmen, aber der ließ sich nicht von der Stelle bewegen. Also zog er allein los. Mutters Fußspuren im Schnee waren deutlich sichtbar, und er folgte ihnen. Ich habe beide nie wieder gesehen.«

317

» Was ist passiert?«

»Sie war auf dem zugefrorenen See eingebrochen und ertrunken.

Es war ein sehr kalter Winter, daher dachte sie wohl, das Eis würde halten, aber es war nicht dick genug. Vater ging auf der Suche nach ihr hinterher und brach auch ein. Das war’s.«

Das Band stoppte. Stille breitete sich im Raum aus. Batchelor sprach als Erster.

»Der arme Kerl. Jahrelang keine Liebe, keine Familie gehabt, endlich ein richtiges Zuhause, und dann passiert so was.

Einfach schrecklich.«

»Vielleicht«, sagte Fenwick. Irgendetwas in seiner Stimme ließ die beiden anderen aufmerken, und sie blickten ihn an.

»Aber in seiner Akte steht, dass Griffiths am dritten August Geburtstag hat. Zu der Jahreszeit gibt es nicht gerade viel Eis und Schnee.«

Nachdem Batchelor gegangen war, hörten sie sich noch mehr von seinen Bändern an, die jetzt beschlagnahmt worden waren.

»In der Oberstufe fing ich an, mich mit Mädchen zu verabreden, aber eine feste Freundin hatte ich erst, als ich schon gearbeitet habe.

Sehr oft mochte ich die Mädchen nicht mal besonders, manche waren richtig albern, aber es wurde nun mal von einem erwartet, und der Sex machte Spaß.«

»Kamen Sie gut bei Mädchen an?«

»Oh ja, vor allem bei den Hübscheren. Die waren es gewohnt, dass die Jungs hinter ihnen her waren, und da ich mich nicht an sie rangemacht habe, war ich für sie eine Herausforderung. «

Fenwick warf MacIntyre einen Blick zu. »Was fällt Ihnen als Erstes dabei ein?«

318

»Arroganter Widerling.«

»Mir auch, aber was noch?«

»Dass es ein bisschen einstudiert klingt, leicht gekünstelt?

Worauf wollen Sie hinaus?«

»Denken Sie an die beiden Profiler-Gutachten. Darin werden Griffiths’ Verbrechen als das Werk eines Menschen eingestuft, der über ein geringes soziales Selbstbewusstsein verfügt, schlecht eingegliedert ist, höchstwahrscheinlich ohne normale Beziehungen.«

»Ja, aber da stand auch, dass er vermutlich noch immer bei Vater oder Mutter wohnt, und das ist eindeutig falsch.«

»Zugegeben, aber in den Berichten heißt es auch, dass Tä-

ter B weit besser angepasst ist, und wie wir wissen, ist er so glattzüngig, dass die Opfer ihn mit zu sich nach Hause nehmen. Ich denke, Griffiths benutzt dessen Worte, nicht seine eigenen.«

»Möglich.«

»Vielleicht haben sie sich bei der Arbeit kennen gelernt, vielleicht auch in dem Kinderheim, und sich dann zusam-mengetan.«

MacIntyre starrte Fenwick schweigend an.

»Sie sind ein interessanter Bulle, wissen Sie das? Ich wette, wenn Ihnen einer sagen würde, dass Sie eine gute Intuition haben, würden sie ihm widersprechen, rein aus Prinzip, aber ich finde, Sie haben wirklich einen guten Riecher.«

»Manche Leute nennen das Glück.« Fenwick stand auf und schob die Tonbänder in einen Beweismittelbeutel, wollte das Gespräch beenden, doch MacIntyre war noch nicht fertig.

»Ich denke, ein guter Polizist braucht eine gute Intuition.

Mein Vater war Superintendent in den Highlands. Er hat immer an seinen Instinkt geglaubt, hat gesagt, damit habe er mehr Verbrecher dingfest gemacht als mit irgendwas sonst.«

319

»Na, Sie haben ja vorhin selbst gesagt, Griffiths würde sich auf dem Tonband gekünstelt anhören. Woran haben Sie das gemerkt?«

»Jahrelanges Training.« MacIntyre lachte. »Na schön, vielleicht besitzen wir ja alle die Fähigkeit, über die reinen Fakten hinauszublicken, aber ich glaube, bei Ihnen steckt noch mehr dahinter.«

Fenwick zuckte die Achseln und wandte sich zur Tür.

»Kommen Sie, wir sind spät dran.«

Die nächste Lagebesprechung sollte in fünf Minuten anfangen, und MacIntyre hatte das gesamte Team in den gro-

ßen Konferenzraum bestellt.

MacIntyre leitete die Besprechung souverän, erwähnte die Möglichkeit einer Verbindung zu Griffiths, jedoch mit der Einschränkung, dass es sich nur um eine Theorie handelte. Er war nicht sonderlich groß, aber er besaß eine Präsenz, die Führungsstärke und Durchsetzungsvermögen ahnen ließ. Er erklärte seinen frustrierten Mitarbeitern, dass er zwar mit dem National Crime Squad im Gespräch war, dass aber die Ermittlungen nach wie vor in ihren Händen lagen.

»Chief Inspector Andrew Fenwick ist es gelungen, eine potenzielle Verbindung zwischen Lucindas Mörder und anderen Verbrechen aufzuzeigen, und er hat bislang eine wichtige Rolle bei den Ermittlungen gespielt. Ich übertrage ihm die Leitung eines kleinen Teams, das zurückliegende Straftaten, die eine ähnliche Handschrift aufweisen, unter die Lupe nehmen soll. Brown und Knots, Sie sind ab jetzt dem Chief Inspector unterstellt.«

Fenwicks gewohnheitsmäßiges Pokerface verriet keinerlei Verblüffung angesichts seiner neuen Aufgabe. Nach der Besprechung stellten sich die beiden Beamten vor, die für ihn arbeiten sollten, und er erklärte, dass er einen von ihnen als 320

Basis in London haben wolle, während der andere am nächsten Morgen mit ihm nach Telford fahren solle, wo Griffiths zur Schule gegangen war. Brown erklärte sich freiwillig bereit, vor Ort zu bleiben, und Knots widersprach nicht. Fenwick überließ ihnen die alten Akten zum Einlesen und machte dann einen Spaziergang durch die versmogte Londoner Luft, um nachzudenken.

321

TEIL DREI

Warum nur musste auf dieses schöne Gewebe eines Frauenlebens, empfindlich wie Gaze und bislang nahezu weiß wie Schnee, solch ein grobes Muster gezeichnet werden wie jenes, das das Schicksal ihm zugemessen hatte …

Thomas Hardy

Ein Mann hütet das Geheimnis eines anderen besser als sein eigenes, eine Frau dagegen hütet ihre eigenen Geheimnisse besser als die der anderen.

Jean de La Bruyère

322

Kapitel einundzwanzig

Er war wieder allein. Bei Tagesanbruch hatte er die schlafende Wendy verlassen und war auf seinem Motorrad zurück zum Cottage gefahren. Er vermied es, Auto zu fahren, wenn es nicht unbedingt erforderlich war, obwohl er diese Aversion niemals mit seiner Vergangenheit in Verbindung brachte. Denn das hätte bedeutet, dass er sich die Möglichkeit einer Schwäche eingestehen musste, und das hatte er noch nie getan.

Seine Stimmung war düster. Er hatte sie lebend zurückgelassen, man stelle sich vor! Er hatte sich oben auf der Klippe ausgemalt, wie sie wieder zu Bewusstsein kam, wie das Wasser in der klaustrophobischen Dunkelheit der Höhle langsam anstieg, bis sie ertrank, und war überzeugt gewesen, dass sie tot war. Das war alles Griffiths’ Schuld. Schließlich hatte er nur deshalb beschlossen, im Freien zu arbeiten, weil er Gründe für Griffiths’ Berufungsverhandlung liefern wollte. Es hätte leicht sein müssen, aber es war ihm seltsam schwer gefallen. Im Freien gab es zu viele Unwägbarkeiten. Was, wenn jemand vor-beigekommen wäre? Bei ihnen zu Hause war das etwas anderes, denn dort hatte er alles unter Kontrolle, und er konnte sich so viel Zeit lassen, wie er wollte. Das war das nächste Problem.

Es hatte schnell gehen müssen. Er hatte kaum angefangen, sich zu amüsieren, da hatte er schon wieder aufhören müssen.

Trotzdem wäre vielleicht alles zu seiner Zufriedenheit verlaufen, wenn er sein Messer nicht verloren hätte.

323

Zum Glück hatte er Griffiths nichts von dem Mädchen in Wales erzählt, daher blieb der Fehler sein Geheimnis. Seine Frustration vermischte sich mit einer Niedergeschlagenheit, die er nicht abschütteln konnte, und sein Zorn wuchs. Der Zorn setzte Kraft und Energie frei. Er spürte jetzt, wie sich beides in ihm aufbaute. Eine Entscheidung stand an. Sollte er noch einmal versuchen, Griffiths’ unbeholfenen Stil zu kopieren, oder sollte er sich wieder auf seine Methode verlegen?

Im Cottage tigerte er im Wohnzimmer auf und ab, zer-hackte die Luft mit der Hand, als halte er sein verlorenes Messer. Als ihm der Einfall kam, musste er lächeln, so genial fand er ihn. Die besten Lösungen waren doch immer die einfachsten. Er musste jünger wirken, deshalb würde der Schnurrbart, den er seit einiger Zeit hegte und pflegte, wieder verschwinden müssen. Das war nicht schlimm. Er konnte sich innerhalb einer Woche einen überzeugenden Bart wachsen lassen. Die Koteletten hatte er länger gezüchtet, nun rasierte er sie ab. Er duschte gründlich, entfernte mit einem kräftigen Peeling-Gel Hautschuppen und lose Körperbehaarung. Es bestand immer das Risiko, dass diese Vorsichtsmaßnahme nicht ausreichte, doch bislang war er erfolgreich gewesen, und sein Vertrauen in die Methode war gewachsen.

Nun kamen die letzten Feinheiten an die Reihe: Er wähl-te die Farbe der Kontaktlinsen und die Kleidung aus, diesmal nicht zu elegant. Er war nicht mehr in London, und der Stil, durch den er dort unauffällig war, würde ihn hier draußen von der Masse abheben, trotzdem musste er einigermaßen cool aussehen – eine stonewashed Jeans und ein schwarzes TShirt waren genau das Richtige. Die Schuhe mussten robust sein und sich für einen längeren Marsch eignen, denn er würde nicht mit dem Motorrad fahren, aber er hatte ein Paar mit dicker Sohle, das auch noch modisch aussah. Schließlich 324

nahm er eine Perücke mit kurzen Dreadlocks aus einem Schrank und suchte seinen Brillantohrstecker heraus, um die Gesamtwirkung zu vervollkommnen.

Die Vorfreude steigerte sich. Sie ließ seine Augen funkeln und zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er zog sich eine Linie Koks rein, damit das Hoch länger anhielt, dann ging er aus dem Haus. Die Luft war wie elektrisiert und hinterließ einen Geschmack von Blut in seiner Kehle. Die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf, und er hatte ein Prickeln im Nacken, während er resolut den Fußweg entlangschritt. Er wusste, dass es eine ganz besondere Nacht werden würde.

Dana, Rachel und Virginia (von ihren Freunden, nie jedoch von ihrer Familie Ginny genannt), bedauerten ihre Entscheidung, nach Shrewsbury zu fahren anstatt wie sonst jeden Freitagabend in Telford zu bleiben. Sie hatten vergeblich sämtliche Kneipen und Discos abgeklappert, die sie kannten, um richtig was zu erleben, waren aber jedes Mal zu dem Schluss gelangt, dass sich das Richtige, was immer es war, irgendwo anders abspielen musste. Mit niedrigem Adrenalin-pegel und verblassendem Make-up fingen sie an, sich zu streiten, als sie die letzte Bar auf ihrer Liste verließen und in den Nieselregen hinaustraten.

Im Schutz einer nahen Bushaltestelle überlegten sie, was sie jetzt machen sollten. Dana war dafür, den Zug nach Telford zu nehmen. Rachel meinte, dass es mit dem Bus schneller gehen würde. Ginny schwieg. Sie hatte das Gefühl, dass sie sich eine Erkältung eingefangen hatte. Als die anderen sich nicht einigen konnten, schlug sie vor, dass sie zu Dana nach Hause fahren und sich dort bei einem Glas Wein und was zu Essen vom Imbiss einen Spätfilm im Fernsehen ansehen sollten, doch Dana und Rachel wollten nichts davon wissen.

325

Der Abend war ihrer Meinung nach noch längst nicht gelaufen, und sie mussten nicht wie Ginny zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause sein. Noch immer genossen sie ihr erstes Jahr, in dem sie ganz legal Alkohol trinken durften, und sie sahen nicht ein, wieso sie zu Hause und ohne Jungs kostbare Zeit verplempern sollten. Schließlich kamen die Mädchen überein, dass der Zug zurück nach Telford mehr Flirtmöglichkeiten versprach, und sie machten sich auf den Weg zum Bahnhof. Dana und Rachel gingen unter einem überdimen-sionalen Golfregenschirm voraus. Ginny trottete hinterdrein und blieb mit jedem Schritt weiter zurück. Sie ging geduckt unter einem rosa gepunkteten, durchsichtigen Plastikschirm.

Er gehörte ihrer jüngeren Schwester, aber sie hatte keinen anderen finden können, bevor sie eilig aus dem Haus ge-stürmt war.

Weder Dana noch Rachel trugen eine Jacke, und Ginny war sicher, dass Dana mit ihrem bauchfreien Oberteil frieren musste, auch wenn ihr neuer Brillantstecker im Licht glitzerte. Rachel sah immer gut aus, egal, was sie anhatte, und es war einfach unfair, dass ihr Haar selbst im Regen noch glatt und glänzend blieb.

Am Bahnhof angekommen stellten sie fest, dass sie einen Zug knapp verpasst hatten und eine halbe Stunde auf den nächsten warten mussten. In der Nähe war eine Kneipe, in die sie sich flüchteten, um die Wartezeit zu überbrücken.

Ginny bestellte sich einen Hooper’s Hooch, aber als sie einen Schluck davon trank, fröstelte sie von dem eisgekühlten, sü-

ßen Getränk, und sie schob es beiseite. Sie zog ihre Regenjacke enger um sich und fühlte sich mies, versuchte aber attraktiv und gut gelaunt auszusehen, als interessiere sie sich für das geistlose Geplapper ihrer Freundinnen. Zwei Männer von Mitte zwanzig kamen an ihren Tisch und gaben ihnen allen 326

einen Drink aus, zogen die Augenbrauen hoch, als Ginny ihre Bestellung änderte und einen Whisky nahm.

Dana und Rachel amüsierten sich inzwischen prächtig. Einer von den Typen hatte es ganz offensichtlich auf Rachel abgesehen, und der andere zeigte Interesse an Dana. Die halbe Stunde zog sich in die Länge, und Ginny kam sich immer mehr wie das fünfte Rad am Wagen vor. Sie nieste einige Male, erntete aber nicht mal ein »Gesundheit«, geschweige denn Mitgefühl. Als die anderen aufstanden und zurück nach Shrewsbury wollten, auf einmal ein Vierergrüppchen mit bequemem Auto, hatte sie keine Lust mehr und wollte nur noch nach Hause. In einer Anwandlung von schlechtem Gewissen versuchten Dana und Rachel halbherzig, sie zum Mitkommen zu überreden, akzeptierten aber ihr drittes Nein mit einem »wie du willst« und überließen Ginny ihrem Schicksal.

Den vorhergehenden Zug hatte sie inzwischen verpasst, und der letzte ging erst in über einer halben Stunde. Der Barkeeper kündigte gerade die letzte Runde an, als sie nachzählte, wie viel Geld sie dabeihatte – 27 Pfund. Selbst um diese späte Uhrzeit reichte das dicke für ein Taxi nach Hause.

Sie hatte die Telefonnummern von drei Taxiunternehmen in der Handtasche, darauf hatte ihr Dad bestanden.

Vor dem Münztelefon im Gang zu den Toiletten war eine Schlange, und als sie schließlich an die Reihe kam, war nur noch eine Handvoll Gäste im Pub. Die Nummer der ersten Taxifirma war besetzt, die zweite versprach eine dreißigminü-

tige Wartezeit, und die dritte war ebenfalls besetzt. Sie wollte gerade wieder die erste Nummer wählen, als der Barkeeper ihr auf die Schulter klopfte.

»Komm schon, Mädchen, du musst jetzt gehen.«

Sie widersprach nicht. Am Bahnhof rief sie noch einmal das dritte Taxiunternehmen an. Die Nummer war wieder 327

besetzt, und sie fing an zu zittern, inzwischen völlig durchgef-roren. Falls sie kein Taxi kriegte, das sie vor Mitternacht nach Hause brachte, würde sie ihren Dad anrufen. Am liebsten hätte sie das direkt getan, aber sie hatten heute Morgen Streit gehabt, weil sie nicht studieren wollte, wie er es sich für sie erhofft hatte, und sie wollte ihm gegenüber keinerlei Schwä-

che zeigen.

Die Telefonzelle war förmlich mit Visitenkarten von Taxiunternehmen tapeziert. Sie suchte sich willkürlich eine aus und kam direkt durch. Sie könnten ihr innerhalb von fünfundzwanzig Minuten einen Wagen schicken. Die Frau in der Zentrale war freundlich. »Wenn Sie Pech haben, fährt Sie mein Mann. Dann halten Sie sich gut fest.« Sie lachte leise glucksend, das heisere Lachen einer Raucherin.

Ginnys Laune besserte sich. Fünfundzwanzig Minuten waren ein Klacks, und unter dem Vordach war es fast trocken. Sie legte auf und musste zweimal niesen.

»Gesundheit! Alles in Ordnung? In so einer Nacht sollten Sie nicht allein unterwegs sein.«

Es war eine nette Stimme, mitfühlend und kultiviert. Ginny milderte ihr abweisendes Achselzucken mit einem flüchtigen Lächeln.

»Im Ernst. Wie kommen Sie nach Hause? Haben Sie genug Geld für ein Taxi? Entschuldigen Sie die Frage, aber Sie erinnern mich an meine jüngere Schwester, und ich fände es furchtbar, wenn sie in so einer Nacht allein unterwegs wäre.

Ich kann Ihnen ein Taxi bestellen, wenn Sie möchten, mach ich gern. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn eine hübsche Frau wie Sie sich verkühlen würde, weil ich sie im Regen hab stehen lassen.«

Ginny sah ihn zum ersten Mal an und lächelte nun richtig.

Er war groß, hatte schöne grüne Augen, breite Schultern und 328

eine coole Frisur. Aber er war ein Fremder, und er war ein Mann. Und mit fremden Männern sprach sie grundsätzlich nicht, wie man es ihr als kleines Mädchen eingeschärft hatte.

Das war einer der Gründe, warum sie sich an Dana und Rachel rangehängt hatte. Die beiden kannten da keine Hemmungen.

»Ich hab schon ein Taxi bestellt, danke.«

Er legte die Stirn in Falten, die jedoch gleich wieder verschwanden.

»Ich wette, Sie müssen noch ein Weilchen warten. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?«

Die Idee war verlockend. Etwas Warmes in attraktiver Begleitung war besser, als hier draußen in der feuchten Kälte zu warten. Und was war an einem Kaffee schon weiter schlimm?

Die Bahnhofscafeteria hatte schon zu, aber gegenüber war ein italienisch aussehendes Restaurant (zumindest war die Markise rot, weiß und grün), und sie gingen hinein. Er sagte ihr, er heiße Graham. Er ließ sie an einem Tisch gleich neben der Tür Platz nehmen, während er zur Theke ging. Wenn sie den Kopf drehte, konnte sie den Taxistand sehen, und sie entspannte sich.

Graham blieb eine Weile weg. Als er schließlich wiederkam, stellte er mit triumphierender Miene zwei große Tassen Cappuccino mit viel Schaum auf den Tisch.

»Geschafft! Und ich hab dem Typen an der Theke sogar noch was abspenstig machen können.« Er zog zwei Amaret-to-Kekse aus der Tasche und reichte ihr den rosa verpackten.

»Danke.« Sie war nicht hungrig, wollte aber nicht unhöflich sein. Er sah zu, wie sie die Verpackung aufmachte und anfing, die Zuckerkörner von dem Keks zu knabbern.

»So isst man die aber nicht!« Er lachte und tunkte seinen in 329

den Kaffeeschaum, dann schob er ihn ganz in den Mund.

»Köstlich. Na los, probieren Sie’s.«

Ginny hatte noch immer keinen Appetit, doch er war nett und freundlich, also tat sie ihm den Gefallen und aß beide Hälften ihres Kekses. Er plauderte zwanglos mit ihr, während sie an dem Kaffeeschaum nippte und nach ihrem Taxi Ausschau hielt. Es war noch immer nicht da, aber sie beschloss, vorsichtshalber schon mal zu gehen.

»Ich muss los. Danke für den Kaffee.«

»Sie haben ihn ja gar nicht angerührt. Trinken Sie wenigstens ein bisschen. Das wärmt Sie etwas auf.«

»Na gut.« Sie trank einen großen Schluck und zog eine Grimasse. »Was ist denn da drin?«

»Grappa, aber nur ein Schuss. Hilft wunderbar bei Erkältung, und schadet Ihnen ganz bestimmt nicht.«

Aus purer Höflichkeit nahm Ginny noch einen Schluck von dem inzwischen lauwarmen Kaffee, dann stand sie auf, um zu gehen. Sie nieste zweimal, als sie sich verabschiedete.

Sie kam sich ziemlich würdelos vor, als sie ihre Jacke nahm und zur Tür ging. Irgendwie war er schon dort und hielt sie ihr auf, ehe sie ihn daran hindern konnte.

»Ich bringe Sie zum Taxistand und warte mit Ihnen, bis Ihr Taxi kommt. Nein, keine Widerrede. Sie sollten um diese Uhrzeit nicht mehr allein unterwegs sein. Es wundert mich, dass Ihr Freund Sie einfach sich selbst überlassen hat.«

Ginny überging die Bemerkung, es war einfacher so. Au-

ßerdem hatte sie Schwierigkeiten, ihren Arm in den Jacken-

ärmel zu manövrieren.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen. So, das hätten wir. Und machen Sie die Jacke richtig zu, es regnet immer noch.«

Das Restaurant kam ihr auf einmal überheizt und stickig vor. Sie fasste sich an die Stirn, rechnete damit, dass sie sich 330

heiß anfühlte, doch zu ihrer Überraschung war die Haut kalt und feucht. Sie hatte bestimmt Fieber. Ihre Hand zitterte, und sie war etwas wackelig auf den Beinen.

»Geht’s Ihnen gut?«

»Mir ist heiß, nur heiß. Frische Luft. Tut gut.«

Ginny stellte entsetzt fest, dass ihr vollständige Sätze schwer fielen. Sie hatte die Worte im Kopf, aber wenn sie sie aussprechen wollte, verhakten sie sich in ihrem Mund. Sie trat hinaus in den Nieselregen und wartete darauf, dass sich ihre Benommenheit klärte. Stattdessen wurde es nur noch schlimmer. Sie versuchte, den blöden rosa gepunkteten Schirm zu öffnen, doch ihre Finger fühlten sich an wie un-bewegliche Würste. Er machte ihn für sie auf und hielt ihn ihr über den Kopf, während er sie zum Taxistand dirigierte.

Als sie stolperte, schob er seine freie Hand unter ihren Ellbogen, um sie zu stützen, dann schlang er sie um ihre Taille, als sie anfing zu schwanken. Er hielt sie zu fest.

»Nee.« Sie wollte sagen: »Nicht, lassen Sie das«, aber sie bekam die Lippen nicht auf. Sie wollte ihn wegstoßen, doch ihre Arme waren bloß nutzlose Klötze rechts und links von ihr, die nicht reagierten.

Er zog sie jetzt richtig fest an sich, und Panik stieg in ihr auf.

»Zappel nicht so. Sonst fallen wir beide noch hin. Ah! Ist das dein Taxi?«

Ein Wagen rollte heran, der Fahrer öffnete das Beifahrer-fenster ein Stück und rief: »Virginia Matthews?«

»Virginia? Ach so, ja, Ginny, das sind wir.«

»Sie ist betrunken. Ich nehme keine Betrunkenen mit. Die kotzen alles voll.«

Der Mann, der sich als Graham vorgestellt hatte, lachte.

»Keine Sorge, das hat sie schon erledigt. Nichts mehr drin.

Ich muss sie jetzt nur noch sicher nach Hause bringen.«

331

Ginny hörte, wie er eine Adresse angab, die in der falschen Richtung lag, und öffnete den Mund, um stumm zu protestieren. Der Taxifahrer blickte sie an und runzelte die Stirn.

»Nichts mehr drin? Ganz sicher? Kostet zwanzig Piepen extra, wenn sie mir ins Auto kotzt. Ehrlich gesagt …« Der Fahrer schien kurz davor, einfach wegzufahren.

Graham schob etwas durch den offenen Fensterspalt.

»Hier haben Sie zehn, als Anzahlung. Wenn ihr schlecht wird, halten Sie einfach an und schmeißen uns raus, und ich geb’ Ihnen noch mal zehn. Nun seien Sie doch nicht so. Sehen Sie sich doch nur an, in welchem Zustand sie ist. Außerdem macht ihr Vater sich bestimmt schon Sorgen.«

Ginny versuchte, den Kopf zu schütteln, schaffte es aber nur, ihr Kinn auf die Schulter zu drücken. Widerstrebend entriegelte der Taxifahrer die Türen, und sie wurde ins Auto verfrachtet.

»Danke, mein Bester. Das werde ich Ihnen nicht vergessen.« Kaum saßen sie beide im Wagen, da machte Graham das Fenster weit auf. »Frische Luft wird ihr gut tun«, erklärte er, doch selbst in ihrem benebelten Zustand konnte Ginny die Anspannung spüren, die er ausstrahlte.

Keiner sagte etwas, während die Reifen durch Pfützen zischten und die orangegelben Straßenlampen seltener wurden, bis gar keine mehr zu sehen waren. Der Wagen ließ die Stadt hinter sich, und Ginny merkte, wie sich eine durch die Droge ausgelöste Gleichgültigkeit in ihr breit machte, widerlicher als ein Brechreiz. Sie stöhnte, zuerst leise, dann lauter.

»Wie hält sie sich?« Der Fahrer warf einen besorgten Blick über die Schulter, bemüht, möglichst in einer brechfreien Zone zu bleiben.

»Ich glaub, ganz gut. Wo sind wir?«

»Kurz vor Cressage.«

332

»Hmm.« Graham schien die Entfernung bis zu ihrem Ziel abzuschätzen. Ginny stöhnte erneut und konnte sich kurz gegen die Umklammerung seines Armes zur Wehr setzen.

»Wissen Sie was? Wir fahren noch ein, zwei Meilen weiter, das letzte Stück schaffen wir gut zu Fuß.«

Der Fahrer antwortete nicht. Er blickte bloß skeptisch, als bezweifelte er, dass die Frau auf der Rückbank seines Taxis irgendwohin gehen könnte. Die Minuten verstrichen. Ginny kämpfte gegen den Nebel an, der sie einhüllte. Sie wusste, dass irgendwas nicht stimmte, aber dieser Gedanke löste nur Verwirrung und dumpfe Ergebenheit aus, nicht Angst.

»Hier ist gut. Halten Sie an. So, der Rest ist für Sie, und behalten Sie die zehn Pfund«, sagte er, als er bezahlte, und falls dem Fahrer auffiel, dass seine Hand zitterte, so wurde seine Neugier durch das Trinkgeld gedämpft.

In Ginnys Bewusstsein entstand ein Gefühl, das an Entsetzen grenzte. Sie wusste, dass etwas Furchtbares geschehen würde, wenn sie die stickige Hitze des Autos verließ. Der Gedanke hämmerte ihr mit schwächlichen Fäusten von innen gegen den Schädel, während ihr Körper ihrem Entführer gehorchte und ausstieg, auf Füßen, die tausend Meilen weit weg waren und nun auf einem nassen, grasbewachsenen Sei-tenstreifen standen.

Der Fahrer warf noch einen letzten Blick auf das Paar, das er am matschigen Straßenrand zurückgelassen hatte. Das Mädchen sah aus, als habe es nicht nur Alkohol intus. Ekel-haft, höchstens achtzehn Jahre alt und ließ sich so gehen. Er schüttelte missbilligend den Kopf, als er zum Wenden rück-wärts in einen Feldweg setzte. Als er davonfuhr, blickte er ein letztes Mal in den Rückspiegel. Der Mann versuchte, sich den Arm des Mädchens um die Schulter zu legen, aber sie schien ihm immer wieder wegzurutschen. Ihr Gesicht 333

war dem Auto zugewandt, der Kopf schwer, ihr dunkler Mund geöffnet. Aus dieser Entfernung sah es wirklich genau so aus, als würde sie schreien. Er schaltete vom zweiten in den dritten Gang und brauste zurück auf die Lichter der Stadt zu.

Ginny war wie taub. Ihre Augen stierten weit aufgerissen in die Nacht um sie herum, doch sie konnte kaum ihre Umgebung erkennen. Die Dunkelheit und die Drogen machten sie blind, das Einzige, was sie wahrnahm, waren die unmit-telbaren Impulse ihres Körpers. Der Mann neben ihr zog sie jetzt weg von der Straße, und sie hatte nicht die Kraft, sich ihm zu widersetzen. Er zerrte brutal, und ihre Haut brannte.

Sie stolperte über einen Stein im Gras und fiel auf die Knie.

Die Erde unter ihr fühlte sich weich und wattig an, wie eine Wolke.

»Aufstehen!«

Er riss an ihren Armen, aber ihr Gewicht hatte sich ganz nach unten verlagert, und er musste sie förmlich zu dem Eisengatter in der Hecke schleifen. Sobald er es erreicht hatte, ließ er sie fallen, um den schweren Riegel mit beiden Händen nach hinten zu schieben. Dann zog er sie durch die Öffnung auf eine leere Wiese. Sie roch den Dung von den Kü-

hen, die tagsüber hier geweidet hatten, und hustete.

»Klappe.« Er klang jetzt zornig, und sie spürte einen dumpfen, brennenden Schmerz auf einer Wange, sodass sie sich zwang, die halb geschlossenen Augen zu öffnen. Hatte er sie geschlagen?

»Hör auf zu lachen, du dreckiges Miststück.«

Sie sah den erhobenen Fuß, der mit Schwung auf sie zu-kam. Der Schuh traf sie mit solcher Wucht, dass ihr ganzer Körper erbebte, aber sie spürte keinen Schmerz. Nur ihr Ge-334

ruchssinn blieb intakt, und sie erkannte, dass der Mistgeruch plötzlich mit dem von Blut durchsetzt war.

Ginny lag ausgestreckt auf dem Rücken. Er hob ihre Ar-me und schleifte sie weiter, während der Nieselregen ihr ins Gesicht fiel. Ihr Körper war völlig passiv, als er schließlich den Schutz einer Hecke erreichte, wo der Boden trocken und fest war. Auch als er ihr die Jacke aufriss, die Bluse zer-fetzte und den Rock über die Taille schob, fühlte sie sich formlos an, wie eine Puppe aus Pappmaché, die jemand drau-

ßen im Regen liegen gelassen hatte. Als er ihre Beine mit Fußtritten spreizte, fiel sie in gnädige Bewusstlosigkeit.

Als Taxifahrer hörte Geoff meistens den Lokalsender, aber für heute hatte er genug von dem seichten Gedudel im Nacht-programm. Er brauchte etwas, das ihn die letzten Stunden seiner Schicht wach hielt, und er wechselte zu Radio Four.

Er hörte träge zu, bis ein Bericht über die Entführung und Vergewaltigung einer jungen Frau in Wales seine Aufmerksamkeit weckte. Der Ort lag gar nicht weit entfernt. Er schüttelte den Kopf, als einige Details geschildert wurden, und dachte, dass sie von Glück sagen konnte, mit dem Leben davongekommen zu sein. Junge Frauen konnten heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Bei dem Gedanken musste er wieder an das Mädchen denken, das er gerade abgesetzt hatte.

Nur gut, dass sie einen Freund hatte, der so anständig war, sie sicher nach Hause zu bringen.

Der Radiomoderator interviewte jetzt den Polizisten, der die Ermittlungen leitete, einen Superintendent Amos. Der Beamte beschrieb den Täter: weiß, männlich, etwa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, gut einen Meter achtzig groß und schlank, aber muskulös, braunes Haar, blaue Augen.

Amos betonte, dass der Mann Haar- und Augenfarbe häufig 335

veränderte. Der Moderator wies darauf hin, dass der Täter eine große Gefahr für junge Frauen darstellte, vor allem für dunkelhaarige, gut aussehende Frauen.

Geoff Minny verlangsamte sein Taxi. Eine jähe Erinnerung rief ihm ein Bild von dem jungen Mädchen vor Augen, wie sie den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet hatte, als er davonfuhr. Auf einmal erschien ihm die ganz normale Fuhre mit dem guten Trinkgeld, von der er gerade zurückkehrte, düster und bedrohlich, und er hielt am Straßenrand, um nachzudenken.

Es war alles einwandfrei gewesen, sagte er sich. Sie war jung, betrunken, spät nachts noch unterwegs. Er hatte sie bloß nach Hause gefahren … nur dass er genau das eben nicht getan hatte, oder? Er hatte ein junges Mädchen, das kaum älter als seine Nichte sein konnte, hilflos mitten in der Wala-chei ausgesetzt, mit irgendeinem komischen Typen, der behauptete, ihr Freund zu sein.

»Ach du Scheiße!«, sagte er laut, und auf einmal war ihm ein bisschen schlecht. Der Altersunterschied und ihre Verfas-sung waren ihm seltsam vorgekommen, als er sie am Taxistand abgeholt hatte, aber er hatte schon Eigenartigeres erlebt.

Schuldgefühle überfielen ihn, und ihm wurde heiß und übel.

Er drehte das Radio lauter, damit er das Ende des Berichtes mitbekam.

»… und Sie glauben, es könnte sich um denselben Mann handeln, der im Juni eine junge Frau in Knightsbridge ermordet hat?«

»Wir können es nicht mit Sicherheit sagen, aber es gibt Ähnlichkeiten, auf die ich hier nicht näher eingehen kann.«

»Wurde er irgendwo sonst gesehen?«

»Wir glauben, dass er in den Wochen vor der Entführung von Tasmin möglicherweise mit dem Zug von London nach 336

Birmingham gefahren ist und von dort aus eventuell nach Telford. In diesen Gebieten bitten wir die Bevölkerung um erhöhte Wachsamkeit.«

»Alles ganz normal«, murmelte Geoff leise und wischte sich die Handflächen an der Hose ab, wo sie feuchte Spuren hinterließen. Seine Frau meldete sich über Funk, um ihn zu einem anderen Fahrgast zu schicken, aber er antwortete nicht.

Angenommen … der Gedanke war zu grässlich. Nein, seine Phantasie ging mit ihm durch. Es war schon spät, und er war müde. Er legte einen Gang ein, ließ die Kupplung kommen und gab Gas. Er war noch keine fünfzig Meter gefahren, als er erneut anhielt.

Und was, wenn sein Instinkt ihn nicht trog? Was, wenn das junge Mädchen in Gefahr gewesen war, nicht betrunken, sondern unter Drogen gesetzt? Er hatte schon öfter von solchen Sachen gelesen – da gab es eine »Vergewaltiger-Droge«, Rohipp-irgendwas. Was wenn … Er schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu entwirren. Er drehte langsam durch. Zu viele Nachtschichten, weil die mehr Geld einbrachten, und zu viele Tassen Kaffee, damit er wach blieb. Er würde dastehen wie ein Vollidiot, wenn er seinen Befürchtungen nachgab und die Polizei verständigte, nur um später hören zu müssen, dass er ein Liebespärchen angezeigt hatte. Das Auge des Gesetzes fände das bestimmt gar nicht komisch, und au-

ßerdem könnte er den Rest der Nacht bestimmt keine Fuhre mehr übernehmen.

Er zündete sich eine Zigarette an, aber seine Besorgnis verflog einfach nicht. Was würden seine Frau und sein Sohn sagen, wenn sie erfuhren, dass er ein Mädchen allein gelassen hatte, das später ermordet worden war? Ein Schauder durchlief ihn.

»Scheiße, Scheiße!« Er drückte die Zigarette aus und wendete den Wagen.

337

»Graham« zog tief an der Selbstgedrehten und sah, wie die Spitze rot aufglühte und dann erlosch, aufglühte und erlosch, anders als die Wut in ihm, die einfach nur immer weiter an-wuchs. Er hatte vorher noch nie Drogen eingesetzt, weil er überzeugt war, dass er jede Frau rumkriegen konnte. Heute Nacht hatte er es vorgezogen, zu experimentieren und ein paar seiner üblichen Fähigkeiten mit pharmazeutischer Hilfe zu kombinieren, um die Sache zu beschleunigen. Keine gute Idee. Er hatte zu viel genommen. Wie es aussah, hätten die Kekse, die er präpariert hatte, schon genügt, aber die Spannung, als er die Droge in den Kaffee gab und zusah, wie sie ihn trank, hatte seine Erregung noch gesteigert. Es hatte ihm tatsächlich ein prickelndes Vergnügen bereitet, sie dazu zu bringen, das Zeug auch zu trinken. Als sie dann benommen wurde, hatte es ihm Spaß gemacht, so zu tun, als würde er ihr beistehen, und die anfängliche Hilflosigkeit hatte erotisierend auf ihn gewirkt. Aber als sie dann einfach ohnmächtig wurde, war seine Leidenschaft erloschen.

Er trat mit voller Wucht gegen den reglosen Körper zu seinen Füßen. Was hätte er davon, so etwas zu ficken? Da war keine Angst, um sein Verlangen zu schüren. Blöde Tussi.

Er trat sie erneut. Anstatt des Grauens, das er normalerweise bei seinen Opfern sah, wenn sie seine Überlegenheit erkannten, sah er jetzt gar nichts. Was er auch machte oder wie viel Schmerz er ihr zufügte, es kam keine Reaktion. Er fühlte sich unerfüllter und wütender als je zuvor. Sein Körper war vor-

übergehend befriedigt, doch schon jetzt spürte er, wie sich der Knoten der Anspannung tief in seinem Bauch zuzog. Er würde sich entweder eine andere suchen oder es noch mal mit ihr probieren müssen. Er bückte sich und schlug fest zu.

Ein schwaches Stöhnen war zu hören, und der Körper auf dem Boden bewegte sich ein wenig. »Graham« lächelte kurz, 338

ein Aufblitzen von weißen Zähnen im Mondlicht. Wenn sie wieder zu sich kam, konnte er sich vielleicht doch noch mit ihr amüsieren. Er schleifte sie tiefer in ein kleines Wäldchen, kaum mehr als ein paar Bäume und dornige Sträucher, aber besser als nichts. Er entschied, dass er die Arbeit im Freien hasste, und bedauerte die Verpflichtung gegenüber seinem ehemaligen Partner. Die hier noch, dann das Miststück von der Polizei, und anschließend würde er wieder seinen alten Methoden frönen. Falls das immer noch nicht genügend Gründe für eine Berufung lieferte, dann würde Griffiths sich eben selbst was einfallen lassen müssen, Pech für ihn. Seine Wut brodelte auf wie ein eitriges Geschwür unter der Haut, als er versuchte, das bewusstlose Mädchen wieder wachzurütteln.

Geoff bremste auf zwanzig Meilen die Stunde ab. Es nieselte jetzt nur noch leicht, sodass der Straßenrand besser zu erkennen war, aber er konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, wo genau er die beiden abgesetzt hatte. Es war gut eine Meile vor Cressage gewesen, aber jede Hecke und jedes Gatter sahen gleich aus. Hinter ihm näherte sich ein Auto mit hoher Geschwindigkeit, und er kurbelte das Fenster runter und winkte es vorbei. Jemand auf der Rückbank zeigte ihm zum Dank den erhobenen Mittelfinger, was, wie er fand, den heutigen Abend wirklich gut auf den Punkt brachte.

Auf der rechten Seite sah er ein Eisengatter, das mit einer Drahtschlinge verschlossen war. Es kam ihm irgendwie bekannt vor, und er bremste abrupt, setzte dann so zurück, dass seine Scheinwerfer den Bereich erhellten. Der morastige Boden war von Reifenspuren durchfurcht, und es gab dunkle Abdrücke, die möglicherweise Fußspuren waren. Er zündete sich eine Zigarette an und überlegte, ob er sich auf eigene 339

Faust ein bisschen umschauen sollte. Im Auto war es warm und gemütlich, und er bereute seinen Impuls, sich auf die Suche nach dem Mädchen zu machen. Wahrscheinlich war sie schon längst zu Hause, während er hier in der Pampa hockte, Benzin vergeudete und sich Sorgen machte. Aber wo er schon mal hier war, konnte er sich wenigstens das Gatter genauer ansehen.

Er stieg aus und reckte sich. Im Licht der Sterne war der Boden schwarz und nichts sagend, die Nacht schwieg. Ein Stück weiter die Straße hinunter war ein weiteres Gatter, ganz in der Nähe eines Feldwegs. Der kam ihm bekannt vor

… vielleicht hatte er da gewendet. Er ging die Straße entlang darauf zu und murmelte halblaut vor sich hin, dass es hiermit aber nun wirklich genug sein würde. Ein letzter Blick, und dann würde er zurück in die Stadt fahren, um sich von seiner Frau ausschimpfen zu lassen und eine schöne Tasse Tee zu trinken.

Zwischen den Sträuchern verbargen sich Brennnesseln. Er saugte an seiner Hand und spuckte auf die weißlichen Quad-deln, dann rollte er das Mädchen herum, sodass sie auf den Nesseln zu liegen kam, und wurde mit einem Husten belohnt. Na endlich. Er zog ihr die letzten Fetzen der Strumpfhose von den Beinen und fesselte ihr damit die Hände auf dem Rücken.

Das Gefühl angespannter Erwartung durchdrang ihn, und er ohrfeigte sie, bis sich ihre Augen flackernd öffneten. Sie schlossen sich wieder, und ihr Kopf sank zur Seite. Er stieß einen lauten Fluch aus und schüttelte sie, bis sie erneut die Augen aufmachte. Es war zu dunkel, um ihren Ausdruck zu erkennen, aber als er die Hand hob, um sie zu schlagen, zuckte sie zurück, und sein Blut wallte auf. Er löste seinen 340

Gürtel und ließ die Hose fallen, wieder bereit. Das war seine Bestimmung, Schwachheit aufzuspüren und sie zu vernichten.

Er machte noch lange weiter, nachdem er fertig war, unwillig, den Augenblick enden zu lassen, doch schließlich sah er, wie sich der rote Nebel vor seinen Augen lichtete. Er schwitzte wie ein Hund auf der Jagd und rümpfte angeekelt die Nase. War sie tot? Gott, hoffentlich nicht. Während das Pochen in seinen Ohren allmählich leiser wurde, horchte er auf ihren Atem. Mondlicht kämpfte sich zwischen den Wolken hindurch, aber die Bäume warfen gitterförmige Schatten auf ihr Gesicht. Dort, wo er sie gebissen hatte, war Blut, aber er tastete seine Tasche ab und war erleichtert, als er darin sein unbenutztes Messer fühlte – einen Moment lang war er unsicher gewesen. Er schob den Kopf dicht an ihren offenen Mund und meinte, einen schwachen Atemhauch an seiner Wange zu spüren.

Nach alldem war sie noch immer hier bei ihm. Bei dem Gedanken musste er lächeln wie ein Kind vorm Weihnachts-baum. Er brauchte noch eine Zigarette, aber seine Hände zitterten so stark, dass er das erste Blättchen fallen ließ. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, eine Selbstgedrehte zustande zu bringen, die er auch rauchen konnte. Er sog das Nikotin ein und hielt es in der Lunge, bis sie brannte, dann atmete er langsam aus.

Das Leben war so schön, dass ihm fast die Tränen kamen.

Er betrachtete das Mädchen, ihre weißen Gliedmaßen, mit schwarzen Flecken übersät, ihr ehemals hübsches Gesicht, blutig und verquollen, und er brüllte vor Entzücken auf.

Zum ersten Mal wurde ihm klar, warum Griffiths draußen arbeitete. Es brachte ein Gefühl von Freiheit mit sich, als würde man sich so verhalten, wie die Natur es vorgesehen 341

hatte. Die Kunst, seine Opfer zu verführen und in den eigenen vier Wänden zu quälen, hatte er bereits perfektioniert, jetzt konnte er sie um eine neue Fähigkeit ergänzen. Er war ein Meister.

Nach einem weiteren tiefen Zug an der Zigarette fing er an, sich zu entspannen … und nachzudenken. Wenn er sie so liegen ließ, würde die Polizei an ihr alle möglichen Spuren von ihm finden. Er brauchte Wasser. Er hatte sich auch deshalb für die Stelle hier entschieden, weil ihm eingefallen war, dass ganz in der Nähe ein Bach floss. Feuer setzte er nie ein, weil es schwer wiegende Nachteile hatte. Eine Leiche war zu feucht, um ohne Brandbeschleuniger zu brennen, und selbst dann gab es keine Garantie dafür, dass sämtliche Spuren ver-nichtet wurden. In der Zeit, bevor er sich das nächste Opfer suchte, ging er oft in die Bibliothek und las alles, was er finden konnte, über forensische Ermittlungen. Er war ein Experte auf dem Gebiet. Manchmal malte er sich aus, wie er einen Vortrag hielt und zur Veranschaulichung Dias von seiner Arbeit zeigte. Sie würden Bauklötze staunen, diese Fo-rensikspezialisten, sie könnten nicht anders, als seine Überlegenheit anzuerkennen.

Er riss sich aus seinen Träumereien, eine Angewohnheit, die durchaus gefährlich werden konnte. Das Mädchen war noch nicht mal tot, und er war schon in Gedanken bei den Dias von der Obduktion. Es wurde Zeit. Er fand den schnell fließenden Bach und schleifte das Mädchen ins flache Wasser, achtete aber darauf, dass ihr Gesicht nicht untertauchte. Die Nacht war noch jung, und er konnte sich erlauben, noch ein wenig zu warten, ehe er sie schließlich tötete. Wenn er mit dem Messer etwas behutsamer war, konnte er sie stundenlang am Leben halten. Er behielt immer die Kontrolle, nicht wie manche von diesen traurigen Fällen, von denen er in der Zei-342

tung las, die, getrieben von primitiven sexuellen Impulsen, fantasielose Verbrechen verübten und nichts anderes als Strafe verdient hatten. Er spuckte aus und fing an, sie zu waschen.

Geoff stolperte am Anfang der Wiese und wäre beinahe in eine Pfütze gefallen. Obwohl das Licht zunahm, weil die Wolken aufrissen und auseinander trieben, konnte er kaum etwas von seiner Umgebung erkennen. Hätte er das heisere Husten nicht gehört, als er über das Gatter spähte, er hätte seine Suche bereits aufgegeben. Das Husten war eindeutig das eines Menschen gewesen. Nicht zu verwechseln mit dem Bellen eines Fuchses oder dem Grunzen eines Igels. Bei dem Geräusch hatten sich ihm die Nackenhaare gesträubt. Er schlich so leise wie möglich auf die Wiese und ging instinktiv geduckt, ohne es selbst zu merken.

Im Gras vor ihm glitzerte etwas, und er bückte sich, um es aufzuheben. Eine Haarspange mit Strassbesatz, billiges Plastik, sauber. Sein Herz schlug schneller. Hatte das Mädchen sie getragen? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, aber wie sollte die Spange sonst hierher gekommen sein? Die Sache wurde immer ernster, aber er war sich noch nie so albern und so fehl am Platze vorgekommen. Trotz der Haarspange in seiner Hand hätte er fast kehrtgemacht. Dann hörte er wieder ein Husten von den Bäumen keine hundert Meter vor sich. Er duckte sich tiefer und schlich weiter, war sich plötzlich der Geräusche bewusst, die er machte. Das Herz dröhnte ihm in den Ohren, und er war unter seinem Hemd in Schweiß gebadet.

Als er die Hecke vor dem Wäldchen erreichte, sah er etwas Weißes im Graben leuchten. Ein T-Shirt, zerrissen, mit einem dunklen Fleck darauf, der aussah wie Blut. Seine erste Reaktion war Angst um das Mädchen, dann packte ihn die 343

Wut auf den Mann, der sich vielleicht in diesem Augenblick an ihr verging. Sein nächster Gedanke war, laut zu rufen, um ihr Hoffnung zu machen und dem Vergewaltiger einen Schrecken einzujagen, doch sein gesunder Menschenverstand hielt ihn davon ab. Damit würde er den Mann nur warnen.

Er hatte sein Handy in der Tasche und wich einige Meter zurück, um, wie er hoffte, außer Hörweite zu sein, dann wählte er dreimal die Neun, den Notruf. Als sich eine Stimme meldete, flüsterte er »Polizei und Krankenwagen«, erklär-te, wo die Wiese lag, und machte seine Befürchtung deutlich, dass da gerade ein Mädchen vergewaltigt wurde. Die Stimme wollte Genaueres wissen, aber er konnte nicht mehr sagen und unterbrach die Verbindung.

Zum ersten Mal gestand er sich ein, dass er Angst hatte.

Der Gedanke, im Auto zu warten, war verführerisch, und er wäre am liebsten zur Straße zurückgegangen, aber die Vorstellung, was dem Mädchen vielleicht gerade angetan wurde, war zu furchtbar, um sie zu verdrängen. Also schlich er an der Hecke entlang zu dem Wäldchen, kauerte sich nieder und spähte hinein.

Das Erste, was ihm auffiel, war die Stille unter dem Rauschen des Windes in den Bäumen. Dann kam ein Rascheln und ein ganz schwaches, leises Stöhnen. Als er vorsichtig wei-terschlich, fühlte er sich so klein und einsam wie seit seinem ersten Zeltlager bei den Pfadfindern nicht mehr.

Er rauchte noch eine Selbstgedrehte, als er das Mädchen stöhnen hörte. Es war schon weit nach Mitternacht. Er beschloss spontan, sie jetzt zu erledigen und die Leiche einfach liegen zu lassen. Er zog sein Messer heraus, genauso eins wie das, das er in Wales verloren hatte, und klappte die gewetzte Klinge aus.

Seine Erregung kehrte zurück. Jetzt kam das Beste.

344

Das Wasser hatte sie wieder zur Besinnung gebracht, und sie versuchte, sich auf einen Ellbogen zu stützen. Sie war ein widerwärtiges Geschöpf, völlig wertlos, und es war gut, dass sie sterben würde. Die Hitze in seinem Bauch nahm zu, und sein Puls schlug schneller.

»Verdammt, das wurde auch Zeit!« Er hob die freie Hand und schlug ihr gegen die Schläfe, sodass sie gegen die Uferbö-

schung fiel. Sie schrie vor Schmerz auf, und sein Körper froh-lockte.

Er legte ihr eine Hand auf den Mund und spürte, wie sie hinter seiner Handfläche winselte. Ihre Augen blickten wild, als er sie fest gegen seinen Oberschenkel drückte. Ihr Anblick und ihr Geruch vertrieben das abgestandene Adrenalin aus seinem System und erfüllten es mit einer neuen Woge der Erregung. Sie weinte jetzt, die Tränen tropften ihm auf den Handrücken. Sie kreischte unter seiner Hand, und er stieß einen Freudenschrei aus.

Er lachte, als er das Messer hob. Als sie die Klinge sah, versuchte sie, sich zu befreien, aber sie war nicht stark genug, und er machte mühelos den ersten feinen Schnitt, genoss es, wie sie vor Schmerzen den Rücken krümmte.

Geoff erhob sich aus der Hocke, entsetzt von den Lauten, die aus den Büschen vor ihm drangen. Das Mädchen stöhnte vor Schmerz, während dieser Dreckskerl genüsslich lachte. Er blickte hoffnungsvoll zurück zu dem Gatter, doch die Straße dahinter war noch immer wie ausgestorben. Wenn das Mädchen gerettet werden sollte, hatte er keine andere Wahl, als die Sache selbst in die Hand zu nehmen, aber er war kein Held, und er hatte den Mann als groß und muskulös in Erinnerung. Er versuchte, sich aufzurichten, aber seine Knie waren butterweich. Geoff war wie gelähmt. Als die Geräusche des Verbrechens die Nacht erfüllten, presste er sich die Hände 345

auf die Ohren. Tränen rannen ihm unbemerkt über die Wangen. Dann schrie das Mädchen wieder, es war ein Kreischen, erfüllt von grauenhaftem Schmerz, und er konnte nicht länger in seinem Versteck bleiben. Zwischen den Bü-

schen lag ein dicker Ast, und er hob ihn auf, ohne auf die Brennnesseln zu achten. Mit lautem Gebrüll sprang er vor und schwang wild seinen Knüppel.

Der Mann richtete sich auf und zog sich die Hose hoch. Er duckte sich geschmeidig unter dem Schlag weg und sprang zurück, um auf Abstand zu gehen. Geoff holte erneut aus und verlor fast das Gleichgewicht. Er hielt sich mit Mühe aufrecht und versuchte, dem Mann zwischen die Beine zu treten. Er traf zwar, aber nicht mit genug Wucht, um wirklich Schaden anzurichten. Der Mann machte einen Satz auf ihn zu und schwang ein Messer. Geoff war, als hätte er Eis im Bauch, während er versuchte, außer Reichweite der Waffe zu bleiben. Das Mädchen schrie, oder war es der Mann? Er konnte es nicht mehr genau sagen, während er mit dem Ast einen heftigen Stoß abwehrte.

Der andere Mann war jünger, besser in Form, und er griff unablässig an. Geoff spürte einen stechenden Schmerz im Arm, und als er nach unten blickte, sah er, dass seine Jacke aufgeschlitzt war und er Blut am Handgelenk hatte. Er konnte jetzt nur noch mit beiden Händen den Ast halten, den er mal wie ein Schwert vorstieß, mal wie eine Keule schwang.

Doch es nützte nichts. Sein Gegner tanzte regelrecht um ihn herum, knapp außerhalb seiner Reichweite, um dann blitzschnell vorzuspringen und einen Stich zu landen, der Taub-heit und Schmerz zur Folge hatte.

In der Dunkelheit stolperte er über die Beine des Mädchens und taumelte vorwärts. Als er aufblickte, war sein Ge-346

gner verschwunden. Gerade, als er wieder fest auf den Beinen stand, spürte er einen Schlag in den Rücken und fiel atemlos nach vorn. Er rappelte sich mit aller Kraft wieder auf, doch seine Beine fanden keinen Halt, und er sackte sanft in eine kniende Position im Schlamm neben dem Mädchen. Sie schrie wieder, und er wollte ihr sagen, sie solle damit aufhö-

ren, aber sein Mund gehorchte ihm nicht.

Noch ein Schlag, diesmal gegen seinen Hals, und er rollte zur Seite, den Ast über sich haltend wie eine Gewichtheber-hantel. Sein Angreifer stand mit gespreizten Beinen über ihm und blickte mit einem genüsslichen Ausdruck zu ihm herunter, der viel schlimmer war als eine hassverzerrte Grimasse. Geoff versuchte, den Ast weiter schützend hochzuhalten, aber er war so schwer. Auf einmal war er schrecklich müde und musste gähnen. Ihm war eiskalt, und er hatte ein Summen in den Ohren. Die Schreie des Mädchens verklangen, und dann herrschte nur noch Stille. Der Mann über ihm stieß den Ast beiläufig zur Seite. Geoff sah, wie das Messer mit einer Geste gehoben wurde, die an eine Opferzeremonie erinnerte. Es schimmerte blau, silbern und rot in der Nacht, ein guter Anblick, wie Geoff dachte, obwohl er nicht mehr sagen konnte, wieso.

Er wartete auf den Todesstoß, zu schwach, um zur Abwehr auch nur einen Arm zu heben. Die greifbare Welt verblasste um ihn herum. Er dachte an seine Frau und seinen Sohn, an seine Schwester, die jetzt seit dreizehn Jahren tot war, an Mum und Dad, und noch immer stieß die Klinge nicht zu. Seine Augen strengten sich an, um etwas zu sehen, aber der Mann war verschwunden.

Von irgendwoher hörte er eine Stimme seinen Namen rufen, aber sie war zu weit weg. Dann meinte er im Kopf, seine Schwester zu hören, die nach oben in sein Zimmer rief.

Schon wieder zu spät für den Gottesdienst.

347

»Komm schon!«

Er konnte seine Füße auf dem roten Teppich in der Diele sehen, und strahlendes Sonnenlicht, das durch die offene Vordertür seines Elternhauses fiel.

»Komm schon!«

Sie hatte immer so einen Befehlston. Er trat nach draußen.

»Komm schon, komm schon! Nicht aufgeben! Komm, du schaffst das!«

Der Sanitäter unterbrach die Herzmassage, während frische Luft in die Lunge des Mannes gepumpt wurde, und tastete unter der dicken Blutschicht am Hals nach seinem Puls.

Noch immer nichts. Er wiederholte den Ablauf immer und immer wieder. Nichts. Nach weiteren zehn Minuten zog ihn sein Kollege sanft zurück.

»Es ist vorbei, Steve.«

»Er hat immer noch eine Chance. Lass uns weitermachen, bis wir in der Notaufnahme sind.«

Steve machte unermüdlich weiter, während der Rettungswagen durch die menschenleeren Straßen zum Krankenhaus raste. Auf der Liege gegenüber war das Mädchen in einen halbkomatösen Schockzustand gefallen, aber wenigstens waren ihre Lebensfunktionen stabil, und die Messerwunde an ihrer Schulter nur oberflächlich.

Steve massierte den toten Herzmuskel noch immer, als sie Geoffrey Minny, zweiundfünfzig, verheiratet, Vater eines Sohnes, in die Notaufnahme rollten, wo nur noch sein Tod festgestellt werden konnte. Sein Kollege zog ihn von der Rolltrage weg.

»Du musst dich umziehen.«

Steve schaute nach unten auf das hellrote Arterienblut, das auf seiner Uniform allmählich eintrocknete.

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»Ja. Stimmt.«

»Alles in Ordnung?«

»Klar.« Steve winkte ab. »Bloß, wir hätten es um ein Haar geschafft. Du weißt doch, manchmal spürt man genau, dass sie noch da sind? Wir hätten ihn fast gehabt, mehr nicht.«

»Manche rettest du, manche verlierst du. Passiert jede Woche, du weißt, wie das ist.«

»Hast ja Recht.«

Steve ging in den Umkleideraum, zog sich aus und betrat eine Duschkabine. Unter dem Schutz des rauschenden Wassers weinte er um einen Mann, den er nicht gekannt hatte.

349

Kapitel zweiundzwanzig

Griffiths faltete die Zeitung akkurat zusammen und legte sie penibel auf den Tisch in der Bibliothek. Normalerweise genoss er die Lektüre der Sonntagsausgabe, aber heute war das anders. Er behielt das Pokerface bei, auf das er so stolz war, und wartete scheinbar geduldig, bis es Zeit war, in seine Zelle zurückzukehren. Dort angekommen, hatte er genau fünfundvierzig Minuten für die Arbeit an seinem nächsten Brief. Das simple, aber effektive Verschlüsselungssystem war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Während er schrieb, brach sich sein Zorn Bahn und ergoss sich auf die Seiten.

Verborgen unter der Schicht sinnloser Worte machte er seinem ehemaligen Partner bittere Vorwürfe wegen seines jämmerlichen Versagens.

»Du warst doch immer so überlegen, so oberschlau, aber du bringst es nicht so wie ich, was? Mach es endlich mal richtig! Mein Anwalt war hier, hab ihm gesagt, dass ich der Falsche bin, dass der Richtige noch immer da draußen ist. Er hat mir nicht geglaubt!«

Das Licht ging aus. Er warf sich so schwungvoll aufs Bett, dass die Bettfedern quietschten. Die Polizei stellte noch immer keinen Zusammenhang zwischen den Vergewaltigungen draußen und seinen früheren Verbrechen her. Einen Finger abzuschneiden war immer Teil des grandiosen Plans gewesen, aber vor Gericht war es nicht mal erwähnt worden. Er hatte 350

gedacht, wenn das Muster fortgesetzt würde, müsste die Polizei zu dem Schluss kommen, dass sie den Falschen erwischt hatten. Zumindest würde es gute Gründe für eine Berufungsverhandlung liefern. Er hatte große Hoffnung auf seinen Meister gesetzt, und jetzt war er gelinde gesagt verdammt enttäuscht.

Sein Brief würde eine heftige negative Reaktion auslösen.

Er hatte es gewagt, Kritik zu üben. Unvorstellbar. Trotz seines Zorns bekam er es mit der Angst. Ohne Daves Hilfe würde er nie wieder auf freien Fuß kommen. Er würde den Brief am nächsten Morgen neu schreiben und um Hilfe bet-teln. In der Nacht träumte er von Wendy, eine süße, wohl-tuende Phantasievorstellung, die seine Sehnsucht nach Freiheit schürte.

Am Donnerstag um sieben Uhr abends entdeckte die Polizei in Wales zwei Meilen von der Stelle entfernt, wo Tasmin entführt worden war, ein Messer. Der Spurensicherung gelang es, davon einen Teilfingerabdruck zu nehmen, der wiederum zu einem Fingerabdruck passte, der an der Unterseite eines Hockers im Frog and Nightgown gefunden worden war.

Fenwick rannte fast zu dem Einsatzraum in London, um sich das einzige greifbare Beweismittel anzusehen, das sie bislang von Täter B gefunden hatten. Der Raum war voll, doch MacIntyre winkte ihn herüber, damit er sich die Waffe ansehen konnte. Er hatte eine große Klinge erwartet. Stattdessen blickte er auf ein Taschenmesser.

»Das ist alles?«

»Schauen Sie sich die Spitze an, spitzer geht’s nicht.«

»Passt das zu irgendwelchen Wunden von Lucinda?«

»Wissen wir nicht. Er hat sie mit Sabatier-Messern aus ihrer eigenen Küche gefoltert, die er anschließend in der Spül-351

maschine gereinigt hat, aber die Obduktion hat ergeben, dass die Wunde, an der sie gestorben ist, der Stich ins Herz, von einer feineren Klinge stammt, vielleicht von dieser.«

»Wieso nimmt ein so bösartiger Killer zum Töten ein Taschenmesser? Das ist doch fast ein Kinderspielzeug. Was mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass die Verbindung zwischen Täter B und Griffiths, wie immer sie auch beschaffen ist, ihre Wurzeln in der Kindheit der beiden hat.«

MacIntyre schüttelte skeptisch den Kopf, widersprach aber nicht. Er hatte Fenwick damit betraut, nach einer möglichen Verbindung zwischen Griffiths und Täter B zu suchen, und er würde ihn nicht öffentlich unterminieren.

Fenwick stockte, weil er wusste, dass er jetzt um einen Gefallen bitten musste.

»Meinen Sie, Sie könnten die Gefängnisleiterin bitten, ein weiteres psychologisches Gutachten über Griffiths anfertigen zu lassen? Ich kenne da eine Psychologin, mit der ich schon mal zusammengearbeitet habe. Sie ist gut, und ich würde ihrer Einschätzung eher trauen als der von Batchelor.«

»Ich werd sie fragen, wenn Sie wirklich glauben, dass es was bringt.«

»Das tue ich.«

Eine Stunde später teilte MacIntyre ihm mit, dass sie die Genehmigung hatten. Jetzt hatte Fenwick nur noch das Problem, wie er Claire dazu überreden sollte, ihm zu helfen. Er hatte, seit sie sich getrennt hatten, nicht mehr mit ihr gesprochen, und er wusste, dass sie ihm bei ihren Besuchen in Harlden aus dem Weg gegangen war.

Er wählte die Nummer, hoffte, dass der Anrufbeantworter anspringen würde, aber sie meldete sich.

»Claire, wie geht’s dir?«

352

»Gut.«

»Ähm, Claire, ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«

Sie hörte sich seine Bitte schweigend an.

»Was hältst du davon?«

»Ehe ich mich entscheide, brauche ich genauere Informationen. Wie heißt der Psychiater, der ihn derzeit betreut?«

»Doctor Batchelor.«

»Maurice Batchelor?«

»Ja. Kennst du ihn?«

»Ich bin ihm schon mal begegnet. Also, vielleicht kann ich dir helfen, aber ich denke, wir sollten uns treffen. Wie dringend ist die Sache?«

»Sehr dringend, ich könnte heute Nachmittag nach Harlden kommen.«

»Passt mir nicht. Was ist mit morgen?«

»Heute ist Samstag.«

»Ich dachte, du hättest gesagt, es sei dringend.«

»Ja, das stimmt, aber ich muss bei den Kindern sein, wenn die Haushälterin nicht da ist.«

»Ich könnte zu dir nach Hause kommen.«

Die Vorstellung war Fenwick unangenehm, aber er bat sie um einen großen Gefallen und brauchte ihre Kooperation.

»In Ordnung. Dann morgen Nachmittag?«

Sie verabschiedeten sich, und Fenwick sah dem nächsten Tag sorgenvoll entgegen. Er wollte ihre Beziehung nicht wieder aufleben lassen, und er hoffte, dass sie seine Bitte um Hilfe nicht als Annäherungsversuch auffasste.

Die Kinder spielten in dem Zelt im Garten, als Claire eintraf.

Er bot ihr ein Glas Pimm’s an. Bei der Zubereitung dieses Drinks gab er sich immer größte Mühe, und er erntete ge-bührende Anerkennung bei ihr.

353

»Köstlich. Genau das Richtige an so einem Tag.«

Sie lächelte ihn an, die Augen hinter der Sonnenbrille vor dem gleißenden Licht auf der Terrasse geschützt. Er hatte es vorgezogen, unter dem Sonnenschirm Platz zu nehmen, doch Claire hielt die nackten Arme in die Sonne. Sie trug eine ärmellose weiße Bluse und eine wadenlange Khakihose, die schlanke Knöchel sehen ließ. Er registrierte, dass sie wunderbar gebräunt war.

»Es war nett von dir herzukommen. Und ich danke dir, dass du mir deine Zeit opferst.«

»Andrew, hör auf, so hölzern daherzureden. Wir wissen beide, dass du in Wirklichkeit auch nur ein Mensch bist. Entspann dich, ich bin hier, um dir zu helfen, nicht, um dich zu verführen.«

Ihr Lachen war locker und unbeschwert, aber er lächelte unbehaglich. Sie mochte ja entspannt sein, doch bei ihm hatte das Wiedersehen allerlei widersprüchliche Gefühle ausgelöst, die ebenso unerwartet wie unerwünscht waren. Sie sah großartig aus – goldbraun, fit und, er musste es sich eingestehen, be-gehrenswert, aber er redete sich ein, dass er nichts bedauerte.

»Verrätst du sie mir?«

»Was?«

»Deine Gedanken.« Sie sah ihm in die Augen und lächelte.

Fenwick wandte den Blick ab, fühlte sich ertappt.

»Ach nichts, der Fall geht mir nicht aus dem Kopf, weißt du.«

»Nein, weiß ich nicht. Es macht mir nichts, wenn du abgelenkt bist, aber ich lass mich nicht gern anlügen.«

Die Schärfe ihrer Worte hing zwischen ihnen, wurde noch deutlicher durch das Kinderlachen aus dem Zelt unter den Apfelbäumen. Eine unbehagliche Pause entstand.

Schließlich durchbrach er das Schweigen.

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»Tut mir Leid.« Er stand auf, ging auf der Terrasse hin und her, leerte sein Glas. »Möchtest du noch einen?«

Claire hob ihr Glas, das noch immer gut halb voll war, und schüttelte den Kopf.

»Andrew, ich bin nicht hergekommen, um mich zum unendlichsten Mal mit Fenwick, dem wandelnden Rätsel, zu befassen.«

»Gibt es das Wort unendlichst?« Er versuchte ein schiefes Grinsen.

»Versuch nicht, dich mit Witzchen aus der Affäre zu ziehen.«

»Tut mir Leid.« Er brauchte ihre Hilfe, und um sie zu bekommen, war er bereit, zu Kreuze zu kriechen.

»Du wiederholst dich.«

»Hab ich dich verletzt?«

»Ja, aber nicht tödlich.«

Er wandte sich ab, wünschte, er hätte die Frage nicht gestellt.

»Das ist jetzt keine Flucht, aber ich möchte wirklich noch einen Drink, und deiner ist schon warm geworden.«

Als er zurückkam, trug er zwei große Gläser Pimm’s, voller Eiswürfel, Minze und Gurke, sowie einen Teller mit Alices selbst gemachten Käsestangen.

»Also, warum bist du hier? Natürlich abgesehen von der Tatsache, dass wir neuerdings gute Freunde sind. Bist du bereit, uns im Fall Griffiths zu helfen?«

»Das war ich sofort, als ich erfahren habe, auf wessen Beratung du bislang angewiesen warst.«

»Dann hast du also keine hohe Meinung von Doctor Batchelor?«

Claire schnaubte und trank einen Schluck.

»Nein, und dazu genügte eine einzige Begegnung mit 355

ihm. Wir haben mal gemeinsam an einem Seminar teilgenommen. Ich fand, dass sein Ego ihm bei seinen Analysen im Weg stand. Er hat mich andauernd daran erinnert, dass er Psychiater ist, während ich nur Psychologin bin, als ob das eine Rolle spielt. Richtig zu denken gegeben haben mir dann aber seine Meinung zur Typologie und zu den Motivationen kri-mineller Handlungen. Ich fand, da lag er vollkommen daneben.«

»Er scheint zumindest sehr gründlich zu sein.«

»Oh ja, das ist er, aber ich fand, er ist schwer von Begriff, um es ganz offen zu sagen.«

»Tu dir keinen Zwang an. Ich hab dich noch nie so ver-nichtend über jemanden reden hören. Er muss dich wirklich geärgert haben.«

»Vergiss ihn. Mich interessiert der Fall Griffiths, schon seit ich das erste Mal davon gehört habe. Ich war enttäuscht, dass Blite mich nicht hinzugezogen hat, deshalb sehe ich jetzt die Chance, meine Neugier zu befriedigen. Ich müsste die Akten heute noch durchsehen können, wenn ich nächste Woche mit Griffiths sprechen soll.«

»Wie willst du ihm deinen Besuch erklären?«

»Das weiß ich noch nicht, aber ich finde bestimmt etwas in den Akten. Ich möchte es möglichst vermeiden, ihn anzulügen. So, und jetzt erzähl mir mal, was sich so in Andrew Fenwicks Leben tut.«

Der Pimm’s hatte ihn entspannt, aber er wand sich trotzdem innerlich.

»Nichts Besonderes, wie üblich.«

»In deinem Leben passiert ständig was Besonderes, Andrew. Nun sag schon.«

»Wieso interessiert dich das?«

»Weil jeder in der Lage sein sollte, über das zu sprechen, 356

was ihn bewegt, und sich über die alltäglichen Dinge ebenso auszutauschen wie über die bedeutsamen. Ich glaube, das hält uns geistig gesund.«

»Und du bezweifelst meine geistige Gesundheit?«

»Nein. Ich denke, du bist einsam.«

Er hatte das Gefühl, als hätte sie ihm in die Magengrube geschlagen, und er versuchte, ihre Bemerkung mit einem spöttischen Lachen abzutun.

»Ich habe gar keine Zeit, einsam zu sein. Ich arbeite an sechs von sieben Tagen in der Woche und verbringe jede freie Minute mit den Kindern. Meistens falle ich abends so müde ins Bett, dass ich nicht mal mehr denken kann.«

»Und an den Abenden, wo das nicht so ist?«

Er wandte sich ab und nahm einen tiefen Schluck.

»Zieh dich nicht wieder zurück. Das ist jetzt kein An-näherungsversuch. Dass ich dich mag, bedeutet nicht, dass ich dich als Liebhaber zurückgewinnen will. Es gibt etwas dazwischen, weißt du. Ich habe mir mal Hoffnungen gemacht«, sie hielt inne und lächelte mit einem leicht bitteren Zug um den Mund, der nicht zum Sonnenschein passen wollte, »aber ich hab mich geirrt. Ich hätte merken müssen, dass dein Herz nicht frei ist.«

»Nicht frei?« Er dachte an Monique und fühlte sich schuldig. Er wusste, dass die verzweifelte, leidenschaftliche Hinga-be, die er einst für sie empfunden hatte, mit ihrem Tod vergangen war, und es machte ihn verlegen, dass Claire mehr als chronische Trauer bei ihm zu sehen meinte. »Waren das meine Worte?«

Sie blickte undurchdringlich und leerte ihr Glas.

»Noch einen?«

»Nein danke, ich muss los.«

»Noch eine Frage, Claire.«

357

Sie sah ihn neugierig an.

»Ich würde gern wissen, warum du meinst, dass ich nicht frei bin.«

Sie wurde rot, und jetzt war sie es, die den Blick abwandte.

»Irgendwann musst du mal den Mut aufbringen, dir diese Frage selbst zu beantworten.«

»Ich glaub, das kann ich nicht.«

»Blödsinn!« Sie küsste ihn rasch auf die Wange und ging.

Griffiths starrte die Frau ihm gegenüber herausfordernd an.

Sie war anstelle von Batchelor gekommen, um sich mit ihm zu unterhalten, aber er wusste noch nicht, warum. Er wartete. Er hatte alle Zeit der Welt, und das Psychiaterspielchen des Schweigens ließ ihn kalt.

»Mein Name ist Claire, Mr Griffiths. Ich habe um dieses Gespräch mit Ihnen gebeten, weil ich im Rahmen einer wis-senschaftlichen Untersuchung herausfinden möchte, wie sich widerrechtliche Festnahmen und Verurteilungen auf den psy-chischen Zustand von Gefangenen auswirken.«

»Dann halten Sie mich für unschuldig?« Das war schon eher nach seinem Geschmack.

»Ich denke, Sie halten sich für unschuldig.«

Typisch, scheißclevere Wortklaubereien. Er war geneigt, sie mit Verachtung zu strafen, aber andererseits war sie abgesehen von seinem Anwalt der erste Mensch, der das Thema eines Justizirrtums ansprach.

»Reden Sie weiter.«

»Tja, das ist es eigentlich schon. Ich kenne nicht alle Einzelheiten Ihres Falles, und ich habe keinerlei Meinung dazu, ob Sie schuldig oder unschuldig sind. Ich bin diesbezüglich sogar völlig unvoreingenommen. Aber mich würde interes-358

sieren, welche Auswirkungen Ihre Verhaftung auf Sie hatte.

Können Sie mir dazu etwas sagen?«

Scheiße, und ob er das konnte. Er hatte keine Lust, sich von einem weiteren Seelenklempner ins Gehirn gucken zu lassen, aber er konnte ihr seine Gründe für ein Berufungsver-fahren erklären. Das wäre ein interessanter Test, um festzus-tellen, wie ausgereift seine Argumentation inzwischen war.

»Um das zu verstehen, müssen Sie unbedingt wissen, was mir passiert ist, und warum ich beweisen kann, dass ich unschuldig bin.«

Sie schaute interessiert.

Er erzählte, wie dieses Miststück von einer Polizistin ihn angesprungen und dann behauptet hatte, er habe sie zu Boden gestoßen. Dabei achtete er darauf, dass sein Tonfall eher traurig als wütend klang. Er schaffte es, dass ihm Tränen in die Augen stiegen, als er schilderte, wie er in Untersuchungs-haft kam; es war sogar erstaunlich einfach.

»Warum hat die Verhaftung Sie so gekränkt?«

»Und das fragen Sie noch?!« Vorsicht. Das klang etwas zu sehr nach Wut, und er wollte ihr Mitgefühl, nicht ihre Angst.

»Entschuldigung. Manchmal kommt mir immer noch die Galle hoch.«

»Das verstehe ich. Der Grund meiner Frage ist der, dass Sie ja alleine lebten. Sie haben bei Vernehmungen gesagt, dass Sie keine engen Freunde haben, was also haben Sie verloren, als die Tür hinter Ihnen verriegelt wurde?«

»Meine Freiheit, meine Selbstachtung. Die Möglichkeit, ein Bier trinken zu gehen, wenn mir danach ist, mit Frauen zu flirten, mich zu amüsieren.«

»Ach so. War das Ihre Freizeitbeschäftigung? Sich im Pub amüsieren?«

Er sah sie bloß erbost an. Das hatte keine Antwort verdient.

359

»Ich will damit sagen, dass Sie mir intelligenter vorkommen als die meisten Häftlinge, die ich kennen gelernt habe.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich mit ein paar Bier-chen abends am Tresen zufrieden geben.«

Die Frau war scharfsichtig, besser als Batchelor. Und sie hatte keine Angst vor ihm, obwohl es ein Leichtes für ihn wäre, das zu ändern.

»Was ist?«

»Was soll sein?«

»Sie haben gelächelt. Sie sahen ein bisschen wehmütig aus.

Haben Sie sich an etwas erinnert?«

»Nein. Hören Sie, soll ich Ihnen erzählen, wieso die Anklage, die gegen mich erhoben wurde, absoluter Sch … Blödsinn ist?«

»Ja. Natürlich.«

Er erzählte ihr alles, was er über die anderen Vergewaltigungen in der Zeitung gelesen hatte, sonst nichts. Sie machte sich jede Menge Notizen. Als er verstummte, runzelte sie die Stirn und musterte ihn erneut, wobei ihr zwischen den Augenbrauen zwei senkrechte Falten standen, die sie wesentlich älter aussehen ließen.

»Das ist höchst interessant, Wayne. Ich darf Sie doch so nennen?«

Er zuckte die Achseln. Sein Name bedeutete ihm nichts.

»Wayne, könnten Sie mir einige Punkte etwas näher er-läutern?«

Sie stellte jede Menge Fragen, gute Fragen, und er genoss es, für sie die Zusammenhänge herzustellen und sie mit Bruchstücken von Informationen zu ködern.

»Sie hätten einen prima Polizisten abgegeben, wissen Sie.«

Sie lächelte, als sie ihm das Kompliment machte.

»Danke.«

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»Was treibt diesen anderen Mann dazu, Frauen zu vergewaltigen und zu töten?«

Die Frage überrumpelte ihn. Sie wollte etwas über Dave erfahren, und er hatte Verschwiegenheit geschworen. Aber ein paar Hinweise konnten doch wohl nicht schaden, oder?

Vielleicht ließ sie sich davon sogar beeindrucken.

»Das Töten ist nicht das Entscheidende, bloß eine logische Konsequenz.«

»Erzählen Sie weiter.«

»Er ist raffiniert, richtig schlau, aber das Leben hat es nicht gut mit ihm gemeint. Er ist zu gut, findet aber nicht genug Anerkennung.«

»Warum Frauen, keine Männer?«

Er merkte, wie ihm die Röte brennend vom Hals ins Gesicht stieg. Selbst seine Hände wurden heiß. Er brach den Blickkontakt ab und machte einen der Schokoriegel auf, die sie mitgebracht hatte.

»War das jetzt eine schwierige Frage?«

»Nein, nur eine dumme.«

»Aber es kommt doch vor, dass Männer Sexualdelikte an anderen Männern oder auch an Jungen verüben, bis hin zum Sexualmord, oder nicht?«

Ihm war zu warm im Raum und ein bisschen übel von der Schokolade.

»Könnte ich ein Glas Wasser haben?«

»Natürlich.«

Sie warteten schweigend, bis es gebracht wurde. Er leerte es in einem Zug.

»Wenden wir uns wieder diesem anderen Mörder zu.

Was, glauben Sie, ist sein Motiv?«

Gute Frage. Er hatte sich das selbst schon mal gefragt, vor langer Zeit, aber es hatte schon keine Bedeutung mehr ge-361

habt, bevor er die Antwort darauf finden konnte. Er schüttelte den Kopf und antwortete zum ersten Mal absolut ehrlich.

»Das weiß ich wirklich nicht.«

Sie fing an, ihn nach dem Gefängnisleben und seinem Gemütszustand zu befragen – Routinekram, den er mit Leichtigkeit parierte.

»Einer der Wachleute hat erwähnt, dass ein Kollege von ihm ermordet worden ist – ein Mr Saunders. Was haben Sie empfunden, als er getötet wurde?«

Er starrte sie verblüfft an, zwang sich dann, die Ruhe zu bewahren. Das machte sie gern, unvermutet eine Fangfrage einzuwerfen, aber er war zu schlau für sie.

»Es war mir egal.«

»Aber Sie mochten ihn nicht, oder?«

»Keiner von uns mochte ihn. Er war ein schikanöses Schwein.«

»Er ist entsetzlich grausam gestorben, wissen Sie das?«

Natürlich hatte er Gerüchte gehört, und Dave hatte in einem seiner Briefe angedeutet, dass es lange gedauert hatte.

»Tatsächlich?«

»Ja. Er wurde gefoltert.«

Sie verstieß gegen die Regeln. So etwas dürfte sie ihm nicht erzählen. Vielleicht war sie doch auf ihn reingefallen.

»Wie?«

»Mit einer Bohrmaschine.« Sie lächelte andeutungsweise, als fände sie die Vorstellung faszinierend.

»Scheiße!« Er warf ihr einen kurzen Blick zu, doch sie schien keinen Anstoß an seiner Ausdrucksweise zu nehmen.

Die Wärme breitete sich wie eine Welle vom Gesicht auf seinen ganzen Körper aus.

»Der Mörder hat sich durch einen ganzen Werkzeugkasten durchgearbeitet.«

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»Nägel?«

»Oh ja. An seine eigene Couch genagelt.«

Sie saß vorgebeugt. Er konnte die Haut zwischen den Knöpfen ihrer Bluse sehen, und die Hitze in seinem Unterleib nahm zu.

»Und eine Heftpistole. Natürlich auch ein Teppichmes-ser.« Den letzten Satz schob sie hinterher, als wäre er zu banal, um für sie beide wirklich interessant zu sein. Er beugte sich vor, näher zu ihr. Ihr Parfüm war dezent und blumig, und unter dem Duft konnte er ihren Körper wittern. Die Haut auf ihren Unterarmen war sonnengebräunt und mit weichen Härchen bedeckt. Es fehlten nur wenige Zentimeter, und er hätte sie streicheln können.

Sie lächelte noch immer, als ob sie Freude an den Geheimnissen hatte, die sie miteinander teilten.

»Haben Sie sich schon mal gefragt«, sagte sie, »wie das wohl wäre? Einen Mann zu töten, der Ihnen das Leben zur Hölle macht? Es ihm heimzuzahlen?«

Ihre Lippen waren feucht. Sie schien erregt zu sein. Er hatte schon von diesen Frauen gehört, die Häftlinge besuch-ten, weil sie insgeheim von den Verbrechen dieser Männer erregt wurden.

Seine linke Hand wanderte unter den Tisch, aber sie schien es nicht zu bemerken. Der Wachmann war draußen; sie hatte darauf bestanden, ungestört mit ihm sprechen zu können, daher waren sie beide allein. Er berührte sich selbst, während sie ihn weiter anlächelte. Sollte er über den Tisch greifen und ihre Bluse aufreißen? Würde sie um Hilfe schreien oder sich lustvoll zurücklehnen?

Sie stand abrupt auf, überraschte ihn.

»Meine Zeit ist um. Wenn ich jetzt nicht gehe, kommen die rein, und das wäre mir nicht recht.«

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»Kommen Sie wieder?«

»Möchten Sie denn, dass ich wiederkomme?«

Er beschwor sich, auf der Hut zu sein. Frauen war nicht zu trauen, das hatte Dave ihm beigebracht. Aber Dave hatte schließlich Wendy. Die stille, gehorsame Wendy, die er ihm nur ganz selten mal als Belohnung zur Verfügung gestellt hatte. Zorn stieg in ihm auf. Scheiß auf Dave. Er war noch immer hier drin, weil Dave ihn so beschissen nachgeahmt hatte, dass selbst die Presse keine Verbindung gesehen hatte.

Er hatte das Recht auf eine eigene Frau, und wenn die Psy-chotante auf ihn stand, was hatte Dave ihm dann dazwi-schenzufunken?

»Vielleicht, ja, okay.«

»Sie werden beantragen müssen, dass ich Batchelor ersetze.

Machen Sie das?«

»Kein Problem. Wann kommen Sie das nächste Mal?«

»Wann ist Ihr nächster Termin mit ihm?«

»Übermorgen.«

»Dann sehen wir uns.«

Und damit ging sie.

Claire nahm in Fenwicks Büro in Harlden Platz und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht.

»Du siehst geschafft aus.«

»Die Woche war hart.«

»Wie oft warst du bei ihm?«

»Dreimal. Öfter ging nicht, sonst wäre er misstrauisch geworden.«

»Ich wollte damit nicht sagen, dass du noch mehr hättest tun sollen. Das hier ist fantastisch.« Fenwick klopfte auf den dicken Bericht, der auf seinem Schreibtisch lag. »Wie hast du das alles aus ihm rausgekriegt?«

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»Frag lieber nicht.« Sie schloss einen Moment lang die Augen.

»Was hast du getan, Claire?« Fenwick war plötzlich besorgt.

»Du hast doch gesagt, dass ihr unbedingt eine Spur braucht, oder?«

»Ja. Aber nicht um jeden Preis.« Er stand auf und schloss die Bürotür, damit sie ungestört waren.

»Oh, keine Bange, es war nicht um jeden Preis.« Sie klang verbittert.

»Was hast du gemacht?«

Sie sah weg und schüttelte den Kopf.

»Claire. Was ist passiert? Nun red schon.«

»Also, zunächst einmal, es wäre mir lieber, wenn du meinen Bericht nicht als Beweismittel verwenden müsstest.«

»Weiter?«

Es entstand eine lange Pause, dann sagte sie: »Versprichst du mir, dass das unter uns bleibt? Dass du es keiner Men-schenseele erzählen wirst?«

»Versprochen.«

»Als ich ihn das zweite Mal besucht habe, haben wir ein Phantasiespiel gespielt, bei dem wir uns Methoden ausgedacht haben, jemanden zu töten.«

Sie sah ihn herausfordernd an, als wartete sie nur auf einen Kommentar von ihm. Fenwick schwieg, obwohl er sich mit Entsetzen vorstellte, welche Folgen das für sie haben konnte.

Wenn das je herauskam, wäre ihr Ruf, möglicherweise sogar ihre berufliche Existenz ruiniert.

»Ich habe ihn sehr stimuliert, sexuell, meine ich, und er hat vor mir ejakuliert. Ich glaube, es war spontan.«

»Ach, Claire, du Ärmste.« Fenwick wurde rot, weil es ihm so peinlich für sie war.

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»Ist nicht schlimm. Mir geht’s gut, ehrlich.«

»Ja sicher!« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Und das war während des zweiten Besuchs?«

»Ja. Hinterher hat er mir von seiner Kindheit erzählt, genauer gesagt, seiner Jugend, dass er immer das Problem hatte, zu früh zum Höhepunkt zu kommen. Ich hab ihm gesagt, ich fände das erregend, und er hat mir von den Frauen erzählt, die er hatte und wie es mit ihnen war.«

»Hat er die Wahrheit gesagt?«

»Ich denke, nein. Er ist sehr verwirrt, was seine Sexualität angeht. In der Pubertät ist irgendwas mit ihm passiert. Ich glaube nicht, dass er missbraucht wurde, weil er noch einen Rest Selbstachtung besitzt, was sonst nicht der Fall wäre.

Vielleicht hat er herumexperimentiert, und vielleicht war dabei in irgendeiner Weise Gewalt im Spiel.«

»Er war bei seiner Festnahme nicht vorbestraft.«

»Das ist ja gerade das Eigenartige. Vielleicht waren es SM-Spiele, auf freiwilliger Basis, vielleicht haben Tiere dabei eine Rolle gespielt. So etwas gibt es.«

»Und ich dachte, ich hätte in meinem Job mit den ganzen Widerwärtigkeiten zu tun.«

»Oh, das hast du, Andrew, das hast du.«

»Und die dritte Sitzung?«

»Das hätte schwierig werden können. Zum Glück hatte ich den Wachmann vorher gebeten, uns vor Ablauf der Zeit zu unterbrechen, sonst …«

»Hat er dich angefasst?«

»Ja, aber das ist in Ordnung, keine Sorge. Er hat meine Hände gehalten. Da hat er mir gerade von seiner Familie er-zählt.«

»Und du meinst, die Namen, die hier drin stehen, sind echt?«

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»Ja, jedenfalls so gut wie. Da hatte er mich gerade gefragt, ob ich ihn heiraten will …«

»Claire!«

»… deshalb glaube ich, dass er die Wahrheit gesagt hat.

Auf alle Fälle stimmt der Name des Kinderheims.« Sie seufzte tief. »Das hab ich überprüft.«

»Das hättest du nicht machen sollen.«

»Sei kein Heuchler, Andrew. Ich merke dir doch an, dass du es kaum erwarten kannst, all die hübschen kleinen Informationen auszuwerten.«

»Solange der Preis nicht zu hoch war.«

»Zugegeben, ich bin fix und fertig, aber mir geht’s gut. Er ist nicht unter die Oberfläche gedrungen. Ein heißes Bad, oder auch zehn, und ich bin wieder in Form.« Sie stand auf, um zu gehen. »Aber Andrew, eins musst du mir versprechen.«

»Ja?«

»Dass er nie wieder aus dem Gefängnis kommt. Ja?«

»Ich schwöre, ich werde tun, was in meiner Macht steht, damit er bis ans Ende seines Lebens hinter Gittern bleibt.«

Sie ging. Noch ehe das Geräusch ihrer Schritte verklungen war, telefonierte Fenwick schon mit MacIntyre. Fünf Minuten später stieg er in einen Wagen, der ihn nach London bringen sollte und mit Blaulicht und heulender Sirene losb-rauste.

Griffiths wartete auf Claires nächsten Besuch. Einige Tage verbrachte er in der wohligen Phantasiewelt, die das Gefängnisleben erträglich machte. Es störte ihn nicht einmal, dass Dave nicht geschrieben hatte. Da draußen war jetzt eine Frau, die an seine Unschuld glaubte, die sich für seine Berufung einsetzen und ihn nach seiner Freilassung heiraten wür-de. Es spielte keine Rolle, dass sie älter war, im Gegenteil, das gefiel ihm. Sie würde ihm beibringen, sich Zeit zu lassen.

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Nach einer Woche beschlichen ihn Zweifel. Zuerst dachte er, sie wäre vielleicht krank oder bei einem Unfall verletzt worden, doch als dann Batchelor wieder regelmäßig zu den Sitzungen erschien und kein Wort über Claire sagen wollte, schwante ihm allmählich die Wahrheit. Sie war verschwunden. Wie alle Frauen hatte sie ihn erst dazu gebracht, sich ihr zu öffnen, und ihm dann ein Messer ins Herz gerammt. Sofort schlugen seine Phantasien um. Er wünschte sie sich tot.

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Kapitel dreiundzwanzig

Auf dem Weg nach London las Fenwick den Bericht, bis ihm von der Fahrt leicht übel wurde, trotzdem ging er einige Schlüsselpassagen noch einmal durch. Als der Fahrer wegen des dichten Verkehrs das Tempo drosseln musste, machte er sich Notizen, fasste die wichtigsten Erkenntnisse zusammen, die sie durch Claires Befragung gewonnen hatten.

MacIntyre wartete schon auf ihn, woraus Fenwick schloss, dass die Ermittlungen im Mordfall Lucinda Hamilton schlep-pend verliefen.

»Sie haben gesagt, Sie würden die Quelle dieser Informationen lieber nicht nennen, also wird Knotty Ihnen helfen, die Lücken in Griffiths’ Vergangenheit zu schließen.«

Constable Knots war es gewohnt, indirekte Anweisungen entgegenzunehmen und zu befolgen, ohne Fragen zu stellen.

Er war ein großer, schlaksiger junger Mann mit einem Gesicht, das an ein rohes Stück Fleisch erinnerte, in das zwei runde, glänzende, blaue Augen hineingedrückt worden waren. Auf der Stirn hatte er etliche noch nicht ganz erblühte Pickel, und irgendetwas, von dem Fenwick annahm, dass es ziemlich übel aussah, verbarg sich unter einem Pflaster an seinem Kinn. Wahrscheinlich war seine Mum stolz auf ihn, doch Fenwick war wenig angetan von dem Gedanken, mit einem Beamten zu ermitteln, der aussah, als hätte er gerade seine erste lange Hose bekommen.

»Griffiths sagt, er sei irgendwo nördlich von Leicester auf-369

gewachsen, bei einer Frau, die er Tante genannt hat, nachdem seine Mum mit einem Lkw-Fahrer durchgebrannt war.

Er war fünf, als sie verschwand. Seinen Vater hat er nie gekannt, und die Tante hatte keinen Namen. In dem Haus waren noch viele andere Kinder, also war sie vielleicht nur eine Tagesmutter, der man ihn untergejubelt hatte. Aber immerhin kennen wir jetzt die Gegend, wo er aufwuchs, also können wir vielleicht seine Grundschule ermitteln, vorausgesetzt, er hat seinen Namen nicht geändert.«

Knotty machte sich Notizen in seinem Büchlein und blickte erwartungsvoll auf.

»Er ging seit etwa einem Jahr zur Schule, als er eines Tages nach Hause kam und die Tante nicht mehr da war. Dafür aber Leute vom Jugendamt, und man steckte ihn in ein Kinderheim. Auch das war, so glaubt er, in Leicestershire. Dort blieb er drei Jahre, dann wurde er in eine Einrichtung zwischen Telford und Shrewsbury verlegt. Er hat unserem Befrager eine Anschrift und den Namen des Heimleiters genannt: Mr Custer. Er wurde ›Custer der Kalte‹ oder ›der General‹

genannt, je nach Stimmung.

Und ab da wird es interessant. Mit etwa fünfzehn Jahren kam er zu Pflegeeltern, und nach Einschätzung unseres Befra-gers muss die Zeit dort große Auswirkungen auf ihn gehabt haben. Er hat nur ganz wenig davon preisgegeben, nicht mal den Namen der Familie oder ob es noch andere Kinder gab.

Immer wenn das Thema aufkam, wurde er unruhig und ausweichend. Da liegt wahrscheinlich unsere größte Chance, irgendwelche jugendlichen Kumpel und Freunde zu finden.«

»Die Geschichte, die er Doctor Batchelor erzählt hat, dass seine Pflegeeltern ertrunken sind, war die gelogen?«

»Ein Teil davon bestimmt. Wir müssen versuchen, die Eltern zu finden. Ich denke, er hat uns genug Material geliefert, 370