Vor ihrem geistigen Auge sah sie erneut die Wut ihrer Mutter und das dünne Stück Papier, das sie wie eine Sieges-fahne schwenkte. Sie hatte es ihrer Mutter entrissen – aber sie würde aufhören müssen, sie so zu nennen – sie hatte es Mary entrissen, und jedes Wort gelesen. Louise, ihr zweiter Name, der ihr lieber war, wurde nirgends erwähnt. Der wahre Grund für das vermeintliche Versäumnis lag jetzt auf der Hand. Sie war nicht Diane Nightingale.

»Was ist aus dem anderen Baby geworden, aus Diane?«

»Sie ist nur einen Tag alt geworden. Ihre Mutter, Verzeihung, Mary, hat die Zwillinge auf Mill Farm bekommen. Sie kamen etwas zu früh, waren aber bei guter Gesundheit und kräftig, deshalb meinte die Hebamme, sie könnten ruhig zu Hause bleiben. Der Arzt hat Ihre Mutter versorgt, und das war’s dann. Diane war die kleinere von den beiden, aber auch sie kam kerngesund zur Welt. Keines der Babys gab Anlass zur Sorge.«

»Und als sie starb, haben sie beschlossen, mich zu adoptie-ren.«

Amelia rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her, ließ aber ihre freie Hand auf Nightingales Handgelenk, während sie wieder einen Schluck trank.

»Es war nicht ganz so. Sie kamen eine Nacht nach den Zwillingen zur Welt, genau zum errechneten Termin. Lulu war zurück ins Dorf gekommen und wohnte bei Ihrer Tante, aber sie hatte sich bei keinem Arzt sehen lassen. Sie war ein 441

wildes Ding, zurück zur Natur und so. Sie wollte eine natürliche Geburt und hat Ihre Tante überredet, ihr bei der Geburt zu helfen. Ihre Tante war ziemlich nervös, aber sie war dermaßen vernarrt in Lulu, dass sie sich drauf einließ.«

In Amelias Stimme schwang plötzlich so viel Verachtung mit, dass Nightingale extra einen Schluck aus ihrem Glas nahm, nur um ihre Hände wegziehen zu können.

»Im August tauchten dann Ihr Vater und Ihre Mu… Mary unangemeldet auf Mill Farm auf, und Lulu musste weg. Ich nahm sie bei mir zu Hause auf. George war auf einer Reise im Nahen Osten, sonst hätte ich Nein gesagt, aber Ruth war nun mal eine gute Bekannte und …«

»Mein Vater hat Sie darum gebeten?«

»Woher wissen Sie das?« Nightingale ersparte sich die Antwort, so klar lag es für sie auf der Hand, dass Amelia für ihren Vater alles getan hätte. »Ich wollte nicht, dass Mary sich ihretwegen aufregt.«

»Sie meinen, dass mein Vater sich ihretwegen aufregt, nicht wahr? Sie liebten ihn noch immer. Er wusste das, und deshalb wandte er sich an Sie, wenn es irgendwelche Probleme gab.«

Amelias Gesichtsausdruck verriet, dass sie diesen Kommentar als Kompliment auffasste.

»Bitte erzählen Sie weiter, tun Sie’s für meinen Vater. Sie waren ihm so eine gute Freundin, lassen Sie seine Tochter jetzt nicht im Stich. Er würde wollen, dass ich die ganze Wahrheit erfahre.«

»Da bin ich mir nicht sicher.« Amelia leerte ihr Glas und blickte hoffnungsvoll zur Rumflasche hinüber. Nightingale machte ihr noch einen Grog und hoffte, dass der Alkohol Amelias letzte Bedenken zerstreute.

»Was auch immer Sie getan haben, ich bin sicher, Sie ha-442

ben es aus Liebe zu meinem Vater getan.« Nightingale zwang sich zu einem Lächeln, obwohl sie innerlich etwas empfand, das nicht weit von Hass entfernt war.

»Das stimmt, absolut. Glauben Sie mir. Und natürlich war es auch für Sie besser so, meine Liebe. Sie müssen mir aber versprechen, dass Sie nicht böse werden. Wir haben es nur gut gemeint.«

Trotz ihrer schwachen körperlichen Reaktion arbeitete Nightingales Verstand plötzlich messerscharf. Sie war schon immer ein logisch denkender Mensch gewesen, und daran klammerte sie sich jetzt, als die Grundfesten ihrer Welt ins Wanken gerieten. Warum hatte ihre wirkliche Mutter sie weggegeben? Wie hatte sie es übers Herz bringen können, sich von ihrem eigenen Kind zu trennen? Und warum um alles in der Welt hatte die Frau ihres Vaters das Kind seiner Geliebten angenommen? Sie zuckte die Achseln, und Amelia schien das als Zeichen des Einverständnisses aufzufassen.

Sie setzte sich zurück und fuhr mit ihrer Erzählung fort.

»Diane ist ganz plötzlich gestorben. Um acht Uhr abends hatte Ihr Vater sie neben Simon ins Bettchen gelegt. Mary hütete noch immer das Bett, obwohl die Geburt leicht gewesen war. Sie weinte viel und war erschöpft. Heutzutage nennt man das eine postnatale Depression, aber wir dachten damals, dass sie bloß schlechter Stimmung war und sich bald wieder fangen würde.

Um zehn Uhr fing Simon an zu weinen, weil er Hunger hatte, und Ihr Vater trug ihn durch die Küche. Beide Kinder bekamen das Fläschchen. Ich weiß nicht, warum Ihre Mutter die Kleinen nicht stillen konnte oder wollte. Wie dem auch sei, Ihr Vater hat Simon gefüttert und gewickelt und ist dann Diane holen gegangen. Er dachte, sie würde tief schlafen und hat sie nach unten gebracht … sie hatte noch immer ihren 443

kleinen Schlafanzug an, als er bei mir vor der Tür stand. Er war in seinem Pyjama durch den Wald gelaufen … hatte sich nicht mal einen Mantel übergezogen.« Amelia hielt inne, um einen Schluck zu trinken.

»Lulu war schon Stunden zuvor schlafen gegangen, aber ich war noch auf. Er war fast hysterisch, als er bei mir ankam.

Ich hab ihn in die Küche bugsiert, und er hat das Baby auf den Tisch gelegt. Ich hab die Kleine aus der Decke gewickelt und sofort gesehen, dass sie tot war. Ihm zuliebe hab ich noch nach dem Puls gefühlt, aber sie war eindeutig tot.

Wir haben ein paar Whisky getrunken, und er hat eine ganze Weile in meinen Armen geweint. Er wusste nicht, was er machen sollte. Mary war ohnehin schon so deprimiert, und er dachte, das würde ihr den Rest geben. Er hat herumphan-tasiert, dass ihr vielleicht nicht richtig klar gewesen sei, dass sie Zwillinge geboren hatte, aber den Gedanken hab ich ihm gleich ausgetrieben, eine Mutter weiß so was natürlich.

Schließlich hat er das tote Baby bei mir gelassen und ist zurück zur Farm. Er wollte es Mary erst am Morgen erzählen, wenn sie aufgewacht war, vorher nicht.«

»Und in jener Nacht wurde ich geboren.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Amelia nickte und blinzelte sich Tränen aus den Augen. »Haben Sie meine Mutter überredet, mich herzugeben?«

Sie war selbst erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klang, wo sie doch ganz bewusst tief atmen musste, um gegen das Ge-fühl der Übelkeit anzukämpfen. Amelia schüttelte den Kopf.

»Ganz so war es nicht.«

Als Amelia den Blick hob und ihr Gesicht im Halbdunkel sah, zuckte sie zusammen und wandte sich ab.

»Sie müssen es mir sagen. Vater würde das so wollen.«

»Ich weiß.« Amelia nickte. »Sie müssen das verstehen, Ihr 444

Vater war völlig verzweifelt, nicht bloß vor Trauer, sondern auch vor Angst um den Geisteszustand Ihrer Mutter, ich meine Marys Geisteszustand. Lulu dagegen, nun ja, oberflächlich betrachtet war sie eine reizende Frau, aber sprunghaft und temperamentvoll. Sie war eine Künstlerin. Wer weiß, was für eine Mutter sie geworden wäre. Sie führte ein unstetes Leben, blieb nie lange mit einem Mann zusammen.«

Nightingale presste die Lippen zusammen, um einen Ausbruch zu verhindern, der diese Frau verschreckt hätte, aber innerlich tobte sie vor Empörung darüber, was ihrer Mutter angetan worden war – von ihrem Vater geschwängert und sitzen gelassen, auf sich allein gestellt und von seinen Freunden verleumdet.

»Als Ihr Vater fort war, so gegen zwei Uhr morgens, setzten bei Lulu die Wehen ein. Es ging alles unglaublich schnell.

Ich war Krankenschwester gewesen, keine ausgebildete Hebamme, aber ich kam gar nicht mehr dazu, den Arzt zu rufen.

Die Fruchtblase platzte, und innerhalb von einer Stunde war schon fast alles vorbei.

Als Sie zur Welt kamen, haben Sie nicht gleich geschrien, und ich dachte, Sie wären vielleicht auch tot. Ich hab Sie in ein Handtuch gewickelt und nach unten getragen. Ich weiß nicht warum, vielleicht lag es am Temperaturwechsel, aber auf einmal haben Sie kurz gehickst und dann die Augen ge-

öffnet, aber Sie haben noch immer nicht geweint, nur so leise gewimmert.«

Amelia musste aufhören. Tränen strömten ihr über die Wangen, und sie schluchzte eine Weile. Nightingale sagte nichts. Sie konnte sich denken, was als Nächstes kommen würde, aber es gehörte zu Amelias Buße, es einzugestehen.

Die ältere Frau putzte sich die Nase und schniefte laut.

»Ich nahm ein anderes Handtuch, ein sauberes, und 445

tauschte es gegen das erste aus, in das ich Sie gewickelt hatte.

Dann habe ich Sie auf eine Decke gelegt. Lulu rief nach mir.

Ich habe überhaupt nicht nachgedacht. Es war, als ob eine Stimme von anderswo mir Anweisungen gab. Ich hab das tote Baby ausgezogen. Meine Hände und meine Schürze waren noch immer voll mit angetrocknetem Blut. Ich hab das Haar der Kleinen angefeuchtet und sie in das blutige Handtuch gewickelt. Sie war erst einen Tag alt und sah noch fast wie neugeboren aus. Ich hab meine Hände nass gemacht und dem Baby etwas von dem Blut ins Gesicht geschmiert. Dann hab ich es nach oben getragen und bin in der Tür stehen geblieben.

Ich bin einfach da stehen geblieben, und Lulu hat mich mit einer furchtbaren Angst in den Augen angeblickt. Ich habe nichts gesagt, und sie auch nicht. Sie hat bloß auf das blutige Bündel in meinen Armen gestarrt, dann hat sie einen grauenhaften Schrei ausgestoßen. Es war entsetzlich, als wür-de ein Tier heulen. Ich hab ihr das Baby gegeben, und sie hat es sich an die Brust gedrückt. Und die ganze Zeit dieses schreckliche Schluchzen. Sie saß da und schaukelte hin und her. Niemals, bis heute nicht, habe ich jemanden so weinen sehen.

Aber selbst dann habe ich geschwiegen. Verstehen Sie, ich war sicher, dass ich das Beste tat. Ich habe versucht, ihr das tote Baby wegzunehmen. Es wurde bereits steif, und ich wollte nicht, dass sie was merkt, aber sie hielt es weiter fest umklammert. Also musste ich mich um die Nachgeburt kümmern, Lulu sauber machen, alles Notwendige erledigen, und die ganze Zeit hörte ich dieses schreckliche Gejammer.«

Nightingale konnte sich nicht mehr beherrschen.

»Sie hat um ihr Kind getrauert! Meinen Sie nicht, sie hatte das Recht zu weinen?«

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Für Nightingale bestand kein Zweifel daran, dass Amelia Lulu gehasst hatte, auch wenn sie so getan hatte, als wäre sie ihre Freundin. Amelias Eifersucht, angefacht von der Zuneigung, die ihr Vater für Lulu empfand, hatte ihre Gedanken so vergiftet, dass sie imstande gewesen war, eine abscheuliche und boshafte Tat unter dem Deckmantel vermeintlicher Hilfsbereitschaft und Weitsicht zu verschleiern.

Durch das Vertauschen der Babys hatte sie eine geniale Rache an all denen geübt, die sie am meisten verabscheute: Lulu nahm sie das Kind ihrer Liebe, und Mary legte sie ein Kuckucksei ins Nest. Nightingales Zorn wurde durch ihre eigene Trauer gebremst, doch nur ihre wilde Entschlossenheit, sich auch noch das Schlusskapitel anzuhören, hinderte sie daran loszuschreien.

»Sobald Lulu eingeschlafen war, mit dem Baby noch immer im Arm, wickelte ich Sie in die Decke ein, in der Ihr Vater Diane zu mir gebracht hatte, und machte mich auf den Weg zur Mill Farm. Ich musste vor dem Frühstück dort sein, damit Sie gewaschen, neu eingekleidet und zu Simon ins Bettchen gelegt werden konnten. Sie waren so still und lieb, als wollten Sie mit mir gemeinsame Sache machen …«

Amalia merkte nicht, das Nightingale nach Luft schnappen musste, und sprach ungerührt weiter.

»… Eigentlich hatte ich gedacht, dass Ihr Vater wach wäre, wo er doch nur wenige Stunden zuvor Entsetzliches erlebt hatte, aber ich musste laut klopfen, um ihn aufzuwecken. Als er das Baby sah, war er zornig, weil er dachte, ich hätte Diane zurückgebracht, aber dann weinten Sie zum ersten Mal, und er wäre beinahe zusammengebrochen.

Ich habe ihm erklärt, was passiert war, was ich getan hatte.

Zuerst fand er die Idee unmöglich. Er sagte, seine Frau würde den Unterschied ganz bestimmt merken, aber Sie haben im-447

mer weiter geweint, und da hat er Sie zum ersten Mal richtig angesehen. Und in dem Augenblick wusste ich, dass er Sie nie wieder hergeben würde. Die Liebe auf seinem Gesicht …

ich habe sofort gesehen, dass ich das Richtige getan hatte.«

Nightingale schluckte den Stein in ihrer Kehle hinunter und kämpfte die Tränen nieder. Sie würde nicht vor diesem Scheusal zusammenbrechen, das mit dem Leben so vieler Menschen Gott gespielt und sich dabei noch als gute Freundin ausgegeben hatte.

»Er hat Sie gefüttert, gebadet und angezogen, und ich hab ihm dabei zugeschaut. Nie habe ich mich ihm näher gefühlt, und ich wusste, dass es ihm genauso ging. Zwischen uns entstand ein Band für die Ewigkeit.«

Nightingale schnaubte, und Amelia reagierte trotzig.

»Er hat nie vergessen, was ich für ihn getan habe, welches Risiko ich für ihn eingegangen bin!«

»Und meine richtige Mutter, was war mit ihr? Hat sie je die Wahrheit erfahren?«

»Nein, selbstverständlich nicht. Wer hätte es ihr sagen sollen? Es gab ja nur ganz wenige Menschen, die überhaupt wussten, dass sie schwanger gewesen war – Ihr Vater, Ihre Tante, ich, ein paar Freunde – deshalb stellte auch keiner neugierige Fragen.«

»Was ist aus ihr geworden?«

»Als ich nach Hause zurückkam, war sie wach und weinte wieder. Sie wollte Ihrem Vater von seinem toten Kind erzählen, aber ich konnte sie überzeugen, dass es besser wäre, wenn ich ihn anrief. An dem Tag musste ich sie ständig im Auge behalten. Sie wäre durchaus fähig gewesen, sich allein auf den Weg zur Farm zu machen, selbst in ihrem Zustand, und es hätte einen Skandal geben können, wenn sie von jemandem aus dem Dorf gesehen worden wäre.

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Schließlich kam Ihr Vater am Nachmittag, um sie zu besuchen. Er sah natürlich furchtbar aus. Als er Lulu und das Baby sah, brach er vollends zusammen. Einen Moment lang dachte ich schon, er würde ihr die Wahrheit sagen, doch dann sah er, wie ich den Kopf schüttelte, und er hielt den Mund. Ich hab die beiden allein gelassen. Als er nach fast einer Stunde wieder herauskam, hat er mich auf die Wange geküsst und ist ohne ein Wort gegangen.

Irgendwie konnte er Lulu dazu bringen, das Baby nicht hier auf dem Friedhof bestatten zu lassen. Sie war in irgend so einer buddhistischen Hippiesekte, deshalb war das wahrscheinlich nicht allzu schwierig. Die Geburt wurde nie gemeldet, ebenso wenig wie Dianes Tod, deshalb konnte er die ganze Geschichte geheim halten.

Er und Lulu sind dann später gemeinsam losgezogen und haben das tote Baby irgendwo beerdigt. Ich habe keine Ahnung wo, und ich wollte es auch nicht wissen. Lulu ist nach London zurückgekehrt und hat sich an einen persönlichen Freund gewandt, der Arzt war. Mary und Ihr Vater sind mit den Babys nach Hause gefahren, und das war’s dann.«

»Das war’s dann.« Beim zornigen Klang von Nightingales Stimme riss Amelia die Augen weit auf. »Ein kniffliges Prob-lemchen gelöst, und noch dazu so, dass mein Vater durch das Geheimnis für alle Zeit an Sie gebunden war. Und Sie hatten sich geschickt an den beiden Frauen gerächt, die Ihnen meinen Vater weggenommen hatten, an seiner Frau und seiner Geliebten!«

»So war das absolut nicht.« Amelia stand jäh auf und stieß dabei den Stuhl um, der laut auf die Fliesen klapperte. »Ich habe im Interesse aller Beteiligten gehandelt. Wirklich, Louise, versuchen Sie doch, das zu verstehen. Es war auch in Ihrem Interesse. Ich gebe ja zu, dass ich Lulu nicht mochte, 449

aber ich bin nicht ungerecht. Sie hätte eine schlechte Mutter abgegeben.«

»Sie hatte nie die Chance, es zu versuchen, die haben Sie ihr genommen! Sehen Sie denn nicht, dass das, was Sie getan haben, krank und zerstörerisch war? Sie hätten fast mein Leben zerstört. Weiß der Himmel, was Sie dem Leben meiner Mutter angetan haben. Und Sie wagen es auch noch, die ganze Sache so hinzustellen, als hätten Sie nur die besten Absich-ten gehabt. Was war denn mit dem Recht meiner Mutter auf ihr Kind, und mit meinem Recht auf eine richtige Mutter, die mich geliebt hätte?«

»Die Sie geliebt hätte! Was meinen Sie denn, was für ein Leben Sie mit der Frau gehabt hätten? Sie hat ihre Trauer so schnell überwunden, dass sie sich schon sechs Monate später verlobt hat! Glauben Sie mir. Ich war mir damals sicher, dass Lulu Sie nicht behalten hätte, und das glaube ich auch heute noch. Sie hätte Sie garantiert zur Adoption freigegeben, und so sind Sie wenigstens bei Ihrem richtigen Vater und zusammen mit Ihrem Halbbruder aufgewachsen. Und ich habe Ihrer Mutter die Trauer um Diane erspart.«

»Ich habe die arme tote Diane nicht ersetzt. Mein Vater wollte gar nicht, dass ich Diane bin, und ich habe mein ganzes Leben gegen den Schatten dieser Lüge angekämpft, ohne je zu begreifen, was ich da eigentlich tat. Ich bin Louise Nightingale, und ich weiß, ohne dass Sie mir das sagen müssen, dass das der Name war, den meine wirkliche Mutter für mich ausgesucht hatte, der Name, den mein Vater an meiner Wiege und später an meinem Bett geflüstert hat, wenn er dachte, ich schliefe.

Und Sie sind gescheitert, begreifen Sie das nicht? Als ich größer wurde und meiner richtigen Mutter von Tag zu Tag ähnlicher sah, war ich für meinen Vater eine ständige Erinne-450

rung an die Frau, die er geliebt und dann verraten hatte. Sie haben die Macht, die sie über ihn hatte, nicht zerstört, im Gegenteil, Sie haben dafür gesorgt, dass die Erinnerung an sie in seinem Haus lebendig blieb. Nehmen Sie diesen Gedanken abends mit in Ihr kaltes leeres Bett! Und jetzt gehen Sie bitte, ehe ich mich vergesse.«

Amelia wandte sich wortlos um und stolperte hinaus in das Unwetter, den Kopf tief gebeugt, vielleicht gegen den Sturm.

Als das Auto unter den Bäumen verschwand, trat Nightingale zurück ins Haus und schloss die schwere Eichentür. Es gab keine Riegel mehr, die man hätte vorlegen können, also klemmte sie den umgekippten Stuhl unter die Klinke. Mit der Hintertür machte sie das Gleiche.

Sie kochte sich eine starke Tasse Tee. Trotz der Enthüllungen der letzten halben Stunde fühlte sie sich ausgesprochen ruhig und selbstsicher, als hätte sie eine anstrengende Schlacht hinter sich und wäre siegreich daraus hervorgegan-gen. Sie empfand neue Hochachtung für Mary, die das alles gewusst haben musste, aber ihr nie etwas gesagt hatte, auch nicht, wenn sie sie provoziert hatte. Noch wichtiger aber war, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben wusste, wer sie wirklich war. Und dieses Wissen verlieh ihr wieder größeres Selbstvertrauen und ein neues Verantwortungsgefühl.

Entscheidungen mussten gefällt werden, aber sie würde sie behutsam und mit Rücksicht auf andere treffen. Sollte sie Simon und seiner Frau die Wahrheit sagen? Sollte sie versuchen, ihre richtige Mutter zu finden? Das würde ihr vielleicht ermöglichen, persönlichen Frieden zu finden, aber was würde es für Lulu bedeuten? Inzwischen hatte ihre Mutter bestimmt die Trauer um die verlorene Tochter bewältigt und sich ein neues Leben aufgebaut.

Ihre arme »Mutter« Mary. Wann hatte sie erstmals die 451

Wahrheit über die problematische Tochter geahnt, die zu lieben ihr so schwer fiel? Wann hatte sie sie schließlich angesehen und erkannt, dass sie ein fremdes Kind im Haus hatte, einen Fremdkörper, der mit jedem Tag der Frau ähnlicher wurde, mit der ihr Mann bis zum Tag ihrer Hochzeit und auch noch danach eine Affäre gehabt hatte? Es war ein grausamer Gedanke.

Aber eine Entscheidung war leicht zu treffen. Sie würde das Grab ihrer Halbschwester finden und dafür sorgen, dass es nach all den Jahren eingesegnet wurde. Das war das Mindeste, was sie tun konnte, und sie würde Mill Farm nicht eher verlassen, bis sie diese Aufgabe erfüllt hatte.

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Kapitel siebenundzwanzig

Acht Uhr morgens, und London war schon brü-

tend heiß. Auspuffgase überzogen die Kehlen der Fußgänger mit einem unsichtbaren Schmierfilm. Fenwick trug sein Jackett über dem Arm. Im Laufe der Nacht waren keine Anrufe von Robyn oder Knotty gekommen, und er sah seinem Treffen mit MacIntyre um neun Uhr nicht gerade freudig entgegen. Er kaufte sich einen Eiskaffee, setzte sich auf eine Bank im Schatten eines Baumes und rief Knotty an, der sich prompt meldete.

»Ich wollte Sie gerade anrufen. Gestern Abend hab ich mit dem Hausarzt von den Smiths gesprochen. Ich hab ihn privat aufgesucht, und als ich kam, hatte er schon ein paar Gläschen intus, deshalb war er wohl ein bisschen redseliger, als er es in seiner Praxis gewesen wäre.«

»Gut gemacht. Was hat er gesagt?«

»Körperlich waren sie kerngesund, aber der Vater litt an Depressionen, die mit zunehmendem Alter schlimmer wurden. Seine Frau hatte Angstattacken.«

»Und der Sohn?«

Eine Frau mit einem Baby im Kinderwagen kam näher und setzte sich auf das andere Ende der Bank. Fenwick fluchte leise und wandte sich von ihr ab.

»Was David junior betrifft, hat er sich etwas bedeckt gehalten, aber ich hatte den Eindruck, dass der Grund für den langen Schulausfall des Jungen damals keine körperliche Er-453

krankung war. Der Arzt hat mir den Namen eines Sanato-riums in der Nähe genannt. Die sind auf Probleme von Jugendlichen spezialisiert: Drogenabhängigkeit, Verhaltensstö-

rungen, Phobien, einfach alles. Er hat auch gesagt, dass David freiwillig dort war.«

»Fahren Sie heute noch hin?«

»Bin schon unterwegs. Danach habe ich um zehn einen Termin bei der Lehrerin, die die Theatergruppe geleitet hat.

Müsste ich so gerade eben schaffen.«

»Irgendwelche Hinweise auf Wendy?«

»Noch nicht. Haben Sie Erbarmen mit mir, ich bin schließlich ganz allein hier oben.«

»Ja, richtig, gut. Ich meine, gut gemacht. Rufen Sie mich an, sobald Sie was haben. Ach übrigens, der Karton vom Speicher, hat die Spurensicherung da Fingerabdrücke sichern können?«

Die junge Frau mit dem Baby starrte ihn jetzt an.

»Sind nach London geschickt worden, müssten schon im Büro auf Sie warten, Sir.«

»Schön, dann bis später.«

Er traf früh im Präsidium ein. Eigentlich hatte er das nicht vorgehabt, weil er MacIntyre nicht über den Weg laufen wollte, bevor er nicht mit Robyn gesprochen hatte. Und wie befürchtet, legte MacIntyre ihm gerade eine Nachricht auf den Schreibtisch, als er sein Büro betrat.

»Andrew, schön. Dann können wir direkt anfangen. Um Viertel nach neun muss ich dem Commander Bericht erstatten. Das Innenministerium hat wieder Druck gemacht. Lucindas Vater beschwert sich, weil wir keine Fortschritte machen. Kommen Sie. Wir gehen in mein Büro.«

»Irgendwas Neues, während ich weg war?«

»Nichts seit dem Erfolg mit dem Abdruck auf dem Messer 454

… und bevor Sie fragen, nein, ich hab ihn noch nicht mit den Fingerabdrücken auf den Gefängnisbriefen oder denen von dem Wohnungseinbruch vergleichen lassen. Es war verdammt hektisch hier. Anders als in Telford, nehme ich an.

Was haben Sie rausgefunden?«

Fenwick verspürte ein leider nur allzu vertrautes Gefühl der Mutlosigkeit.

»Im Moment noch nicht mehr als das, was ich Ihnen gestern schon telefonisch mitgeteilt habe. Wir haben herausgefunden, wo Griffiths’ Pflegeeltern wohnten, aber es gibt keine Spur von der Familie Smith. Ich glaube nach wie vor, dass David Smith junior mit hoher Wahrscheinlichkeit Täter B ist, aber das ist immer noch reine Hypothese.«

»Schöne Worte für pure Mutmaßungen.« MacIntyres Tonfall war schneidend. »Der Kommentar ist nicht von mir, sondern von Ihrem Oberboss.«

»Harper-Brown hat mit Ihnen gesprochen?«

»Er hat gestern angerufen und sich erkundigt, wie Sie sich so machen.«

Fenwicks Mutlosigkeit wuchs. Harper-Brown ließ keine Gelegenheit außer Acht, ihm eins auszuwischen.

»Verstehe.« Er wollte sich nichts anmerken lassen, aber MacIntyre ließ sich nichts vormachen.

»Es tut mir Leid, Andrew, aber ich habe nur gesagt, was Sache ist. Ich habe kein Werturteil abgegeben, aber er hat seine eigenen Schlüsse gezogen.« Fenwick sagte nichts, als er in MacIntyres Büro Platz nahm. »Ich werde nicht wiederholen, was ich am Telefon gesagt habe. Sie wissen, was ich von Ihrem Ausflug in den Norden halte.«

»Ja. Sie waren da sehr deutlich. Wenn er wirklich keine Früchte trägt, werde ich Ihre Meinung auch wohl kaum ändern können, aber …«

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»Und heute Morgen habe ich einen Anruf von einem Chief Inspector Cave bekommen.« Er wartete gespannt auf Fenwicks Reaktion.

»Ach.« Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

»Ich hatte Sie doch gebeten, nicht so rigoros aufzutreten.«

»Das bin ich auch nicht. Ich war die Diplomatie in Person.

Aber ich mache mir nun mal wirklich Sorgen um dieses arme Mädchen, diese Ginny.«

»Aber es ist nun mal nicht Ihr Fall, oder? Und es gibt keine nachgewiesene Verbindung zu Täter B, obwohl ich trotzdem die Bissspuren zum Vergleich eingeschickt habe. Sie waren nicht in Ihrem Zuständigkeitsbereich. Verdammt noch mal, werden Sie endlich vernünftig.«

Fenwick versuchte nicht, sich zu entschuldigen. Falls Robyn und Knotty keine deutlichere Verbindung zwischen Smith und den Morden herstellen konnten, wäre die ganze Reise eine karriereschädigende Zeitverschwendung gewesen.

»Ich reiche Ihnen meinen Bericht im Verlauf des Vormittags rein. Viel Glück beim Commander.«

Er wollte sich nicht unterkriegen lassen. Mit der Fahrt nach Telford war er ein kalkuliertes Risiko eingegangen.

Wenn nicht mehr dabei herauskam als die Erkenntnis, wo Griffiths als Jugendlicher gelebt hatte, dann sollte es eben so sein, aber es gab noch immer ein paar Spuren, denen nachgegangen werden musste, und er hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Die Fingerabdrücke von dem Karton und dem Inhalt warteten schon auf ihn, wie Knotty versprochen hatte. Er schickte sie sofort zum Vergleich mit denen vom Gefängnis und der Wohnung und missbrauchte dafür sogar MacIntyres Namen, damit die Sache auch ja höchste Priorität erhielt. Gegen zehn Uhr, als er gerade seinen Bericht fertig hatte, rief Robyn an.

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»Sir, ich glaube, ich hab was gefunden.« Er konnte die Aufregung in ihrer Stimme hören. »Es gibt Hunderte von Fällen, aber Sie sagten ja, ich soll nach Mustern suchen. Ich hab mich auf zwei Jahre konzentriert, in denen Smith und Griffiths zusammen auf einer Schule waren, und dann hab ich nach Straftaten gesucht, die in der Mittagspause oder in den ersten zwei Stunden nach Schulschluss nicht allzu weit von der Schule passiert sind. Dabei bin ich auf zweiunddreißig ähnliche Straftaten gestoßen, die während der Unterrichtszei-ten passiert sind, nie in den Ferien.«

»Was für Straftaten?«

»Dazu komme ich gleich.« Ihre Direktheit erinnerte ihn an Nightingale, und er musste trotz seiner schlechten Stimmung lächeln. »Ich bin dann die anderen Jahre durchgegangen, in denen sie zusammen zur Schule gingen, bis zu dem Jahr, in dem Griffiths dreizehn war. Es gibt da ein eindeutiges Muster.

Zuerst waren es kleinere Sachbeschädigungen oder Diebs-tähle, eine eingeworfene Fensterscheibe, rausgerissene Pflanzen in einem Garten, Wäsche von der Leine gestohlen, immer Frauenwäsche. Aber dann wurden die Vorfälle schwerer wiegend. Es gab zwölf Beschwerden wegen eines Voyeurs oder Spanners, sechzehn gemeldete sexuelle Übergriffe und eine versuchte Vergewaltigung, und ich habe zwar noch nicht sämtliche Akten gesichtet, aber die Täter werden in allen Fällen als Teenager beschrieben. Die letzte versuchte Vergewaltigung wurde am 3. Juli gemeldet, in dem Jahr, als die Jungen die Schule verlassen haben.«

»Ausgezeichnet! Schreiben Sie Ihren Bericht und schicken Sie ihn so schnell wie möglich her. Das passt zu den Profilen, die von A und B gemacht wurden. Sie haben einen Abzug des Fotos, das der alte Smith auf seinem Schreibtisch im Büro 457

stehen hatte, und ich schicke Ihnen ein Phantomfoto, zeigen Sie die den Opfern. Sie haben da eine Kollegin, die Ihnen vielleicht helfen kann, Siobahn …«

»Ja, Sir, ich weiß.« Ein Lächeln lag in ihrer Stimme. »Ich arbeite nämlich hier. Der Bericht ist so gut wie fertig, und die Anschriften der Frauen habe ich auch schon vorliegen.«

»Sie müssen ja die ganze Nacht durchgearbeitet haben, um das alles zu schaffen.«

»Fast, aber das macht nichts. Die Sache ist zu wichtig.«

Als sie auflegte, schien die Luft von ihrer Aufregung weiter zu knistern. Fenwick ergänzte seinen Bericht und hatte jetzt ein etwas positiveres Gefühl. Um fünf vor halb elf rief Knotty an.

»In der Klinik, wo David Smith war, hab ich nichts herausfinden können, da bräuchte ich einen Durchsuchungsbe-schluss, aber ich war gerade eben bei Miss Wallace, der Lehrerin für den Theaterkurs. Und jetzt halten Sie sich fest …«

»Nun sagen Sie schon.«

»Sie hat David Smith rausgeschmissen, weil sie gemerkt hat, dass er sie von der Schule nach Hause verfolgt hat. Sie hat ihn daraufhin zur Rede gestellt, allein im Probenraum.

Als sie ihm Vorhaltungen machte, wurde er aggressiv und bedrohlich, sagt sie. Er hat alles abgestritten, und sie hat ihn der Lüge bezichtigt. Smith hat versucht, sie zu ohrfeigen. Sie sagt, sie sei völlig schockiert gewesen und habe nur noch wie gelähmt dagestanden. Dann hat er gesagt, wenn sie ihn bei der Schulleitung anschwärzen würde, würde er sagen, sie hät-te ihn verführt, und dafür sorgen, dass sie entlassen wird. Er wusste haargenau, wie ihr Schlafzimmer aussieht, und hat ihr sogar ihre Unterwäsche beschrieben.«

»Was hat sie gemacht?«

»Sie hat gesagt, dass er ab sofort aus dem Theaterkurs ausge-458

schlossen sei, aber mehr auch nicht. Seine Drohungen klangen so ernst, dass sie sich nicht getraut hat, zur Schulleiterin zu gehen, bei der sie ohnehin keinen Stein im Brett hatte.«

»Dann hat Smith also seinem Vater erzählt, dass er aus der Theatergruppe geflogen war, aber nicht, warum, und der Vater hat einen Beschwerdebrief an Miss Wallace geschickt.«

»Viel besser, er hat sie aufgesucht.«

»Und sie hat ihm alles erzählt.«

»Genau. Er war wütend, aber nicht auf sie, sondern auf seinen Sohn. Er hat Miss Wallace erzählt, dass er nicht zum ersten Mal Ärger mit ihm hatte. Es hatte schon einmal einen Zwischenfall mit einer Kusine gegeben und auch noch andere Geschichten, auf die er aber nicht genauer eingehen wollte.«

»Da haben wir ja die Verbindung zu Wendy. Wie ging die Sache aus?«

»Das war kurz vor den Ferien. Smith senior hat gesagt, er werde mit der ganzen Familie Urlaub machen und die Sache

›ein für alle Mal‹ aus der Welt schaffen. Er hat sie gebeten, bis zum Beginn des neuen Schuljahres Stillschweigen zu bewahren.«

»Aber Smith kam nicht wieder zurück auf die Schule.«

»Nein.«

»Gut gemacht, Knotty. Schreiben Sie alles auf, und dann kommen Sie wieder her. Gehen Sie nicht allein zu Frederick Smith, um ihn wegen Wendy zu befragen. Der Mann ist unangenehm und läuft uns nicht weg.«

»Verstanden Sir. Ich hab noch ein paar offene Fragen zu klären, aber gegen Abend müsste ich wieder da sein.«

Fenwick legte seinen überarbeiteten Bericht auf MacIntyres Schreibtisch und machte sich dann wieder an ein ausge-dehntes Aktenstudium. Während der Vormittag verstrich, beschlich ihn eine so starke Unruhe, dass er seine Haushälte-459

rin anrief, die ihm aber versicherte, den Kindern gehe es gut.

Als Nächstes rief er Cooper an, doch der Sergeant hatte nichts Neues von Nightingale gehört. Gegen Mittag war er in Schweiß gebadet und konnte sich kaum noch konzentrieren.

MacIntyre fragte, ob er an einem Gespräch mit der Psychologin aus dem Innenministerium teilnehmen wolle, und er nahm das Angebot dankbar an. Alles war besser, als in seinem Büro zu sitzen und von diesem Gefühl bedrängt zu werden, dass sich etwas Unheilvolles zusammenbraute.

Constable Knots war in Hochstimmung. Er hatte dem Chief Inspector gute Ergebnisse melden können, was ihn sogar selbst überraschte und, so vermutete er, seinen Vorgesetzten ebenso. Fenwick war ein strenger Chef, aber er war auch jemand, dessen Anerkennung man suchte. Knots hatte einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil er ihm bei seinem Anruf nicht alles gesagt hatte. War das mit den paar offenen Fragen eine Notlüge gewesen? Eigentlich nicht, und vielleicht kam ja auch nichts dabei heraus. Er wollte nicht wieder dumm dastehen, wo er gerade angefangen hatte, einen guten Eindruck zu machen.

Es war purer Zufall gewesen, dass er Miss Wallace noch gefragt hatte, ob sie vielleicht eine Ahnung hätte, wo die Smiths ihre Ferien verbracht hatten, aber er wusste, dass Fenwick etwas dagegen hatte, Fragen offen zu lassen. Und Miss Wallace hatte nicht nur eine Ahnung, sie hatte die Familie Smith zwei Wochen später beim Wandern in den Bergen getroffen. Sie hatte sich mit Smith senior unterhalten, und er hatte ihr von dem Ferienhäuschen erzählt, das sie sich von einem Gewinn beim Prämiensparen geleistet hatten. Miss Wallace hatte selbst überlegt, sich in dieser Gegend etwas zu mieten, deshalb hatte sie das besonders interessiert.

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Sie hatte Knotty die Gegend beschrieben, wo sie die Smiths getroffen hatte, und ihm erklärt, wie er am besten dorthin kam. Er konnte sein Glück kaum fassen. Er schaute auf die Uhr, fünf vor elf. Gerade noch Zeit, um hinzufahren, sich ein bisschen umzuschauen, und, falls nichts dabei herauskam, rechtzeitig zurück zu sein, um den Zwei-Uhr-Zug noch zu erwischen. Aber falls er Smiths Cottage fand, wäre er ein Held. Im Auto stellte er sich vor, wie er die verblüfften Kollegen anrufen und die Spurensicherung anfordern würde.

Er lächelte vor sich hin.

Die Adresse des Cafés zu finden, in dem die Polizistin ins Internet gegangen war, hatte länger gedauert, als er gedacht hatte, aber es war noch keine elf Uhr, als er alle nötigen Informationen beisammen hatte. Damit blieb ihm eine Stunde, um sein Geschenk für Griffiths fertig zu machen. Im Laufe der Nacht hatte er beschlossen, dass sein ehemaliger Gefährte sterben musste, denn es war nicht auszuschließen, dass er irgendwann auf die Idee kam zu singen. Die Suche nach einer guten Methode war schwierig gewesen, doch dann war ihm eingefallen, dass die Gefängnisinsassen Lebensmittel geschickt bekommen durften. Er würde ihm einen Kuchen schicken.

Einen ganz besonderen Kuchen nach seinem eigenen Re-zept. Er hatte noch einen verpackten Biskuitkuchen im Schrank, und er kannte eine Stelle am Waldrand, wo Eiben wuchsen. Er schnitt große Mengen Jungtriebe ab, brachte sie ins Cottage und machte daraus einen Aufguss. Während die Flüssigkeit abkühlte, rührte er reichlich Zucker hinein und stach den Kuchen überall ein, damit der Biskuitteig die auf-geträufelte Mixtur besser aufsaugte. Er wiederholte den Vor-gang etliche Male, bis der ganze Kuchen gut durchtränkt war, dann machte er sauber.

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Als der Kuchen gut abgetropft war, packte er ihn wieder ein und befestigte ein Briefchen von Agnes an der Verpackung. Er verstaute das Geschenk in einer Schachtel, adres-sierte sie an Wayne im Gefängnis und wusch sich dann sorgfältig die Hände, bevor er eine Kleinigkeit zu Mittag aß. Er würde seine Kräfte am Nachmittag brauchen, weil er vorhatte, zu Fuß nach Telford und wieder zurück zu gehen. Es war damit zu rechnen, dass die Polizei die Leiche des Taxi-Mädchens rasch entdecken und sofort Straßensperren errichten würde, deshalb würde er querfeldein marschieren.

Wieder überprüfte er den Inhalt seines Rucksacks, um sich zu vergewissern, dass auch alles da war, obwohl er das erst vor einer halben Stunde gemacht hatte. Vorbereitung war das A und O. Er hatte das Gefährlichste vor, was er je getan hatte, und die Vorstellung pumpte ihm Adrenalin durch den Körper.

Sein Mund war so ausgetrocknet, dass er sein Sandwich nicht herunterbekam, deshalb machte er zum Runterspülen ein Bier auf. Beim Essen vervollständigte er seine Verkleidung. Sie war diesmal nur oberflächlich: eine Baseballkappe über ungekämmtem Haar, eine Wandererkluft aus Kleidungsstücken, die er schon seit Jahren besaß. Außerdem hängte er sich einen Kartenhalter aus Plastik um den Hals, komplett mit Wanderkarte, und schulterte seinen Rucksack. Die Brille auf seiner Nase hatte seinem kurzsichtigen Vater gehört, war aber so schwach, dass er sie vertrug. Er blickte in den Spiegel und musterte das Bild des harmlosen Wanderers, der ihn da anstarrte. Nur wenige Menschen würden ihn eines zweiten Blickes würdigen, und selbst wenn, würden sie ihn schnell wieder vergessen.

Sein Taschenmesser steckte in der Hosentasche. Er zog es heraus und testete die kurze Klinge, die er rasiermesserscharf 462

geschliffen hatte. Wenn man gut war, brauchte man keine anderen Requisiten, und warum das Risiko eingehen, eine Waffe bei sich zu haben, die Verdacht erregen könnte?

Er verließ das Haus durch die Hintertür und ging den Hang hinauf, der ihn durch den Wald und dann auf einen Fußweg bringen würde, der zum Stadtrand von Telford führ-te. Acht Meilen, ein Klacks.

Er war gut in Form, und das Wetter war zum Wandern ausgezeichnet. Als er gerade die erste Baumreihe erreichte, rollte ein Wagen über die Zufahrtsstraße unterhalb von ihm und hielt an. Smith verharrte im Schatten. Ein Mann stieg aus. Aus Smiths Blickwinkel wirkte der Mann optisch verkürzt. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, aber irgendwie kam ihm die Gestalt bekannt vor. Smith wartete, atmete kaum. Der Mann ging zur Vordertür und klopfte zweimal.

Das Klopfen hatte etwas unverkennbar Autoritäres an sich, und Smith erstarrte. Lautlos streifte er seinen Rucksack ab und legte ihn ins Gebüsch. Als der Mann um die Hausecke herumkam und durch die Fenster spähte, kauerte Smith sich nieder, um ihn besser sehen zu können. Er erkannte den Polizisten, der Fenwick begleitet hatte.

Die Polizei aus London hatte seinen Schlupfwinkel gefunden! Was sollte er machen? Die Möglichkeiten überschlugen sich in seinem Kopf. Er konnte in Deckung bleiben und den Mann wieder gehen lassen, aber auf dem Tisch waren noch die Reste des Mittagessens. Er konnte abhauen, aber sein Motorrad stand hinter dem Haus, und der Idiot da würde es jeden Moment entdecken. Es waren noch immer zu viele Sachen im Haus, und Spuren, die er vernichten musste, wenn er seine Anonymität bewahren wollte. Er konnte nicht weglaufen oder sich verstecken, er musste die Bedrohung ausschalten.

Verwirrend war, dass der Mann allein gekommen war.

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Entweder er gehörte zu einem Voraustrupp, oder er handelte im Alleingang und ging einer Spur von vielen nach. Er musste es herausfinden, eine andere Möglichkeit hatte er nicht. Als der Polizist um das Haus herum verschwand, rutschte Smith den halben Hang hinunter, stand dann auf und schlich die letzten Meter näher. Kaum eine halbe Minute später kauerte er schon im Schatten des Dachvorsprungs und versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Er hörte Schritte auf dem Kiesweg, dann ein Geräusch, als rüttele jemand an der verschlossenen Hintertür. Der Polizist bewegte sich lässig, unachtsam, als sein Schatten sich von der Hauswand löste und um die Ecke fiel.

Smith sprang blitzschnell hoch und streckte ihn mit einem raschen Kinnhaken, gefolgt von einer Geraden in die Magengrube, zu Boden. Der Mann versuchte, sich wieder aufzurappeln, doch Smith packte seinen rechten Arm und drehte ihn ihm auf den Rücken, bis er hörte, wie es in der überdehnten Schulter knarrte. Mit der linken Hand drückte er dem Mann das aufgeklappte Messer an den Hals, fest genug, um die Haut aufzuritzen.

»Wer bist du?«

»Knots«, sagte der Mann und schluckte so schwer, dass sein Adamsapfel über die Klinge schabte.

»Polizei?«

Der Mann nickte. Schweißperlen rannen vom Gesicht des Polizisten auf seine Hand.

»Bist du allein?«

»Ja.« Als ob er seinen Fehler gemerkt hätte, fügte der Mann rasch hinzu: »Aber die anderen müssen jeden Moment hier sein.«

Smith war sicher, dass er log.

»Wer weiß alles, dass du hier bist?«

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»Alle. Die warten darauf, dass ich mich telefonisch melde.«

Der Mann stank nach Angst und war in Schweiß gebadet.

»Was du nicht sagst.« Dieser Trottel von Polizist reagierte jetzt schneller. Er hatte die Gefahr erkannt und improvisierte rasch. Smith glaubte ihm nicht, aber ganz sicher war er sich auch nicht.

»Ich denke, wir warten auf sie, was hältst du davon?«, sagte er freundlich und drehte den Arm des Mannes höher, der vor Schmerzen aufstöhnte.

Minuten verstrichen. Der Gestank des Mannes war scheußlich. Er spürte, wie der Schweiß des anderen seine eigenen Sachen tränkte, sie besudelte. Er sah die Akne am Haaransatz des Mannes, die Schuppen auf seinem Kragen.

Widerlich.

»Ich glaube nicht, dass sie kommen, du etwa, Knots?« Sein Tonfall war freundlich, spielerisch, und es war ja auch ein Spiel. Er fing an, Spaß daran zu finden. »Wie lange sollen wir ihnen noch geben?«

Knots’ Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen komplett von Weiß umgeben, während er verzweifelt auf Hilfe hoffte.

»Fünf Minuten, das müsste reichen. Ich denke, dann können wir sie abschreiben.«

Knots schielte auf seine Armbanduhr. Während die Sekunden dahintröpfelten, plauderte Smith weiter.

»Im Film ist das natürlich die Stelle, wo der rettende Held in letzter Sekunde herbeigeeilt kommt. Glauben Sie, dass das passiert, Mr Knots?«

Knotty schluchzte.

»Na, na, wer wird denn gleich verzweifeln. Sie haben immer noch, mal sehen, heben Sie Ihren Arm bitte, vielen Dank. Ja, noch über zwei Minuten. Aber nur für den Fall, 465

dass sie nicht kommen, sollten Sie vielleicht anfangen zu beten. Nur sicherheitshalber, finden Sie nicht?« Er konnte spü-

ren, wie der Mann anfing zu zittern, und er musste lächeln.

»Noch eine Minute. Sollen wir mitzählen? Neunundfünfzig, achtundfünfzig, siebenundfünfzig, jetzt Sie.« Uringestank stieg auf, und Smith schnaubte angeekelt. »Meine Güte, rei-

ßen Sie sich zusammen, Sie sind einer von den Guten. Sie müssen mich entweder besiegen oder ehrenhaft im Kampf sterben.«

Sein Lachen wurde jäh unterbrochen. Knots griff mit der freien Hand nach hinten und versuchte, Smiths Ellbogen zu packen. Die Klinge schnellte nach oben und schlitzte dem Polizisten die Wange auf, als er sich wegdrehte. Obwohl sein rechter Arm festgehalten wurde, achtete er nicht auf den Schmerz und warf sich mit ganzer Kraft nach vorn, um sich aus Smiths Umklammerung zu befreien. Er fiel auf die Knie, den rechten Arm auf den Rücken gebogen wie einen gebrochenen Flügel, während Smith ihn weiter eisern festhielt.

Blut tropfte auf Knottys Jackett, doch er achtete nicht darauf, hob eine Hand voll Kies vom Weg auf und wollte seinem Angreifer die Steinchen ins Gesicht schleudern, doch das meiste ging daneben. Mit einem Wutschrei sprang Smith ihm auf den Rücken, sodass seine Brust auf die Erde gepresst wurde. Knots bäumte sich auf, um Smith abzuschütteln, doch sein Gegner klammerte sich weiter fest.

Knotty kroch auf die Stufen der Hintertür zu, zog Smith dabei mit. Verzweifelt warf sich der Polizist nach hinten und rollte sich gleichzeitig herum. Smith musste loslassen, und sie lagen jetzt beide lang ausgestreckt nebeneinander, wie ein riesiger Seestern. Knotty rappelte sich hoch, doch Smith war schneller. Er riss ihn wieder zu Boden und presste ihm die Arme an den Körper.

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Nackte Panik verlieh Knotty neue Kräfte. Mit einem gewaltigen Ruck befreite er sich aus Smiths Umarmung, rollte zur Seite, kam auf die Füße und stolperte über das struppige Gras auf seinen Wagen zu. Smith brüllte auf wie ein Tier und rannte hinter ihm her. Auf halbem Weg wurde Knotty mit einem Hechtsprung zu Boden geworfen und schlug so hart auf, dass ihm die Luft aus dem Körper wich.

Smith riss den Kopf des Mannes an den Haaren hoch und nach hinten, sodass der Hals frei lag. Er machte einen Schnitt, einen sauberen Halbkreis, der beide Halsschlagadern durchtrennte. Ein seltsam gurgelnder Laut erklang und ihm wurde klar, dass er auch die Luftröhre durchschnitten hatte. Sein geschliffenes kleines Messer war sogar noch praktischer, als er gedacht hatte! Er blieb ruhig sitzen, genoss das Beben zwischen seinen Beinen. Als die Krämpfe aufhörten, stand er auf und atmete tief durch.

»Verdammte Sauerei«, sagte er halblaut. Überall war Blut, und er musste eine Leiche loswerden. Er sah auf die Uhr, genau zwölf. Er war hinter seinem Zeitplan zurück, aber er musste hier auf jeden Fall klar Schiff machen, auch wenn das Cottage sehr abgelegen war.

Der Tote war schwer, aber es gelang ihm, ihn in die Plane zu wickeln, mit der er normalerweise sein Motorrad abdeckte. Er packte Steine mit hinein und band das Ganze mit einer kräftigen Schnur zusammen. Dann überlegte er, wie er weiter vorgehen sollte.

Sein Hemd und seine Hose waren voller Blut. Er ging ins Haus, um sich zu waschen und umzuziehen. Anschließend nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank, weil er von der Anstrengung durstig geworden war, und traf seine Entscheidung.

Die Leiche würde er im See versenken, zu seinen anderen 467

Geheimnissen. Dort war noch nie gesucht worden, zumindest nicht in den letzten zehn Jahren, und er wusste keinen Grund, warum sich das ändern sollte. Dann würde er mit dem Auto des Mannes nach Telford fahren. Mit ein bisschen Glück könnte er noch vor zwei am Haus des Mädchens sein, fast wie geplant. Die einzige Unwägbarkeit war, ob außer diesem ungeschickten Volltrottel zu seinen Füßen noch andere Leute bei der Polizei von dem Cottage wussten. Er trat fest gegen das Bündel.

»Hast du es herumerzählt, oder war es dein kleines Geheimnis? So bescheuert kann eigentlich keiner sein, aber vielleicht«, er trat noch einmal zu, »warst du ja so blöd, es auf eigene Faust zu versuchen.«

Er kippte den Rest seines Bieres über die eingewickelte Leiche.

»Ich denke, du warst tatsächlich so blöd. Anders als dein Boss, der wäre nie auf so eine hirnrissige Idee gekommen.«

Um auf Nummer sicher zu gehen, nahm er das Päckchen mit dem Kuchen und die Tüten, die er zuvor gepackt hatte, und verstaute sie in den Satteltaschen des Motorrades. Dann schob er es den Hang hinauf und ein gutes Stück in den Wald hinein, wo er es mit Farn und Ästen abdeckte. Auf dem Rückweg zum Haus verteilte er Erde und Gras mit den Fü-

ßen, um seine Spuren zu verwischen. Er zog sich Handschuhe über und lud die Leiche in den Wagen. Falls die Polizei das Haus entdeckte, hatte er trotzdem alles, was er brauchte, in Sicherheit; falls nicht, konnte er zurückkommen und die Bude gründlich sauber machen.

Die Fahrt zum See verlief ohne Zwischenfälle. Er kam an einer Familie beim Picknick vorbei, aber die Eltern waren durch einen Streit abgelenkt und nahmen keine Notiz von ihm. Er fuhr zu einer einsamen Stelle, wo das Ufer ziemlich steil ins 468

Wasser abfiel. Weit draußen am Horizont waren Windsurfer zu sehen, aber keiner in der Nähe. Nach einem letzten prüfenden Rundumblick setzte er den Wagen so weit zurück, wie es die Vorsicht erlaubte, und zerrte die Leiche ins Wasser.

Er hatte vergessen, Anglerstiefel mitzunehmen, daher war er schon bis zur Hüfte nass, bevor er das Paket losließ. Luftblasen drangen aus der Plane, als die Leiche unterging. Er wartete eine Weile ab, um sicherzugehen, dass sie nicht wieder hochkam, dann ging er zurück zum Auto und fuhr davon. Die Familie war noch immer da, als er an der Stelle vorbeikam. Keiner von ihnen blickte auf.

Das Funkgerät im Wagen krächzte und knisterte und machte ihn nervös. Er hatte vergessen, dass es ein Polizeiauto war, und er beschloss, den nächstbesten Parkplatz anzus-teuern. Er bekam ohnehin langsam Beklemmungen. Das Adrenalin hatte ihm bei der Entsorgung der Leiche und während der ersten Meilen Richtung Telford geholfen, doch jetzt fing er wieder an zu zittern. Das passierte ihm immer. Auf dem Motorrad, wo er nicht eingeschlossen war, fühlte er sich wohl. In einem Auto war das was anderes. Er brachte es nicht fertig, den Sicherheitsgurt anzulegen, deshalb hatte er ihn nur lose über die Schulter drapiert, aber auch so überkam ihn mit dem Zuknallen der Tür das klaustrophobische Gefühl, lebendig begraben zu sein.

Autos waren gefährlich. Menschen starben in Autos, eingeschlossen von lodernden Flammenwänden aus Benzin, zer-quetscht unter Sattelschleppern, ertränkt in dreckigem Wasser. Er war in Schweiß gebadet, als er die Tür abschloss und zu Fuß das letzte Stück des Weges machte. Der stete Rhythmus seiner Schritte, das Gefühl, wie seine Muskeln sich ans-pannten und entspannten, beruhigte ihn allmählich. Nach einhundert abgezählten Schritten blieb er stehen, um sich zu 469

orientieren. Die Straßenführung wurde ja andauernd geändert, aber eine Kreuzung weiter vorn kam ihm bekannt vor.

Er zog die Handschuhe aus, die an einem schwülen Tag ohnehin auffällig waren, und holte die Wanderkarte aus ihrer wasserdichten Hülle.

Er war zwar sicher, dass keiner der Autofahrer auf ihn achtete, aber als einziger Fußgänger auf der Landstraße kam er sich auffällig vor und beschloss, querfeldein zu gehen. Mit dem Auto hatte er verlorene Zeit gutgemacht, deshalb konnte er es sich leisten, das letzte Stück zu Fuß zu gehen.

Eine Viertelmeile weiter ging ein Reitweg ab, der bald darauf zum Fußpfad wurde. Er führte zunächst zwischen Schrebergärten hindurch und an einer Gärtnerei vorbei, die kaum noch Freilandpflanzen hatte, und verlief dann wieder durch die freie Natur. Smith kam durch kleine Baumbestände und blieb an dem Gatter eines Zauns stehen, an den er sich noch aus seiner Kindheit erinnerte.

Ein Hüsteln hinter ihm ließ ihn zusammenfahren. Ein älteres Ehepaar ging mit dem Hund spazieren, und er versperrte ihnen den Weg. Wie lange hatte er so dagestanden, mit den Gedanken in der Vergangenheit? Er streichelte den Hund, lächelte die beiden an, und die Lachfältchen um seine Augen wirkten so sympathisch, dass sie sein Lächeln erwider-ten. Es machte ihm Spaß, den Menschen ein Lächeln zu entlocken. Wenn die beiden hier wüssten, was er getan hatte und was er ihnen jetzt in diesem Moment antun könnte, sie würden wahrscheinlich einem Herzinfarkt erliegen, bevor er sie überhaupt gepackt hätte. Bei der Vorstellung lachte er leise vor sich hin, und das Ehepaar drehte sich noch einmal um. Der Alte tippte sich an die Mütze und ging weiter. Er ließ ihnen ein wenig Vorsprung und trottete dann hinterdrein.

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Das Ehepaar blieb vor ihm auf dem Pfad und zwang ihn zu einem langsameren Tempo. Von Zeit zu Zeit hielt er inne und konsultierte seine Landkarte. Mit der Mütze, dem Rucksack und seinen verdreckten Schuhen sah er aus wie ein ganz normaler Wanderer. Endlich bogen die beiden ab, und er kam wieder schneller voran. Erinnerungen an jugendliche Erkundungen, an das Beobachten, Auskundschaften und schließlich Berühren übermannten ihn, und er fiel in den lockeren Trab, den er den ganzen Tag durchhalten konnte.

Zu Fuß fühlte er sich ungeheuer stark, und er war imstande, länger und schneller zu laufen als die meisten. Außerdem kannte er die Gegend wie seine Westentasche. Sogar die Luft hatte einen vertrauten Geruch: Erde, schwache Spuren von Autoabgasen, und hin und wieder wehte ein Hauch von der städtischen Müllhalde herüber, wenn der Wind die Richtung wechselte. Er war fast da. Telford zeichnete sich grau am Horizont ab. Seit er fortgegangen war, um in Birmingham zu arbeiten, hatte die Stadt sich unregelmäßig ausgebreitet. Er würde sein Ziel schneller erreichen, als er gedacht hatte.

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Kapitel achtundzwanzig

»Schätzchen?«

In der Stimme ihrer Mutter lag diese Mischung aus Sorge und Kummer, an die sie sich seit ihrem »Unfall«, wie die Eltern es nannten, gewöhnt hatte. Ginny biss die Zähne zusammen und drehte sich im Bett um.

»Schatz?«

Jetzt klopfte sie an die Tür. Ginny vergrub sich noch tiefer und reagierte nicht. Die Tür öffnete sich mit quietschenden Angeln, ein Geräusch, das so alt war wie Ginny selbst und das sie früher mit Trost und Geborgenheit verbunden hatte, das jedoch später, seit ihr Alter zweistellig geworden war, Stö-

rung und unerwünschte Einmischungen bedeutete.

Sie spürte, wie ihre Mutter beim Blick ins Zimmer erstarrte. Überall lagen Klamotten herum, die Vorhänge sperrten das Tageslicht aus, der Boden war mit altem Spielzeug übersät, seit sie es in ihrem letzten Anfall durch die Gegend ge-pfeffert hatte. Einen Moment lang herrschte Schweigen. Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter versuchte, nicht aus der Haut zu fahren, und lächelte bitter. Gut so.

»Ach Schätzchen, war’s wieder so schlimm?« Die Sorge in der Stimme ihrer Mutter trieb ihr Tränen in die Augen. Sie kam sich vor wie eine Fünfjährige.

Ein Knarren, die Bodendiele am Fußende des Bettes, dann noch eins, und das Gewicht ihrer Mutter drückte die Seite der Matratze hinunter, als sie sich auf die Bettkante setzte.

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Eine Hand legte sich oben auf ihren Kopf und streichelte ihn.

Ginny spürte die nächsten Tränen des Tages über die rechte Wange und aufs Kissen laufen.

»Möchtest du was essen, Herzchen? Es ist schon fast halb zwei.«

Ginny schüttelte den Kopf. Sie hatte seit gestern nichts gegessen, und ihr tat der Magen vor Hunger weh, aber schon bei dem Gedanken an Essen wurde ihr übel. Sie hasste ihren Körper mit seinen Rundungen und Wölbungen, die diesen Mann zu ihr hingezogen hatten. Mit jedem Tag, der verging, wurden sie weniger und flacher, sah sie mehr aus wie ein Junge. Irgendwann, wenn sie so hässlich war, dass keiner mehr Notiz von ihr nahm, würde sie sich hoffentlich wieder sicher fühlen.

»Wie wär’s denn mit einer Tasse Kaffee? Ich tu auch nicht zu viel Milch rein und kein bisschen Zucker, versprochen.«

Ihre Mutter wusste, wie sie sich fühlte, ohne dass sie es er-klären musste. Deshalb konnte Ginny ihre Anwesenheit auch noch ertragen. Mit allen anderen dagegen hielt sie es fast nicht mehr in einem Zimmer aus, mit ihnen zu reden war erst recht nicht mehr drin. Sogar ihr Vater, der sie, wie sie wusste, über alles liebte, brachte sie zum Frösteln. Er war ein Mann – sie ertrug die Nähe von Männern nicht, mit ihrem Tiergeruch und den dicken Händen. Ihr armer Dad. Sie schluchzte auf, und ihre Mutter zog sie vom Bett hoch und nahm sie in die Arme.

»Komm her, mein Kleines. Ist ja gut. Schsch, alles wird wieder gut, das braucht seine Zeit.«

»Ich halte es nicht mehr aus, Mum. Ich halte es einfach nicht mehr aus.« Ginny kämpfte mit den Worten. Sie hatte nicht sprechen wollen, aber jetzt, wo ihre Mutter so nah war, konnte sie einfach nicht schweigen. »Ich träume jede Nacht 473

von ihm. Er kommt mich holen, ich weiß es. Ich kann es spüren, dass er da draußen ist und an mich denkt.«

Es war jeden Tag dasselbe. Seit dem Überfall war diese Überzeugung in ihr immer stärker geworden. Sie wusste, dass er sie zum Schweigen bringen wollte.

»Ginny, gestern Abend hab ich mit deinem Dad darüber gesprochen, und er hat die Polizei angerufen. Sie sagen, er wird nicht zurückkommen, aber sie haben trotzdem einen Wagen draußen postiert und fahren verstärkt in der Gegend Streife. Am Samstag geht’s in den Urlaub, nur wir drei. Tante May kümmert sich um deine Geschwister. Und wenn wir zurückkommen, haben sie ihn bestimmt schon erwischt.«

Ginny schüttelte den Kopf.

»Er ist schlau, Mum, richtig schlau. Cleverer als die Polizei. Ich bin nicht die Erste, weißt du!« Ihre Stimme wurde schrill, hob sich auf einer Welle der Hysterie.

»Genug jetzt, Ginny. Beruhige dich. Komm, ich lass dir ein schönes, heißes Bad ein – wenn du willst, kannst du was von meinem Schaumbad Chanel Nr. 5 reintun, und hinterher föhne ich dir die Haare.«

Ginny schnüffelte an der Bettwäsche. Alles roch muffig, wie ihre Haut. Seit dem Krankenhaus hatte sie nicht mehr geduscht, sie stank, das merkte sie sogar selbst, trotzdem hielt ihre Mum sie so fest gedrückt, als duftete sie nach Rosen.

Ginny atmete tief durch. Mum hatte Recht. Sie sollte aufstehen und sich diesen Angstschweiß abspülen. Vielleicht würde sie sich dann wieder etwas mehr wie ein Mensch fühlen.

Während ihre Mum das Badewasser einlaufen ließ, suchte Ginny ein frisches weißes T-Shirt und eine khakifarbene Jeans heraus. Als sie die Vorhänge aufzog und den Nieselregen sah, nahm sie noch einen dünnen Pullover und ging mit den Sachen ins Bad. Es war dampfend und warm. Der Duft 474

ihres Lieblingsparfüms entlockte ihr fast ein Lächeln. Auf den Toilettenschrank hatte Mum ihr Puder und Bodylotion mit derselben Duftnote hingestellt, obwohl sie beides seit Weihnachten wie ihren Augapfel hütete und nur zu besonderen Gelegenheiten verwendete. Ginny merkte, wie ihr erneut die Tränen kamen, und blinzelte sie weg.

Sie warf ihr schmutziges Nachthemd in den Wäschekorb und stieg in die Wanne, ließ sich behutsam ins Wasser sinken, sodass die dicke Schaumschicht unter dem Verband an ihrer Schulter blieb. Die tieferen Bisse brannten, aber trotzdem fühlte sich das Wasser herrlich auf der Haut an, seidig und wohltuend. Sie sank noch etwas tiefer, bis der Verband den Schaum berührte.

Lange Zeit blieb sie einfach so liegen, während Wasser und Öle sich in die Haut arbeiteten, die Poren öffneten und reinigten. Als das Wasser langsam abkühlte, schrubbte sie sich gründlich um die Verletzungen herum, bis ihre Haut rosa war. Anschließend wusch sie sich mit großen Schwierigkeiten die Haare, shampoonierte sie zweimal ein und massierte sich einen Pflegebalsam ein, den sie tatsächlich ganze zehn Minuten einwirken ließ.

Sie fühlte sich wie neu geboren, als sie aus der Wanne stieg und zusah, wie das schaumige Wasser abfloss und einen schmierigen, grauen Film auf dem Email hinterließ, wofür sie sich richtig schämte. Überrascht stellte Ginny fest, dass sie sich besser fühlte als seit Tagen. Ihre Erkältung war verschwunden, und der Nachgeschmack ihres letzen Albtraums verflüchtigte sich. Ihre Mutter, die Gedankenleserin, klopfte an die Tür.

Ginny wickelte sich rasch ein Badetuch um und öffnete.

»Hier ist dein Kaffee. Hunger?«

Ginny merkte, dass sie tatsächlich Appetit hatte, auch das zum ersten Mal seit Tagen. Sie nickte.

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»Weißt du, worauf ich wirklich Lust hätte?«

Ihre Mutter lächelte. »Nein, worauf denn?«

»Rührei mit Toast und Schinken.«

Ihre Mutter machte ein langes Gesicht. »Mit Toast könnte ich dienen, aber gestern Abend hat dein Dad die letzten Eier mit Schinken gegessen.«

»Ist nicht schlimm.« Aber es war schlimm, Ginny fühlte sich betrogen.

»Sieh mich nicht so an, Schatz. Weißt du was, ich laufe rasch rüber zum Laden an der Ecke, während du dich an-ziehst.«

Ginny spürte ein angstvolles Ziehen im Bauch. Das hieß, sie wäre allein im Haus. Sie ermahnte sich selbst, nicht so albern zu sein. Ihre Mutter wäre ja nur ein paar Minuten weg.

»Es macht dir auch nichts aus?«

»Überhaupt nicht. Ich bin gleich wieder da, dann föhne ich dir die Haare und mache uns beiden ein verspätetes Mittagessen.«

Ginny hörte, wie ihre Mutter Schlüssel und Handtasche nahm und die Haustür fest hinter sich zuzog. Es war nur ein kleines Haus, und sie kannte alle seine Geräusche von Kindheit an. Sie löste das Badetuch und fing an, sich sparsam mit der Bodylotion einzucremen, schließlich war es die Lieblings-lotion ihrer Mutter.

Ein lautes Klicken ließ sie zusammenfahren. Sie lauschte absolut reglos, wie erstarrt, mit der Lotionflasche in der linken Hand. Das Haus war ruhig, die einzigen Geräusche waren das Brummen des Kühlschranks aus der Küche und das Ticken des Durchlauferhitzers. Vielleicht war das das Ge-räusch gewesen, das sie so erschreckt hatte, aber es hatte sich anders angehört, genauso, als würde die Hintertür zugezogen.

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Sie atmete langsam aus und stellte die Lotion weg, alle Freude am Luxus war dahin. Sie wurde sich ihrer Nacktheit unangenehm bewusst. Ihre Unterwäsche war noch immer im Schrank, aber sie zog sich trotzdem die Jeans an, lauschte dabei angestrengt auf das leiseste Geräusch. Alles ruhig. Sie zog den Reißverschluss langsam zu, fast lautlos. Ihr T-Shirt kam als Nächstes. Sie streifte es sich über den Kopf, fand es unerträglich, die Ohren auch nur eine Sekunde lang bedeckt zu haben, hielt dann wieder die Luft an und lauschte. Nichts.

Ihre Mum hatte die Badezimmertür nur angelehnt. Ginny schlich hin und legte die Finger auf die Klinke. Sie zog die Tür ein paar Zentimeter auf und spähte hinaus. Plötzlich hör-te sie die unterste Stufe der Treppe knarren, absolut unverkennbar. Da war jemand! Ihr Mund wurde trocken. Ohne die Augen von der Treppe vor ihr zu nehmen, tastete sie nach dem Türriegel und schloss die Finger darum, damit sie ihn sofort vorschieben konnte, wenn sie die Tür zuknallen musste. Wer auch immer auf der Treppe war, er war offenbar stehen geblieben, denn sonst hätte sie jetzt schon den Kopf sehen müssen. Sekunden verstrichen, es kam ihr vor wie Minuten.

Und plötzlich war er da, entsetzlich, sprang die letzten drei Stufen auf sie zu, ein Messer in der Hand. Sie schrie auf und knallte die Tür zu, riss dabei noch reflexartig den Gürtel vom Bademantel ihres Vaters zurück, der fast eingeklemmt worden wäre. Er warf sich mit voller Wucht gegen die Tür, genau in dem Moment, als der Riegel einrastete, und rüttelte an der Klinke, versuchte vergeblich, sich Einlass zu verschaffen. Er brüllte etwas, abscheuliche, obszöne Beschimpfungen, die ihren Kopf füllten und sie in Panik versetzten.

Ginny schrie erneut. Wie lange würde der Riegel halten?

Es war bloß ein kleines Aluminiumteil, das nur noch von 477

zwei Schrauben gehalten wurde. Die fehlenden waren auch im Laufe der Jahre nicht ersetzt worden, weil der Riegel nur zum Schutz der Intimsphäre da gewesen war, nicht des Lebens. Bis jetzt.

Er warf sich immer und immer wieder gegen die Tür. Das Holz ächzte unter den wuchtigen Angriffen, und Ginny schrie noch lauter. Sie sah sich um, verrückt vor Angst. Das Fenster über dem Waschbecken ließ sich nur kippen. Sie riss die Gardine beiseite und suchte nach irgendetwas, um die Scheibe einzuschlagen. Eine mit duftenden Trockenblumen gefüllte Marmorente stand auf der Fensterbank. Ginny packte sie und schleuderte sie mit aller Kraft gegen die Scheibe, während die Tür hinter ihr bedrohlich knarrte.

Das Glas zersplitterte, und Scherben flogen durch den kleinen Raum. Mit ihren nackten Füßen trat sie auf eine, spürte aber keinen Schmerz. Sie nahm das Badetuch und fegte die restlichen Scherben von der Fensterbank, wickelte es dann um eine Hand und schlug die noch festen Scherben aus dem Rahmen. Sie weinte jetzt, schluchzte und wimmerte vor sich hin, als sie auf das Waschbecken stieg, eine Spur hellrotes Blut auf dem weißen Email hinterließ und laut um Hilfe schrie. Die Straße vor dem Haus war verlassen. Der beruhi-gende Streifenwagen, der den ganzen Tag da draußen gestanden hatte, war verschwunden, und die Bürgersteige waren menschenleer. Ein lautes Klacken ertönte von der Tür hinter ihr und der Riegel flog davon.

Er packte sie, als sie gerade ein Bein über das Fensterbrett geschwungen hatte.

»Hilfe! Hilfe, bitte Hilfe!«, schrie sie in die leere Luft. Seine Hände schlossen sich um ihren Knöchel, und sie trat so fest sie konnte nach ihm, kämpfte um ihr Leben.

»Nein!« Ginny klammerte sich an den Fensterrahmen, 478

spürte nicht, wie die scharfen Glaskanten ihr in die Handflä-

chen schnitten.

Ein Lieferwagen bog um die Straßenecke, während sie sich noch festhielt. Sie wollte ihn durch Willenskraft zum Anhalten zwingen, achtete nicht auf den bohrenden Schmerz, der in ihrem Rücken und entlang der Oberschenkel eingesetzt hatte. Er schlug jetzt auf sie ein, fester und fester.

»Hilfe! Mummy, hilf mir!«

Der Lieferwagen fuhr vorbei, und sie konnte sich nicht mehr halten, ihre blutigen Finger rutschten über die glatte Keramikfläche. Sie fiel zurück ins Zimmer. Da war überall Blut. Es musste ihr gehören. Er hatte sie nicht geschlagen. Er hatte sie in den Rücken gestochen. Panik schüttelte sie, und sie wehrte sich, trat wieder nach ihm, so hart sie konnte, obwohl ihre Beine schwächer wurden.

Sie fühlte sich benommen. Ihre Schreie schienen aus weiter Ferne zu kommen. Er war jetzt über ihr, versuchte, ihre Jeans zu öffnen. Sie wand sich, aber sein Gewicht drückte sie nieder. Er würde sie nicht bekommen. Wenn sie starb, und mit einer unheimlichen Klarheit wurde ihr bewusst, dass sie sterben würde, dann nicht, nachdem ihr dieses Tier noch einmal Gewalt angetan hatte.

Der Hass verlieh ihr neue Kraft, und sie konnte plötzlich wieder denken. Glasscherben von der zersplitterten Fensterscheibe lagen auf dem Boden herum. Sie bekam eine zu fassen und hielt sie fest. Ihr Arm fühlte sich unglaublich schwer an, als sie mit der Scherbe nach seinem ungeschützten Hals stach, während er gerade nach unten sah, um seine Finger in ihre Jeans zu schieben.

Es war ein jämmerlich schwacher Hieb, aber er riss ihm eine lange, klaffende Wunde in die Wange. Er schrie auf und fluchte. Eine Hand fuhr hoch zu seinem Gesicht, und Ginny 479

sah, dass sich seine Augen beim Anblick seines eigenen Blutes entsetzt weiteten. Sie stieß erneut zu, und ein triumphierendes Lachen stieg gurgelnd aus ihrem Mund, trieb ihn zur Ra-serei.

Sie spürte, wie sich seine Hände um ihren Hals schlossen, als sie mit letzter Kraft ein weiteres Mal zustieß. Der gläserne Dolch schnitt tief in seinen ungeschützten Hals, dann fiel ihr Arm herab. Das Letzte, was sie hörte, bevor das dunkle Flü-

gelschlagen in ihrem Kopf alle anderen Geräusche ertränkte, war sein langer, gequälter Aufschrei, und sie lächelte.

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TEIL VIER

Wenn eine Frau nicht fähig ist, zum Schutze des Mannes, den sie liebt, eine gute Lüge zu erfinden, hat sie die Bezeichnung Ehefrau nicht verdient.

Elbert Hubbard

Rachsucht erfüllt mein Herz, Tod meine Faust, Blut und Verderben toben mir im Haupt.

William Shakespeare

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Kapitel neunundzwanzig

»Weiß sie denn, dass wir kommen?« Fenwick fühlte sich eigenartig. Trotz der Hitze fröstelte ihn; vielleicht bekam er eine Erkältung.

»Ja. Ich habe klipp und klar drei Uhr gesagt.« MacIntyre blickte Fenwick finster an und bereute schon, dass er dem Commander versprochen hatte, wegen des Drucks vom Innenministerium Profilerin Ball persönlich aufzusuchen.

Sie traf um fünf Minuten nach drei ein und überging den ärgerlichen Blick des Superintendent mit einem Lächeln. In ihrem Büro vergaß MacIntyre alle Diplomatie und fragte sie eindringlich, für wie wahrscheinlich sie es hielt, dass Täter A und B sich persönlich kannten.

»Ich halte es für möglich, Superintendent, wie auch schon in meinem Bericht erwähnt, aber mit Sicherheit lässt sich das nicht sagen. Es könnte ein Zufall sein, dass zwei Täter ihren Opfern einen Finger abschneiden, dass sie exakt denselben Frauentyp wählen – Aussehen, Alter, Körperbau –, und in denselben Städten Frauen überfallen. Aber ich glaube eher nicht an einen Zufall.«

MacIntyre sah eindeutig verärgert aus. Fenwick wusste nicht, ob er sich über Professor Balls Meinung freuen oder verstimmt sein sollte, weil MacIntyre noch immer so skeptisch war.

»Ich hätte da ein paar neuere Informationen für Sie.«

Er erzählte Ball, was er über Griffiths’ Kindheit und seine 482

Zeit in Heimen herausgefunden hatte, von seinen Pflegeeltern, den Smiths, die irgendwann spurlos verschwunden waren, und er erwähnte das von Robyn entdeckte Verbrechens-muster aus der Schulzeit von Griffiths und David Smith junior. MacIntyre hörte auf, hin und her zu tigern, und fing an, sich Notizen zu machen.

»Faszinierend! Das lässt auf eine starke Bindung zwischen den Jugendlichen schließen, noch verstärkt durch diese kleineren Delikte. Erzählen Sie mir mehr über die Kusine, Wendy Smith.«

»Mehr weiß ich nicht, Professor Ball. Meine Theorie ist, dass sie von Smith junior vergewaltigt wurde oder so eingeschüchtert und psychisch abhängig war, dass sie sich vermeintlich freiwillig darauf eingelassen hat. Ich denke, es ist passiert, als sie noch minderjährig war, und ihr Vater ist dahinter gekommen. Frederick Smith ist ein Verlierertyp, dem durchaus zuzutrauen wäre, dass er seinen Bruder erpresst hat.

Das würde die regelmäßigen Barabhebungen erklären. Als die Lehrerin Wallace Smith senior das Verhalten seines Sohnes schilderte, hat er gesagt, etwas Ähnliches sei schon mal vorgekommen.«

»Und wo ist Wendy jetzt?«

»Wir suchen noch nach ihr.«

»Seien Sie vorsichtig. Möglicherweise ist sie noch immer mit ihm zusammen.«

»Könnte B denn überhaupt eine dauerhafte Beziehung führen? Ich meine, falls er ein Serienvergewaltiger und Mörder ist, müsste doch eine eventuelle Partnerin längst Verdacht geschöpft und ihn verlassen haben.« MacIntyre schien nicht gewillt, seine Skepsis hinsichtlich der Identität von Täter B

aufzugeben.

»Leider Gottes ergibt sich das eine nicht automatisch aus 483

dem anderen. Ich könnte Ihnen ein Dutzend der schlimmsten Sexualmörder aufzählen, die eine Ehefrau oder feste Freundin hatten. Das ist nicht ungewöhnlich, vor allem nicht bei jemandem, der so überzeugend und charmant auftritt wie Täter B. Man sieht nur, was man auch sehen will, Gentlemen.«

Fenwick schüttelte angewidert den Kopf.

»Und Griffiths? Hatten die ein Dreiecksverhältnis?«

»Wohl kaum. Täter B, also Smith in Ihrer Theorie, ist das dominante Element der Gruppe. Vielleicht hat er Wendy gelegentlich Griffiths überlassen, gewissermaßen zur Belohnung, aber eine Beziehung dürften die beiden nicht geführt haben.«

»Wir müssen los.« MacIntyre drängte plötzlich zum Auf-bruch.

»Noch eine Frage.« Fenwick sah Professor Ball an, während MacIntyre wieder anfing, auf und ab zu gehen.

»Täter B hat bei den letzten beiden Überfällen versagt. Ein Opfer hat überlebt, weil er es zum Ertrinken in einer Höhle am Meer zurückließ und die Flut wider Erwarten nicht hoch genug stieg. Das zweite – und ich bin mir darüber im Klaren, dass nur ich denke, B ist der Täter – wurde von einem Taxifahrer gerettet, der seinen Mut mit dem Leben bezahlt hat.

Was geht jetzt in B vor? Und wieso macht er diese Fehler?«

»Betrachten wir zunächst die zweite Frage, und nehmen wir mal an, dass Ihre Theorie korrekt ist. Aufgrund von Motiven, die Sie besser einschätzen können als ich, greift er im Freien an, was ihn zu einer Vorgehensweise zwingt, die für ihn ungewohnt ist. Das ist einer der Gründe, warum er Fehler macht. Trotzdem wächst sein Selbstbewusstsein. Es war tollkühn, den Taxifahrer zu töten, anstatt sofort die Flucht zu ergreifen. Falls wir es hier wirklich mit einem einzigen Täter zu tun haben, dann hat er innerhalb der letzten zehn Wochen 484

drei Menschen getötet, und es bei zwei weiteren versucht.

Das ist extrem aktiv, selbst für einen Serienmörder. Falls es sich um einen Einzeltäter handelt, dann wird der Abstand zwischen den Verbrechen immer kürzer. Und seine Risiko-bereitschaft wächst. Möglicherweise hält er sich inzwischen sogar für unbesiegbar.«

»Wäre es vorstellbar, und ich weiß, das hört sich verrückt an, das hat man mir schon deutlich zu verstehen gegeben, aber könnte er zurückkommen, um eines der Mädchen zu töten, beispielsweise sein letztes Opfer?«

Langes Schweigen trat ein, ehe Professor Ball antwortete.

»Das wäre sehr dumm, und ich denke, Täter B ist überdurchschnittlich intelligent, obwohl er beruflich keine großen Leistungen erbracht hat. Aber … er wird wütend sein. Er wird nicht hinnehmen können, dass er versagt hat … und er hat ganz sicher genügend Selbstbewusstsein, es zu versuchen.«

»Also? Wäre es möglich?«

»Ja, es ist nicht auszuschließen, aber ein solcher Fall ist mir noch nie zu Ohren gekommen. Wann wurde das Mädchen überfallen?«

»Vor über einer Woche. Die ersten fünf Tage hat sie im Krankenhaus verbracht. Jetzt ist sie wieder zu Hause.«

»Er hat sich Zeit gelassen. Für obsessiv halte ich ihn eigentlich nicht …« Sie stockte, sagte dann unschlüssig: »Es sei denn, er muss sich selbst etwas beweisen – sein Versagen lässt ihm vielleicht keine Ruhe. Es tut mir Leid, etwas Eindeutigeres kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Dann verabschieden wir uns jetzt besser. Professor Ball, Ihre Erkenntnisse waren wie immer äußerst hilfreich.«

»Könnte ich Sie noch kurz unter vier Augen sprechen, Superintendent?«

Fenwick wartete auf dem Flur und kam sich vor wie ein 485

unartiger Schuljunge. Durch die geschlossene Tür konnte er Stimmengemurmel hören, und ab und an verstand er seinen eigenen Namen. Auf der Rückfahrt ins Büro war MacIntyre schweigsam, aber er gab sich einen Ruck, als sie aus dem Wagen stiegen.

»Alles in Ordnung, Andrew? Sie sehen blass aus.«

»Mir geht’s gut. Ich mache mir nur Sorgen um Ginny.

Wenn das mein Fall wäre …«

»Es ist aber nicht Ihr Fall, und wenn Sie’s genau wissen wollen, ich hätte genauso reagiert wie Cave. In ein paar Minuten kann nichts passieren.« MacIntyre schlug ihm auf den Rücken und sagte, er solle den Kopf nicht so hängen lassen. »Zu Ihrer Beruhigung werde ich Cave noch mal anrufen und mich nach dem Stand der Dinge erkundigen.« Er lachte, als sie sein Büro betraten, hörte aber abrupt auf, als er auf seinem Schreibtisch die dringende Nachricht sah, in Telford anzurufen.

Die Männer starrten einander an, und eine unausgesprochene Angst breitete sich zwischen ihnen aus. Fenwick schaltete sein Handy ein, hoffte verzweifelt, dass er keine Nachrichten bekommen hatte, aber er wurde enttäuscht. Er ging zum Fenster, um einen besseren Empfang zu haben, und sah zu, wie MacIntyre die Nummer wählte. Fenwick lehnte sich gegen die kühle Scheibe und rief seine Mailbox an.

»Chief Inspector, hier ist Cave. Er ist zurückgekommen.

Ich brauche Sie hier, sofort.«

Fenwick stieg Gallegeschmack in die Kehle. Er hörte, wie MacIntyre hinter ihm mit Cave sprach. Er war nicht in der Lage, sich umzudrehen, um den Gesichtsausdruck des Superintendent zu beobachten. Cave hatte nur gesagt, dass er zu-rückgekommen war, er hatte nicht gesagt, dass Ginny tot war. Vielleicht lebte sie noch, doch das Grauen in seinem Herzen sagte etwas anderes.

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»Verstehe. Wir fahren sofort los. Wenn wir in der Nähe sind, rufe ich nochmal an wegen der Wegbeschreibung.« MacIntyre legte den Hörer auf und räusperte sich.

Fenwick wischte sich durchs Gesicht und merkte, das ihm kalter Schweiß auf der Stirn stand.

»Es tut mir Leid, Andrew. Ginny ist tot. Sie wurde heute Nachmittag im Badezimmer ihres Elternhauses niedergesto-chen und erwürgt.«

Er spürte, dass er sich übergeben musste, und rannte zur Toilette, schaffte es gerade noch bis zum Waschbecken. Sein Magen rebellierte, und er erbrach sich, dann noch einmal. Er drehte den Wasserhahn auf und machte das Becken mit einem Papierhandtuch sauber, dann wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Die Tür hinter ihm ging auf, aber er hielt den Kopf gesenkt.

»Geht’s wieder?«

Er nickte. MacIntyre ging an ihm vorbei, urinierte, betä-

tigte die Spülung und wusch sich die Hände. Als er fertig war, stierte Fenwick noch immer ins Waschbecken.

»Wir müssen hinfahren. Die brauchen uns.«

»Fahren Sie allein. Ich kann nicht. Wie soll ich denen ins Gesicht sehen? Es ist alles meine Schuld.«

»Seien Sie nicht albern, verdammt noch mal! Wissen Sie, wie lächerlich und arrogant das ist? Sie haben Ihr Bestes getan. Sie haben Cave gewarnt, mehrmals. Es ist nicht Ihre Schuld.«

»Ich hab gewusst, dass er wiederkommen würde. Ich hätte in Telford bleiben sollen.« Fenwick richtete sich auf und verzog das Gesicht, weil er stechende Schmerzen im Bauch hatte.

»Unsinn. Was hätten Sie denn tun können?«

Zorn stieg in ihm auf, eine beißende, brennende Wut.

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»Ich hätte sie retten können«, schrie er, und sein Speichel flog MacIntyre ins Gesicht. »Ich hätte Tag und Nacht vor dem verdammten Haus hocken können, bis das Dreckschwein aufgegeben hätte und abgehauen wäre.«

Am liebsten hätte er MacIntyre geschlagen. Der Mann hatte ihn mit seinem hämischen Beharren darauf, dass er nur seine Zeit vertat, zurück nach London geholt, aber er hielt sich zurück. So einfach konnte er die Verantwortung nicht abwälzen. Es war seine Schuld. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da wäre er seinem Instinkt gefolgt, ganz gleich, um welchen Preis. Er war zu sehr auf seine beschissene kleine Karriere bedacht, das war das Problem, zu beschäftigt damit, einen guten Eindruck zu machen, anstatt Mörder zu jagen. Er hatte sich verführen lassen und dabei vergessen, was die eigentliche Aufgabe jedes Polizisten war.

»Himmelherrgott.« Angeekelt von sich selbst wandte er MacIntyre den Rücken zu, zog noch ein Handtuch heraus und wischte sich das Gesicht trocken.

»Und wo hätten Sie gehockt?«

»Im Auto.«

»Also vor dem Haus. Er ist durch die Hintertür gekommen, Fenwick. Sie war innerhalb von Minuten tot. Ihre Mutter war rasch etwas einkaufen, und kurz darauf hatte der Polizist im Streifenwagen ein dringendes menschliches Be-dürfnis und musste kurz weg. Er schwört, es hat keine fünf Minuten gedauert. Als sie zurückkamen, war Ginny tot.«

»Ich hätte sie retten können.« Die mögliche Wahrheit dieser Aussage fraß sich wie Säure in ihn hinein.

»Es war nicht Ihr Fall, nicht Ihr Bezirk. Sie waren in einer ganz anderen Sache da oben. Ein äußerst erfahrener Chief Inspector der dortigen Polizei hatte die Leitung in dem Fall.

Falls irgendjemand die Schuld trägt, dann jedenfalls nicht Sie.

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Haben Sie mich verstanden?« Er riss Fenwick herum und schüttelte ihn.

»Ich muss mich noch mal übergeben. Würden Sie bitte rausgehen?«

Und er übergab sich, heftig. Schließlich, als er völlig leer und benommen war, rückte er seine Krawatte zurecht und ging zurück in MacIntyres Büro.

»Ich hab’s mir anders überlegt. Ich komme mit Ihnen. Ich muss es sehen, muss dabei sein.«

»Seien Sie nicht so verdammt masochistisch. Sie kommen mit, weil Sie mir helfen werden, diesen Schweinehund zu fangen, bevor er noch jemanden umbringen kann. Brauchen Sie irgendwas?«

»Ich habe meine Reisetasche im Büro. Und ich nehme meine Akten mit.«

»Wir treffen uns in fünf Minuten auf dem Parkplatz.«

MacIntyre hatte einen Fahrer angefordert, und Fenwick war froh darüber. Er wäre wohl kaum in der Lage gewesen zu fahren. Den größten Teil der Fahrt schwiegen sie. Es herrschte wenig Verkehr, und das kreiselnde Blaulicht verschaffte ihnen freie Bahn.

Fenwick bat den Fahrer, an der ersten Raststätte zu halten, und kaufte einen Isodrink, einen Schokoriegel und zwei Becher Kaffee.

»Für Sie keinen Kaffee?«

»Mein Magen würde den nicht vertragen. Ich brauche jetzt Zucker und Mineralstoffe.«

MacIntyre betrachtete ihn nachdenklich.

»Was ist?«

»Sie haben gewusst, dass das passieren könnte. Wieso?«

»Haben Sie es denn nicht für möglich gehalten?«

»Nein – selbst Ball nicht. Ich hab mit Cave gesprochen. Er 489

hat mir genau erklärt, warum er sich für diese Schutzmaß-

nahmen entschieden hat, und …«

»Vielleicht übt er schon mal seinen Text.« Die Bitterkeit, die Fenwick empfand, verlieh seinem Mund einen angewi-derten Zug.

»Bestimmt, aber die Sache ist die, andere Kollegen hätten sich genauso entschieden.«

»Obwohl Ginny Zeugin eines Mordes war?«

»Sie war bewusstlos, so unter Drogen gesetzt, dass sie nichts von alledem mitbekommen hatte. Und er hat sich keine Sorgen darum gemacht, ob ihn jemand wieder erkennen könnte. Der Kellner in dem italienischen Restaurant hat ihn gesehen. Und auch der Taxifahrer wäre ein Zeuge gewesen, wenn er nicht kehrtgemacht hätte, was ganz ungewöhnlich war. Diesen Mann kümmert es nicht, ob er gesehen wird.«

»Wie auch immer. Sie ist tot. Erst achtzehn Jahre, und er hat sie abgeschlachtet. Das hätte einfach nicht passieren dürfen.«

»Woher wissen Sie, dass er sie abgeschlachtet hat?« MacIntyre musterte ihn so streng, dass Fenwick wieder etwas zur Besinnung kam. Er wollte an diesem Fall dranbleiben, dieses Dreckschwein erwischen, Ginny rächen und Nightingale schützen. Er musste einen klaren Kopf behalten.

»Das haben Sie nach Caves Anruf gesagt.«

»Ich habe nicht beschrieben, wie sie gestorben ist, aber Sie haben Recht. Die Verletzungen, die ihr zugefügt wurden, sind grauenhaft. Woher wussten Sie das?«

»Es ist das übliche Muster. Smith hasst junge hübsche Frauen mit dunklem Haar.«

»Mal angenommen, Ginnys Mörder ist Täter B, und Täter B ist Smith. Glauben Sie, dass Sie wissen, was in dem Mann vorgeht?«

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Fenwicks Instinkte schrieen ihm förmlich zu, auf der Hut zu sein.

»Ich habe lediglich die Tatorte genau studiert, und die Berichte der Profiler kann ich praktisch auswendig. Dadurch habe ich einige Erkenntnisse gewonnen.«

»Hm. Denken Sie, er ist noch in Telford?«

»Nein. Hier hat er alles erledigt. Er wird schon weg sein.«

Um Nightingale zu finden. Er widerstand der Versuchung, den Gedanken auszusprechen, und konzentrierte sich stattdessen auf die Frage, was Smith als Nächstes tun würde. Er hatte MacIntyre zwar sehr vorsichtig geantwortet, aber in Wahrheit hatte er das Gefühl, ein gutes Gespür dafür zu haben, wie Smiths Gehirn arbeitete. Er war der festen Überzeugung, wenn Nightingale nicht beschlossen hätte, sich von Harlden und ihrer Vergangenheit für eine Weile radikal zurückzuziehen, wäre sie inzwischen tot, weil Smith sie dafür bestrafen musste, seinen Partner überführt zu haben. Er trank den letzten Schluck des Isodrinks und aß den Schokoriegel, dann schloss er die Augen, um ein wenig kostbaren Schlaf zu tanken, da er sicher war, in den folgenden Tagen kaum dazu zu kommen.

Als sie gerade auf die M54 fuhren, weckte MacIntyre ihn, indem er ihn ungeduldig an der Schulter rüttelte. Der Ausdruck in seinem Gesicht, Ärger gemischt mit einem Anflug von Hochachtung, machte Fenwick schlagartig hellwach.

»Die Fingerabdrücke auf dem Messer. Ich hatte gerade einen Anruf. Anscheinend ist die Spurensicherung beauftragt worden, die Abdrücke auf dem Messer mit denjenigen zu vergleichen, die Sie ihnen geschickt haben, und zwar auf meine ausdrückliche Anweisung hin?«

Fenwick erwiderte nichts. Ja, er hatte MacIntyres Namen benutzt, na und? Wie hätte er sonst etwas bewegen können?

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»Die Abdrücke entsprechen denen, die auf den Briefen an Griffiths gefunden wurden. Sie wissen, was das bedeutet, wir haben eine greifbare Verbindung zwischen den beiden. Griffiths kennt Täter B. Wie ich höre, haben Sie ihnen auch einen Karton geschickt, der auf Fingerabdrücke untersucht werden sollte?«

»Aus dem alten Haus der Smiths, ja.«

»Tja, sie haben ein paar saubere Abdrücke gefunden und auch die mit denjenigen auf dem Messer verglichen. Ein Paar passt zusammen.« MacIntyre stieß ihm anerkennend gegen die Schulter. »Glückwunsch. Sie hatten Recht, Täter B ist Smith. Am besten, Sie rufen sofort Ihren Sergeant in Harlden an. Die Suche nach Sergeant Nightingale hat jetzt größere Priorität. Selbst Ihr Harper-Brown müsste jetzt dafür Leute abstellen. Kümmern Sie sich drum, während ich die Neuigkeit nach Telford durchgebe. Irgendwie glaube ich nicht, dass sie Cave froh stimmen wird.«

Der Augenblick des Sieges bedeutete Fenwick nichts. Er hatte Ginny nicht retten können, und er schob die Anerkennung des Superintendent beiseite. Er hatte von Anfang an Recht gehabt, aber in Gedanken war er bei einer Achtzehnjährigen, die jetzt in der vermeintlichen Geborgenheit ihres Elternhauses tot in ihrem Blut lag.

Die Obduktion von Ginnys Leiche hatte höchste Dringlichkeit und war bereits im Gange, als MacIntyre und Fenwick eintrafen. Fenwicks selbst auferlegte Buße ging nicht so weit, dass er beim Abwiegen und Messen ihrer sterblichen Überreste dabei sein musste, deshalb überbrückte er die Zeit bis zu Caves Rückkehr damit, Berichte zu lesen und die blutigen Fotos vom Tatort zu studieren. Eine Großfahndung war angelaufen, doch bislang fehlte von dem Mörder jede Spur.

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»Er hat eine Müllhalde überquert, und die Hunde haben seine Fährte verloren.« MacIntyre schüttelte angewidert den Kopf. »Überall sind Straßensperren errichtet worden, aber bei den vielen kleinen Sträßchen und Feldwegen können wir höchstens was mit Hubschraubern bewirken.«

»Wie ist er zum Haus der Matthews gekommen?«

»Keine Ahnung. Er ist von hinten durch den Garten gegangen und hat das Schloss an der Hintertür geknackt, aber es wurde kein verdächtiges Fahrzeug gesehen.«

»Wer hat sie gefunden?« Fenwick verströmte eine ausdruckslose Ruhe, doch MacIntyre musterte ihn argwöhnisch.

»Einer von unseren Jungs. Ihre Mutter kam vom Einkaufen zurück und hat von der Straße aus das eingeschlagene Badezimmerfenster gesehen. Zum Glück war der Polizist vor ihr oben. Der Anblick ist ihr Gott sei Dank erspart geblieben.« MacIntyre deutete auf die grässlichen Fotos, auf denen Rot die vorherrschende Farbe war.

»Sie hat also die Fensterscheibe eingeschlagen und versucht, zu entkommen. Tapferes Mädchen. Wenn draußen jemand gewesen wäre …«

»Hören Sie auf!« Das war ein Befehl.

»Ja … Sir.« Seine Stimmung war scheußlich und nicht gerade geeignet, das Verhältnis zu seinem Vorgesetzten zu verbessern.

»Gehen wir was essen. Ich weiß, es ist nicht gerade Appetit anregend, sich das da anzusehen, aber es wird bestimmt eine lange Nacht.« MacIntyre war fest entschlossen, ihn wieder zur Vernunft zu bringen.

Als sie zurückkamen, war Cave in seinem Büro. Sie be-grüßten sich mit Handschlag, aber Cave konnte Fenwick nicht in die Augen sehen.

»Schon irgendeine Spur?«

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»Nein. Und da wir nicht wissen, was er fährt, dauert die Suche so lange. Die Schlüsselfrage lautet, was wird er vermutlich als Nächstes tun?«

MacIntyre sah Fenwick an. »Legen Sie los, Sie kennen ihn wahrscheinlich am besten.«

»Ich denke, falls es sich um Smith handelt, wird er versuchen, aus der Gegend zu verschwinden. Das hat er nach den Straftaten in London und Wales auch gemacht.«

»Wohin?«

Fenwick zuckte die Achseln. »Könnte überallhin sein, aber Birmingham wäre eine Möglichkeit. Da ist er nach London mit dem Zug hingefahren, und da hat Griffiths auch die Briefe hingeschickt.«

Cave nickte. »Das hab ich mir gedacht. In der Richtung habe ich die meisten Straßensperren errichten lassen. Sonst noch irgendwelche Ideen?«

»Es ist vage, aber sein Vater hatte irgendwo ein Ferienhaus. Wir haben es noch nicht lokalisieren können – es sei denn, Robyn Powell ist fündig geworden, oder Knotty.« Bei der Erwähnung des Constable runzelte er die Stirn. »Mist, der ist jetzt bestimmt schon wieder in London.«

»Ich glaube, Constable Powell hat ihren Bericht in Ihrem altem Büro hinterlegt, falls Sie ihn brauchen. Außerdem haben wir für Sie beide im Armada Zimmer reserviert.«

»Also, was nun? Wie können wir Ihnen am besten helfen, Cave?« MacIntyres Tonfall war perfekt. Fenwick versuchte, ihn sich für spätere Gelegenheiten einzuprägen.

»Indem Sie an der Einsatzbesprechung mit dem Team teilnehmen. Bei der eigentlichen Suche können Sie nichts tun.

Der Chief Constable hat sich persönlich eingeschaltet. Wir haben so viele Leute, wie wir brauchen – jetzt.«

Die Besucher übergingen den bitteren Unterton.

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»Dafür brauchen Sie mich nicht. Ich werde mir Robyns Bericht anschauen und versuchen, Knotty zu erreichen.«

Robyn Powell hatte eine Landkarte an die Wand geheftet.

Darauf waren rote Punkte verteilt wie ein Hautausschlag, der noch schlimmer war als Knottys Akne, und diese Punkte bildeten gewisse Muster. Sie hatte die Schule von Griffiths und Smith markiert und einen Kreis drum herum gezogen, um die Distanz zu veranschaulichen, die die Jungen innerhalb von zwei Stunden bewältigen konnten. Jede rote Stecknadel war mit einer Zahl versehen, die einer Nummer auf der Liste entsprach, die auf seinem Schreibtisch lag. Mit Hilfe von Robyns Erläuterungen konnte er die von ihr entdeckten Muster von Straftaten nachvollziehen, Delikte, die im Laufe der Jahre, ehe die Jungen die Schule verließen, immer schwerer wurden.

Es war sehr aufschlussreich, aber sie hatten inzwischen den Beweis, dass es eine Verbindung zwischen Griffiths und Smith gab, deshalb richtete Fenwick seine Aufmerksamkeit auf eine unerklärliche Anhäufung von Stecknadeln westlich von Telford. In den Bergen an der Grenze zu Wales steckten drei rote Nadeln und etliche schwarze. Warum und wie war sie auf diese Straftaten gestoßen? Die Antwort fand sich in ihrem ausführlichen Bericht. Powell war sämtliche Meldun-gen von Verbrechen durchgegangen, die denen ähnlich waren, die in der Nähe der Schule passiert waren, und dann hatte sie diejenigen herausgesucht, bei denen die Täterbeschreibung auf Griffiths und Smith passte. Im Osten und Norden von Telford gab es keine. Die Stecknadeln befanden sich alle-samt zwischen Telford und dem Zuhause der Jungs, oder in den Bergen dahinter.

Er suchte die relevanten Stellen aus dem Bericht heraus.

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Die schwarzen Stecknadeln beziehen sich auf Verstümmelungen von Tieren, von Kaninchen bis zu größeren Farmtieren.

Die kleineren waren abgehäutet und ausgeweidet worden, den größeren (ein Pony, fünf Schafe, ein Kalb, ein Hund) wurden die Genitalien verstümmelt. Interessant dabei sind die Daten: Sämtliche Vorfälle ereigneten sich in den Schulferien.

Die roten Stecknadeln markieren sexuelle Übergriffe, ebenfalls in den Schulferien:

Nr. 63: Unsittliches Entblößen. Gemeldet von einer Dreizehnjährigen. Nahe Lake Belsize. Personenbeschreibung: Junger Mann mit braunem Haar. 16. August, 14.25 Uhr.

Nr. 64: Vergewaltigung einer Sechzehnjährigen in den Bergen oberhalb des Sees. Personenbeschreibung wie Nr.

63, aber Gesicht war mit Schal bedeckt. 20. August, 17.45 Uhr.

Nr. 70: Vergewaltigung einer zwanzigjährigen Wanderin in den Bergen oberhalb des Sees. Personenbeschreibung: kleiner, untersetzter Jugendlicher mit Sturmhaube; nicht wie Nr. 63 und 64. 2. September, 9.10 Uhr Er kreiste mit einer Linie um die Stecknadeln ein Gebiet von weniger als einer Quadratmeile ein, das von einer einzigen Straße durchschnitten wurde, an der rechts und links verein-zelte Häuser lagen. Robyn Powell hatte Smiths Ferienhaus gefunden.

Nachts um Viertel nach eins trat Fenwick auf einer einsamen Straße nahe am Lake Belsize zu MacIntyre und Cave.

»Es gibt sechs Cottages ein Stück von der Straße weg gelegen. Die Teams dringen jetzt in die Häuser ein und durchsuchen sie.«

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Die drei Männer warteten schweigend, dann durchbrach Caves Funkgerät die Stille. Er lauschte kurz und brummte eine Antwort.

»In Cottage ›Charlie‹ Fehlanzeige, das hat eine Familie aus Cheshire gemietet.«

Die Szene wiederholte sich in schneller Abfolge dreimal hintereinander.

»Bleiben nur noch Cottage ›Echo‹ und ›Bravo‹. Sind beide leer. Wir warten auf Genehmigung einzudringen.«

Zehn endlose Minuten verstrichen in völliger Stille, bevor sich das Team in Cottage ›Echo‹ meldete.

»›Echo‹ ist bewohnt worden. Der Kühlschrank ist voll, und im Kamin ist frische Asche.«

Gemeinsam gingen sie den Hügel hinunter. Es war fast zwei Uhr morgens, aber Fenwick war hellwach und voller Energie. Cave verteilte Latexhandschuhe, und an der Tür reichte man ihnen Plastiküberzüge für die Schuhe. Ein bewaffneter Kollege sprach Cave an, sobald sie eintraten.

»Das müssen Sie sich ansehen.«

Der Mann führte sie ins Bad zu einem offenen Wäschekorb. Mit den Fingerspitzen einer behandschuhten Hand zog er ein Hemd heraus. Die Manschetten waren blutdurchtränkt, und die Vorderseite war voller Blutspritzer.

»In den Falten ist es noch feucht, und die Flecken in dem Waschbecken da könnten angetrocknetes Blut sein.«

»Lassen Sie sofort die Spurensicherung kommen.«

»Jawohl, Sir.«

Fenwick standen die Haare zu Berge, als habe er einen Stromschlag bekommen. Smith war vor kurzem hier gewesen, er war kein Phantom mehr, das kommen und gehen konnte und als einzige Spur verstümmelte junge Frauen hinterließ. Er brauchte frische Luft und trat wieder nach draußen.

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Die Nacht war klar, der Mond fast kreisrund. Er tauchte die Umgebung in ein graublaues Licht, das dunkle Schatten warf und fast alle Farbe und Tiefenschärfe aus der Landschaft sog. Fenwick versuchte sich vorzustellen, wie Smith über abgelegene Straßen fuhr, weg vom Schauplatz seines letzten Verbrechens, aber er konnte das Bild nicht festhalten.

Zehn Stunden zuvor hatte Smith Ginny getötet. Er musste rund zwanzig Minuten gebraucht haben, um hierher zurück-zufahren, weitere zwanzig, um sich zu waschen und umzuziehen. Er hatte also über neun Stunden Vorsprung. Vielleicht hatte er inzwischen sogar schon das Land verlassen.

Fenwicks Euphorie verblasste, als ihm diese Tatsachen bewusst wurden. Der Nachweis, dass Täter B Smith war und eine Verbindung zu Griffith hatte sowie die Entdeckung dieses Hauses, weil er darauf bestanden hatte, dass die Akten alter Straftaten gesichtet wurden – das alles wäre bedeutungslos, wenn sie Smith nicht fassten, bevor er Nightingale fand. Oder irgendein anderes Opfer.

MacIntyre trat neben ihn und zündete sich eine Zigarette an.

Fenwick wartete auf das Eingeständnis von MacIntyre, dass es falsch gewesen war, den Sinn seiner Fahrt nach Telford anzuzweifeln, aber es kam nicht. Stattdessen stellte der Superintendent eine Frage.

»Was wird Smith jetzt tun? Sie sind unser Sachverständiger für den Mann.«

Fenwick verabscheute die Verantwortung, die MacIntyre so elegant auf ihn abgeschoben hatte. Er trug schwer an dieser Last, und es machte ihn wütend.

»Woher soll ich das wissen? Ich hab mich auf seine Vergangenheit konzentriert, auf seine Identifizierung. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass er Nightingale umbringen will. Wenn wir sie finden, finden wir ihn.«

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»Meinen Sie nicht, Sie sind ein bisschen besessen von dieser Idee?«

»Ich war besessen davon, Smith zu finden. Das hat uns nicht gerade geschadet. Also bitte.«

Er wandte sich ab, ehe sein Temperament mit ihm durchging. Er sah einen Pfad, kalkweiß im Mondlicht, und ging ihn entlang, während er im Geist beißende Kommentare formulierte, ohne auf seine Umgebung zu achten. Als er das Ufer des Sees erreichte, blieb er überrascht stehen. Das Wasser lag glatt und wie tot vor ihm. Es war irgendwie unheimlich, und ihn schauderte. Er fühlte sich plötzlich sehr allein hier draußen, als lauerten Ungeheuer mit schleimigen, schwarzen Tentakeln nur darauf, ihn in die Tiefe zu zerren.

Die Lichter der Hubschrauber glitten in der Ferne über die Berge, und ihm wurde bewusst, dass ein Mann allein hier draußen am See eine Suchaktion auslösen könnte, also ging er zurück. Cave und MacIntyre warteten schon auf ihn.

»Da sind Sie ja! Wo waren Sie denn?«

»Ich hab nachgedacht.« Das war zwar nicht wahr, aber er fand, »geschmollt« wäre ein unnötiges Eingeständnis gewesen.

»Und?« Wollte MacIntyre ihn provozieren?

»Also schön. Folgendes steht als Nächstes an: die Fingerabdrücke vom Messer mit denen im Haus vergleichen …«

»Schon in Arbeit.« Cave schwenkte eine Liste, die er in der Hand hielt.

»Die Bissspuren an Ginny mit denjenigen vergleichen, die Tasmin und Lucinda beigebracht wurden.«

»Die Spurensicherung in London nimmt sich das als Erstes vor, morgen früh müssten wir die Ergebnisse haben.«

»Spurensuche rund ums Haus. Was für ein Fahrzeug ist er 499

gefahren?« Cave nickte, hatte aber seinen eigenen Notizen noch nichts hinzugefügt.

»Suche nach Wendy Smith. Sie könnte uns zu ihm führen.

Und weiterhin die Adresse beobachten, an die Griffiths geschrieben hat.«

»Bringt das denn was?« MacIntyre versuchte gar nicht erst, seine Skepsis zu verbergen. »Smith ist doch unabhängig. Diese Briefe von Griffiths sind ihm völlig egal.«

»Vielleicht, aber die beiden waren Verbündete, und er hat sich die Mühe gemacht, Kontakt zu ihm herzustellen. Ich denke, es ist einen Versuch wert. Und wir sollten die Video-bänder von dem Prozess gegen Griffiths zu Ende durchsehen, vielleicht finden wir eine gute Aufnahme von ihm. Die könnten wir zusätzlich zu dem Phantombild verwenden, das Sie schon landesweit veröffentlicht haben.« MacIntyre nickte.

»Ein Letztes. Da unten ist ein See, ganz nah. Vielleicht sollte man den nach der Mordwaffe absuchen.«

Diesmal machte sich Cave eine Notiz, aber Fenwick sah, dass sie ganz am Ende einer langen Liste stand.

Es war schon vier Uhr vorbei, als sie in dem schicken Hotel ankamen, wo man Zimmer für sie reserviert hatte. Fenwick war noch immer hellwach, aber er sagte sich, es wäre gut, ein paar Stunden zu schlafen. Er duschte und legte sich dann nackt ins Bett, versuchte, die ersten zwitschernden Klänge des mor-gendlichen Chors vor dem Fenster zu überhören.

Vor der Dunkelheit seiner geschlossenen Augenlider blitzten immer wieder Bilder der letzten Tage, wie eine zusam-menhanglose Diashow. Ginnys Elternhaus, die tote Ginny, das zerschlagene Fenster. Rote Blutstropfen wurden zu den Stecknadelköpfen auf Robyns Karte. Das Ferienhaus, warm und bewohnt, Smiths Geruch noch in den Räumen, blutige Kleidung von seinem letzten Mord im Wäschekorb. Er dach-500

te an Nightingale, an das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, blass, überlastet, zu dünn. Und er dachte an Claires überraschende Offenbarung. Schuldgefühle, weil er Nightingale vertrieben hatte, mischten sich mit seiner Reue wegen Ginnys Tod. MacIntyre oder Cave konnten sagen, was sie wollten, er fühlte sich verantwortlich. Von den an diesem Fall beteiligten höheren Beamten war er der einzige, der gewusst hatte, dass Täter B zurückkehren würde. Er hätte hier bleiben sollen, um sie zu schützen. Wenn er Nightingale auch nicht retten könnte … Er verbot sich den Gedanken.

Anscheinend war er irgendwann doch eingeschlummert, denn sein Wecker riss ihn um sieben Uhr aus dem Schlaf. Er fühlte sich wie gerädert, duschte erneut und hinterließ dann in Harlden eine Nachricht für Quinlan, ihn sofort anzurufen, sobald er ins Büro kam. Ein üppiges englisches Frühstück mit viel Kaffee brachte ihn wieder einigermaßen in Schwung. Als er MacIntyre traf, fühlte er sich schon nicht mehr wie ein alter Mann.

Im Auto riefen sie beide ihre Mailbox an. Knotty hatte sich noch nicht gemeldet, und Fenwick hinterließ ihm eine dringende Nachricht.

»Wir fahren wieder raus zum Cottage. Ich dachte, Sie würden es sich gern noch mal bei Tageslicht ansehen.« MacIntyre bedachte ihn mit einem seiner forschenden Blicke.

»Haben Sie irgendwas?«

Die Haltung des Mannes ging Fenwick mehr und mehr auf die Nerven. Er schüttelte den Kopf und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen.

Im Cottage war die Spurensicherung noch immer bei der Arbeit, kam aber jetzt bei Tageslicht schneller voran. Man hatte einen Kontrollabschnitt aus einem Scheckbuch gefunden, und Cave hatte bereits veranlasst, dass das Konto gesperrt 501

wurde. Die Bank würde ihn sofort unterrichten, falls jemand versuchte, von dem Konto Geld abzuheben.

Fenwick ging nach draußen. Ein Team suchte den Boden in immer größer werdenden Kreisen ab, manche arbeiteten sich auf den See zu, andere den Hang hinauf in Richtung Waldrand. Einige Bereiche in unmittelbarer Nähe des Cottages waren mit Polizeiband abgesperrt worden und wurden von weiß bekittelten Leuten der Spurensuche unter die Lupe genommen. Er hielt ihnen seinen Dienstausweis vor.

»Was gefunden?«

»Anzeichen eines Kampfes, hier und da drüben. Wir haben dann genauer gesucht und das hier entdeckt.« Der Mann hielt ein schlichtes Wattestäbchen hoch. Eine Seite war rosa.

»Blut?«

»Ja. Ziemlich viel.«

Fenwick ging zu Cave. »Draußen sind Blutspuren gefunden worden. Es besteht die Möglichkeit, dass das Blut auf dem Hemd nicht von Ginny stammt.«

»Das wissen wir.«

»Wenn es nicht von ihr ist, wieso sollte er riskieren, so nah bei seinem Versteck jemanden umzubringen?«

»Wahrscheinlich stammt es von einem Tier. Erinnern Sie sich an die Berichte, die Robyn ausgegraben hat?«

Fenwick schüttelte den Kopf.

»Warum auf Schuljungenniveau zurückfallen, wenn er schon vorhatte, Ginny zu töten?«

»Das Rumspekulieren bringt nichts. Im Laufe des Tages kriegen wir die Ergebnisse.«

»Aber …«

MacIntyre, der in der Nähe saß und wortlos zusah, stand auf und legte Fenwick eine Hand auf den Arm.

»Kann ich Sie mal kurz sprechen?«

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Sie gingen nach draußen.

»Was beschäftigt Sie so an dem Hemd?«

»Vielleicht ist es nicht Ginnys Blut. Mal angenommen, er ist hier von irgendwem gestört worden und hat die Person getötet?«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einen zufällig vor-beikommenden Spaziergänger umbringt.«

»Was ist mit Wendy oder ihrem Dad?«

»Fred Smith ist gesund und munter, aber nicht sonderlich gut auf uns zu sprechen. Cave hat ihn wegen des Verdachts der Erpressung zur Vernehmung aufs Revier bringen lassen.

Nach so langer Zeit werden wir ihm das unmöglich nachweisen können, aber vielleicht bekommen wir ja Wendys Adresse aus ihm raus.«

»Aber von wem ist dann …?«

»Oder von was. Lassen Sie’s gut sein, Andrew. Cave kümmert sich drum. Er hat genug Leute hier, und wir müssen jetzt los. Eine landesweite Fahndung kann ich besser von London aus koordinieren.«

Er ging wieder ins Haus, und Fenwick versuchte erneut, Quinlan zu erreichen. Als der nicht aufzutreiben war, fragte er nach Cooper und musste länger warten, als ihm lieb war.

Es gelang ihm nicht, die Ungeduld in seiner Stimme zu überspielen, als der Sergeant schließlich an den Apparat kam.

»Entschuldigung, dass Sie warten mussten. Ich war in einer Dienstbesprechung und …«

»Hören Sie, wir wissen jetzt, wer Griffiths’ Partner war.«

Er gab Cooper rasch die wichtigsten Informationen durch, ohne ihm Gelegenheit zu lassen, irgendwelche Fragen zu stellen. »Entscheidend ist, dass er es als Nächstes auf Nightingale abgesehen hat. Wie weit sind Sie mit der Suche nach ihr?«

Verlegenes Schweigen am anderen Ende.

503

»Cooper?« Seine Stimme hob sich bedrohlich.

»Es liegt an Inspector Blite, Sir. Der Superintendent hat ihm die Sache übertragen, und Blite meint, das käme unter ferner liefen, weil es nur wieder eine von Ihren Obsessionen sei.«

»Eine von meinen Obsessionen?«

»Ich meine … also, ich hab angefangen, mich drum zu kümmern, aber dann hatte ich keine Zeit mehr weiterzumachen. Wir hatten hier Einbrüche und Sachbeschädigungen oben am Golfclub, und der Wagen des Bürgermeisters ist geklaut worden …«

»Es geht hier um ein Menschenleben! Verbinden Sie mich mit Quinlan. Ich will sofort mit ihm sprechen.«

»Nein! Das gibt nur fürchterlich Ärger. Überlassen Sie mir das. Ich verspreche Ihnen, ich kümmere mich drum. Blite ist den ganzen Morgen unterwegs, also werde ich genug Zeit haben.«

Fenwick zögerte. Er war so wütend, dass er darauf brannte, Superintendent Quinlan mal ordentlich die Meinung zu Inspector Blite zu geigen, aber Cooper hatte Recht. Er war weit weg, aus den Augen, aus dem Sinn, und Blite würde einfach nur behaupten, die Ermittlungen gingen voran.

»Also gut. Ich rufe später nochmal an, aber lassen Sie mich um Gottes willen nicht hängen.«

Je weiter sie nach Süden fuhren, desto mehr Wolken tauchten am Himmel auf. Die Hitze wurde drückend, und er kurbelte das Fenster runter, hielt das Gesicht in den Fahrtwind wie ein Hund. Nach zwei Stunden machten sie Rast, um etwas zu essen. Trotz des fünften Kaffees an diesem Tag wurde Fenwick schläfrig, sobald er gegessen hatte, doch MacIntyre war hellwach und wissbegierig.

504

Er fragte Fenwick detailliert aus, wollte wissen, warum er so hartnäckig darauf bestanden hatte, Smiths Vergangenheit so genau zu durchleuchten. Warum hatte er das alte Haus der Familie aufgesucht? Warum hatte er Robyn Powell beauftragt, die Akten alter Fälle durchzusehen, warum gerade diese Fälle? Fenwick fand es ermüdend. Um MacIntyres Verhör zu beenden, sagte er ungeduldiger, als er eigentlich wollte:

»Hören Sie, ich weiß nicht, warum ich sein Elternhaus unbedingt finden wollte oder warum ich denke, dass seine Eltern vermutlich tot sind und sich nicht einfach verdünnisiert haben. Es ist doch wohl logisch, dass man so viel wie möglich über einen Verdächtigen herausfinden will, oder etwa nicht? Ich gehe nur noch weiter zurück und grabe tiefer, mehr nicht.«

Als sie erneut hielten, weil der Fahrer zur Toilette musste, und MacIntyre wieder zu einer Frage ansetzen wollte, herrschte er ihn an, denn er war zu müde, um seine Gereiztheit noch zu beherrschen.

»Ich habe wirklich nichts gegen genaues Nachfragen, Neugier ist völlig in Ordnung, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ich etwas an mir habe, das Sie nervös macht.

Spucken Sie’s einfach aus. Ihr Kreuzverhör und Ihre durch-dringenden Blicke gehen mir auf die Nerven.«

Wenn er geglaubt hatte, MacIntyre würde wütend reagieren, so hatte er sich geirrt. Der Superintendent lachte bloß.

»Meine Güte, was sind Sie für ein Sensibelchen! Die Wahrheit ist, Sie sind ein ziemlich seltsamer Detective. Kein Wunder, dass Harper-Brown Sie nicht leiden kann.«

Fenwick öffnete den Mund, ob zum Widerspruch oder vor Verblüffung darüber, dass sein nicht gerade gutes Verhältnis zu seinem Oberboss ein offenes Geheimnis war, hätte er selbst nicht sagen können.

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»Kommen Sie runter von Ihrem hohen Ross. Sie müssen mit diesem aufgeblasenen Getue aufhören, Andrew, das ist Ihr unsympathischster Zug. Hören Sie, ich hab in London und vorher in Schottland schon mit allen möglichen Menschen zusammengearbeitet, aber noch nie mit so einem wie Ihnen.

Sie sind enervierend logisch, aber auf der anderen Seite haben Sie Intuition. Sie haben eine komplizierte Ermittlungs-strategie im Kopf, als wäre es ein Kartenspiel, und gleichzeitig bestehen Sie darauf, dass offensichtliche Nebenaspekte eines Falles haarklein untersucht werden. Und Professor Ball hat Ihren ausgeprägten ›empathischen Instinkt‹ betont – gucken Sie nicht so böse, das hat sie gesagt, nicht ich. Ob Ihnen das nun gefällt oder nicht, Sie sind anders. Sie kombinieren Intellekt und Intuition. Das ist ungewöhnlich, und es ist auch beunruhigend, zumal Sie nicht den geringsten Hehl daraus machen. Die meisten klugen Menschen wissen, dass sie nicht zu clever wirken dürfen. Ihnen scheint das völlig egal zu sein.«

Fenwick tat das, was er immer tat, wenn ihm die Worte fehlten, nämlich unverbindlich die Achseln zucken. Er tat so, als suche er eine Flasche Wasser, und konzentrierte sich dann darauf, den komplizierten Sportscap-Verschluss aufzubekom-men. MacIntyre ließ sich nichts vormachen.

»Was meinen Sie eigentlich, warum Sie noch immer Chief Inspector sind? Ich bin in Ihrem Alter, und ich bin Superintendent, und das nicht unbedingt, weil ich besser bin als Sie.

Warum hat es bei Ihnen nicht geklappt?«

Nochmaliges Achselzucken. »Hat sich einfach nicht ergeben.«

Er sah sich um, hielt sehnsüchtig nach dem Fahrer Ausschau.

»Das kauf ich Ihnen nicht ab. So viel fehlender Ehrgeiz ist unglaubwürdig.«

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Fenwick holte tief Luft und versuchte, seinen Tonfall zu beherrschen.

»In der Zeit, als ich an meine Karriere hätte denken sollen, standen für mich andere Dinge im Vordergrund.«

»Sie meinen die Krankheit Ihrer Frau. Ja, das habe ich in Ihrer Personalakte gelesen. Damals mag das ein vernünftiger Grund gewesen sein, aber jetzt nicht mehr. Da muss mehr dahinter stecken.«

Fenwick spürte eine Ader am Hals pochen. Vielleicht war der Mann absichtlich so provokant, aber er war nicht in der Stimmung, sich darauf einzulassen. Ja, er verlor schnell die Geduld. Ja, er hatte mehr als einmal deutlich gemacht, dass Harper-Brown ein Idiot war, aber die Zeiten waren vorbei.

Er redete sich ein, dass er Zurückhaltung gelernt hatte. Und gerade gegenüber diesem neugierigen Arschloch würde er sich nicht selbst das Gegenteil beweisen.

MacIntyres Telefon klingelte und ersparte ihm eine Fortführung der Unterhaltung. Der Fahrer kam zurück, und während der Weiterfahrt schwiegen sie. Fenwick schlief ein.

In seinem Traum sah er, wie Ginny sich ein Bad einlaufen ließ und dann in den Schaum hineinglitt. Er war draußen vor dem Badezimmerfenster und konnte alles sehen. Dann änderte sich das Bild. Jetzt war er hinter Smith, der die Treppe hinaufschlich. Fenwick wollte ihn festhalten, doch Smith schüttelte ihn ab, als wäre er substanzlos wie ein Geist.

Ginny trocknete sich jetzt ab. Er konnte sie sehen, obwohl die Tür fast geschlossen war. Als sie sich umdrehte und Smith erblickte, öffnete sich ihr Mund zu einem stummen Schrei, aber sie versuchte nicht zu fliehen. Stattdessen hob sie etwas auf, das er nicht erkennen konnte, und ging auf ihn zu. Sie war die Angreiferin und lächelte jetzt. Smith wollte weglaufen. Ginny warf sich auf ihn. Ihre Hand mit der unsichtbaren 507

Waffe hob und senkte sich, fügte dem Mann unter ihr grässliche Verletzungen zu. Warmes Blut schoss im Bogen hervor und spritzte in einem dickflüssigen, kirschroten Strahl in Fenwicks Gesicht. Er bekam Panik und wollte es wegwi-schen, da erwachte er.

Wieder einmal fegte ein Sommerregen über sie hinweg.

Durch das offene Fenster fielen ihm Tropfen aufs Gesicht.

Verstört und desorientiert kurbelte er die Scheibe hoch. MacIntyre telefonierte noch immer. Der Traum hatte Fenwick durcheinander gebracht. Er starrte die Wassertropfen auf der Fensterscheibe an und suchte in den Bildern nach einer Bedeutung, aber sie entzog sich ihm.

Schließlich nahm er die Fotos vom Tatort aus seiner Aktentasche, obwohl ihm vom Schaukeln und Schwanken des Wagens leicht übel war. Es waren so viele Fotos. Er sah sie durch, bis eine Nahaufnahme von Ginnys Hand, die eine Glasscherbe umklammert hielt, seine Aufmerksamkeit fesselte.

Die scharfen Kanten hatten ihr in die Handfläche und die Innenseite der Fingerknöchel geschnitten, aber sie hatte sie festgehalten, trotz des Schmerzes.

Blut war ihr übers Handgelenk gelaufen. Die Scherbe war voll davon. Fenwick sah sich das Foto erneut an, und auf einmal wurde sein Kopf wieder klar. Unerwartete Tränen traten ihm in die Augen, und er blinzelte sie weg. Sie hatte sich gewehrt, diese tapfere, kleine Achtzehnjährige. Sie hatte getreten und gekratzt und geschrieen. Und sie hatte ihn mit der Scherbe verletzt. Das Blut auf dem Glasstück, das sie als Dolch benutzt hatte, war nicht von ihr. Es war seins. Sie hatte ihn verwundet! Der Gedanke erfüllte ihn mit archaischer Freude und jagte einen Energiestoß durch seinen müden Körper. Er blickte auf. MacIntyre starrte ihn an, hatte sein Telefonat vergessen. Sein üblicher Blick, in dem amüsierte 508

Neugier lag, hatte etwas anderem Platz gemacht. War es Sorge? Nein. Es war gespannte Erwartung.

»Sie haben in den Fotos was entdeckt.« Das war keine Frage.

»Sehen Sie sich das an.« Er reichte ihm das Foto von Ginnys rechter Hand. »Das ist sein Blut, nicht ihres. Es war ihre Waffe. Sie hat ihn damit verletzt. Sonst wäre das Blut an den Rändern, die keinen Kontakt mit ihrer Hand haben, nicht so dick.«

MacIntyre studierte das Foto.

»Das ganze Badezimmer war doch voller Blut. Das könnte von überallher gekommen sein.«

»Das glaube ich nicht. Auf den anderen Aufnahmen kann man klar erkennen, dass das Fließmuster des Blutes aufwärts und weg von ihrer Hand verläuft.«

MacIntyre nickte langsam.

»Wäre möglich. Wieso sind Sie sich so sicher?«

Fenwick war nicht gewillt, ihm seinen Traum zu erzählen.

»Das lässt sich leicht überprüfen. Die Spurensicherung wird die einzelnen Scherben eingetütet und nummeriert haben. Stellen Sie fest, ob das ganze Blut von Ginny ist.«

MacIntyre gab die neue Information telefonisch durch. Sie waren kurz vor London, als das Telefon klingelte. Ein Motorrad war im Wald versteckt gefunden worden. In den Satteltaschen waren Kleidung, ein Laptop, Haarfärbemittel, andere Toilettenartikel und ein Paar Schuhe. Die Fingerabdrü-

cke waren von Smith. Es war denkbar, dass er vorgehabt hatte zurückzukommen, um das Motorrad zu holen, dass er sich aber durch die rasche Entdeckung der Leiche des Mädchens und die anschließende Großfahndung gezwungen gesehen hatte, seine Pläne zu ändern.

»Und übrigens, Cave sagt, Sie möchten Knotty fragen, wo 509

er den Wagen abgestellt hat, den er gestern ausgeliehen hat.

Sie können ihn nicht finden und brauchen ihn.«

Die erste bange Sorge um Knotty erfasste Fenwick. Vergeblich versuchte er, ihn unter jeder Nummer zu erreichen, die ihm einfiel. In London war der Constable nicht gesehen worden, sein Handy war abgeschaltet, und bei ihm zu Hause meldete sich nur der Anrufbeantworter. Robyn Powell hatte keine Ahnung, wo er stecken könnte, aber sie gab ihm die Telefonnummern der Leute, die er befragt hatte, bevor er zurück nach London gefahren war.

»Probleme?« MacIntyre hob fragend die Augenbrauen.

»Constable Knots ist verschwunden.«

»Fauler Hund!«

»Aber das sieht ihm doch sonst nicht ähnlich, oder? Wenn er krank wäre oder so, hätte er angerufen.«

»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?«

»Vor über vierundzwanzig Stunden.«

MacIntyre runzelte die Stirn.

»Das ist in der Tat seltsam, und Cave beschwert sich wegen des Autos. Hoffentlich hat er keinen Unfall gehabt. Ich werde in Telford anrufen und sie bitten, sich mal umzuschauen, aber eigentlich können die ja keinen Mann entbehren.«

Fenwick fing an, seitlich an seinem Daumen zu kauen, ei-ne nervöse Angewohnheit aus der Kindheit, von der geglaubt hatte, sie längst abgelegt zu haben.

»Was haben Sie?«

»Ich muss dauernd an die Stelle mit dem Blut denken, die die Spurensicherung neben dem Cottage gefunden hat. Vielleicht hat es ja nichts zu bedeuten, aber wenn Smith nicht mit seinem Motorrad nach Telford gefahren ist, wie ist er dann hingekommen? Er wird ja wohl kaum die ganze Strecke zu Fuß gegangen sein, oder?«

510

»Das verschwundene Auto.« MacIntyre rief Cave an. Oh-ne sich allzu besorgt anzuhören und in einem heiteren Tonfall, dem Fenwick anmerkte, dass er aufgesetzt war, erklärte er ihre Bedenken. »Es ist ein bisschen weit hergeholt, ich weiß, aber es schadet ja nichts, den Streifen eine Beschreibung des Wagens durchzugeben, nur für alle Fälle.«

»Wie könnte Knotty denn herausgefunden haben, wo Smiths Cottage liegt?« Fenwick hielt es für unwahrscheinlich, dass der junge Constable einen ganzen Tag vor ihm darauf gekommen war.

»Irgendwer hat’s ihm gesagt.«

»Aber er hat nur mit Miss Wallace gesprochen, und danach hat er mir gegenüber nichts davon erwähnt.«

Er rief die Lehrerin trotzdem an.

»Also, ich muss schon sagen, Chief Inspector, Sie stören mich beim Essen, und ich habe Gäste.«

»Es ist wichtig. Haben Sie Constable Knots vielleicht er-zählt, wo die Familie Smith die Ferien verbrachte?«

Verblüfftes Schweigen trat ein. Dann sagte sie: »Meine Güte, ja, Chief Inspector. Es war nur eine beiläufige Bemerkung, aber ich erinnere mich, dass er sich das notiert hat.« Sie wiederholte die Information.

Fenwick legte auf und vergrub das Gesicht in den Händen. »Knotty, du Idiot! Warum bist du auf eigene Faust losgezogen? Warum hast du mir nichts gesagt?« Er starrte MacIntyre an, mit einem flauen Gefühl in der Magengegend. »Er ist zum Cottage gefahren. Die Lehrerin hat ihm erzählt, dass sie den Smiths mal am See begegnet ist und dass Smith senior ihr von seinem Ferienhaus erzählt hat.«

»Dann hat Knotty ihn gefunden.«

»Es muss so gewesen sein. Warum ist er sonst wie vom Erdboden verschluckt? Großer Gott«, Fenwick schluckte, 511

damit die Übelkeit ihm nicht bis in den Mund stieg, »wir müssen ihn finden.«

»Smith oder Knotty?«

Fenwick blickte MacIntyre eindringlich an.

»Beide.«

512

Kapitel dreißig

Wendy Smith spülte mit dem letzten Rest Kaffee zwei Paracetamol herunter und verzog das Gesicht, als die zweite Tablette ihr im Hals stecken blieb. Sie war seit drei Tagen wegen Grippe krankgeschrieben und fühlte sich noch immer ziemlich mies. Ihr war weiß Gott nicht danach, jetzt nach Shropshire zu fahren, aber Dave hatte darauf bestanden.

Als er sie anrief, war er in einer Stimmung gewesen, die ihr verriet, dass nur blinder Gehorsam sie vor einer Tracht Prügel bewahren konnte.

Die Anweisungen waren knapp und präzise gewesen: Nachsehen, ob Briefe im Postfach waren, Bargeld abheben und ihn dann mit dem Auto abholen kommen. Als sie hörte, wo er sie erwartete, lief es ihr kalt über den Rücken. In dem Haus in der Nähe hatte ihre Kindheit geendet. Sie war elf Jahre alt gewesen, als Vetter Dave mit ihrer »Erziehung« anfing. Er war vierzehn und ihr Idol. Sie war ihm überallhin gefolgt, war seine willige Sklavin gewesen, hatte ihn gedeckt, für ihn gelogen und ihn geliebt.

Deshalb hatte sie es als Kompliment empfunden, als er von ihr wollte, dass sie auch das noch für ihn tat. Es war der in-timste Teil seines Körpers, und er erlaubte ihr, ihn dort anzufassen. Beim ersten Mal hatte sie seine Reaktion furchtbar erschreckt, aber hinterher war er richtig nett zu ihr gewesen, hatte ihr die Hände gewaschen und die Bluse saubergemacht, sodass es den Preis wert gewesen war.

513

Mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, ihn zu berühren, und auch die Reaktion seines Körpers auf ihre Hände war ihr vertraut geworden. Die Tatsache, dass es ihr gemeinsames Geheimnis war, machte sie irgendwie zu etwas Beson-derem. Dann bekam sie ihre Periode, und ihre Brust veränderte sich fast über Nacht von flach zu peinlich, und von da an wollte er nicht mehr bloß ihre Hände, sondern ihren ganzen Körper, und da war es schon zu spät gewesen, um aufzuhören. Noch heute wachte sie manchmal nachts schweißgebadet auf, weil sie davon geträumt hatte, wie er sie das erste Mal wirklich erkundete. Er hatte ihr so wehgetan, dass sie vor Schmerz geschrieen hatte, aber er hatte einfach weiterge-macht.

Hinterher hatte eine neue Begeisterung in seinen Augen gelegen. Im Rückblick, nach Jahren der Unterdrückung, war ihr klar geworden, dass er damals entdeckt hatte, dass es für ihn noch erregender war, wenn er ihr beim Sex wehtat. Damals hätte sie ihn verlassen sollen, aber sie hatte zu viel Angst gehabt, und außerdem hatte sie jeden Tag neu gehofft, dass er sich ändern würde. Allmählich war sie auf seine Form von Sexualität und Bestrafung so gepolt, dass sie auch etwas davon hatte. Manchmal überraschte er sie hinterher mit einem Geschenk – wahrscheinlich gestohlen, aber das machte ihr nichts –, und er küsste und liebkoste sie. Sie blieb bei ihm, weil sie hoffte, dass es das nächste Mal anders sein würde. Schließlich kannte sie nur Beziehungen, die mit Misshandlungen einher-gingen.

Während Wendy sich anzog und die Wagenschlüssel suchte, versuchte sie angestrengt, nicht über ihr Leben nachzudenken. Glücklich war sie eigentlich nur an ihrem Arbeits-platz, wo sie Menschen half, alles tat, damit sie keine Schmerzen mehr hatten. Sie konnte ihre Qualen und den Würdever-514

lust nachempfinden, und das machte sie zu einer guten Krankenschwester. Es gab nur eine Station, auf die sie nie wollte, ganz im Gegensatz zu ihren Kolleginnen. Für sie war die Entbindungsstation die reinste Hölle. Sie war vierzehn gewesen, als sie ihre erste Abtreibung gehabt hatte. Dave hatte sich um alles gekümmert, und sie war zu verängstigt gewesen, um sich ihm zu widersetzen.

Der »Arzt« hatte in einer verwahrlosten Gegend von Birmingham gearbeitet, in einem Reihenhaus, in dem der Geruch von Bleichmittel den widerlichen Gestank von irgendwas Organischem nicht überdecken konnte. Sein Atem hatte nach Zwiebeln gerochen, aber seine Hände waren sauber gewesen, und er hatte sich bemüht, ihr nicht wehzutun. Als sie nach Hause gekommen war, von Schmerzen geschüttelt, hatte sie eine riesige Binde zwischen den Beinen gehabt. Sie hatte gesagte, dass sie nicht in die Schule gehen könne, und ihre Mum hatte nur gemeint, »ganz wie du willst«. Drei Tage lang war sie im Haus geblieben, bis die Blutung und die Schmerzen nachließen.

Wendy nahm ihre Taschen und schloss die Wohnung ab.

Sie konnte sich nicht erklären, warum sie in letzter Zeit so oft an die Vergangenheit dachte, die normalerweise sicher hinter einer dicken Wand aus Verdrängung und Verleugnung versteckt war. Aber in den letzten Tagen, während ihrer Grippe, waren vor ihrem geistigen Auge ständig irgendwelche Szenen aus ihrer Jugend abgelaufen.

Es war ein kurzes Stück mit dem Auto bis zur Post, und eine Zweigstelle ihrer Bank war nur zweihundert Meter entfernt. Es waren zwei Briefe von Wayne gekommen. Als sie am Geldautomaten den Höchstbetrag ziehen wollte, wurde ihre Karte einfach einbehalten, deshalb musste sie in die Bank gehen und einen Scheck einlösen. Gegenüber war ein Se-515

condhand-Laden, und sie blieb kurz stehen, um sich die Aus-lagen anzuschauen. Durch das gleißende Sonnenlicht spiegelte sie sich in der Scheibe, und sie musste sich vorbeugen, um die Kleider sehen zu können.

Als sie wieder zurücktrat, bemerkte sie das Spiegelbild einer Frau, die auf der anderen Straßenseite stand. Sie hatte nichts Auffälliges an sich, aber irgendwas an der Art, wie sie dastand, machte Wendy misstrauisch. Unter dem Vorwand, sich das Schaufenster weiter anzusehen, betrachtete sie das Spiegelbild der Frau, prägte sich das Gesicht und die Kleidung ein. Sie ging ein paar Schritte die Straße hinunter und blieb vor einem anderen Schaufenster stehen. Die Frau überquerte die Straße und folgte ihr. Als Wendy stehen blieb, tat sie es auch, bückte sich, um sich die Turnschuhe zuzubinden, die gar nicht offen gewesen waren.

Wendys Instinkte, durch jahrelangen Missbrauch und Überlebenskampf geschärft, signalisierten Alarm. Sie hatte nichts Unrechtes getan, aber das machte sie nicht sorglos.

Nicht weit von der Stelle, wo sie ihr Auto geparkt hatte, war ein kleiner Supermarkt. Wendy beschleunigte ihren Schritt, schaute auf die Uhr, als habe sie es eilig, und hastete zu dem Laden. Drinnen ging sie bis ganz hinten zur Kühlthe-ke und nahm die Schinkenpackungen in Augenschein. Die Frau folgte ihr nicht, sondern blieb draußen auf dem Bürgersteig. Als sie sich einmal abwandte, huschte Wendy zum Hin-terausgang hinaus.

Niemand hielt sie auf. Draußen war ein Hof mit einem Tor, das auf die Straße führte. Sie stieß es auf und stand auf einer ihr unbekannten Straße mit Reihenhäusern. Ihr Herz raste. Sie war kurz davor, in Panik zu geraten, und zwang sich, tief durchzuatmen und nachzudenken. Sie rief sich die Vorderseite des Supermarktes in Erinnerung, die Straßen, die 516

sie kannte, und die Stelle, wo ihr Auto stand. Sie musste rechts runter gehen und dann noch einmal nach rechts.

Der Wagen war da, wo sie ihn geparkt hatte, ein hell-blauer, dreitüriger Peugeot, dem man sein Alter allmählich ansah. Ihre Hände zitterten so heftig, dass sie Probleme hatte, den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. Beim dritten Versuch glitt er hinein, und der Motor sprang sofort an.

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und fuhr los. Erst als sie Birmingham hinter sich gelassen hatte, wurde ihr klar, dass sie doch einfach hätte aufgeben können. Diese Formulie-rung überraschte sie, aber sie schien passend. Wenn sie die Frau einfach angesprochen hätte, wäre jetzt alles vorbei. Sie wüsste Bescheid, so oder so; vielleicht waren ihre Ängste nur die Folge einer überreizten Phantasie. Vielleicht quälte sie sich wegen nichts und wieder nichts. Ein Anruf bei der Polizei könnte alles klären. Sie hatte die Telefonnummer von Crimewatch auswendig gelernt, aber alle Männer in der Sen-dung hatten so streng und unnachgiebig ausgesehen. Wenn eine Frau zuständig gewesen wäre, hätte sie angerufen. Und selbst jetzt müsste sie eigentlich nur umkehren.

Wendy verpasste ihre Ausfahrt, nicht absichtlich, aber sie zischte vorbei, als sie gerade einen Lastwagen überholte. An der nächsten Raststätte hielt sie an und schaltete das Radio ein, einen Lokalsender mit viel Musik. Sie brauchte Ablenkung, damit sich ihre Gedanken nicht immer weiter überschlugen.

Sie hatte sich gerade einen Becher Kaffee geholt und trank ihn, als die Nachrichten kamen. Die Hauptmeldung war der Mord an einer jungen Frau in Telford. Wendy spürte, wie die Säure des Kaffees ihren Magen schockte, noch ehe sie seinen Namen hörte.

»Die Polizei bittet die Öffentlichkeit um Mithilfe bei der 517

Fahndung nach David Smith. Er ist siebenundzwanzig Jahre alt, einen Meter dreiundachtzig groß, schlank und hat blaue Augen. Möglicherweise hat er Verletzungen an den Händen und im Gesicht. Sachdienliche Hinweise nimmt die Polizei in Telford entgegen …«

Die Stimme sprach weiter, aber Wendy hörte nicht mehr zu. Sie stand über einen Abfalleimer gebeugt und erbrach Galle und Kaffee.

»Fühlen Sie sich nicht gut?«

Ein freundlich aussehender Mann Mitte fünfzig stand neben ihr.

»Geht schon wieder.« Sie strich sich mit einer zitternden Hand übers Gesicht.

»Sie sehen aber gar nicht gut aus. Können Sie denn noch fahren? Ich könnte sie mitnehmen.«

»Nein, wirklich nicht. Im komme schon klar.«

Wendy ging zum Auto zurück, schüttelte die unerwünschten Aufmerksamkeiten des Mannes ab. Wahrscheinlich meinte er es nur gut, aber sie traute ihm nicht. Eigentlich traute sie niemandem. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Dave hatte sie mitten in der Nacht angerufen und ihr gesagt, wo sie ihn abholen sollte. Er hatte gesagt, es sei dringend, aber seine Stimme hatte nicht so geklungen, als sei etwas nicht in Ordnung. Und jetzt das. Die Polizei suchte ihn im Zusammenhang mit der Ermordung einer jungen Frau.

Sie fing an zu weinen, dicke Tränen tropften von ihren Wangen auf die Jeans, aber sie gab keinen Laut von sich. Ge-räuschloses Weinen war ein Trick, den sie schon als Kind gelernt hatte. Das letzte Mal, dass sie laut geheult hatte, war nach der zweiten Abtreibung gewesen, die so furchtbar dane-bengegangen war.

Ihr Vater hatte sie so verprügelt wie noch nie in ihrem 518

Leben, als sie endlich aus dem Krankenhaus nach Hause durfte, steril und vernarbt. Er hatte die Wahrheit aus ihr heraus-gedroschen, und es war zu einem schrecklichen Krach mit Dave und seinen Eltern gekommen. Ihr Dad wollte unbedingt zur Polizei gehen. Sie war noch minderjährig, und er wollte seine Rache. Ihre Mutter hatte bloß immer die Gläser nachgefüllt. Irgendwie hatte Daves Vater ihren Dad davon abbringen können, Anzeige zu erstatten. Die beiden waren in ein anderes Zimmer gegangen und hatten ewig lange miteinander geredet, und als sie wieder rauskamen, war das Thema Polizei vom Tisch. Ein Jahr später hatte sie Telford verlassen, um auf die Schwesternschule zu gehen, und seitdem war sie nicht mehr zu Hause gewesen.

Hör auf damit! Sie schlug sich mit geballten Fäusten gegen die Schläfen, damit ihr Kopf nicht von der Vergangenheit überwältigt wurde. Na bitte, sie war wieder ruhig, hatte sich fast wieder im Griff. Als sie das Auto abschloss, zitterten ihre Hände kaum. An einer Seite der Raststätte standen ein paar Telefonzellen. Sie sagte sich, wenn keine benutzt wurde, wä-

re das ein Zeichen, dass sie die Polizei anrufen sollte. Sie waren alle leer, also zwang sie sich, die Nummer in Telford zu wählen, die im Radio durchgegeben worden war. Vielleicht war die Polizei dort ja freundlicher. Der Mann am anderen Ende klang gelangweilt, aber als sie sagte, sie habe möglicherweise Informationen zu David Smith, änderte sich sein Tonfall und wurde aufgeregt. Als sie das merkte, bekam sie es wieder mit der Angst zu tun, und sie bestand darauf, mit einer Frau zu sprechen.

»Die Kolleginnen, die an dem Fall arbeiten, sind alle unterwegs. Können Sie denn wirklich nicht mit mir reden?«

»Nein!« Sie schrie ihn fast an.

»Bleiben Sie dran.« Sie hörte, wie er den Hörer hinlegte 519

und laut rief: »Robyn, hast du mal ’ne Sekunde Zeit? Da ist eine am Telefon, die sagt, sie wüsste was zu Smith, will aber nur mit ’ner Frau reden.«

»Hallo? Hier ist Constable Robyn Powell, wer spricht da?«

»Mein Name spielt keine Rolle.« Aber sie hatte immer noch den Telforder Akzent, und sie hatte nicht daran gedacht, ihre Stimme zu verstellen.

»Wendy, sind Sie das?« Die Frau wusste Ihren Namen!

»Wir haben gehofft, dass Sie sich melden. Keine Sorge, Sie müssen keine Angst haben, mit uns zu reden. Wir möchten Ihnen helfen.«

Wendy riss sich den Hörer vom Ohr, als wäre er glühend heiß geworden, und starrte ihn entsetzt an. Sie konnte der Polizei unmöglich Informationen geben, wenn es nicht anonym war. Robyn Powell sprach noch immer, plapperte sinnloses Zeug, irgendwas von Sicherheit und Schutz. Wendy achtete nicht auf sie und legte auf. Schon wieder drohten die Tränen zu kommen, aber sie kämpfte sie wütend zurück.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Egal, was die Polizei von Schutz erzählte, sie konnte denen nicht trauen. Die kannten Dave nicht. Wenn sie ihn verriet, würde er sie vernichten.

Sie ging zurück zum Auto und fuhr davon. Das Radio dudelte irgendeinen schmalzigen Song, und ihr fiel wieder ein, dass sie Dave fast genauso sehr liebte, wie sie ihn fürchtete. Was war nur über sie gekommen, so an ihm zu zweifeln?

Schuldgefühle brandeten in ihr auf. Sie musste an ihn glauben. Die Polizei war verrückt, dass sie ihn verdächtigte. Die erwischten doch immer die Falschen. Weiß der Himmel, wie sie seinen Namen mit diesem armen Mädchen in Verbindung gebracht hatten, aber das war bedeutungslos.

Keiner außer ihr konnte ihn richtig beurteilen. Sie war der einzige wichtige Mensch in seinem Leben, und eines Tages 520

würde er das erkennen, und ihr gemeinsames Leben würde schön werden. Sie versuchte zu lächeln, aber die dünne Stimme, die sie in die hintersten Winkel ihres Verstandes verbannt hatte, lag ihr in den Ohren. Das war die Besserwiss-erstimme. Wenn irgendwas falsch lief, zum Beispiel, wenn er sie seinem schrecklichen Freund »ausgeliehen« hatte, dann war es diese Stimme, die sie eine Hure nannte. Diese Stimme beschwor sie, ihn zu verlassen, und sie beschloss wieder einmal, nicht auf sie zu hören. Alles würde gut werden, vorausgesetzt, sie machte keinen Fehler.

Dave war außerdem der einzige Mensch in ihrem ganzen Leben, der ihr je so etwas Ähnliches wie Zuneigung gezeigt hatte. Ihr Vater hatte sie als »Enttäuschung« bezeichnet, genauer gesagt als »seine größte Enttäuschung«, und ihre Mutter hatte sie ignoriert, ganz einfach. Und wenn sie Daves Liebe um den Preis gelegentlicher Schmerzen erkaufen musste, na wenn schon? Jede Liebe hatte ihren Preis.

Smith lag unter rauen Decken, die seine empfindliche Haut im Gesicht und am Hals kratzten. Draußen war der Himmel trübgrau, der Verkehr dicht. Sie hatte ihn früh am Morgen abgeholt, nachdem er sich getraut hatte, sein hastig fabrizier-tes Versteck auf der Müllhalde zu verlassen. Die ganze Zeit über, während er auf sie wartete, hatte er sich in zwei großen Abfallsäcken verkrochen und durch eine schmale Ritze widerliche Luft eingeatmet.

Den Trick hatte er als Fünfzehnjähriger gelernt. Er hatte zwar immer die bohrenden Fragen seines Vaters aushalten müssen, war aber selten von der Polizei vernommen worden, und sie hatten ihm nie etwas nachweisen können. Nur ein einziges Mal hatte die Polizei ihm aufgelauert. Seine genaue Kenntnis der Gässchen und Gärten in Telford hatte ihn geret-521

tet, und er hatte sich hinter einem Mietshaus in einem Berg von Müllsäcken versteckt. An jenem Tag waren die üblichen höhnischen Bemerkungen auf dem Spielplatz in der Pause anders ausgefallen. Anstatt ihn als »Spinner« oder »Widerling«

zu bezeichnen, hatten sie ihn »Stinkbombe« genannt, aber das hatte ihm nichts ausgemacht. Er war cleverer als die Polizei und alle anderen an dieser dämlichen Schule, sollten sie ihn doch nennen, wie sie wollten. Hinterher hatte er sich angewöhnt, immer ein paar große Müllsäcke dabeizuhaben, am besten die schwarzen, weil die nicht so auffällig waren. Zu Hause hatte er geübt, sie auszurollen und hineinzukriechen, so lange, bis er sie blitzschnell mit einem Schnippen des Handgelenks öffnen und sich innerhalb von dreißig Sekunden darin verstecken konnte.

Als er gestern aus diesem Haus gerannt war, hatte er die blutenden Verletzungen an Kinn und Hals mit einem dicken weißen Handtuch unter dem Kapuzensweatshirt verbergen müssen, und er war automatisch in sein altes Revier zurückgekehrt. In den acht Jahren, seit er die Stadt verlassen hatte, war die Müllabfuhr modernisiert worden. Die Berge von Abfallsäcken waren durch Mülltonnen ersetzt worden, und als in der Ferne immer mehr Polizeisirenen ertönten, geriet er allmählich in Panik.

Dann fiel ihm die städtische Müllhalde ein, die er am Stadtrand gesehen hatte. Ohne auf seine schmerzhaft brennenden Wunden zu achten, lief er über ein großes Grund-stück, überquerte eine Umgehungsstraße, rannte einen schmalen Fußweg entlang, den er von früher kannte, dann durch eine Unterführung und stand schließlich vor dem stabi-len Maschendrahtzaun, der die Müllhalde umschloss. Er hatte heftige Schmerzen, aber die Angst war stärker, und er schnitt mit der Drahtschere ein Loch in den Zaun, zwang seine zit-522

ternden Hände, ihm zu gehorchen. Hundebellen aus weiter Ferne jagte ihm einen panischen Schrecken ein – hatten sie seine Fährte schon aufgenommen? Er atmete tief durch und sagte sich, dass er immer noch genug Zeit hatte, alles richtig zu machen.

Sein Gehirn arbeitete rasch. Wenn er nur eine Öffnung in die Umzäunung schnitt, würden sie die Müllhalde so lange durchkämmen, bis sie alles abgesucht hatten. Es war ein riesiges Areal, aber das würde die Polizei nicht abhalten. Sie mussten glauben, dass er weitergeflohen war, und er musste die Hunde verwirren.

Ein grauenhafter Gestank stieg von der Halde auf. Er schob sich durch das Loch im Zaun zurück nach draußen, rannte einige hundert Meter daran entlang, und schnitt einen weiteren Durchschlupf hinein. Diesmal bog er die Drahten-den nach außen, sodass es aussah, als habe er sich von innen hindurchgezwängt. Er nahm das Handtuch vom Hals und verschmierte Blut auf dem Maschendraht. Dann lief er ins Gebüsch, das die Müllhalde umgab, und verteilte noch mehr Blut auf dem Boden, ehe er in seiner eigenen Fußspur den Weg zurückging, den er gekommen war. Er hastete an der Innenseite des Zaunes entlang, und rieb dabei das Handtuch über den Draht. Als er wieder am ersten Loch angekommen war, nahm er Anlauf und sprang mitten hinein in einen Abfallhaufen. Er landete auf einem Müllsack, der aufplatzte und saure Milch auf seine Wanderschuhe spritzen ließ, zusammen mit einer Ekel erregenden Masse, die verdächtig nach dem Inhalt einer Babywindel aussah. Normalerweise hätte er sich übergeben müssen, doch heute kam ihm das vor wie ein Geschenk Gottes.

Wieder machte er einen Satz, kam aber unglücklich auf, und ein jäher Schmerz schoss ihm vom Knöchel aufwärts ins 523

Bein. Er achtete nicht darauf, riss den nächstbesten Müllsack auf und verteilte den Inhalt auf der Stelle, wo er gelandet war. Er war nicht ganz so übelriechend wie der erste, doch die fauligen Essensreste müssten ausreichen, um die Hunde zu verwirren. Er richtete sich auf, um einen weiteren Sprung zu versuchen, doch sein Bein tat zu weh, und so hüpfte er einfach vorwärts, dreimal, bis er ein gutes Stück von seinem zweiten Landeplatz entfernt war.

Rasch hatte er seine eigenen Müllsäcke geöffnet und rollte sich in sie ein, bevor er sich in einen weichen, stinkenden Abfallhaufen eingrub. Das Hundegebell wurde lauter, als sie durch die Zaunöffnung kamen. Durch die dämpfenden Müll-schichten hindurch hörte er schwach die Hunde und die Ru-fe der Hundeführer, die überlegten, was sie machen sollten.

Wenn er ein bisschen Glück hatte, würden sie die Müllhalde nicht mal durchsuchen. Er wartete in seiner schützenden Hülle und vernahm alles wie unter Watte. Nach einer halben Ewigkeit hörte er das Rascheln von Plastiksäcken und das unverkennbare Geräusch eines schnüffelnden Hundes.

Er drückte die Ränder der beiden Säcke fester zusammen.

Das Blut rauschte ihm so laut in den Ohren, dass er fest davon überzeugt war, die empfindlichen Ohren des Hundes müssten es wahrnehmen. Mit purer Willenskraft verlangsamte er seinen Herzschlag und kontrollierte seine Atmung, sodass sie ganz leise wurde.

Plötzlich war ein Rascheln ganz in seiner Nähe zu hören, und er erstarrte. Es war so nah, dass der Abfallberg, auf dem er lag, bebte. Das Geräusch wurde lauter, und er spürte etwas Schweres dicht neben sich. Er konnte kaum atmen. Die Luft in den Säcken war beinahe aufgebraucht, seine Brust hob und senkte sich, und seine Nase drückte gegen das Plastik, das ganz feucht von Kondenswasser war. Die Klaustrophobie, die 524

ihn seit seiner Kindheit immer wieder befiel, drohte ihn zu überwältigen. Fast wäre er aus den Säcken gesprungen, doch in diesem Moment ertönte in einiger Entfernung ein Ruf, das, was da über ihm war, bewegte sich weg und ließ ihn zitternd in seinem eigenen Schweiß liegen.

Offenbar hatten sie die Baseballmütze gefunden, die er in das Dickicht geworfen hatte. Er zählte bis dreißig, dann öffnete er die Säcke einen Spalt, damit er wieder Luft bekam.

Sein Gesicht war jetzt nass, und er wusste nicht, ob von Blut, Schweiß oder Tränen. Er leckte sich den salzigen Geschmack von den Lippen und unterdrückte ein Schluchzen der Erleichterung.

Er blieb lange liegen, erschöpft und mit Schmerzen am ganzen Körper. Irgendwann musste er wohl eingeschlafen sein, denn er erwachte verwirrt und verstört von einem Traum, in dem er lebendig begraben worden war. Angst war eine ganz neue Empfindung für ihn, und ihre lähmende Macht schockierte ihn. In der stinkenden Dunkelheit der Müllhalde tastete er nach seinem Rucksack und der Wasser-flasche, die er stets darin aufbewahrte. Als er einen Träger von der Schulter schob, stieß er mit der Hand an seinen Hals und schrie vor Schmerz auf. Er berührte vorsichtig die verletzte Haut. Sie fühlte sich heiß und klebrig an. Als er an seinen Fingern schnüffelte, war da ein leicht eitriger Geruch, der ihm zu denken gab. Er war noch nie verletzt worden.

Ein kräftiger Schluck Wasser belebte ihn, und seine Über-lebensinstinkte meldeten sich wieder. Er musste hier weg.

Wenn die Polizei ihn bei der groß angelegten Suche nicht fand, würden sie vielleicht zur Müllhalde zurückkehren. Es war absolut nichts zu hören, deshalb wagte er es, sich ein wenig aufzurichten, bis er den Himmel sehen konnte. Er blickte auf die Uhr, fast neun. Es war zwar noch nicht ganz dunkel, 525

aber er konnte nicht hier liegen bleiben und abwarten, bis sie möglicherweise zurückkamen.

Vorsichtig schob er die Säcke auseinander, verharrte lau-schend und ging dann langsam in die Hocke. Hinter der Um-zäunung suchten drei Personen in weißen Schutzanzügen den Boden auf allen vieren ab. Sie waren völlig auf ihre Aufgabe konzentriert. Amüsiert sah er, dass entlang seiner falschen Fährte leuchtendes Polizeiband gespannt worden war. Seine Finte hatte nicht nur die Hunde in die Irre geführt. Ohne die weißen Gestalten auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, schlich er sich rückwärts auf die gegenüberliegende Seite der Müllkippe. Dort war ein Eingang mit einem Schlagbaum und einem verschlossenen Tor. Jetzt, nach Dienstschluss, war niemand mehr da. Seine Drahtschere machte kurzen Prozess mit dem Zaun, und schon war er draußen auf der Straße. Seiner Erinnerung nach musste er nur eine Meile ohne vernünftige Deckung überwinden, bis er zu einem Pfad kam, der querfeldein führte.

Er trabte los, doch der Schmerz im Knöchel und das Ziehen im Hals waren zu stark, deshalb fiel er in einen humpeln-den Gang. Zwei Autos passierten ihn, aber keines wurde langsamer. Mit seinem Rucksack und den praktischen Schuhen wirkte er wie ein Wanderer. Das Sweatshirt mit der Kapuze, die er über den Kopf gestreift hatte, um seine Verletzungen zu verbergen, war eigentlich zu warm für einen Sommerabend, aber davon abgesehen gab es nichts, was ihn von einem ganz normalen Spaziergänger unterschieden hätte.

Ein Plan nahm in seinem Kopf Gestalt an. Er würde zu-rück zum Cottage laufen, sich waschen und dann mit dem Motorrad runter nach Devon fahren. Dort würde er diese Polizistin umbringen und anschließend das Land verlassen. Er hatte schon eine Fluchtroute ausgearbeitet. Für einen Flug auf 526

die Kanalinseln brauchte er keinen Pass, von da mit einem Boot rüber nach Frankreich und dann per Zug nach Nord-spanien. Er erinnerte sich, in der Schule gelesen zu haben, dass die Berge an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien wild und unwegsam waren. Sich dort zu verstecken wä-

re ein Kinderspiel.

Gedanken an das Leben, das ihn nach seinem nächsten Mord erwartete, trieben ihn trotz Schmerzen und Hunger weiter. Mitternacht war vorüber, als er den Wald erreichte, der die Berge säumte, in denen sein Cottage lag. Die Nacht war dunkel, nur dann und wann riss der aufkommende Wind die Wolkendecke auf, und der Vollmond war zu sehen.

Während er zwischen den Bäumen hindurchtrottete, hörte er plötzlich ein Motorengeräusch in der Ferne, das schnell näher kam. Er duckte sich in den Schatten einer dicht belaubten Birke. Das regelmäßige Schnappen konnte nur von einem Hubschrauber kommen.

Ein greller Lichtstrahl glitt durch das Tal, das er gerade verlassen hatte, und huschte durch die Bäume. Er wartete, bis er vorüber war, dann rannte er zu der nächsten Stelle, die nach oben von den Bäumen gut abgeschirmt wurde. Seine Schmerzen waren jetzt vergessen, vom Adrenalin betäubt. Als der Hubschrauber einen Kreis flog und zurückkam, presste er sich gegen den Stamm einer Lärche und hoffte, dass er damit verschmelzen würde.

Der Suchscheinwerfer schwenkte ab, und er lief weiter.

Eine halbe Stunde lang wiederholte sich dieses Muster, während der Hubschrauber das Gebiet nach einem engen Raster absuchte. Schließlich verschwand er, aber diese Erfahrung hatte Smiths Selbstbewusstsein ein weiteres Mal erschüttert.

Sein Cottage war keine Meile mehr entfernt, aber es war kein Zufluchtsort mehr. Vielleicht sollte er einfach sein Motorrad 527

nehmen und abhauen. Noch während er darüber nachdachte, sah er Autoscheinwerfer über die unbefestigte Straße tanzen, die zu den Ferienhäusern am See führte. Er schlich sich bis zum Waldrand und spähte die Straße hinauf. Zwei Autos blockierten die Zufahrt, eines davon mit dem unverkennbaren blau-weißen Erkennungszeichen auf der Tür. Bei dem Anblick wich er zurück und setzte sich, den Kopf in die Hände gestützt.

Wie hatten sie ihn gefunden? Sein erster Gedanke war, Wendy die Schuld zu geben, aber das war zu abwegig. Dann also Wayne. Der kleine Mistkerl hatte also doch gesungen.

Und dabei war er ihm immer absolut ergeben gewesen, bis man ihn wegen dieser Schlampe eingesperrt hatte. Mit ihr hatte alles angefangen. Sie war schuld. Der Gedanke an die Polizistin rief ihm in Erinnerung, dass er die Informationen brauchte, die er in den Satteltaschen versteckt hatte.

Während er lautlos über modriges Laub schlich, war ihm die Stille ringsherum ebenso bewusst wie die Nähe seiner Verfolger. Die Honda stand noch da, wo er sie versteckt hatte, die Satteltaschen gefüllt, abfahrbereit. Er überlegte, ob es ihm gelingen könnte, sie durch den Wald zu schieben, ohne dabei zu viel Lärm zu machen. Nach langer Überlegung entschied er sich dagegen. Er würde sie zurücklassen müssen und wieder auf seine Beine vertrauen. Er schloss die Motorradta-schen auf und zog eine der Tüten heraus.

Die Luft war kühl auf seiner nackten Haut, als er sich seiner stinkenden Kleidung entledigte und saubere anzog. Ein paar frische Hemden, Unterwäsche und eine Jogginghose stopfte er in den Rucksack, zusammen mit seinem Rasierer und den Computerausdrucken. Er konnte nicht alles mitnehmen und musste sich zwischen seinem Laptop und dem Spezialkuchen entscheiden, den er für Wayne vorbereitet 528