Elizabeth Corley

Crescendo

scanned 04/2008

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Die junge Polizistin Louise Nightingale spielt den Lockvogel für einen Vergewaltiger. Die Aktion gelingt in letzter Sekunde; der Täter kommt hinter Gitter. Doch dann wird in ihre Wohnung eingebrochen, und sie erhält bedrohliche Mails von »Pandora« – mit einem Bild ihrer eigenen, grausam zugerichteten Leiche …

ISBN: 3-502-18096-2

Original: Crescendo

Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Verlag: Fischer

Erscheinungsjahr: 2005

Umschlaggestaltung: GGP Media GmbH, Pößneck Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

BUCH

Über ein Internetrollenspiel findet er seine Opfer: der »Dä-

monenkönig«. Erst als die junge Polizistin Louise Nightingale sich in das Spiel einloggt, kommt die Polizei dem Vergewaltiger auf die Spur. Er wird gestellt und im Gefängnis von jeder Kommunikationsmöglichkeit abgeschnitten. Dennoch erhält Nightingale auf einmal Anrufe und Mails, die immer bedrohlicher werden. Um dem Terror zu entfliehen, zieht sie sich in die abgelegene Mühle ihrer Familie in Devon zurück, wo sie sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen muss. Wäh-renddessen wird eine junge Frau in London brutal abgeschlachtet. Louise Nightingale wähnt sich in Sicherheit – nur ihr Vorgesetzter Inspector Fenwick ahnt die tödliche Gefahr.

Elizabeth Corley

CRESCENDO

Roman

Aus dem Englischen

von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Scherz

www.fischerverlage.de

Erschienen bei Scherz, einem Verlag der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

© Elizabeth Corley 2005

Für die deutsche Ausgabe:

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2005

Satz: MedienTeam Berger, Ellwangen

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany

ISBN 3-502-18096-2

PROLOG

Fürwahr ein Teufel, diese Melancholie, die Menschen böse macht.

The Lady’s Trial, John Ford

5

Februar

Er beobachtete die Frau aus seinem Versteck in den Büschen. Es wurde schon dunkel, und bald würden die Letzten den Park verlassen. Der kühle Abend und der drohende Regen hatten die meisten bereits vertrieben, aber er wusste, dass sie warten würde, weil sie hier verabredet war – mit ihm.

Er genoss es, diese Macht über sie zu haben. Als er ihr das erste Mal ein Treffen vorgeschlagen hatte, war sie bereitwillig darauf eingegangen. Sie hatte fast eine Stunde im Regen aus-geharrt, während er in seinem warmen Auto saß. Als sie schließlich die Geduld verlor, folgte er ihr bis nach Hause und erfreute sich dabei an dem Anblick ihrer schlanken Waden, die immer wieder unter dem Wintermantel hervorblitz-ten. Er hätte sie gleich darauf nehmen sollen wie geplant.

Doch er hatte gezögert. Aus Stunden der Verzögerung waren Tage geworden, aus Tagen eine Woche. Er ließ Gelegenheiten verstreichen, begnügte sich mit seinen Phantasien und dem Vergnügen anonymer Nähe. Auf der Straße war er ganz dicht an ihr vorbeigegangen, hatte ihr Parfüm gerochen, und er hatte über ihr einsames, müßiges Leben nachgedacht. Sie ging nie zur Arbeit.

Nach einer Woche waren seine Punkte verspielt. Er hätte sie fallen lassen und sich eine andere suchen sollen. Stattdessen bat er sie um ein zweites Treffen, was er noch nie getan hatte, aber sie war etwas Besonderes. Er wusste, dass sie besser sein würde als alle anderen, dass sich bei ihr die Gefahr lohnte 6

und das Risiko, für seinen Ungehorsam bestraft zu werden.

Es war verboten, dieselbe Frau zweimal zu treffen, ein schwerer Verstoß gegen die Regeln.

Er zog seinen neuen Lederhandschuh ein Stück herunter und blickte auf das Leuchtzifferblatt der Uhr. Bald war es so weit. Langsam verblasste der Himmel und wurde aschgrau und verschwommen wie der Bauch eines mächtigen Raub-vogels, der über der Erde kreiste. Die Frau ging nun hin und her, stampfte mit den Füßen, um sich an diesem kalten Win-terabend aufzuwärmen. Er nahm ihre Kleidung in Augenschein: Der lange, schwarze Mantel verbarg ihre Figur, aber er wusste, wie sie aussah. Mit einem Fernglas war er in die Privatsphäre ihres Schlafzimmers eingedrungen. Dumm von ihr zu glauben, sie bräuchte die Vorhänge nicht zuzuziehen, nur weil sie im obersten Stock wohnte. Er hatte blasse Haut schimmern sehen, das Rosa einer Brustwarze und den dunklen Anflug von Schamhaar. In ihrem Müll hatte er wegge-worfene Unterwäsche gefunden und behalten, noch ein Re-gelverstoß. »Keine Spuren.« Wenn sein Souvenir entdeckt würde, bekäme er gewaltigen Ärger.

Er war nur ein Schüler und lernte bei einem Meister, der kein Pardon kannte, wenn es darum ging, die Regeln des Spieles einzuhalten, das er erfunden hatte. Normalerweise befolgte er sie, aber bei ihr war die Versuchung einfach zu groß gewesen. Ansonsten war er ein guter Schüler, der mit jedem Mal besser wurde. Die hier würde seine Beste sein, ganz bestimmt. Vielleicht würde er sie heute Abend … ja …

töten. Er zitterte schon, als er das Wort nur dachte. Er wusste, dass das von ihm erwartet wurde und dass ihm so manche Geheimnisse nicht offenbart würden, solange er sich nicht bewährt hatte. Er war unsäglich gespannt auf die Geheimnisse. Erst wenn er sie kannte, würde er ganz dazugehören.

7

Der junge Mann schauderte vor aufgeregter Vorfreude.

Sein Atem beschleunigte sich, und die Erregung löste ein unkontrollierbares Flattern in seiner Kehle aus. Er stellte sich vor, wie er die Hände um ihren Hals legte, und Wärme durchflutete ihn.

»Nein!« Er zischte es durch zusammengebissene Zähne. Er verachtete sich für seine mangelnde Selbstbeherrschung. Es war immer zu schnell vorbei. Nicht wie bei … Er schob den Gedanken beiseite. Wenn er anfing, Vergleiche anzustellen, würde sich sein Selbstvertrauen in Luft auflösen. Es wäre nicht das erste Mal.

Endlich. Das Liebespärchen auf der Bank hinten im Rosengarten erhob sich und warf im Vorbeigehen einen Blick auf die einsame Frau. Sie war es wert, noch einmal hinzu-schauen. Blass, vollkommene Haut, volle Lippen, die wie eine reife Frucht zerplatzen würden, wenn er in sie hinein-biss, und Haare so schwarz, dass sie seine dunkelsten Gedanken begraben konnten.

Er dehnte und streckte Arme und Beine, um die Muskeln zu lockern, um schnell und stark zu sein. Auf der anderen Seite der Mauer gingen Straßenlaternen an, warfen tiefere Schatten über die Gärten und in den Park. Sein Versteck im Gebüsch wurde dunkler. Wenn sie irgendwann die Geduld verlor, würde sie den gepflasterten Weg entlang müssen, auf ihn und seine wartenden Hände zu. Er trat einen Schritt nä-

her an den Weg.

Sie sah wieder auf die Uhr. Er kam nicht. Erleichterung und Enttäuschung rangen in ihr, und die Erleichterung war stärker. Es war nicht ihre Idee gewesen, sich auf dieses Treffen einzulassen. Andere hatten den Vorschlag gemacht, und sie hatte sich überreden lassen. Sie hatte gehofft, nachdem er sie 8

letzte Woche versetzt hatte, dass sie nun nicht mehr die Suppe auslöffeln musste, die andere ihr mit ihren schlauen Ideen eingebrockt hatten. Dann hatte er ihr per E-Mail wieder einen Treffpunkt vorgeschlagen, und jetzt war sie hier und kam sich idiotisch vor.

Ein Windstoß fegte über das Gras und schleuderte ihr welke Rosenblätter gegen die Beine. Sie hatte lange genug gewartet. Es war Zeit, nach Hause zu gehen, er würde nicht mehr kommen. Als sie sich umwandte und den Weg zurückgehen wollte, den sie gekommen war, schaute sich die junge Frau in der Hoffnung um, dass noch Leute im Park waren, aber sie war allein. Sie zog den dicken Wollmantel enger zu, verschränkte die Arme zum Schutz gegen die Kälte vor der Brust und machte sich auf den Rückweg. Ihr Schatten ging auf dem gepflasterten Weg vor ihr her, ein tröstlicher Begleiter, der Licht und Sicherheit in der aufziehenden Nacht verhieß. Er verschwand, als sie auf einen schmalen Weg bog, wo hohe Büsche einen Tunnel durch das Strauchwerk bildeten.

Die Glühbirnen in den Zierlampen, die ihr eigentlich den Weg beleuchten sollten, waren zerschlagen worden. Ihre Schuhsohlen knirschten über frische Glasscherben, und sie beschleunigte jetzt ihren Schritt. Der Wind peitschte die Sträucher, die sie einhüllten, ahmte das Rascheln von Tieren auf Beutefang nach. Ihre Schulterblätter zuckten, und sie fiel in einen komischen Halbtrab, um möglichst schnell die Sicherheit ihres Autos zu erreichen.

Er packte sie wie aus dem Nichts. Ein dunkler Schatten, der auf sie zugesprungen kam und ihr den Mund zuhielt, bevor sie schreien konnte. Sie stürzten beide zu Boden, sein Gewicht drückte ihr die Luft aus der Lunge und raubte ihr jede Fähigkeit, um Hilfe zu rufen. Sie schlug hart mit dem Hinterkopf auf und verlor kurz das Bewusstsein. Als sie die 9

Augen mühsam wieder aufbekam, war sein maskiertes Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt, ein schwarzer Le-derhorror, der nur Augen und Mund sehen ließ. Er biss ihr in die Schultern, die auf einmal nackt waren. Ihr Mantel war aufgerissen worden, und der Ausschnitt ihres Pullovers war zerfetzt.

»Nein!«, schrie sie so laut sie konnte, enttäuscht, dass ihre Stimme so jämmerlich klang. »Runter, du Scheißkerl!«

Sie wollte einen Schwinger an seinem Kopf landen, doch er schlug ihre Hand weg und holte plötzlich ein Messer hervor. Wieso hat der ein Messer? Davor hatte sie keiner gewarnt.

»Schnauze, du Schlampe. Keinen Mucks, dann bleibst du vielleicht am Leben.«

Sie versuchte, sich seine Stimme zu merken, sich den Akzent einzuprägen, um eine gute Zeugin abzugeben, aber die Angst war fast übermächtig.

»Runter!«, schrie sie wieder, entsetzt über die Tränen auf ihrem Gesicht. Als seine Hände nach ihrem BH griffen, wehrte sie sich wie von Sinnen, hatte Panik, was er tun könnte, wenn er entdeckte, was darunter versteckt war. Sie schaffte es, ihn dicht am Auge zu kratzen und spürte Haut unter den Nägeln. DNA, aber das wäre ein schaler Sieg, wenn sie sie von ihrem Leichnam abnehmen müssten.

Er ließ von ihren Brüsten ab und riss ihr die Jeans auf, schnitt hastig mit dem Messer durch den Stoff. Seine Hose war bereits offen, und er rieb sich an ihr. Als sie die Berührung spürte, schrie sie laut auf, ein Entsetzensschrei, trotz des bedrohlichen Messers an ihrer Kehle. Es musste doch jemand kommen! Sie presste die Oberschenkel fest zusammen gegen die grapschenden Finger und die Schläge seiner Faust. Er drückte ihr das Messer an den Hals.

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»Hör auf, dich zu wehren, sonst bist du tot. Mach die verdammten Beine breit!«

Sie presste unbeirrt weiter die Knie zusammen, während er auf ihre Oberschenkel einschlug. Die Hiebe wurden immer wilder und schienen bis zum Pflaster hindurch zu vibrie-ren. Dann waren da andere Geräusche, Rufe, grelles Licht, und sein Gewicht wurde hochgehoben. Sie rief weiter, konnte nicht begreifen, dass die Gefahr vorüber war.

Ihr zitternder Körper wurde in eine Plastikfolie gewickelt, und über ihre Finger wurden Zellophanbeutel gestülpt, Routine, als wäre sie bereits tot. Hände griffen aus dem Licht heraus nach ihr.

»Nein.« Sie schüttelte sie ab. Die Leute traten zurück.

»Hat eine Penetration stattgefunden, Nightingale?«

»Was?« Sie starrte fassungslos in das vertraute Gesicht.

»Hat eine Penetration stattgefunden? Falls ja, brauchen wir eine Urinprobe. Reine Routine, Sergeant.«

Sie hörte eine Stimme »um Gottes willen« murmeln, als sie die Faust hochschnellen ließ, die mit einem befriedigenden Knacken das Kinn von Detective Inspector Blite traf.

»Sie Scheißkerl!«

Irgendwo lachte jemand.

»Wayne Griffiths, Sie sind verhaftet …«

Die Worte drangen über den Rasen hinweg zu ihm, während er zusah, wie sein Freund abgeführt wurde. Er hielt sich seit Stunden versteckt. Sein Plan war ganz einfach gewesen: Er wollte Waynes neuerlichen Versuch, sich seiner Welt würdig zu erweisen, beobachten und kritisieren. Doch jetzt war der Junge verschwunden, und er konnte nichts tun, um ihn zu retten. Er war wütend und verwirrt. Die Festnahme hatte seine Weltordnung auf den Kopf gestellt. Wie war das möglich? Wie war die Polizei Wayne auf die Spur gekommen? Diese Frau, 11

wer war sie? Sie hatten sie Sergeant genannt – war sie Polizistin? Wie konnte der Junge nur so blöd gewesen sein?

Er war auf den ältesten Trick der Welt hereingefallen, er hatte sich so sehr auf eine Frau fixiert, dass er in die Falle getappt war. Zugegeben, sie war fast perfekt, aber es gehörte doch gerade zu der Prüfung, sich von Frauen nicht betören zu lassen, und sein Schüler hatte ihn enttäuscht. Wenn sie nicht gewesen wäre … Er unterdrückte den Gedanken. Für Bedauern war keine Zeit.

Er musste die Wohnung sauber machen, bevor die Polizei die Adresse herausfand. Wenn er alle Spuren entfernte, bestand noch eine Chance, dass die Beweise für eine Verurteilung nicht ausreichten. Es gab Mittel und Wege, selbst die fundier-teste Anklage ins Wanken zu bringen, vor allem, wenn sie sich auf einen Hinterhalt der Polizei stützte. Falls keine anderen Beweise vorlagen, konnte eine gute Verteidigung in den Köpfen der Geschworenen genügend Zweifel säen.

Er hatte das Geld und die erforderlichen Kontakte, um für die besten Verteidiger zu sorgen. Er wollte seinem Schüler zeigen, dass er ihn nicht im Stich ließ; was nicht heißen sollte, dass er dessen Loyalität in Frage stellte, sie war absolut. Aber er würde nicht versuchen, ihn gegen Kaution freizubekommen. Seine Dummheit hatte Strafe verdient, und ein längerer Aufenthalt im Gefängnis würde dem Jungen eine Lektion erteilen, die er dringend brauchte.

Derweil würde er von der Bildfläche verschwinden. Er würde bis zum Prozess untertauchen müssen. Falls die Anklage zusammenbrach, könnten sie sich wieder zusammentun und woanders weitermachen.

Froh darüber, seine Selbstsicherheit wiedergewonnen zu haben, sprintete der Beobachter über das Gras davon und verschwand in der Dunkelheit.

12

Ein Jahr später

»Würdest du auch allein reingehen? Ich weiß, ich sollte mitkommen, aber …« Er blickte weg, schämte sich seiner Furcht vor dem, was sie drinnen erwartete.

»Nein, schon gut, ich mach das allein. Aber warte hier auf mich.«

Sie stieß eine schwere, mattrot lackierte Eisentür auf und ging an Schildern in einer Fremdsprache vorbei, mit der sie nichts anfangen konnte. Ein unangenehmer chemischer Geruch drang durch ihre zusammengebissenen Zähne und füllte ihre Kehle mit einer beißenden Süße, von der sie würgen musste. Die Luft war kalt, der Korridor leer. Ein nacktes Fenster am hinteren Ende ließ grelles Licht herein, das ihren Schatten zurück Richtung Tür jagte.

In der Mitte der Decke hing an Stahlketten ein Schild herab, auf dem neben den stilisierten Umrissen einer Kapelle ein schwarzer Pfeil nach rechts zeigte. Sie folgte dem stummen Hinweis und bog ab, ließ das Sonnenlicht vom Fenster am Ende des Korridors hinter sich. Nackte Glühbirnen an den Wänden beleuchteten jetzt ihren Weg.

Sie gelangte zu einer weiteren massiven Tür, auf der die Umrisse der Kapelle unter einer abblätternden Plastikbe-schichtung zu sehen waren. Sie drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verschlossen. Alles war totenstill, doch dann hörte sie das leise Klacken von Fingern auf einer Tastatur, und sie ging dem Geräusch bis zu einer Bürotür nach. Sie klopfte leise an und trat ein.

13

»Si?« Eine junge Frau mit schweren Lidern und dunklen Augen blickte auf, sichtlich verärgert über die Störung.

»Entschuldigen Sie. Ich bin Louise Nightingale. Ich komme aus England. Ich möchte zu meinen Eltern.«

Als die Frau den Namen hörte, wurde ihr Blick weich, und sie stand auf.

»Scusi.«

Sie ließ Nightingale allein im Büro stehen, wo sie über einen Metallschreibtisch in den klaren Himmel dahinter blickte. Genau deshalb waren ihre Eltern hergekommen, auf der Suche nach Sonnenschein im Winter. Sie wandte sich ab, wieder mit einem flauen Gefühl.

Ein Mann, der einen tadellos geschneiderten schwarzen Anzug, rote Krawatte und Sonnenbrille trug, betrat den Raum.

»Miss Nightingale, wir hatten Sie gestern erwartet. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

Der Mann ging zu der Kapellentür und schwang dabei einen Schlüssel an einer dünnen Silberkette wie einen Rosenkranz.

»Sie sind hier drin. Es tut mir so Leid. Möchten Sie lieber allein sein?«

»Ja, bitte.«

Sie stieß die Tür auf, sie war schwer und schien sich der Störung zu widersetzen. Ein dicker Ledervorhang hing wie eine zweite Barriere dahinter. Innen war die Luft noch kälter, das Licht dämmrig. Es roch nach Blumen und Weihrauch, und erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie in einem katholi-schen Land war. Ein Kruzifix mit einem leidenden Christus aus bemaltem Gips auf Holz hing an der leuchtend roten hinteren Wand. Davor standen zwei offene Särge. Als sie darauf zuging, überwältigte sie der Duft einer Vase voller Lilien. In 14

der kühlen Dämmerung wirkten sie wie vollkommene Elfen-beinblüten, die sich an die sterile, klimatisierte Luft klammerten.

Das leise Brummen der Klimaanlage war das einzige Ge-räusch in der Stille. Hinter ihr fiel die Tür mit einem Klicken ins Schloss, und einen Moment lang musste sie den Impuls niederkämpfen, zurückzulaufen und gegen die Tür zu schlagen, um ihrem eingebildeten Begräbnis zu entfliehen. Stattdessen ging sie weiter, ganz die beherrschte und gefasste Engländerin, und legte die Hand auf den Eichenholzsarg ihrer Mutter.

Jemand hatte ihr bestes Sommerkleid angezogen. Ein wei-

ßes Tuch bedeckte ihren Leichnam bis zur Brust. Die Hände darunter waren gefaltet, und sie fühlte sich um einen letzten Blick auf die langen Finger und die schlanken rosa Nägel, die immer so sauber gewesen waren, betrogen.

Ihr fiel die Warnung wieder ein, die ihr von der britischen Polizei im Namen der italienischen Kollegen ausgerichtet worden war: »Beide haben sehr schwere Verletzungen erlit-ten. Ihr Vater starb an der Unfallstelle, Ihre Mutter zwei Stunden später.«

Sie fragte sich, was für Verstümmelungen das Leichentuch verbarg, und schluckte schwer, um sich für den Anblick des Gesichtes ihrer Mutter zu wappnen.

Es war schön. Wie eh und je. Wundersamerweise war das Gesicht ihrer Mutter unversehrt geblieben. Noch unglaublicher war, dass der Bestatter der Versuchung widerstanden hatte, sie mit Farben zu schminken, die sie im Leben nie getragen hätte.

Das hellbraune Haar, ohne eine Spur von Grau, Tönen unnötig, fiel ihr weich und glatt um das Gesicht. Die kleinen Sorgenfalten und die leichten Runzeln auf ihrer Stirn, die 15

sich immer gezeigt hatten, wenn sie angestrengt nachdachte, waren verschwunden, sodass sie jünger aussah, als Nightingale sie in Erinnerung hatte. Die grausame Ironie, sie im Tod so jugendlich zu sehen, raubte ihr den Atem.

Nur die vollen Lippen zeigten Spuren des Todes. Sie waren fest geschlossen und ganz blass, fast blau. Ein wenig Lippenstift hätte nicht geschadet, dachte sie, aber vielleicht wollte der Bestatter ihre natürliche Schönheit auch im Grab unangetastet lassen.

Sie beugte sich herab und küsste ihre Mutter auf die Stirn, auf beide Augen und zuletzt, ganz sanft, auf den Mund, wie ein unbewusstes Kreuzzeichen. Dann richtete sie sich auf und ging zu ihrem Vater.

Das Tuch ging ihm bis zum Kinn, sodass nicht zu erkennen war, was er anhatte. Seine Augen waren geschlossen, aber sie kannte die Farbe, das Glockenblumenblau eines klaren Sommerhimmels. Es stand nicht zu befürchten, dass sie je vergessen würde, wie sie aussahen, denn um sie wieder zu sehen, brauchte sie nur in den Spiegel zu schauen. Sein ganzer Kopf war mit blütenweißen Verbänden umwickelt, aus denen nur Augen, Nase und Mund hervorlugten. Trotzdem konnten sie nicht alle Wunden verbergen. Eine führte genau von der Mitte der Unterlippe in einer leuchtenden Diagonale in den Verband über dem Kinn. Eine weitere, sorgfältig ge-näht, begann außen an der linken Augenbraue, zog sich quer über die Stirn und verschwand in dem einzigen Büschel Haare, das auf seiner rechten Schläfe zu sehen war.

Es war eine Frankensteinmonster-Naht, und der Anblick ließ sie vor Schock und unterdrückter Hysterie so heftig ki-chern, dass sie sich den Mund mit beiden Händen zuhalten musste. Dann verebbten die Geräusche zu einem leisen Wimmern, während sie auf den Leichnam blickte, der ihr 16

Vater gewesen war. Es war so wenig von ihm zu sehen, dass sie sich fragte, warum der Sarg überhaupt offen gelassen worden war, aber sie war froh darüber.

Sie hob eine Hand und streichelte ihm über den banda-gierten Kopf.

»Ach Dad«, flüsterte sie, »so ein verdammtes Pech.«

Dann küsste sie ihn sanft, wie zuvor ihre Mutter, wandte sich zum Gehen und kämpfte darum, die Fassung wiederzu-gewinnen. Es bestand kein Grund, länger hier zu bleiben.

Was könnte sie noch tun? Als sie nach dem Ledervorhang griff, spürte sie ein Kribbeln auf der Haut zwischen den Schulterblättern. Eine verrückte Sekunde lang war sie sicher, dass ihre Eltern sich beide aufgesetzt hatten und sie ansahen, wünschten, dass sie sich noch einmal umdrehte, um ihr auf Wiedersehen zu sagen. Das Gefühl war so stark, dass sie einen Blick nach hinten warf. Die einzigen Augen waren die von Christus, der am Kreuz litt, voller Erbarmen und allein. Sie drehte sich wieder zur Tür, öffnete sie und ging hinaus.

Draußen im Sonnenschein des Parkplatzes saß ihr Bruder auf einer Bank, das Gesicht grau, die Augen gerötet.

»Das hat aber lange gedauert.« Er klang kleinlaut, verlegen, weil er es nicht fertig gebracht hatte, seine toten Eltern zu sehen.

»Es waren jede Menge Formulare zu unterschreiben, aber jetzt ist alles erledigt.«

»Ich konnte einfach nicht. Tut mir Leid.«

»Ist schon gut, ehrlich.«

»Waren sie, ich meine, die Särge …?«

Auch er wusste um die gut gemeinte Warnung der italienischen Polizei.

»Die Särge waren offen. Sie sahen beide sehr friedlich aus, als würden sie schlafen. Es war kein schrecklicher Anblick.«

17

Er drückte sie ganz fest, und sie spürte, wie ihre Kehle sich zuschnürte. Sie löste sich von ihm, konnte ihn nicht ansehen, aus Angst vor der Last der Tränen, die sie in sich spürte. Sie wusste, wenn sie ihnen freien Lauf ließe, würden sie so bald nicht wieder aufhören, als sei ein Damm gebrochen.

»Komm, lass uns fahren. Ich könnte einen Drink vertragen.«

Er ließ seinen Arm locker um ihre Schultern liegen und führte sie zum Wagen. Die Sonne brannte auf ihrem dunklen Kostüm, als sie langsam von der Leichenhalle weggingen, ihre Schatten hart auf dem grauen Kies.

Bis heute war der Tod ihrer Eltern nicht real gewesen. Sie hatte die Formalitäten erledigt, die Flugtickets besorgt, die Sachen ihrer Eltern einpacken und zu sich ins Hotel schicken lassen. Selbst das Ausfüllen der Versicherungsformulare für die Überführung der Leichname nach Hause war eine willkommene Ablenkung gewesen. Jetzt musste sie sich noch um die Beisetzung kümmern und um die Grabsteine. Dann …

Ihr Bruder schloss fest die Autotür, und sie schnallte sich an. Der Klang der zuknallenden Tür hatte eine Endgültigkeit, die in ihren Gedanken nachhallte. Das Leben würde nie wieder so sein wie zuvor. Ihre Eltern waren tot. Sie war eine Waise. Alles, was zwischen ihnen ungeklärt gewesen war, würde es für immer bleiben. Offene Möglichkeiten hatten sich in dem Sekundenbruchteil geschlossen, in dem ein Reifen platzte und ihr Wagen im hohen Bogen in die malerische Schlucht stürzte, an deren Anblick sie sich Augenblicke zuvor bestimmt noch erfreut hatten. An die Stelle einer möglichen Aussöhnung mit ihren Eltern war Reue getreten, Schuldgefühle würden die Leere füllen müssen, wo Erklärungen und Verzeihen irgendwann vielleicht das Verhältnis zwischen ihnen hätten flicken können. Alles, was sie einander noch hät-18

ten bedeuten können, war mit ihren letzten Atemzügen erloschen.

Das Gefühl vertaner Chancen war fast unerträglich. Für einen so selbstbewussten und beherrschten Menschen wie sie war die Erkenntnis der Machtlosigkeit erdrückend. Sie fühlte sich beschädigt, isoliert, außer Kontrolle. Das Leben würde nie wieder so sein wie zuvor.

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TEIL EINS

Ein Mann schämt sich nur selten dafür, dass er eine Frau nicht so recht lieben kann, wenn er eine gewisse Größe in ihr sieht: Die Natur hat Größe für die Männer vorgesehen.

George Eliot

Man kann mit dieser neuen Erfahrung sowohl im Weine als auch in der Frau eine Versuchung sehen. Man muss beiden Versuchungen

widerstehen, und wenngleich man alle Frauen mit größter Höflichkeit behandeln sollte, ist doch jede Form von Vertraulichkeit zu meiden.

Horatio Herbert Earl Kitchener of Khartoum and Broome 20

Kapitel eins

»Und?«

Der Verteidiger beugte sich vor, die Nase ebenso spitz wie sein Tonfall, die Perücke in der Hitze seiner Attacke ver-rutscht. Nightingale bemühte sich um eine vernünftige Antwort, aber ihre Gedanken waren erstarrt. Das Einzige, woran sie sich erinnern konnte, war eine Bemerkung ihrer Mutter, als sie mal mit einer schlechten Note aus der Schule gekommen war: »Den Text vergessen, nicht zu fassen. Dein Bruder hätte uns nicht so blamiert.«

Die Erinnerung raubte ihr jedes Selbstvertrauen, und sie spürte, wie ihre Bluse unter dem Kostüm schweißnass wurde.

Sie holte tief Luft und presste die Finger fest gegen das Holz des Zeugenstandes. Seit vierzig langen Minuten wurde sie ins Verhör genommen. Ihre Aussage war entscheidend, da die Staatsanwaltschaft ansonsten nur Indizienbeweise hatte. Sie sagte sich, dass sie sich einfach nur an die Wahrheit zu halten brauchte, ohne sich von dem rüden Ton des Mannes einschüchtern zu lassen.

»Wir warten, Sergeant.«

»Ja.« Sie hustete, als würde sie sich räuspern, und fixierte einen Punkt direkt über seiner rechten Schulter.

»Ja. Was?«

Nightingale straffte die Schultern, hoffte, dass es nicht aggressiv wirkte, sondern höflich, wie aus Respekt vor seiner Rolle. Sie wusste, wie sich erfolgreiche Zeugen verhielten: 21

entschlossen, selbstsicher, aber nicht anmaßend. Sie war Poli-zeibeamtin, und die Geschworenen würden zuerst ihren Beruf und dann den Menschen sehen. Sämtliche Vorurteile, die sie mit in den Gerichtssaal gebracht hatten, würden sich auf die Interpretation von allem, was sie sagte, auswirken. Wenn sie als Kinder dazu erzogen worden waren, Vertrauen zur Polizei zu haben, dann würden sie ihr glauben wollen. Wenn sie Polizisten für korrupt und voreingenommen hielten, wür-de alles, was sie sagte, auf Skepsis stoßen. Für sie alle musste sie Louise Nightingale sein, die Opfer eines Vergewaltigungsversuchs geworden war.

»Könnten Sie Ihre Frage bitte wiederholen?« Ihre Stimme war wieder ruhig.

»Meine Frage lautete, wie Sie mit dem Angeklagten in Kontakt gekommen sind, und bisher haben Sie trotz der wiederholten Bitte um Präzisierung lediglich gesagt, Sie hätten auf eine E-Mail geantwortet, die dazu geführt habe, dass Sie Nachrichten in einem Chat-Room austauschten.«

»Das ist richtig. Wir haben uns im Internet über das Computerspiel THE GAME ausgetauscht.«

»Und wie ist es zu dem Kontakt gekommen?«

»Das habe ich schon mehrmals beantwortet, Sir.«

»Dann erzählen Sie es uns noch einmal.« Die Strategie des Verteidigers war es, der Polizei Anstiftung zu einer Straftat nachzuweisen, und wenn es ihm gelang, Nightingale bei ihrer Aussage aus dem Konzept zu bringen, könnte sie aufgehen.

Über THE GAME und dessen Spielregeln hatten bereits Experten von der Firma ausgesagt, die es erfunden hatte. Sie hatten es als harmlosen Spaß dargestellt, eine Herausforderung für Geschicklichkeit und schnelles Denken. Aber jedes der Vergewaltigungsopfer hatte es gespielt. Als andere Spuren kein Ergebnis gebracht hatten, hatte die Polizei schließlich 22

THE GAME als mögliche Verbindung zu dem Täter genauer unter die Lupe genommen.

»Der Leiter der Ermittlungen hatte Grund zu der Annahme, dass alle Opfer einer Vergewaltigungsserie an einem Online-Spiel namens THE GAME teilgenommen hatten. Es gibt etliche Websites und Chat-Rooms, die sich mit dem Spiel befassen.«

»Und Sie haben einen dieser Chat-Rooms in der erklärten Absicht betreten, den Angeklagten zu einem Nachrichtenaus-tausch zu ködern, den Sie, Sergeant, zunehmend belastender und zügelloser gestalteten!« Spucketröpfchen flogen von seiner Zunge, und er betupfte sich den Mund.

»Einspruch!« Der Staatsanwalt war aufgesprungen. Regi-nald Stringer war ein unnachgiebiger Verteidiger, dem eine ausgeprägte Abneigung gegen Polizeizeugen nachgesagt wurde. Der Richter gab dem Einspruch statt, und Nightingale beantwortete eine neu formulierte Frage.

»Um in gewisse Chat-Rooms zu gelangen, benötigt man die vollständige Webadresse und ein Passwort. Ich wurde von dem Angeklagten in diesen speziellen Chat-Room eingela-den.«

Nightingale fühlte sich jetzt sicherer. Die Polizei hatte drei Computerexperten, die alle die E-Mail-Korrespondenz zwischen ihr, dem Angeklagten und dem Chat-Room bestätigt hatten.

»Erzählen Sie uns von den Figuren, die in THE GAME

vorkommen.«

Nightingale zeigte auf die Brettversion des Spiels auf dem Tisch mit den Beweismitteln. Es war eins von etlichen Ne-benprodukten des Originalcomputerspiels, das die noch jugendlichen Erfinder zu Multimillionären gemacht hatte. Der Film dazu sollte in einem Jahr herauskommen.

23

»Es gibt sechs Hauptfiguren und zahllose Nebenfiguren.

Einige Kombattanten …«

»Kombattanten?«

»Spieler – sie nennen sich Kombattanten.«

»Und welche ›Kombattantin‹ waren Sie, Sergeant?«

»Artemesia 30055.«

»Artemesia geht auf die griechische Göttin Artemis zurück

– die Jägerin – nicht wahr? Sehr passend, wenn man bedenkt, was Sie vorhatten.«

»Einspruch.«

»Stattgegeben.«

»Und die Zahl, was hat es damit auf sich?«

»Ich war die dreißigtausendfünfundfünfzigste Person, die bei THE GAME mitmachte, als Artemesia. Das wurde mein Codename. Sie gehört zu den weniger beliebten Figuren, da sie nicht so viel offensichtliche Kraft hat.«

»Also, Artemesia 30055, wie haben Sie den Angeklagten kennen gelernt?« Stringer lächelte über seinen Scherzversuch, aber Nightingale ließ sich nicht täuschen.

Es wäre ihr lieber gewesen, mit Sergeant angesprochen zu werden. Wenn er sich auf die Spielfigur konzentrierte, würde er unweigerlich die dunkle Seite der Jägerin hervorheben. Sie war eine Spielerin, die Stärke und neue Kräfte erlangte, wenn sie Dämonen und Trolle aufspürte und tötete. Die beiden anderen weiblichen Figuren – eine Heilerin und eine Hexe –

hatten mit weniger aggressiven Taktiken Erfolg. Nightingale war eine außergewöhnliche Artemesia gewesen, die rasch durch die Ranglisten aufstieg. Genau deshalb war der Angeklagte auf sie aufmerksam geworden. Er hatte den Dämonenkönig gespielt, die schwierigste und gefährlichste Rolle, aber die mit den besten Möglichkeiten, Punkte zu sammeln. Sie blickte jetzt zu ihm hinüber, ein straßenköterblonder Mann 24

in den Zwanzigern. Kaum jemand, der einem in einer Men-schenmenge auffallen würde.

»Sergeant, wir warten.«

»Ich lernte den Angeklagten in dem Chat-Room kennen.

Er nannte sich Dämonenkönig 666. Er hatte es irgendwie geschafft, die automatische Nummerierung zu umgehen, und sich eine Wunschnummer gegeben – die Zahl des Teufels. Er galt als Experte für THE GAME. Nicht nur für seine eigene Rolle, sondern auch für andere. Der Dämonenkönig ist das Ziel für alle anderen. Wer ihn fängt oder tötet, ist automatisch Sieger mit der höchsten Punktzahl. Dämonenkönig 666

hatte noch nie verloren. Er galt als unbesiegbar.«

Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie der Angeklagte sich bewegte. Er starrte sie an und lächelte. Nightingale fröstelte. Trotz seiner Lage genoss er den Dialog über THE

GAME und seine Überlegenheit darin. Das war einer der Gründe, warum sie im Chat-Room so leicht mit ihm ins Plaudern gekommen war. Je erfolgreicher sie in dem Spiel wurde, desto mehr Aufmerksamkeit schenkte er ihr.

»Dämonenkönig 666 war sehr clever. Die meiste Zeit gab er irreführende Informationen heraus. Schließlich hatten viele von den Leuten, die Tipps von ihm erhielten, den Wunsch, ihn in einer zukünftigen Partie zu töten. Aber er wollte auch, dass andere Dämonenkönige getötet wurden, um seine Füh-rungsposition zu sichern, deshalb lieferte er auch echte Hinweise, damit die Leute ihn um weitere baten.«

»Sie eingeschlossen?«

»Nein, ich habe ihn nie direkt um Rat gebeten. Dadurch hätte ich zu viel über meine eigene Taktik verraten können.

Ich habe die öffentlichen Dialoge verfolgt, hier und da einen Kommentar beigesteuert. Er hat zuerst eine persönliche Nachricht an mich geschickt, nicht umgekehrt.«

25

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie sich darauf verlassen haben, dass er den Anfang macht.«

»Aber so war es. Das beweisen sämtliche Aufzeichnun-gen.« Sie unterdrückte ein abschätziges Lächeln. Natürlich war er auf sie zugekommen, sie hatte sich unwiderstehlich gemacht, indem sie gewann und sich still und leise verhielt.

Reine Geduldssache.

Nightingale warf einen Blick zur Uhr auf der gegenüber-liegenden Wand. Sie war jetzt seit fast einer Stunde im Zeugenstand und bereute es, dass sie die ganze Nacht kein Auge zugetan und auch nicht gefrühstückt hatte. Die Verteidigung hätte keinen besseren Zeitpunkt finden können. Draußen war ein für die Jahreszeit ungewöhnlich sonniger Tag. Die Fenster gingen nach Osten und wurden von Säulen aus geschnitztem Eichenholz umrahmt, die zu den schweren Möbeln im Saal passten. Die englische Klimaanlage, die es nicht gewohnt war, mit richtiger Hitze fertig zu werden, zeigte erste Anzeichen von Schwäche. London im April war nun mal normalerweise nicht warm. Erste gelbe Lichtstrahlen wanderten jetzt allmählich über den blauen Teppichboden zum Zeugenstand. Die Tische von Verteidigung und Anklagevertretung standen ein Stück weiter hinten, in der relativen Behaglichkeit des Schattens, aber Nightingale würde bald voll von der Sonne be-schienen werden.

»Könnte ich bitte etwas Wasser haben?«

Der Richter hatte Mitleid, und man brachte ihr einen Plas-tikbecher mit lauwarmem Leitungswasser. Sie nippte daran und fuhr mit ihrer Aussage fort. Das meiste wusste sie auswendig, aber sie schaute trotzdem in ihren Notizen nach, um die Geschworenen daran zu erinnern, dass sie eine Polizistin war, die Ermittlungsarbeit geleistet hatte, keine passionierte Computer-spielerin.

26

Die Sonne erreichte sie. Es gab eine kurze Unterbrechung, als der Richter um einen erneuten Versuch bat, die Jalousien herunterzulassen, aber sie blieben weiter störrisch auf Halb-mast.

»Sie dürfen Ihren Blazer ausziehen, wenn Sie möchten, Sergeant«, sagte er rücksichtsvoll.

Selbst ohne Blazer wurden ihr die Haare im Nacken zuerst klamm, dann nass. Von Zeit zu Zeit dröhnte die Klimaanlage los und schien sich doppelt anzustrengen, um den Saal zu kühlen, erreichte aber lediglich, dass Verteidiger und Zeugin bei dem Lärm lauter sprechen mussten. Nightingale verlor allmählich die Stimme.

Stringer dagegen blühte in der Hitze förmlich auf. Sein Gesicht war rosa und glänzend, aber seine Sprachgewalt nahm stetig zu. Es war, als könnte er ihre wachsende Schwäche spüren. Über den Boden krochen Schattenstreifen von der Kolonnade pseudogriechischer Säulen, die draußen dem Sonnenlicht trotzten, und lenkten Nightingale ab. Sie hatte Hals-schmerzen und der Kopf tat ihr weh. Stringer versuchte erneut, sie als skrupellose Jägerin einer unschuldigen Beute dar-zustellen. Sie bekämpfte ihn mit jedem ruhigen, überlegten Satz oder mit leichtem Kopfschütteln, ihr Temperament fest im Zaum haltend. Die ganze Zeit hoffte sie, dass der Richter und die Geschworenen die Wahrheit erkannten, dass nämlich sie die Gejagte gewesen war. Ein Schweißtropfen lief ihr von der Stirn und brannte ihr im linken Auge.

»Kommen Sie, Sergeant. Wir können nicht den ganzen Tag auf Ihre Antwort warten.«

»Es … Es tut mir Leid. Könnten Sie die Frage wiederholen?«

»Was?« Seine Stimme hallte in ihrem Kopf wider, lauter als die Klimaanlage.

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»Ich sagte«, sie schluckte trocken, ihr Mund wie ausgedörrt, »könnten Sie die Frage bitte wiederholen?«

Sie legte die Finger an die Wange, überrascht, wie heiß sie sich anfühlte. Es beunruhigte sie, und sie legte ihre freie Hand auf das heiße Holz des Zeugenstandes. Schwarze Punkte erschienen vor ihren Augen.

» … gesagt, dass Sie … was schwer zu glauben ist, wenn man bedenkt …« Seine Stimme wurde immer wieder lauter und leiser. Sie blinzelte erneut und versuchte sich zu konzentrieren, aber die schwarzen Punkte wurden größer. Irgendwo sprach der Richter.

»… den Eindruck, Sergeant Nightingale fühlt sich ein wenig matt.«

»Nein, mir geht’s gut«, sagte sie und kippte prompt nach vorn, um von zwei Händen aufgefangen zu werden.

Als das Blut ihr in den Kopf strömte, wurde ihre Sicht klar, und sie konnte wieder hören. Sie trank das Wasser, das ihr gereicht wurde, und stand langsam auf, stützte sich schwer auf den Zeugenstand.

»Ist alles in Ordnung, Sergeant?«

»Ja, das kommt bloß von der Hitze. Es tut mir Leid.

Könnte ich mich wohl ein paar Minuten irgendwo hinsetzen, wo es kühler ist?«

Draußen im Korridor umarmte der Staatsanwalt sie kurz.

»Das ist mir so peinlich, ich …«

»Das war genial. Die Verletzlichkeitsnummer, das hat die Geschworenen dran erinnert, dass Sie eine Frau sind. Phantastisch! Hervorragender Schachzug.«

Nightingale setzte sich völlig verdattert hin. Wofür hielt er sie? Glaubte er, sie sei imstande, sich in Ausübung ihrer Pflicht wie eine Maschine zu verhalten, egal um welchen persönlichen Preis? Ihre Therapeutin hatte ihr geraten, sich 28

nicht zwingen zu lassen, als Zeugin auszusagen. Die Frau hatte Recht mit der Annahme, dass der Vergewaltigungsversuch bei ihr ein schweres Trauma ausgelöst hatte, das nur wenig mit den körperlichen Verletzungen selbst zu tun hatte. Trau-matisch war die Erinnerung an ihre Hilflosigkeit, an seine Kraft und das Gewicht seines Körpers auf ihrem, seine grapschenden Finger, die sie berührten. Das bereitete ihr das größte Entsetzen. Sie fühlte sich besudelt und wertlos, aber sie hatte sich dazu bewegen lassen auszusagen, das Ganze noch einmal zu durchleben, und das Vertrauen, das in sie gesetzt worden war, hatte sich bislang als berechtigt erwiesen.

»Können wir weitermachen?«

»Ich glaube nicht. Ich bin sehr zittrig. Können wir das nicht auf morgen vertagen?«

Sie fühlte sich in der Falle. Der Korridor war so stickig wie der Gerichtssaal. Die Sonne brannte durch die schmutzigen Fenster, grell zwischen den dunklen Schattenstreifen. Sie rutschte ein Stück zur Seite ins Dunkle und lehnte den Kopf gegen die Wand, die Augen geschlossen. Um sie herum und über ihr wurden Stimmen laut, die sie überreden wollten weiterzumachen. Wenn die Verteidigung Zeit hatte, ihre Taktik neu zu überdenken, könnte die Anklage ihren Vorteil einbüßen. Sie kapitulierte und hievte sich hoch. Als sie den Gerichtssaal betrat, fingen ihre Knie an zu zittern, und ihr wurde schwindelig. Das waren nur die Nerven, beruhigte sie sich, keine Vorwarnung.

Sie riskierte einen Blick zu den Zuschauerbänken. Ihr Bruder saß dort neben einem sonnengebräunten Fremden mit seltsam strahlenden Augen. Die beiden lächelten sie an, und sie atmete tief durch.

»Sergeant?«

Stringer hatte ihren abschweifenden Blick bemerkt und 29

hob ungeduldig eine Augenbraue, tat alles, um ihr Selbstvertrauen zu untergraben. Wenn er nur wüsste, wie wenig ihr davon noch geblieben war! Aber ihr Kostüm und das sorgfältige Make-up boten ein vollendetes, professionelles Bild. Un-durchlässige Tarnung.

»Kommen wir auf den Abend des zwölften Februar letzten Jahres zu sprechen. Der Abend, an dem der Angeklagte Sie angegriffen hat, wie die Anklage behauptet.«

»Der Abend, an dem er versucht hat, mich zu vergewaltigen.« Stringer schnaubte. »Ja, Sir, daran erinnere ich mich gut.«

»Dann schildern Sie uns doch bitte Ihre Version der Ereignisse.«

Nightingale holte tief Luft. Ihr Mund war trocken. Die gesamte Feuchtigkeit ihres Körper schien sich in kühlen Lachen um den Rockbund und unter ihren Armen gesammelt zu haben.

»Es war das zweite Mal, dass der Angeklagte sich mit mir treffen wollte. Bei der ersten Verabredung war er nicht gekommen, doch seit jenem Abend hatte ich das Gefühl, dass mich jemand verfolgt.«

»Ein ›Gefühl‹, Sergeant, ist kein Beweis, wie Sie wohl wissen, und die Fakten sind nun mal die, dass der Angeklagte trotz eines beachtlichen Polizeiaufgebots nicht dabei gesehen wurde, Sie verfolgt zu haben. Ist das richtig?«

»Ja, Sir.« Sie widerstand dem Wunsch, den Geschworenen zu erzählen, dass ihr Auto beschädigt und ihr Müll durch-wühlt worden war. Das alles war in den fünf Tagen zwischen der ersten und zweiten Verabredung passiert, aber da keine Spuren von dem Angeklagten gefunden worden waren, handelte es sich um reine Spekulation.

»Am zwölften Februar machte ich mich auf den Weg zu dem 30

Treffpunkt, den der Angeklagte mit mir vereinbart hatte, am Musikpavillon im Harlden Park, wo ich mit drei Minuten Verspätung um siebzehn Uhr dreiunddreißig eintraf. Ich wartete bis achtzehn Uhr fünfzehn und wollte dann zurück zu meinem Wagen. Ich musste durch den Rosengarten und über einen Weg, der zwischen Rhododendronbüschen hindurchführte.«

»Wieso sind Sie nicht einen besser beleuchteten Weg gegangen? Es war schließlich dunkel.«

»Dann hätte ich fünfzehn statt fünf Minuten gebraucht, und der Weg ist normalerweise gut beleuchtet.«

»Fahren Sie fort.«

»Als ich an dem Gebüsch vorbeikam, hörte ich ein Geräusch irgendwo aus den Sträuchern und sah mich deshalb nach einem anderen Weg um. Da es keinen gab, ging ich weiter.«

»Sie stellen es so dar, als wären Sie allein gewesen, doch in Wahrheit wimmelte es überall von Polizei, und Sie trugen ein Mikro, nicht wahr?«

»Ich trug ein Mikro. Doch der Treffpunkt am Musikpavillon war insofern problematisch, als die mich beschattenden Beamten am Rand des Parks bleiben mussten. Zwei posierten als Liebespärchen, und drei weitere spielten Fußball auf der Wiese, aber als es dämmerte, mussten sie gehen. Vier weitere Kollegen waren auf dem Parkplatz, zwei auf Bänken im Rosengarten – sie waren am nächsten – und alle übrigen hielten sich in einem mehr oder weniger weiten Umkreis auf.«

Sie spürte ein ganz leichtes Zittern in der Kehle. Trotz ihrer Therapie kam jetzt der schwierigste Teil der Aussage.

Erinnerungen an den Angriff holten sie im Schlaf ein, lösten lebhafte Albträume aus, in die sich Bilder von seinen anderen Opfern mischten. Sie verlor den roten Faden und wartete auf die nächste Frage.

»Sie haben eine auffällige Ähnlichkeit mit den Opfern der 31

Angriffe, die Sie als Polizistin untersuchten. Hat Sie das besonders beunruhigt?«

»Nein.«

Nightingale spürte, dass er seine Taktik änderte. Vielleicht war Stringer nicht sicher, ob er die Geschworenen davon überzeugen konnte, dass die Polizei seinen Mandanten mit THE GAME zu einer Straftat anstiften wollte, deshalb würde er jetzt ihre Darstellung der versuchten Vergewaltigung in Zweifel ziehen. Vor diesem Augenblick graute ihr. Abgesehen von dem Polizeibericht über den Überfall auf sie und den Spuren, die unter ihren Fingernägeln gefunden worden waren, gab es keinerlei Sachbeweise. Der Vergewaltiger hatte an seinen Opfern niemals Sperma, Speichel oder auch nur ein Haar hinterlassen. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung, die wie geleckt gewesen war, hatte die Spurensicherung weder Fingerabdrücke noch irgendetwas gefunden, das ihn mit den Straftaten in Verbindung gebracht hätte. Angesichts der schlechten Beweislage hatte die Staatsanwaltschaft beschlossen, die Anklage auf drei Vergewaltigungen zu konzentrieren, die nach der gleichen Methode abgelaufen waren wie der Angriff auf Nightingale. Vier weitere, einschließlich einer, bei der das Opfer zu Tode gekommen war, waren vorläufig auf Eis gelegt worden. In diesen Fällen waren die Frauen bei sich zu Hause, nicht im Freien, überfallen worden, und keine von ihnen hatte den Angeklagten bei einer polizeilichen Gegenü-

berstellung wiedererkannt.

»Kommen wir auf den ›Angriff‹ zu sprechen, bei dem der Angeklagte übrigens nicht unerhebliche Verletzungen davongetragen hat. Ist es richtig, dass Sie auf den Angeklagten zu-gegangen sind und ihn zu einer Umarmung ermuntert haben, um ihn dann mit körperlicher Gewalt zurückzuweisen?«

»Nein, das ist nicht richtig.«

32

»Treiben Sie regelmäßig Sport?«

»Wie bitte?« Sie war perplex über die Frage. Er wiederholte sie knapp. »Ich jogge.«

»Haben Sie Selbstverteidigungskurse besucht?«

»Nur im Rahmen der Polizeiausbildung.«

»Aber Sie sind fit und kräftig, nicht wahr? Durchaus imstande, es mit einem Mann im Kampf aufzunehmen.«

Er versuchte, sie zu provozieren, und wenn sie emotional reagierte, würde er das zu seinem Vorteil ausnutzen. Der Gedanke machte sie wütend, aber dadurch wurde ihr Verstand geschärft und jedes aufwallende Gefühl unter die Oberfläche gedrängt.

»Ich habe den Angeklagten nicht angegriffen. Er hat mich angesprungen und zu Boden gerissen. Es gibt Beweise dafür, dass er mir in den Büschen aufgelauert hat.«

»Wie groß sind Sie?«

»Einen Meter achtundsiebzig.«

»Wie viel wiegen Sie?«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Ach, kommen Sie, Sergeant, alle Frauen kennen ihr Gewicht bis aufs Gramm genau.«

»Ich nicht.«

»Verstehe.« In seinem Tonfall schwang mit, dass sie der Frage ausweichen wollte.

»Würden Sie den Angeklagten bitte anschauen.«

Nightingale leckte sich die trockenen Lippen. Sie hatte seinen Blick die ganze Zeit gemieden. Mit einer leichten Drehung des Kopfes richtete sie die Augen auf die Brust des Angeklagten. Sein Kinn und sein Mund waren genau am oberen Rand ihres Gesichtsfeldes, und sie senkte den Blick noch ein wenig.

»Wie groß würden Sie ihn schätzen?«

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Riesengroß, dachte sie. »Ich weiß nicht.«

Wieder ein ungehaltenes Seufzen.

»Er ist einen Meter fünfundsiebzig, kleiner als Sie.« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Wohl kaum ein unbezwingbarer Gegner für eine durchtrainierte, groß gewachsene Frau wie Sie.«

»Wenn man auf dem Boden liegt, mit einem Messer an der Kehle, sehen alle Männer groß aus … Sir.« Einige Frauen auf der Geschworenenbank nickten verständnisvoll, und Nightingale nutzte ihren Vorteil weiter aus. »Und ich befand mich nicht gerade in einem geeigneten Zustand, um ihn anzugreifen. Ich hatte eine Gehirnerschütterung – die Rönt-genbilder zeigen eine schwere Prellung an meinem Hinterkopf«, sie spürte wieder das Knacken im Kopf, als sie auf die Steine aufgeschlagen war, »ein verstauchtes Handgelenk und eine ausgekugelte Schulter, Blutergüsse im Gesicht und an den Oberschenkeln«, er war beängstigend stark gewesen,

»und ich musste mir zwei Zähne überkronen lassen.«

»Das sagen Sie, Sergeant, aber woher sollen die Geschworenen wissen, dass Sie sich die Verletzungen nicht selbst zugezogen haben oder dass sie Ihnen nicht von Ihren Kollegen zugefügt wurden, um Beweise gegen meinen Mandanten zu fingieren?«

Seine Gefühllosigkeit ließ sie nach Luft schnappen, und entsetzt merkte sie, dass ihr Tränen in die Augen schossen, doch als sie einen Blick zum Tisch der Anklagevertretung riskierte, sah sie verstohlen lächelnde Münder. Verwirrt schaute sie zu den Geschworenen hinüber. Fünf Frauen, sieben Männer; alle blickten schockiert, eine unverhohlen wü-

tend. Stringer hatte sich verrechnet.

»Entschuldigen Sie«, flüsterte sie und nahm zittrig einen Schluck Wasser.

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»Geht es Ihnen gut?« Der Richter beugte sich besorgt vor.

»Ich bin sicher«, sagte er mit einem vielsagenden Blick zu Stringer, »dass die Befragung sich dem Ende zuneigt.«

Und tatsächlich. Der Verteidiger stellte noch ein paar Fragen, aber seine Attacken waren nicht mehr ganz so vehement. Nach zehn Minuten verließ Nightingale den Zeugenstand, und der Richter unterbrach die Sitzung für die Mittagspause.

Auf der Fahrt nach Hause fielen ihr die Lobesworte des Staatsanwalts wieder ein, aber sie bedeuteten ihr nichts. Sie war bedrückt, weil sie ab und zu gezögert oder eine schwache Antwort gegeben hatte, und war der festen Überzeugung, dass sie die Befragung besser hätte bewältigen müssen.

In der obersten Etage, mit Blick über die Bäume, steckte Nightingale den Schlüssel in das solide Sicherheitsschloss und war endlich zu Hause. In ihren eigenen vier Wänden. Der einzige kleine Segen, den ihr der Tod ihrer Eltern beschert hatte, war finanzielle Unabhängigkeit. Sie hatten ihr keine Reichtümer hinterlassen, aber wegen Geld musste sie sich keine Sorgen mehr machen. Sie hob eine Hand, um eine Fliege zu verscheuchen, und wischte die unerfreuliche Realität beiseite, dass sie aus dem Verlust ihrer Eltern einen Vorteil zog. Der Gedanke machte ihr ein schlechtes Gewissen, und sie bekam Magenschmerzen.

Ein Lämpchen blinkte an ihrem Anrufbeantworter: drei Nachrichten. Eine von ihrem Bruder, der sich genauso an-hörte wie ihr Vater.

»Komm uns doch am Wochenende besuchen. Ich habe zur Abwechslung mal Sonntag und Montag frei.« Mit seinen siebenundzwanzig Jahren war er jetzt Assistenzarzt und wollte sich später auf Orthopädie spezialisieren.

Sie schüttelte den Kopf. Er war jetzt alles, was von ihrer 35

Familie noch übrig war, aber es deprimierte sie immer, wenn sie bei Simon und seiner Frau Naomi war. Sie lebten in einer Welt voller häuslicher Glückseligkeit, und Nightingale kam sich vor wie von einem anderen Stern, wenn sie die beiden besuchte. Außerdem sagten sie hartnäckig Diane zu ihr, der Name, den ihre Mutter für sie ausgesucht hatte, obwohl sie sich schon seit Anfang der höheren Schule nur noch mit ihrem zweiten Vornamen anreden ließ.

Das Lämpchen für neue Nachrichten blinkte noch immer.

Sie riss sich aus den Erinnerungen an Streitereien in ihrer Kindheit und drückte die Taste erneut, um die nächste Nachricht abzuhören. Nur Schweigen und schweres Atmen. Bei der dritten Nachricht genauso. Sie löschte beide und verfluchte den Perversling, der sich ausgerechnet ihre Nummer herausgepickt hatte.

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Kapitel zwei

Der Häftling strich die drei Tage alte Zeitung glatt und faltete scharfe Knicke um den gewünschten Artikel herum, ehe er mit einem Ruck an der Seite riss. Das billige Papier teilte sich fügsam, und er wiederholte die Bewegung, bis er den Text komplett herausgelöst hatte, was ihm einen zufriedenen Seufzer entlockte. Scheren waren nicht erlaubt. Er galt aufgrund seiner langen Gefängnisstrafe und wegen der Ergebnisse eines psychiatrischen Gutachtens als potenzieller Selbstmörder.

Sein Psychiater hatte ihm, als er auch nur andeutungsweise Interesse an der Presseberichterstattung über seine Taten bekundete, gleich vorgeschlagen, sich ein Album mit Zeitungsausschnitten anzulegen. Manche der lächerlichen Theorien hinsichtlich seines Tatmotivs fand er äußerst amüsant. Er wurde als gefährlich und unberechenbar dargestellt, als ein Mann, von dem man sich tunlichst fernhielt. Das hatte ihm unter seinen Mitgefangenen einen gewissen Ruf eingebracht, obwohl es für einen Vergewaltiger im Knast nicht ungefährlich war. Er wurde zwar gehasst, wie alle Sexualtäter, aber es griff ihn niemand mehr an. Der Letzte, der es getan hatte, lag noch immer auf der Krankenstation, was den anderen als Warnung diente. Dafür schikanierten ihn jedoch die Aufseher, und die Mithäftlinge schauten absichtlich weg.

Er hatte alles gesammelt, was über den Prozess in der Zeitung stand, doch die Berichterstattung war inzwischen fast 37

völlig versiegt, und die Erkenntnis, Schnee von gestern zu sein, deprimierte ihn fast genauso wie seine Haft. Wie konnte er seinen Anspruch auf Berufung begründen? Er legte den ausgerissenen Zeitungsartikel auf eine Seite des Albums, neben etwas, das er selbst geschrieben hatte. Seine Kommentare und Bemerkungen über das Leben halfen ihm, die dunkle Seite fern zu halten. Während er die Ränder des neuesten Zeitungsausschnitts mit ungiftigem Kleber betupfte, überlegte er, was er als Nächstes tun würde. Er hatte erst wenige Wochen seiner Haftstrafe abgesessen und machte schon Pläne.

Nicht so wie die anderen hier im Knast. Vielleicht würde es ihm schneller zu einer Berufung verhelfen, wenn er in die Kirche eintrat? Ein bekehrter Christ kam immer gut an.

Er probte ganze Gespräche im Kopf. Einmal war er fast zu Tränen gerührt. Er war unglaublich geschickt darin, in andere Rollen zu schlüpfen, deshalb war er bei THE GAME auch unschlagbar gewesen, aber hier durfte er nicht mal in die Nä-

he eines Computers. Einer von den Aufsehern hatte ihm versichert, dass er sich das für alle Zeit abschminken könne. Er wusste aus der Zeitung, dass es Websites über ihn gab. Manche waren übel, diffamierend, stammten von rachsüchtigen Angehörigen und Freunden der Opfer. Das ließ ihn kalt. Die Website, die ihn interessierte, war die, die seine »Verbrechen«

kritisch betrachtete und seine Unschuld beteuerte. Er erkannte den Stil.

Plötzlich ging seine Zellentür auf, und er blickte verwirrt auf die Uhr. Das war ungewöhnlich. Als er Saunders’ grinsendes Gesicht sah, bekam er Angst und hoffte, dass sie ihm nicht anzumerken war.

»Besuch. Los, beweg deinen Arsch.« Der Aufseher trat ihm fest ins Gesäß, weckte alte Prellungen zu neuem Leben. Er war einer der schlimmsten Schläger, und seine Kollegen 38

blickten weg, wenn Saunders dem Häftling 35602K seine besondere Aufmerksamkeit widmete.

Er ging in den Besucherraum und blickte sich um, musterte die Anwesenden fragend, bis Saunders ihn von hinten an-schubste. Die Tische standen so, dass die Aufseher zwischen ihnen hindurchschlendern konnten, und die wackeligen oran-geroten Plastikstühle waren am Boden verschraubt.

Die Anwesenheit anderer Insassen und die neugierigen Blicke ihrer Gäste beunruhigten ihn. Saunders bugsierte ihn zu dem leeren Stuhl am Ende der Reihe, gegenüber von einem großen Mann in einem schicken Jackett, der sich gerade bückte, als würde er sich einen Schuh zubinden. Er bemühte sich, sein rasches Blinzeln zu kontrollieren, und straffte die Schultern, obwohl er sich seines ungeschützten Rückens durchaus bewusst war. Sein geheimnisvoller Besucher richtete sich auf. Die Form des Kopfes und die Linie des Kinns waren ihm so vertraut wie seine eigenen. Sein Herz machte einen Sprung, und vor Aufregung hatte er plötzlich einen Kloß im Hals. Seit kurz vor seiner Verhaftung hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Er war so nervös, dass er über die eigenen Füße stolperte, als er auf den leeren Stuhl zueilte.

»Du hättest nicht kommen sollen! Ausgerechnet … hierher.« Der Mann, der ihm gegenübersaß, betrachtete ihn schweigend mit Augen, die die Farbe von arktischem Eis hatten. »Du passt nicht hierhin. Das ist unter deiner Würde.«

»Unter deiner auch, trotzdem bist du hier.« Die unausgesprochene Kritik war klar, trotz des sorgsam beherrschten Tons.

»Ich hab dich enttäuscht. Ich hatte keine Ahnung, dass sie der letzte Dreck ist.«

»Du hast die Regeln gebrochen.«

»Ich … ich wollte mich richtig mit ihr treffen.«

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»Blödsinn.« Sein Besucher blickte angewidert weg. »Du warst faul, gib’s zu.«

»Ich war faul.«

»Sag es noch einmal.«

»Ich war faul.«

»Ich war blöd, sag es.«

»Ich war blöd. Hör mal, D …«

»Keine Namen. Bist du ein Vollidiot?«

»Tschuldigung.« Griffiths ließ den Kopf hängen, wagte nicht, noch etwas zu sagen, ehe er nicht dazu aufgefordert wurde.

»Ich war im Gerichtssaal, jeden Tag.«

»Ich hab dich gesehen. Danke, dass du wegen mir gekommen bist.«

Der Mann erwiderte nichts darauf, sondern setzte ein Lä-

cheln auf, das Griffiths zusammenzucken ließ.

»Bis zum Schluss habe ich gedacht, du gewinnst. Die Aussage der Polizistin war eine Farce. Sie hätte gar nicht zugelassen werden dürfen.«

»Ohne die wäre ich jetzt nicht hier. Ich habe keine Fehler gemacht.« Sein Ton klang flehentlich. »Ich hab mich doch bloß ein zweites Mal mit ihr verabredet.«

»Aber das war gegen die Regeln. Du weißt, was passiert, wenn du dich zu sehr auf jemanden einlässt. Du hast das schon mal gemacht, aber da konnte ich dir aus dem Schla-massel raushelfen, den du dir eingebrockt hattest. Weißt du noch?«

»Es war unfair. Sie hat mich in eine Falle gelockt.«

»Ich weiß, sehr unangenehm. Nach der ganzen Mühe, die ich mir mit dir gemacht habe, wäre es ein Jammer, wenn das alles … für die Katz gewesen wäre.«

»Was willst du mit ihr machen?«

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»Keine Sorge. Ich erledige das auf meine Art.«

»Sobald ich wieder draußen bin, tue ich alles, was du willst, und ich schwöre, ab jetzt halte ich mich an die Regeln.«

»Wir werden sehen.«

Griffiths spürte sein Ego förmlich schrumpfen. Ein einziger Blick aus diesen Augen konnte ihn vernichten. Wenn der Mann ihm gegenüber ihn befreien wollte, dann bestand Hoffnung, aber er musste ihn überzeugen, dass er die Mühe wert war. Ein Aufseher kam zu ihnen, starrte sie eindringlich an und ging langsam weiter.

»Wer war das?«

»Saunders, ein sadistisches Schwein. Einer von den Schlimmsten. Er ist brutal, und auf mich hat er es besonders abgesehen.«

Mit einem unergründlichen Ausdruck folgten die Augen des Besuchers dem Aufseher durch den Raum.

»Macht er dir das Leben schwer?«

»Ständig.«

»Er kann mit dir nicht umspringen, wie er will. Ich mag es nicht, wenn Leute mit schwacher Persönlichkeit sich Jobs suchen, über die sie ihre Autorität beziehen. Saunders heißt er? Ich nehme an, er wohnt hier in der Gegend.« Der Besucher musterte den Wärter.

Griffiths umklammerte den Tisch.

»Ich halt das hier nicht aus. Ich muss raus.« In seiner Stimme schwang ein panischer Unterton mit.

»Vorsicht. Du darfst keine Schwäche zeigen. Ich arbeite dran, keine Sorge.«

»Du denkst an Aus-?« Der Besucher hob eine Hand, und Griffiths verstummte.

»Unmöglich, aber eine Berufung … das ist wesentlich vielversprechender.«

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»Aber das dauert Jahre, und mein Anwalt sagt, die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig … höchstens.«

»Hab Vertrauen. Mal angenommen, es gäbe neue Ent-wicklungen, dann könnten sich deine Chancen beträchtlich erhöhen. Überlass das nur mir, ich werde die Öffentlichkeit bald davon überzeugen, dass die Polizei den Falschen erwischt hat.«

»Und wie erfahre ich, was läuft?«

»Weißt du noch, wie wir in der Schule unsere Nachrichten verschlüsselt haben? Ich werde dir Bücher schicken, aber du musst Geduld haben. Es kann dauern.« Er blickte zu Saunders hinüber und lächelte. »Ich werd sehen, was ich tun kann, um dir die Zeit hier ein bisschen erträglicher zu machen.«

Der Besucher erhob sich und ging ohne ein weiteres Wort.

Als Griffiths zurück in seine Zelle gebracht wurde, befand er sich in einem Wechselbad der Gefühle. Extreme Hochstimmung wechselte sich ab mit dem betäubenden Gefühl von Unzulänglichkeit. Wenn er es positiv sah, war er sicher, dass etwas passieren würde, schließlich bewies der Besuch, dass er zu wichtig war, um im Knast zu verrotten. Dann wieder fielen ihm die Augen ein, der Blick, der sich in seine Seele gebohrt und sein schmähliches Versagen offenbart hatte. Er tigerte in seiner Zelle auf und ab, fluchte laut über die Treue-brüche und Verletzungen, die er seit der Kindheit erleben musste. Aus Selbstmitleid wurde Zorn, vertraut und wärmend, dann unbändige Wut, als er an all die Menschen dachte, die Strafe verdient hatten, und an die Rechnungen, die er begleichen würde, sobald er auf freiem Fuß war.

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Kapitel drei

Detective Chief Inspector Fenwicks Sekretärin blickte von ihrer Tastatur auf und begrüßte ihn mit einem breiten Lächeln.

»Da sind Sie ja wieder. Ist der Fall in London abgeschlossen?«

Fenwick schüttelte den Kopf, und das Licht fiel auf neue Spuren von Grau an seinen Schläfen, Auswirkung seiner zeitweiligen Versetzung zur Londoner Polizei.

»Für mich ist der Fall abgeschlossen, Anne, aber für Commander Cator noch lange nicht. Als Geldwäscheexperte muss er noch die Beweiskette schließen. Und es kann dauern, bis er alle Fäden zusammen hat. Kann sein, dass wir das ganze Ausmaß nie erfahren. Aber der Assistant Chief Constable hat meine Rückkehr trotzdem endlich bewilligt.«

»Der Superintendent möchte Sie sprechen.«

Superintendent Quinlan telefonierte gerade, winkte ihn aber in sein Büro. Er beendete das Gespräch abrupt und streckte die Hand aus.

»Andrew, schön Sie zu sehen. Ohne Sie hat hier wirklich was gefehlt.«

»Das höre ich gern. Ehrlich gesagt, freu ich mich schon wieder auf richtige Polizeiarbeit.«

Quinlans Miene verfinsterte sich.

»Schließen Sie doch bitte die Tür, ja. Hören Sie, ich wollte schon seit einer Weile mit Ihnen reden. Haben Sie wirk-43

lich vor, die Versetzung abzulehnen? Das könnte ihrer Karriere gut tun …«

»Und Sie meinen, die hat Pflege nötig, nicht wahr?«

Quinlan sprach hastig weiter, als hätte Fenwick nichts gesagt.

»Commander Cator bringt es bis ganz nach oben, davon bin ich überzeugt, und er hat ausdrücklich um Sie gebeten.

Das ist ein Kompliment und eine Chance, die Sie nicht noch einmal kriegen.« Fenwick öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Quinlan war noch nicht fertig. »Es gibt keine Garantie für eine Beförderung, natürlich nicht, aber als Mitarbeiter in seinem Team und bei Ihrer Aufklärungsquote könnten Sie es schnell zum Superintendent bringen.«

»Schneller als hier, meinen Sie?« Die Frage wurde von Fenwicks typischem gequälten Lächeln begleitet, aber Quinlan verzog trotzdem das Gesicht.

»Da halte ich mich raus«, entgegnete er barsch, und Fenwick bereute seinen Sarkasmus. Die spitze Bemerkung zielte nicht gegen den Superintendent. Er wusste, dass sein Boss sein größter Förderer war, aber dessen Boss wiederum, der Assistant Chief Constable von West-Sussex, Harper-Brown, konnte ihn nicht ausstehen. Er war einfach nicht unterwürfig genug.

»Tut mir Leid, das war eine dumme Bemerkung. Aber London ist wirklich nichts für mich.«

»Wegen der, äh, Pendelei und wegen …«

»Nein, mit den Kindern hat das nichts zu tun.« Fenwick sprach den eigentlichen Punkt ohne Umschweife an. Alle Welt glaubte, es sei ein Hindernis für seinen Beruf, dass er allein erziehender Vater von zwei Kindern im Alter von neun und sieben Jahren war, aber er hatte eine Haushälterin, die bei ihnen wohnte und alles wunderbar im Griff hatte. Die 44

Kinder schienen sich endlich an die Situation gewöhnt zu haben, und dank einer Versicherung seiner Frau hatte er die Hypothek auf das Haus abbezahlen können. Selbst die Besuche bei Monique im Krankenhaus waren zur Routine geworden, traurig, das noch immer, aber nicht länger trauma-tisch.

»Dann also wegen der Cliquenwirtschaft. Habe ich mir schon gedacht. Sie werden sich nie so weit verbiegen, dass Sie es zum Diplomaten bringen.«

Fenwick lachte laut, und sein Vorgesetzter sah ihn verblüfft an. In den Monaten vor seinem Einsatz in London hatte er ihn selten auch nur lächeln sehen. Während seiner Ab-wesenheit hatte er sich verändert, und etwas von dem alten Fenwick, der seit der Erkrankung seiner Frau verschwunden gewesen war, kam allmählich wieder zum Vorschein.

»Ich fand diese Cliquenwirtschaft entsetzlich, und auch diese Leisetreterei, mit der man seine Arbeit machen muss, aber ich hab mich so durchgewurstelt, weil mir keine andere Wahl blieb. Commander Cator hat mir sogar zu meiner guten Arbeit gratuliert. Er hatte wesentlich Schlechteres erwartet.«

»Was ist dann der Grund? Warum lassen Sie sich die Chance auf eine fast sichere Beförderung entgehen?«

Quinlan blickte ihn gequält an. Er war ein alter Freund und Verbündeter, und Fenwick fand, dass er eine ehrliche Antwort verdiente.

»Das ist mir alles zu indirekt. Die Ermittlungen ziehen sich über Jahre hin, und die Kriminellen gehen so trickreich vor, dass die Beweislage oft völlig undurchschaubar ist, so als wür-de man mit verbundenen Augen einen Zauberwürfel drehen.

Die Syndikate haben mehr Geldmittel zur Verfügung als wir!

Und überhaupt bin ich nicht besonders gut darin, Verbrechen am Schreibtisch aufzuklären.«

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Den größten Minuspunkt verkniff er sich. Die Straftaten waren häufig so kompliziert, dass Geschworene sie nicht durchschauten, was eine deprimierend niedrige Verurteilungs-rate zur Folge hatte. Er war ein Mann, der gewinnen musste.

»Cator bezeichnet Sie aber in seinem Bericht an mich als Naturtalent. Er hat Sie ›entschlossen und durchsetzungsfähig‹

genannt, wenn ich mich recht erinnere.«

»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte nichts lieber, als dass Wainwright-Smith arm wie eine Kirchenmaus hinter Gittern landet. Das hat dieser Mistkerl verdient.« Die Gehässigkeit in Fenwicks Stimme verblüffte sie beide. Nach kurzer Stille nickte Quinlan bedächtig. Er verstand.

»Natürlich. Für Sie war es keine gesichtslose Straftat, das hatte ich vergessen. Nun gut«, er holte tief Luft, »ich habe Ihnen gesagt, was ich denke, und ich werde nicht wieder damit anfangen. Hier wartet genug Arbeit auf Sie, in die Sie sich richtig reinknien können.«

»Der Fall Griffiths muss für das Team hart gewesen sein.«

Die neuen Spuren der Anspannung in Quinlans Gesicht waren Fenwick nicht entgangen. »Wie ich höre, haben Sie das Heft selbst in die Hand genommen, gegen Ende.«

»Harper-Brown wollte es so. Derek Blite hat die Ermittlungen nach der ersten Vergewaltigung geleitet, aber dann wurde diese arme Frau umgebracht, bei sich zu Hause und nur wenige Tage nach der vorausgegangenen Vergewaltigung. Ich musste die Sache in die Hand nehmen. Aber trotz all unserer Arbeit haben wir die Staatsanwaltschaft nur zur Anklage in drei der sieben Fälle überzeugen können, die unserer Meinung nach auf Griffiths’ Konto gehen. Es ist verdammt ärgerlich, dass die anderen Fälle noch ungelöst sind.«

»Aber Sie haben es geschafft. Er hat schließlich lebenslänglich bekommen.«

46

»Dank Nightingale. Sie hat ihre Sache großartig gemacht.

Ich glaube, ohne ihre Aussage wäre er vielleicht freigespro-chen worden. Sie hätten das Schlussplädoyer des Verteidigers hören sollen. Er hat die Geschworenen daran erinnert, dass sie nur dann zu einem Schuldspruch gelangen könnten, wenn sie zweifelsfrei von der Schuld des Angeklagten überzeugt seien, und dass die Aussage von Nightingale seiner Meinung nach ernste Zweifel aufwerfen würde.«

»Er hat verloren, wir haben gewonnen. Nightingale hat allen Grund, mit sich zufrieden zu sein.«

»Mag sein.« Quinlan blickte skeptisch. »Wissen Sie, dass sie vor zwei Monaten beide Eltern durch einen Autounfall verloren hat? Traurige Geschichte.«

»Ich hatte keine Ahnung. Wie verkraftet sie es?«

»Anscheinend ganz gut. Ich hab ihr angeboten, Urlaub zu nehmen, aber sie ist nach der Beisetzung gleich wieder zum Dienst erschienen. Manchmal denke ich, sie mutet sich zu viel zu.«

Am folgenden Tag sah sich das Objekt des gemeinsamen Interesses von Quinlan und Fenwick vor eine weitere, völlig unerwartete Probe gestellt. Als sie ihren Wagen vor dem Prä-

sidium parkte, wurde Nightingale von einer Horde verschwitzter Männer mit Notizblöcken, Mikrofonen und Foto-apparaten umringt. Die Presse hatte sie aufgespürt, was sie mehr verstörte als jede lebensbedrohliche Situation im Dienst.

Sie erstarrte.

»Sergeant Nightingale, ein paar Worte zu dem Griffiths-Urteil bitte, wie fühlen Sie sich?«

»Bitte hierher sehen. Wunderbar! Und noch mal, danke.«

»Was war das für ein Gefühl, einem Serienvergewaltiger in die Augen zu schauen?«

47

»Stimmt es, dass sie ihm zwischen die Beine getreten haben? Das würde unseren Leserinnen gefallen. Schade, dass sie ihm keinen Dauerschaden zugefügt haben.«

»Na, kommen Sie, nur ein paar Worte, mehr wollen wir nicht.«

Nightingale blinzelte rasch, als würde sie aus einer Trance erwachen. Mit gesenktem Kopf strebte sie ohne ein Wort zum Eingang. Zwei von den Männern versuchten, sie aufzuhalten, liefen rückwärts vor ihr her, aber sie ging unbeirrt weiter. Sie wurde mit Fragen bombardiert, und Kameras klickten ohne Unterlass. Als sie die Treppe erreichte, entstand ein Gedränge, jemand fiel gegen sie und sie stürzte nach vorn.

Im selben Moment rief eine Stimme über ihrem Kopf.

»Was zum Teufel ist da unten los?«

Sie blickte hoch und sah Inspector Blite aus einem Fenster im zweiten Stock spähen, das Gesicht rot angelaufen.

»Sie kommen auf der Stelle zu mir.«

Als Nightingale in Blites Büro stolperte, war sie völlig au-

ßer Atem, und das kam nicht von den zwei Treppen, die sie hochgelaufen war. Die Begegnung mit den Journalisten hatte sie arg mitgenommen. Ihre Privatsphäre war verletzt worden, und sie fühlte sich schmutzig.

»Sehen Sie sich das an!« Blite warf ihr die neueste Ausgabe der Daily Mail hin. »Die Seiten vier, fünf und sechs. Lesen Sie.«

Die Zeitung informierte ausführlich über den Prozess und die polizeilichen Ermittlungen, die schließlich »einen gefährlichen Kriminellen« vor Gericht gebracht hatten. Der Artikel war durchaus polizeifreundlich, und Nightingale fragte sich, was Blite so auf die Palme gebracht hatte. Sie fand die Antwort, als sie Seite sechs aufschlug. Unter der Überschrift »ex-klusiv« stellte ein Kurzporträt die tapfere Polizistin vor, die 48

unter Einsatz ihres Lebens den Lockvogel gespielt hatte, um den Vergewaltiger zu fassen. Nightingale starrte auf ihr Foto und schloss entsetzt die Augen.

Sie hatten aus ihr eine Heldin gemacht. Der Journalist schilderte ihre Rolle bei Griffiths’ Verhaftung. Er hatte nicht übertrieben, aber das wäre auch nicht nötig gewesen, weil die Einzelheiten an sich schon dramatisch genug waren. Dann erwähnte er zwei frühere Fälle, in denen sie sich ebenfalls

»ungemein tapfer« verhalten hatte, und schrieb: »Dieser Mut ist typisch für Sergeant Nightingale. Hinter ihrer kühlen Schönheit schlägt ein unerschrockenes Herz …«

Sie schauderte. Wieso machte ein Journalist sich die Mü-

he, ihre kurze Laufbahn zu recherchieren? Sie blickte auf den Namen, der über dem Artikel abgedruckt war: Jason MacDonald. Tja, das erklärte alles. Sie hatte ihn mal festgenommen, als er versucht hatte, einer Frau, zu deren Schutz sie abgestellt gewesen war, eine Exklusivstory zu entlocken. Das war drei Jahre her, aber er hatte schon damals auf sie den Eindruck gemacht, dass er ganz schön nachtragend sein konnte. So positiv die Berichterstattung dem Schein nach war, er hatte genau gewusst, dass er damit ihre Vorgesetzten empören und ihre Kollegen befremden würde. Inspector Blite und Superintendent Quinlan wurden nur beiläufig erwähnt. Geschickt hatte er den Eindruck erweckt, als wäre der Fall, bei dem manche Panne passiert war, nur durch ihre Tapferkeit endlich aufgeklärt worden. Nightingale blickte in Blites wü-

tendes Gesicht.

»Ich habe keinen Schimmer, woher er das alles hat, Sir.

Ich habe kein Interview gegeben.«

»Und das soll ich Ihnen glauben? Ihr PR-Agent hat anscheinend Überstunden gemacht!«

Nightingale biss sich auf die Zunge. Einwände brachten 49

nichts. Wenn es im Präsidium eine undichte Stelle gab, dann war sie es jedenfalls nicht.

»Ihr Verhalten war unprofessionell, nahezu schändlich. Das wird sich zwangsläufig auf Ihre Karriere auswirken. Sie müssen mit Konsequenzen rechnen.«

Seine Stimme war schneidend, aber Nightingale war nicht so leicht zu beeindrucken und legte auf seine Meinung ohnehin keinen großen Wert.

»Ich werde persönlich für einen Vermerk in Ihrer Akte sorgen, darauf können Sie sich verlassen …«

»Würden Sie uns bitte allein lassen, Sergeant Nightingale?«

Sie blickte sich um und sah Superintendent Quinlan in der offenen Tür stehen. Blites laute Stimme musste über den ganzen Flur hinweg zu hören gewesen sein. »Und schließen Sie die Tür hinter sich.«

Als sie irgendwann später zum Superintendent gebeten wurde, hatte Nightingale sich bereits allerlei Kommentare zu ihrer plötzlichen Berühmtheit anhören müssen. Die meisten Kollegen begnügten sich damit, sie aufzuziehen oder um ein Autogramm zu bitten, aber nicht wenige waren neidisch und verbreiteten schlechte Stimmung. Ihre Schultern waren angespannt, als sie an die Tür von Quinlans Büro klopfte.

»Kommen Sie herein, Louise.« Er blickte auf und lächelte sie an. »Setzen Sie sich.«

Er musterte sie schweigend. Eine Ader klopfte an ihrer rechten Schläfe. Obwohl sie seinen Blick unbefangen erwiderte, sah sie jung und unglücklich aus. Die Beamtin vor ihm war erst siebenundzwanzig. Sie hatte sich nicht durch besondere schulische Leistungen ausgezeichnet, mit Mühe und Not das College geschafft, bevor sie zur Polizei ging, aber er hatte keinen Zweifel, dass sie etwas Besonderes war. Doch sie hielt mit irgendetwas hinterm Berg, ganz absichtlich, und diese 50

Geheimhaltung behagte ihm nicht. Fenwick war genauso. Er hatte Tiefen, die wohl noch niemand ergründet hatte, wie Quinlan vermutete. Ein Jammer, dass er nach so langer Zeit noch immer keine nette Frau gefunden hatte. Er riss sich aus seinen Gedanken und konzentrierte sich wieder auf Nightingale.

»Sie werden keinen Aktenvermerk bekommen, da Sie nichts falsch gemacht haben.«

»Danke, Sir.«

»Allerdings«, er sah, wie sich ihre Kinnpartie anspannte, als befürchte sie einen Schlag, »hat der Fall Ihnen und daher auch der Abteilung eine Aufmerksamkeit eingebracht, die nicht gerade dienlich ist. Die Presse beschäftigt sich gerne mit Einzelschicksalen, und Sie sollten damit rechnen, dass das Medieninteresse noch eine ganze Weile anhält.«

»Ich bin sicher, mein Ruhm ist kurzlebig und morgen schon vergessen.«

Quinlan betrachtete das fein geschnittene Gesicht, das, wie sie jetzt wussten, bei den Fotografen begehrt war, die schlanke, hoch gewachsene Gestalt, die kühle, aber mysteriöse Ausstrahlung und schüttelte den Kopf, machte ihre Hoffnungen zunichte. Ein schönes, junges Gesicht sorgte für hohe Aufla-gen, auch wenn die Story dünn war. Wenn dann noch Sex und Gewalt im Spiel waren, wurde gleich doppelt so viel verkauft.

»Wer ist dieser Jason MacDonald? Der Name kommt mir bekannt vor, und er weiß einiges über Sie.«

»Er war Lokalreporter und hat vor drei Jahren über die Rowland-Sache geschrieben. Mit seiner Enthüllungsstory hat er einer Opernsängerin die Karriere versaut.«

»Ach ja. Und jetzt schreibt er für die überregionale Presse.« Quinlans leise Hoffnung, dass MacDonald das Interesse 51

an ihnen verlieren würde, löste sich in Luft auf. »Sie schieben für ein paar Wochen Innendienst.«

»Ja, Sir.« Sie blickte erleichtert, und ihr Gesicht entspannte sich zu einem kleinen Lächeln, das aber bei seinen nächsten Worten verschwand.

»Und ich werde über Ihre nächste Versetzung nachdenken müssen. Wenn Sie nach Bramshill und Ihrer Sergeant-Prüfung nicht einen Sonderantrag gestellt hätten, wieder zu uns zu kommen, wären Sie längst woanders. Sie können nicht ewig hier bleiben, nicht bei Ihren Möglichkeiten. Denken Sie darüber nach und nennen Sie mir Ihre Wünsche. Das wäre dann alles.«

Nightingale schob Quinlans Vorschlag, den Prozess und die Presseberichterstattung so gut sie konnte beiseite, doch sie wurde tagelang von Journalisten verfolgt. Als ihnen keine Fragen mehr einfielen, gingen sie dazu über, bei ihr zu Hause anzurufen, ohne etwas aufs Band zu sprechen.

Statt irgendwann aufzuhören, nahmen die Anrufe immer mehr zu. Nachts musste sie das Telefon ausstöpseln, um nicht dauernd von dem Geklingel aus dem Schlaf gerissen zu werden. Und dann fingen die E-Mails von Pandora an: »SING-VÖGELCHEN, LUST AUF EIN SPIEL?«

Das war der einzige Wortlaut, aber mit SPIEL war eindeutig THE GAME gemeint, was ihre Angstgefühle steigerte.

Ihre Therapeutin hatte sie vorgewarnt, dass sie sich verwundbar fühlen würde, das sei ganz normal, aber Nightingale hatte nichts davon hören wollen. Sie hatte sich eingeredet, dazu sei sie zu hart im Nehmen, schließlich war die Härte, die sich zugelegt hatte, inzwischen ein unerlässlicher Bestandteil ihres Umgangs mit den Belastungen, die sie jetzt tagtäglich erlebte.

Sie würde sich doch von ein paar wahllosen Anrufen und E-52

Mails keine Angst einjagen lassen. Eine Woche lang fand sie sich damit ab und beschloss dann, ein paar Tage auszuspan-nen. Ein Wochenende bei ihrem Bruder war das kleinere von zwei Übeln geworden.

Es war seltsam, auf die massive Eichentür ihres Elternhauses zuzugehen und zu wissen, dass ihr Vater sie nicht aufrei-

ßen würde, um seiner Tochter einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie war sonntags nie zu spät zum Mittagessen gekommen, aber irgendwie hatte er es immer geschafft, ihr das Gefühl zu geben.

Eine alte Eisenkette hing an einem noch älteren Hebel, und sie zog daran, lauschte auf das Klingeln tief aus dem Innern des Hauses. Sekunden später öffnete ihre Schwägerin die Tür und begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln.

»Di! Tschuldigung, Louise – irgendwann gewöhn ich mich schon dran. Wir hatten Angst, du wärst in letzter Minute zu einem Einsatz gerufen worden. Komm rein, Simon ist im Wintergarten.«

Sie hatten die Einrichtung in der Diele nicht verändert, aber sie hatten endlich das düstere Bild mit dem von Hunden gehetzten Hirsch abgehängt. An dessen Stelle hing jetzt ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen. Sie wandte die Augen von ihrem Spiegelbild ab und blickte ins Wohnzimmer, wo sie nur die alte Standuhr sehen konnte. Zu ihrem Erstaunen ging die Uhr falsch, ein weiteres Zeichen dafür, dass sich das Leben verändert hatte.

»Hallo Schwesterherz.« Simon stand in der Tür zu dem großen Glasanbau, den ihre Mutter immer nur als »Orange-rie« bezeichnet hatte. Sie waren gleich groß, aber er war über zwanzig Kilo schwerer. Er hatte die blassgrauen Augen ihrer Mutter geerbt, ganz anders als ihre. Ja, sie sahen sich beide so wenig ähnlich, dass Nightingale einmal von ihrer Mutter den 53

Beweis verlangt hatte, dass sie Zwillinge waren. Ihre Mutter hatte ihr wortlos eine Geburtsurkunde vor die Nase gehalten, auf der stand, dass sie einen Jungen und ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, Simon David und Diana. Zwei Tage später war Nightingale zum ersten Mal von zu Hause ausgerissen. Zwei Monate später steckten ihre Eltern sie ins Internat, von dem sie irgendwann verwiesen wurde.

»Nimm’s mir nicht übel«, Simons Stimme holte sie in die Gegenwart zurück, »aber du siehst müde aus.«

»Danke.«

»Vergiss, was ich gesagt habe. Komm, trink was – wir haben beide ausnahmsweise mal keinen Dienst.«

Simon hatte sich verändert, seit er mit Naomi verheiratet war. Der rüpelhafte Junge, mit dem sie aufgewachsen war, der Liebling ihrer Mutter, der zu einem gemeinen Scheusal verwöhnt worden war, noch ehe er in die Schule kam, war nur noch eine blasse Erinnerung. Sie waren sich völlig fremd geworden, als sie mit dem Internat fertig war – genauer gesagt, als das Internat mit ihr fertig war. Als er nach dem Studium zurückkam, zum Entsetzen ihrer Mutter bereits mit Naomi verlobt, war aus ihm ein freundlicher, Rugby spielender, extrovertierter junger Mann geworden, mit dem sie sich überraschend gut verstand. Naomi arbeitete unablässig daran, dass die Zuneigung zwischen den Ge-schwistern nicht erlosch, was Simon und Nightingale immer wieder amüsierte.

Um sechs Uhr saßen sie noch immer am Esstisch. Naomi ging Tee kochen und ließ die Geschwister allein. Simon hatte mehr getrunken als sonst und sprach mit schonungsloser Offenheit.

»Du bist zu dünn, weißt du, Di…«

»Louise.«

54

»Tschuldigung, kommt vom Alkohol. Du könntest gut und gern zehn Pfund mehr vertragen.«

»Du redest schon genau wie Vater.« Simon verzog das Gesicht. »Hör mal, ich hab ein hartes Jahr hinter mir, und ich glaube nicht, dass es leichter wird. Der Superintendent will mich versetzen.«

»Ist das so schlimm? Bist du in Harlden denn wirklich zufrieden? Ich hätte gedacht, du wärst froh über eine Veränderung, solange du jung und ungebunden bist.«

Sie antwortete nicht. Wie sollte sie ihm erklären, dass genau das Gegenteil der Fall war, dass sie sehr wohl gebunden war, an einen Mann, der kaum Notiz von ihr nahm, und dass sie sich schon jetzt alt fühlte?

»Was hast du eben gedacht? Du hast richtig traurig ausgesehen.«

»Nun lass sie doch, Simon, merkst du denn nicht, wenn eine Frau verliebt ist?« Naomi stellte eine Tasse Tee vor Nightingale hin, bemerkte ihr weißes Gesicht und wechselte rasch das Thema. »Habt ihr schon über Mill Farm gesprochen?«

»Ist was passiert? Alles in Ordnung mit dem Haus?« Nightingale blickte die beiden besorgt an.

»Ja, alles in Ordnung. Ziemlich heruntergekommen, weil Dad nichts mehr dran gemacht hat, aber es steht noch, halbwegs.« Simon tat mehr Zucker in seinen Tee, als in mehreren Jahren gut für ihn gewesen wäre. »Wir möchten, dass du es kriegst.«

Nightingale war sprachlos.

»Wir brauchen keine zwei Häuser«, erklärte Naomi, »und wir haben beide das Gefühl, dass deine Eltern es dir hätten vermachen sollen, nicht uns.«

»Sie haben mir ein regelmäßiges Einkommen hinterlassen.

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Kapital auf einem Treuhandkonto, und ich kassier die Zinsen.

Ich gebe das Geld, das ich jeden Monat kriege, nur selten aus.«

»Mag ja sein, aber wir finden trotzdem, dass es unfair war, nicht wahr, Simon?«

Ihr Mann nickte mit Nachdruck.

»Erzkonservativ. Es ärgert mich noch immer, wenn ich bedenke …«

»Aber mich nicht. Es ist sehr lieb von euch, aber ihr solltet euch nicht verpflichtet fühlen, ihre Entscheidung abzuändern.«

»Wir fühlen uns nicht verpflichtet. Du würdest uns einen Gefallen tun. Ein altes, baufälliges Haus im tiefsten Devon ist nichts für uns, du dagegen warst immer sehr gern da.«

Die Vorstellung war verlockend. Es störte sie nicht, dass das Haus fast zusammenbrach. Es war der einzige Ort ihrer Kindheit, wo sie richtig glücklich gewesen war.

»Wir haben die Papiere schon aufsetzen lassen. Es ist eine Schenkung, deshalb fallen auch keine Steuern an, wenn wir lange genug leben. Ich hol mal die Unterlagen.«

Naomi blickte ihrem Mann nach, als er den Raum verließ.

»Bitte, er möchte, dass es dir gehört. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil wir so viel geerbt haben. Du kannst sagen, was du willst, fair war es nicht.«

»Aber auch nicht völlig überraschend. Sie hatten mich ja praktisch enterbt. Ich glaube, als Tante Ruth starb und Mill Farm meinem Vater vermachte, hat sie gehofft, dass es irgendwann an mich geht, aber ich habe nicht damit gerechnet.

Simon und ich sind in dem Haus zur Welt gekommen, weißt du, und das bedeutete, dass ich keine Chance hatte. Mutter wäre sehr unglücklich darüber, wenn Simon es an mich weitergäbe.«

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»Im Testament gibt es keine Klausel, die es uns verbietet.«

»Ich bezweifle, dass Mutter je auf den Gedanken gekommen ist, ihr könntet anständigen Grundbesitz verschenken!«, lachte Nightingale, wurde dann aber wieder ernst. »Ich muss darüber nachdenken. Ein altes Haus ist eine große Verantwortung, und es liegt am Ende der Welt. Ich möchte nicht undankbar klingen, aber könntet ihr die Papiere noch etwas zurücklegen? Ich würde mir die Sache gern in Ruhe durch den Kopf gehen lassen.«

»Klar, aber nimm schon mal die Schlüssel mit, für alle Fäl-le. Simon sagt, man müsste viel tun, um es bewohnbar zu machen, aber vielleicht willst du es dir mal anschauen, bevor du dich entscheidest.«

»Ich denke nicht, aber trotzdem danke.«

Sie nahm die Schlüssel, um ihnen eine Freude zu machen, und kam dann mit geübter Leichtigkeit auf Themen zu sprechen, die unverfänglicher waren als Familienerinnerungen.

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Kapitel vier

Im Traum schwamm Fenwick tief unter Wasser, als die Schreie an sein Ohr drangen. Er tauchte auf, und sie wurden lauter. Einen Moment lang lag er schlaftrunken und reglos da. Dann fuhr er hoch und riss seinen Morgenmantel vom Fußende des Bettes. Er stolperte, als er mit dem nackten Zeh gegen die Kommode stieß und sich die Tür vor das kaputte Knie schlug.

Humpelnd eilte er zu Bess’ Zimmer. Als er ihr Bett erreichte, hatte das Schreien aufgehört. Er hob ihren Kopf an seine Schulter und wiegte den Albtraum fort. Allmählich wurde ihre Atmung langsamer, und sie fiel in einen tieferen Schlaf. Er legte sie wieder hin und deckte sie bis unters Kinn zu. Was Monique wohl von ihrem kleinen Mädchen halten würde? Schon neun war sie und machte ihm manchmal richtig Angst mit ihren Geistesblitzen und dem weiblichen Scharfblick.

Zurück in seinem breiten, leeren Bett, konnte er nicht wieder einschlafen. Es war das dritte Mal in vierzehn Tagen, dass sie geschrieen hatte, weil sie etwas Beängstigendes ge-träumt hatte. Am nächsten Morgen war sie dann wieder fröhlich und gut gelaunt wie eh und je, ohne sich an ihren nächtlichen Kummer erinnern zu können. Er machte sich andauernd Sorgen um seine Kinder, aber mitten in der Nacht wach zu liegen und nachzugrübeln war nicht seine Art. Fenwick stand auf, holte Unterlagen aus seiner Aktentasche und studierte sie, bis ihm die Augen zufielen. Er schlief aufrecht 58

sitzend bei brennendem Licht ein, den Inhalt einer Ermitt-lungsakte auf dem Kissen neben sich verteilt.

Als der Wecker klingelte, stöhnte er. Nur noch einen Tag und er konnte sich auf ein ungestörtes Wochenende mit den Kindern freuen. Auf dem Weg zur Arbeit fiel ihm ein, dass er Monique seit fast zwei Wochen nicht mehr besucht hatte.

Die Ärzte versicherten ihm zwar, dass sie weder ihn noch sonst jemanden jemals wieder wahrnehmen würde, trotzdem quälte ihn nach wie vor das schlechte Gewissen. Er musste versuchen, eine Fahrt zum Pflegeheim einzuschieben.

Um sechs Uhr hatte er die dringendsten Sachen auf seinem Schreibtisch erledigt und war auf dem Weg zur Tür, als das Telefon klingelte. Er fluchte leise.

»Ja?« Er hoffte, seiner Stimme war die Ungeduld anzuhö-

ren, die er empfand.

»Andrew? Ich bin’s Claire, Claire Keating.«

»Claire, was kann ich für Sie tun?«

»Ich dachte, wenn Sie heute Abend nichts vorhaben, wir wollen im College noch was trinken – nichts Besonderes, bloß ein paar Gläschen zur Stärkung, bevor die Prüfungen anfangen. Die nächsten sechs Wochen werden für uns ganz schön hektisch.«

Er hatte vergessen, dass sie im Hauptberuf Dozentin war und für die Polizei nur nebenbei arbeitete. Die Einladung verblüffte ihn. Er mochte Claire, und mit ihr allein hätte er sich vielleicht sogar getroffen, aber die Vorstellung, schlechten Wein mit einer Gruppe Akademiker zu trinken, mit denen ihn nichts verband, behagte ihm nicht. Und überhaupt, die Kinder würden ihn vermissen.

»Danke für die Einladung, aber ich kann leider nicht.« Aus Höflichkeit fügte er hinzu: »Vielleicht ein andermal.«

»Klar. War bloß so eine Idee. Schönes Wochenende.«

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Als er die Haustür öffnete, schlugen ihm Fernsehgeräusche aus dem Wohnzimmer und Töpfeklappern aus der Küche entgegen.

»Hallo!«, rief er. »Ich bin wieder da.«

Chris brummte etwas, ohne den Kopf vom Fernseher ab-zuwenden. Bess sprang auf und lief ihm entgegen, ein schock-ierender Anblick in Limonengrün und Pink.

»Daddy, du kommst aber früh!« Sie drückte ihn, als er seinen Mantel aufhängte. Er betrachtete blinzelnd das neonfar-bene T-Shirt und die knallig gestreiften Leggings, Sachen, die er noch nie an ihr gesehen hatte.

»Gefall ich dir, Daddy? Ich war mit Lucy und ihrer Mum nach der Schule einkaufen. Das waren Sonderangebote, su-perbillig.«

Das wunderte Fenwick keineswegs, aber so billig, wie sie aussahen, konnten sie unmöglich gewesen sein.

»Du warst einkaufen?« Er umging eine direkte Antwort auf ihre Frage, aus purer Ratlosigkeit. Er hätte nie gedacht, dass er mal als Modeberater herhalten müsste, denn bislang hatte er sich auf Bess’ guten Geschmack verlassen können. Auf solche Geschmacksverirrungen würde seine Tochter doch nicht he-reinfallen, hatte er zumindest geglaubt. Wie sehr sich ein Mann doch täuschen konnte.

»Ja, aber gefallen dir die Sachen?« Sie stampfte zum Nachdruck leicht mit dem Fuß auf, was untypisch für sie war.

Fenwick beschlich der Verdacht, dass Lucy Wells vielleicht nicht nur in Modedingen einen schlechten Einfluss auf Bess hatte.

»Interessantes Muster. Oh, Tschuldigung, darf das Glitzer-zeug abgehen?« Er starrte mit angewiderter Faszination auf die funkelnden Plättchen, die sich von den Cartoon-Äpfeln auf dem T-Shirt auf seine Finger übertragen hatten.

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»Och, ist nicht schlimm, das geht dauernd ab. Mrs Wells sagt, nach der ersten Wäsche hält es.« Sie blickte zu ihm hoch, ihre dunkelbraunen Augen riesig unter dichten Wim-pern. »Die Sachen gefallen dir nicht, stimmt’s?« Ihre Mundwinkel gingen nach unten. In ihrer Stimme lag eine merkwürdige Mischung aus Trotz und Flehen. Fenwick erkannte die Warnzeichen, sprach aber unbeirrt weiter, aufrichtig wie immer.

»Wenn ich ehrlich bin, ist das Pink ein bisschen zu baby-haft für meinen Geschmack, aber wichtig ist, dass sie dir gefallen. Kannst du sehr gut auf Partys anziehen.«

Sie blickte ihn erneut mit Moniques Augen und Moniques Ausdruck im Gesicht an. Ihr Kinn schob sich vor.

»Das sind doch keine Partysachen. Ich will sie jeden Tag anziehen, außer zur Schule.«

»Schön. Wie du willst. Aber nicht, dass sie so schnell kaputt gehen. Ich geh mich umziehen.«

Er hatte das letzte Wort gehabt, dachte er wenigstens. Als er die Treppe hinaufging, rief sie hinter ihm her: »Wenn ich genug Geld gespart hab, kauf ich mir Leopardenschuhe – die gibt’s in allen Farben, von Gelb bis Knallorange! Natürlich nur, wenn du keine Lust hast, mir morgen welche zu kaufen.«

Er drehte sich um und kam zurück. Er wollte einem endlosen Wortgefecht, wie er es oft mit Monique gehabt hatte, vorbeugen. Er setzte sich auf die zweitletzte Stufe, Auge in Auge mit seiner Tochter.

»Hast du denn eine Belohnung verdient?« Er schlang die Arme um sie, und ihr hartes, kleines Gesicht wurde weich, als ihre Hände seinen Hals umfassten. Er versuchte, den Glitter-schauer zu ignorieren, der auf seinem Jackett gelandet war.

»Ich hab eine Eins im Diktat.«

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»Das war letzte Woche.«

»Und wenn ich verspreche, nächste Woche wieder eine Eins zu schreiben?«

Er musste lächeln über ihr Selbstvertrauen, denn sie hielt jedes Versprechen. Sie war pfiffig, aber nicht die Intelligentes-te ihrer Klasse. Was sie auszeichnete, war ihre Entschlossenheit. Wenn sie sich einmal ein Ziel gesetzt hatte, erreichte sie es auch.

»Mal sehen. Geh wieder zu deinem Bruder, ich muss mich umziehen«, und diesen Anzug gleich morgen in die Reinigung bringen, dachte er.

Als er wieder herunterkam, lag Chris noch immer vor dem Fernseher. Der Kinderkanal lief.

»Habt ihr Lust auf Monopoly?«

»Da läuft gerade ein guter Zeichentrickfilm. Vielleicht spä-

ter.« Chris schenkte seinem Vater nicht mal einen Blick.

Bess nickte zustimmend. »Später.«

Fenwick blickte auf die Katze und die Maus auf dem Bildschirm, beide um einiges älter als er, doch trotz der ständigen Wiederholungen irgendwie reizvoller. Er beugte sich hinab und zerzauste Chris das Haar.

»Ich hol mir später eine Umarmung ab.«

Chris nickte kurz und strich sich die Haare glatt. Fenwick hörte leise Schritte hinter sich.

»Ach, da sind Sie ja, Andrew. Wusste ich doch, dass ich Sie hab kommen hören.«

»Hallo, Alice. Hatten Sie einen guten Tag?«

»Einigermaßen. Ich musste die Wäsche mit der Hand waschen, weil die Maschine kaputt gegangen ist, aber die Kinder brauchen ja saubere Schuluniformen, aber ansonsten …« Ihre Stimme verklang, als sie zurück in die Küche ging.

Fenwick folgte ihr. Seine Haushälterin ließ ihre Sätze oft 62

unvollendet, und Fenwick hatte es aufgegeben, sich den Rest zusammenzureimen. Alice Knight war eine kleine, rundliche Frau, die mit Anfang fünfzig Witwe geworden war und jetzt auf die Sechzig zuging. Sie hatte ohne Bedenken ihre Miet-wohnung aufgegeben und war in das Apartment gezogen, das Fenwick für das damalige Kindermädchen hatte anbauen lassen, und es machte ihr sichtlich Spaß, einen größeren Haushalt zu führen.

Er hatte versucht, sie davon zu überzeugen, kein wohlhabender Mann zu sein, obwohl er ein so großes Haus hatte, das er sich aber nur durch das Geld von der Versicherung leisten konnte, wie er ihr mehrfach erklärt hatte. Letztlich musste er sie förmlich zwingen, entsprechend bescheiden zu leben, und das ging nur durch eine Kürzung des wöchentli-chen Haushaltsgeldes. Jetzt, so vermutete er, hielt sie ihn für wohlhabend, aber knickerig, was sie wahrscheinlich auf sein schottisches Blut mütterlicherseits zurückführte. Alice war eine Frau, die nichts dagegen hatte, in Klischees zu sprechen, um nur ja keine Zeit für einen vielleicht originellen Gedanken zu vergeuden. Davon und von ihrer gelegentlichen Ver-schwendungssucht abgesehen, passte sie gut zu seiner Familie.

Sie war warmherzig, bestimmt, aber nicht streng, eine gute Köchin, und sie mochte Kinder.

»Hier riecht’s aber lecker.«

»Hackfleischauflauf mit Weißkohl. Aber keine Bange. Das Rindfleisch hab ich selbst durch den Fleischwolf gedreht, und es war ein gutes Stück. Ich dachte …«

»Köstlich. Wann können wir essen?«

»In einer halben Stunde. So früh hab ich nicht mit Ihnen gerechnet. Sie können noch was mit den Kindern spielen …«

Er ging zurück und sah sich den Zeichentrickfilm an, dann noch einen, bis das Essen auf dem Tisch stand. Der Auflauf 63

war ein Gedicht, der Kohl darin sicherlich gesund. Zwei Glä-

ser von seinem besten Rotwein waren ein bisschen übertrieben, aber sie halfen ihm, zufrieden und entspannt ins Wochenende zu gleiten.

Die Kinder machten ein wenig Theater, als sie ins Bett sollten, aber schließlich fügten sie sich. Um neun Uhr schaltete er den Fernseher ein, um sich einen Film anzusehen, füllte sein Weinglas erneut und machte es sich mit einem kleinen, behaglichen Seufzer bequem. Alice war oben und sah sich eine auf Video aufgenommene Serie an. Das Haus war still, endlich hatte er Zeit für sich. Er hätte zufrieden sein müssen, wurde aber im Laufe des Abends immer unruhiger.

In seinem gemütlichen Sessel überlegte er, was mit ihm los sein könnte, und kam zu dem unangenehmen Schluss, dass er entweder einsam war oder sich langweilte, vielleicht beides.

Monique war nun seit über drei Jahren im Krankenhaus. Die einzige Affäre, die er in dem Jahr nach ihrer Erkrankung gehabt hatte, war eine Katastrophe gewesen, die ihn Karriere und Familie hätte kosten können. Seitdem behielt er seine Gefühle und seine Leidenschaft fest unter Kontrolle.

In derselben Nacht träumte er von Claire Keating, nur dass es gar nicht Claire war, als er in ihr Gesicht sah. Hinter ihren Augen verbarg sich eine andere Frau. Um drei Uhr morgens hatte Bess wieder einen Albtraum, und diesmal wurde sie wach. Er beruhigte sie, bis ihr Atem langsamer ging und sich ihre Finger, die fest die Bettdecke umklammerten, entspannten.

Am nächsten Vormittag kaufte er mit Bess Leopardenschuhe unter der strikten Bedingung, dass sie nur auf Partys getragen würden. Sie waren neonlila und weiß gemustert, Farben, die ihn verblüfften und Bess gleichermaßen begeister-ten. Christopher bekam einen Action-Man-Panzer, und für 64

wenige Stunden war sein Vater wieder ein Held. Sein Sohn verteilte Wertschätzung nur zurückhaltend, in unregelmäßiger Dosierung, wobei er Fenwicks Allwissenheit und Zuneigung zwischendurch fast grausamen Tests unterzog. Er spürte bereits dunkel, wie provokant und aggressiv ihm sein Sohn in nicht mehr allzu ferner Zukunft begegnen würde, als wüsste er, nachdem er von der Mutter im Stich gelassen worden war, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein konnte, bis auch der Vater ihn enttäuschte. Fenwick hatte seinen eigenen Vater kaum gekannt und wollte auf keinen Fall, dass Chris so lieblos aufwuchs wie er damals.

Trotz der gelegentlichen Regenschauer war es ein schöner Einkaufsbummel, den sie schließlich mit einem Besuch in ihrem Lieblingscafé krönten. An einem etwas abgeschiedenen Ecktisch tranken die Kinder zufrieden ihre Milchshakes und Fenwick seinen Kaffee, als Chris plötzlich sein Glas weg-schob.

»Daddy?«

»Ja, Chris.«

»Kommt Mummy je wieder?«

Er sagte es ganz normal, ganz ruhig. Es war, als wollte er einfach nur plaudern, aber seine Worte verschlugen Fenwick den Atem. Bess blickte ihren Vater an, ihre aufmerksamen Augen nahmen jede Veränderung in seinem Gesicht wahr. Er zwang sich, normal zu antworten.

»Nein, Chris, sie kommt nicht wieder.«

»Ist sie tot?« Nichts war zu spüren von der nervösen Hysterie, die sonst jedes Gespräch über seine Mutter begleitete.

Die absolute Reglosigkeit bei beiden Kindern machte Fenwick Angst. Sie wirkten unnatürlich ruhig, als warteten sie auf einen Sturm, von dem sie wussten, dass er jeden Moment losbrechen musste. Er wusste, dass seine Worte laut in 65

die Stille hineinfallen würden, die Spannung erhöhen oder abschwächen würden, je nachdem, wie geschickt er seine Antwort formulierte. Er suchte noch immer nach den richtigen Worten, als Bess Chris’ kleine Hand nahm und mit sachlicher Stimme sagte: »Nein, Chris, noch nicht. Sie ist sehr, sehr krank, und die Krankheit hat ihr Gehirn ganz kaputt gemacht. Es ist jetzt wie Knetgummi, nicht, Daddy? Ich habe gehört, wie du mal zu Alice gesagt hast, Mummys Gehirn wäre bloß noch ein Klumpen oder so.«

Fenwick kam nicht dazu zu antworten, weil Chris schneller war und aufgeregt sagte: »Dann könnte sie doch nach Hause kommen. Wenn nur ihr Gehirn nicht in Ordnung ist, könnten wir sie halten wie eine Katze oder so. Mein Lehrer hat gesagt, der Unterschied zwischen Tieren und uns ist der, dass wir denken können und Tiere nicht. Ich finde die Idee ganz schön, dass Mummy unsere Katze sein könnte. Dann könnten wir uns alle um sie kümmern.«

Fenwick streckte die Hände aus und legte sie auf die seiner Kinder. Er musste diese Hoffnung zerstören, bevor sie in Erwartung umschlug.

»Nein, meine Kleinen. Es geht ihr zu schlecht, um nach Hause zu kommen. Sie braucht Ärzte und Pfleger, die sich um sie kümmern, und sie schläft die ganze Zeit. Dafür gibt es einen bestimmten Ausdruck, meint ihr, ihr könnt ihn euch merken?«

Sie nickten beide ernst, die Augen groß und hell.

»Mummy liegt im Koma …«

»Im Koma«, wiederholten beide.

»Das bedeutet, sie schläft tief und fest, sie fühlt sich nicht krank, aber sie muss im Krankenhaus bleiben.«

»Hat sie Albträume?« Bess’ Stimme war voller Entsetzen.

»Nein, sie kann nicht träumen. Sie schläft bloß ganz friedlich.«

66

»Dürfen wir sie sehen, Daddy? Du besuchst sie doch.«

Chris blickte ihn hoffnungsvoll an.

Fenwick dachte an Moniques ausgezehrten, weißen Körper, an die Apparate und Schläuche, die all das für sie taten, was ihre Organe nicht mehr konnten.

»Sie ist sehr weit weg, Chris. Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Sie würde gar nicht merken, dass ihr da seid.«

Er bereute seine Aufrichtigkeit jetzt. Er hätte ihnen sagen sollen, sie sei gestorben. Dann hätten sie den Schmerz inzwischen hinter sich, statt weiterhin nicht richtig um ihre Mutter trauern zu können. Aber er konnte seine Kinder nicht belü-

gen. Sie waren ihm zu ähnlich und würden ihm eine so krasse Lüge niemals verzeihen. Chris öffnete den Mund, um einen Einwand zu erheben, aber Bess schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, Chris. Es bringt wirklich nichts. Sie wird sowieso bald tot sein.« Fenwick und sein Sohn starrten sie an. »Das träume ich immer. Ich bin am Meer, und Mummy geht über einen sehr breiten Strand zum Wasser. Ich laufe ihr nach, aber ich kann sie nicht einholen. Sie geht nur, und ich laufe, aber ich kann sie einfach nicht einholen. Sie ist jetzt fast am Meer, und ich weiß, wenn sie da ist, stirbt sie.«

Fenwick war entsetzt, aber Chris nickte bloß verste-hend.

»Sie will zum Himmel. Es ist ein weiter Weg, deshalb dauert es so lange.« Er blickte auf, seine blauen Augen strahl-ten zufrieden, dass er es endlich verstanden hatte. »Hab ich Recht, Daddy?«

»Ja, du hast Recht.« Seine Stimme war belegt, und er nahm einen Schluck Kaffee. Er hoffte, dass sie seinen Blick nicht lesen konnten, aber Bess, der nichts entging, zog ihre Hand weg und tätschelte ihm den Arm.

»Schon gut, Daddy. Ich weiß, es ist traurig, aber ich glau-67

be, sie will jetzt gehen. Ist bestimmt nicht so lustig, die ganze Zeit im Krankenhaus zu liegen.«

»Da hast du wahrscheinlich Recht.« Er blickte sie beide an und sah eine tiefe Akzeptanz in ihren Augen. Für sie war es einfach. Bloß er lief Gefahr, die Sache zu komplizieren, wenn er mehr sagte.

»So, Leute, fahren wir nach Hause?«

»Würde ich gern.« Chris zog sich ohne Protest den Mantel an. »Ich möchte ein Bild für Mummy malen.«

Er malte ein Bild – ein Boot auf einem Meer, mit einem Strand im Vordergrund. Auf dem Strand waren drei Figuren, eine große und zwei kleine. Sie hatten traurige Gesichter. Auf dem Boot war eine einzige Figur, die eine sorgfältig gemalte, übergroße Hand zum Abschied erhoben hatte. Sie hatte langes Haar und lächelte. Quer darüber schrieb Chris in seiner schönsten Schrift: »FÜR MUMMY, IN LIEBE CHRISTO-PHER.« Auch Bess wollte etwas machen und holte ihre un-vollendete Stickarbeit hervor: ein Gänseblümchen auf blauem Grund, es fehlte nur noch die gelbe Mitte und ein Blüten-blatt. Als sie fertig war, stickte sie farblich hervorgehoben in eckigen Buchstaben: MUMMY + BESS.

Fenwick lobte die Werke seiner Kinder, machte ihnen etwas zu essen und wartete darauf, dass der Sturm der Gefüh-le losbrach, aber der Abend verlief friedlich. Sie spielten zusammen Monopoly, und der Fernseher blieb aus. Sie kuschel-ten lange, und dann badeten die Kinder. Als sie fertig waren, sprachen sie für ihre Mummy ein Gebet und fragten, ob sie zusammen in einem Bett schlafen durften, was ihr Vater erlaubte. Chris schlief ein, die Arme um seinen neuen Panzer, Bess hatte die Arme um ihren Bruder gelegt.

Um elf klingelte das Telefon. Um diese Zeit bedeutete das normalerweise Arbeit für ihn, doch da ihm Bess’ Worte noch 68

in den Ohren klangen, nahm er den Hörer mit einem ungu-ten Gefühl ab.

»Fenwick.«

»Hier spricht Doctor Mortimer, Mr Fenwick. Ich bin Assistenzarzt im St. Theresa’s. Der Zustand ihrer Frau hat sich verändert. Es wäre besser, Sie würden herkommen.«

»Sofort?«

»Ich denke, ja.«

Er weckte Alice, deren Mitgefühl er nur schwer ertragen konnte.

»Es wäre schön, wenn Sie in der Nähe der Kinder schlafen könnten. Bess hat manchmal Albträume, und ich will nicht, dass die beiden allein sind.« Er erzählte ihr nicht, woher die Albträume rührten.

Alice drückte ihm den Arm. »Natürlich, das mache ich gern.« Er fuhr die vertraute Strecke durch heftigen Regen, es waren kaum Autos unterwegs, und in den Mulden der Stra-

ßen stand bereits das Wasser. Die Abschiedsgeschenke der Kinder lagen sicher in Plastiktüten eingepackt auf dem Rück-sitz.

Das Krankenhaus war spärlich beleuchtet, und ein netter Pförtner, dessen Gummisohlen auf dem Linoleum quietschten, führte ihn über düstere Korridore. Fenwicks Frau war in ein Einzelzimmer verlegt worden. Er sah sofort, dass die meisten Schläuche verschwunden waren, und setzte sich. Das Beatmungsgerät klickte und seufzte, und Fenwicks Atem passte sich dem langsamen Rhythmus an. Jemand hatte ihr das schöne Haar gekämmt, und es lag wie ein dunkler Glorien-schein auf dem Kopfkissen. Ihre Hände lagen auf der Bettdecke über ihrem eingefallenen Bauch, hübsche Baumwollärmel verhüllten die schlimmsten Nadeleinstiche und blauen Flecke von langen Jahren intravenöser Versorgung.

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Irgendwann merkte er, dass ein junger Mann, vermutlich der Arzt, der ihn angerufen hatte, neben ihm stand.

»Wie lange noch?«, fragte er.

»Schwer zu sagen, aber nicht mehr sehr lange.« Sie sprachen vorsichtshalber im Flüsterton, für den Fall, dass die Frau, die vor ihnen lag, doch noch hören konnte, so unwahrscheinlich es auch war. Fenwick stand auf, und sie gingen hinaus auf den Korridor, um dort weiterzureden.

»Ihre Leber hat versagt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.«

»Wollen Sie das Beatmungsgerät abschalten?«

»Die Entscheidung liegt nach wie vor bei Ihnen. Aber es besteht jetzt absolut keine Hoffnung mehr.«

Er wartete, während Fenwick durch die offene Tür auf die ungerührt arbeitende Maschine blickte.

»Ich brauche ein bisschen Zeit.«

»Natürlich. Kann ich Ihnen etwas bringen? Einen Tee?«

Fenwick lächelte schwach, Tee, das britische Allheilmittel.

»Ja, das wäre nett.« Er hatte gelernt, dass es besser war, andere helfen zu lassen.

Er öffnete die Plastiktüten – eine von einem Schuhge-schäft, die andere von einem Spielzeugladen – und nahm das Bild und die Stickarbeit heraus. Er lehnte die Geschenke seiner Kinder gegen das Fußende des Bettes, als ihm einfiel, dass er selbst gar nichts mitgebracht hatte. Der Tee kam, und man ließ ihn allein. Er nahm die bleiche Hand seiner Frau und hielt sie. Sie war warm und weich, die Nägel geschnitten und sauber, und er war dem unbekannten Menschen für diese Aufmerksamkeit dankbar.

Er sah zu, wie Moniques Brust sich hob und senkte, wusste aber, dass das nichts bedeutete. Er trank von seinem Tee.

Sobald die Tasse leer war, würde er den Arzt holen. Er merk-70

te, dass er nur ganz kleine Schlucke trank, während er ihre Hand hielt und den Puls zählte, als wäre es Zauberei.

Der Tag dämmerte, als er heimfuhr. Das Haus lag dunkel und still im grauen Licht. Eine Amsel, die vor Lust nicht schlafen konnte, trällerte auf einem Baum. Alice schlief auf dem Sofa, mit offenem Mund. Er ging in die Küche und machte sich noch eine Tasse Tee.

Der Zorn überraschte ihn. Er hatte gedacht, dass er ruhig sein würde, nicht von dieser Wut erfüllt, die die Ordnung um ihn herum am liebsten zerschlagen hätte. Er hatte bisher alles verdrängt, der Zorn auf Monique und ihre Depressionen hatte all die Jahre auf diesen Augenblick gewartet. Er verspür-te den Drang, laut aufzuschreien. Stattdessen presste er den Teebeutel so fest aus, dass seine Fingerknöchel weiß wurden, und wischte sich mit der freien Hand über das Gesicht. Er gab einen Schuss Milch in die Tasse, als er hinter sich Schritte auf weichen Pantoffelsohlen hörte.

»Ist sie von uns gegangen?«

»Ja, Alice, sie ist tot. Möchten Sie Tee?«

Seine Haushälterin stellte sich neben ihn und legte ihm einen rundlichen Arm um die Taille.

»Wenn Sie Wut empfinden oder Schuldgefühle, sträuben Sie sich nicht dagegen. Das ist normal, glauben Sie mir. Das geht uns allen so, wenn der Partner stirbt.« Sie drückte ihn sanft. »Eine Tasse Tee wäre schön, danke.«

Sie tranken eine Weile schweigend, während draußen das einstimmige Gezwitscher zu einem lärmenden Chor an-schwoll. Sanftes Licht drang in die Küche.

»Schlafen die Kinder?«

»Wie die Murmeltiere. Haben die ganze Nacht keinen Mucks von sich gegeben. Die Beerdigung …?«

»Darum muss ich mich kümmern. Würden Sie mir dabei 71

helfen? Nur im kleinen Kreis, aber ich muss Moniques Familie verständigen.«

»Natürlich.« Sie zögerte. »Nehmen Sie die Kinder mit?«

Über die Frage hatte er sich schon auf der langen Fahrt nach Hause den Kopf zerbrochen.

»Ich denke, ja. Sie brauchen etwas Greifbares, um sich verabschieden zu können. Aber nur, wenn sie wollen.« »Ich glaube, sie wollen.« »Das glaube ich auch.«

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Kapitel fünf

Als das Telefon klingelte, tat sie so, als wäre sie nicht zusammengefahren.

»Hallo?«

»Sergeant Nightingale? Hier spricht Dr. Batchelor. Wir hatten noch nicht das Vergnügen, aber ich würde mich freuen, wenn Sie etwas Zeit für mich erübrigen könnten. Ich bin Gefängnispsychiater. Mr Griffiths ist mein Patient.«

Als Griffiths’ Name fiel, lehnte Nightingale sich gegen die Wand und ließ sich nach unten rutschen, bis sie auf dem kühlen Holzboden saß.

»Ich hätte da ein paar Fragen … Sind Sie noch dran?«

»Ja.« Ihre Stimme war heiser, und sie hustete. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen helfen kann.«

»Ich weiß, es ist ein wenig ungewöhnlich …«

»Ein wenig!«

»Aber Sie haben monatelang mit Wayne per E-Mail kor-respondiert.«

»Das heißt noch lange nicht, dass ich ihn näher kenne oder dass ich über ihn Erkenntnisse gewonnen habe, die für Sie interessant wären.« Sie kreuzte die Finger bei der Lüge.

»Ein Treffen wäre gegen die Vorschrift und für Sie und mich reine Zeitverschwendung.«

»Dann am Telefon.«

»Nein, Doctor. Ich möchte das wirklich nicht. Tut mir Leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«

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»Es könnte Ihnen gut tun.«

»Ich muss jetzt auflegen. Auf Wiederhören.«

Sie legte den Hörer auf die Gabel und stützte den Kopf in die Hände. Der ganze Nachmittag lag vor ihr wie ein Tier auf der Lauer.

Sie fühlte sich in der Wohnung wie in einer Falle, doch wenn sie nach draußen ging, hatte sie das Gefühl, verfolgt zu werden. Es war idiotisch, ein weiteres Anzeichen der Paranoia, vor der ihre Therapeutin sie gewarnt hatte, aber es ver-unsicherte sie dennoch.

Nacht für Nacht wurde sie von schrecklichen Albträumen heimgesucht. Im letzten kniete sie vor Griffiths, wie eine de-mütig Betende, das Gesicht in Höhe seines Nabels, dann zwang er sie, sich nackt auszuziehen. Sie war kurz nach Mitternacht zitternd aus dem Traum erwacht. Als sie nach zwei Tassen Kräutertee wieder eingeschlafen war, träumte sie, in einer Gosse zu knien, Griffiths stand nackt vor ihr, die Arme ausgebreitet, wie bei einer Kreuzigung. Sie sah das Messer erst, als er es in einem raschen Bogen senkte und ihr vor die Augen hielt. Langsam zwang er ihr den Mund auf und schob die Klinge hinein, ließ sie auf der Zunge liegen wie eine Hostie. Er drückte ihr die Lippen zu und zog dann die Klinge schnell heraus. Die scharfe Schneide schnitt in ihr Fleisch, und sie schmeckte Blut im Mund.

Der Eisengeschmack war noch da gewesen, als sie wach wurde. Sie hatte die Hand ans Gesicht gehoben, und sie war voller Blut. Benommen hatte sie sich im Zimmer nach einem Eindringling umgesehen. Erst als sie sich im Badezimmer das Gesicht waschen wollte, sah sie, dass sie Nasenbluten hatte.

Sie hatte vor Wut über die verräterische Schwäche ihres Körpers aufgeschrien und fluchend den blutbefleckten Kopfkis-senbezug und die verschwitzten Laken gewechselt. Im Mor-74

gengrauen war sie in einen schwarzen Schlummer gefallen, aus dem sie drei Stunden später wie gerädert erwachte.

Sie hatte sich krank gemeldet, eine Lüge, die sie nicht schön fand, aber der Gedanke, zur Arbeit zu fahren, war noch schlimmer als die Vorstellung, zu Hause zu bleiben. Das Telefon ließ sie zur Strafe eingestöpselt, und noch vor zehn Uhr erhielt sie drei Anrufe, ohne dass sich jemand meldete. Es zermürbte sie. Nachdem sie die Anrufe anfänglich als kindi-sche Streiche abgetan hatte, war sie jetzt überzeugt, dass eine böse Absicht dahinter steckte. Da sie es zu Hause nicht mehr aushielt, vereinbarte sie einen Friseurtermin und schlug die Zeit bis dahin mit dem Einkaufen von Dingen tot, die sie nicht brauchte.

Sie hatte dem Friseur gesagt, er solle radikal vorgehen, es müsse nicht modisch sein, Hauptsache pflegeleicht. Er nannte das Ergebnis knabenhaft. Sie fand, sie sah aus wie eine gescho-rene Johanna von Orléans, bereit für den Kampf oder den Scheiterhaufen. Mit dem jähen Vorsatz, sich gesund zu ernähren, ging sie mittags in ein vegetarisches Restaurant, doch als die Quiche und der Salat kamen, hatte sie keinen Appetit mehr und rührte so gut wie nichts an. Wieder zu Hause, trank sie einen Energydrink, ignorierte das blinkende Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter und beschloss, laufen zu gehen.

Das Joggen war ursprünglich eine Fluchtmöglichkeit für sie gewesen, als sie mit ihren wenigen Habseligkeiten in einem Rucksack von zu Hause im wahrsten Sinne des Wortes weggelaufen war. Die Polizei brachte sie zwar zurück, doch sie riss immer wieder aus, bis sie irgendwann von einer Polizistin so beeindruckt gewesen war, dass sie sich in den Kopf gesetzt hatte, so zu werden wie sie. Doch das Laufen hatte sie bis jetzt beibehalten. Sie war sogar an dem Morgen joggen gegangen, als sie die Nachricht vom Tod ihrer Eltern erhielt.

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Doch heute war es anders. Sie wollte nicht wie üblich im Park laufen und entschied sich für die lange Strecke durch den Wald, wo sie nur zu besonderen Gelegenheiten joggte.

Heute würde sie einen letzten Versuch unternehmen, sich von der Paranoia, die sie zu verzehren drohte, und von den zwanghaften Verhaltensweisen zu befreien, die sie zwar genau erkannte, aber einfach nicht in den Griff bekam. Jeder physi-sche Bestandteil ihres Lebens wurde rigoros gebändigt, nur ihr Verstand war heillos außer Kontrolle.

Drei Stunden später waren Nightingales Laufschuhe mit Staub bedeckt. Das T-Shirt klebte ihr am Rücken, sodass sich die Konturen des Sport-BHs abzeichneten, und das schweiß-

nasse Haar umrahmte ein Gesicht, dessen Muskeln vor Erschöpfung angespannt waren. Ein ermogelter freier Tag war zu einem Belastungstest ausgeartet.

Im länger werdenden Schatten einer riesigen Eiche saugte sie die letzten Tropfen Wasser aus der Flasche an ihrem Gürtel. Das Rascheln der Blätter um sie herum klang wie Schritte, die sie verfolgten, doch sie verbannte den Gedanken aus dem Kopf, indem sie sich sagte, dass sie hier sicherer war als sonst wo. Sie blickte widerstrebend auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass sie den langen Weg zurück zum Auto lief und nach Hause fuhr. Der Gedanke daran durchfuhr sie schneidender als ein Messer, und sie trieb sich weiter an.

Als sie ihren Lieblingsbaum erreichte, blieb sie endlich stehen und sog gierig die Luft ein. Sie war sehr weit vom Auto weg. Es war Irrsinn, so tief in den Wald hineinzulaufen, bis sie nicht mehr konnte, aber sie war ihren Gedanken noch nicht entkommen, nicht einmal durch das stumpfsinnige Zählen ihrer Schritte. Sie beugte sich vor, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, und ließ den Kopf hängen, sah die Blätter vom Vorjahr, die auf der festen Erde unter dem Baum 76

lagen. Schweißtropfen besprenkelten das staubige Laub und ließen die zarten, skelettartigen Blattadern hervortreten. Als diese Blätter gefallen waren, hatten ihre Eltern noch gelebt.

Ein Schluchzen entfuhr ihr. Sie legte die Hände auf die Lippen, als wollte sie das Geräusch hinunterschlucken, aber es ging nicht. Ein Schrei brach aus ihr heraus, und Tränen ver-mischten sich mit dem Schweiß, den ihr Körper verströmte.

Die Laute gingen ineinander über, wurden zu einem anhal-tenden Heulen. Die Beine knickten unter ihr ein, und sie sackte zu Boden, hielt sich ganz fest den Kopf, als könnte sie das wehe Gefühl zurückdrängen, das tief aus ihrem Innern hervorsprudelte. Stattdessen spürte sie, wie sich ein Gegen-druck gegen den Schädelknochen aufbaute und ihr die Lunge im Brustkorb zusammenpresste, sodass sie keuchend nach Atem rang.

Das Weinen hatte weder Ursprung noch Ziel, es war einfach da. Welle für Welle tobte durch sie hindurch und aus ihr heraus, schaukelte ihren Körper in einem eigentümlichen Rhythmus vor und zurück. Irgendwann wurde das Weinen leiser, und dann hörten die Tränen auf. Sie nahm die Hände vom Kopf und sah auf ihre Finger. Sie waren blutleer von dem Druck, den sie auf sie ausgeübt hatte. Sie blickte auf den Ring an ihrer rechten Hand, dachte an das Weihnachten, an dem sie ihn geschenkt bekommen hatte, und spürte, wie sich bei der Erinnerung wieder ein Schluchzen bildete. Die Trä-

nen kehrten zurück, und in dem vergeblichen Versuch, sie zu stoppen, biss sie sich fest auf die Zunge. Die nächste Trauer-welle traf sie, sanfter, aber irgendwie tiefer und schmerzlicher, ohne einen Funken Hoffnung.

Sie spürte im Boden unter sich eine Vibration, die zu laufenden Schritten wurde, und als sie aufblickte, sah sie zwei Kinder, die sie neugierig anstarrten. Sie konnte die Gesichter 77

nicht erkennen, weil ihre Augen vom hemmungslosen Weinen verquollen waren, aber sie sah, dass die beiden kurze Hosen und Gummistiefel trugen. Schlagartig sah sie ein weiteres Bild aus ihrer Kindheit vor sich. Sie und Simon hatten das Gleiche getragen. Es gab Schlangen im Wald, und Gummistiefel waren sicherer als Sandalen.

»Mir geht’s gut«, sagte sie heiser. »Wirklich«, aber die beiden liefen davon. Sie hoffte, dass sie ihnen keine Angst eingejagt hatte.

Es war kalt im dunkler werdenden Schatten des Baumes, und Nightingale fröstelte, als sie versuchte aufzustehen, langsam, wie eine alte Frau.

»Daddy! Daddy! Komm schnell. Da sitzt eine Frau unter unserem Baum, die ist ganz traurig und weint.«

Ausgerechnet, dachte Fenwick. Seit der Beerdigung hatten die Kinder ein beunruhigendes Kleinkindverhalten angenommen. Bei Tisch benahmen sie sich schlecht, bestanden darauf, dass er ihnen beim Zubettgehen lange etwas vorlas und dass nachts eine Lampe brannte. Wenn sie sich nicht zankten, bekamen sie bei den albernsten Dingen Lachanfälle.

Sie wollten nicht über den Tod ihrer Mutter sprechen und funkelten ihn wütend an, wenn er das Thema ansprach. Er hatte gehofft, ein Spaziergang zu einem ihrer Lieblingsplätze würde für eine positive Stimmung sorgen und sie alle einander wieder näher bringen.

Er war zuversichtlich gewesen, dass sein Plan aufgehen würde. Die Mauer, die er um Chris und Bess hatte wachsen sehen, war rissig geworden, als sie wieder über die vertrauten Waldwege spazierten und durch einst sprudelnde Bäche wa-teten, die jetzt fast ausgetrocknet waren. Er war geneigt, sich nicht weiter um die Frau zu kümmern. Das Leben war 78

kompliziert, und es war hart. Nach manchen Tiefschlägen tat es gut, sich richtig auszuweinen. Dabei waren die meisten lieber allein, und sie wäre bestimmt nicht erfreut, wenn er sie dabei störte.

»Los, komm, Daddy.« Bess’ Besorgnis versetzte ihm einen Stich. Er fühlte sich mies. Sie erwartete, dass er den normalen Anstand zeigte und sich um einen Menschen in Not kümmerte. Wie hatte er auch nur mit dem Gedanken spielen können, einfach weiterzugehen?

»Wo lang?«

»Hier.« Chris rannte voraus, sodass Fenwick und Bess laufen mussten, um mitzuhalten.

Die Frau war praktisch noch ein Mädchen: dünn, schmutzig, verschwitzt, in Sportsachen, die voller Sand und Laub waren. Fenwick fragte sich, ob sie gestürzt war, und ging zu ihr, als sie versuchte, sich aufzurappeln. Sie zuckte zusammen, als sein Schatten auf sie fiel, und blickte mit verzweifelten, blauen Augen auf. Da erst sah er, dass es Nightingale war.

Er starrte sie erschrocken an, entsetzt über die schreckliche Traurigkeit, die er so schutzlos in ihrem blassen Gesicht sah.

Sie wandte den Kopf ab, aber ihre Miene zeigte keine Spur von Erkennen. Sie hatte offenbar nicht begriffen, wer da vor ihr stand. Er fühlte mit ihr. Es war nicht richtig. Es würde ihr gar nicht gefallen, dass er sich einmischte.

»Nightingale.« Seine Stimme war leise, aber sie fuhr so heftig zusammen, als wäre sie von einer der Giftschlangen gebissen worden, vor denen er die Kinder immer warnte.

»Oh nein!« Es war ein trostloses Wimmern, und er wusste nicht, was er sagen sollte. Er stand da, die Hände nutzlos he-rabhängend.

»Warum sind Sie so traurig?« Bess war frei von seinen Hemmungen.

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»Es ist alles in Ordnung«, flüsterte Nightingale.

»Aber warum weinen Sie dann?« Bess sah sie genauer an und merkte auf.

»Ich kenne Sie. Sie sind die Polizistin, die letztes Jahr mal bei uns war. Daddy«, Bess wandte sich vorwurfsvoll an ihn,

»sie weint doch nicht, weil du böse zu ihr warst, oder?«

Aus irgendeinem Grund lösten die Worte seiner Tochter wieder ein heftiges Schluchzen bei Nightingale aus, so heftig, dass ihre Schultern bebten.

»He«, Fenwick beugte sich vor und legte ihr unbeholfen einen Arm um die Schultern. »Du meine Güte, Sie frieren ja. Sie holen sich noch den Tod. Hier«, er nahm den Pullover, den er sich umgelegt hatte, und streifte ihn ihr vorsichtig über den Kopf. Er bugsierte ihre Arme in die Ärmel, und sie drückte die Wolle an sich. »Kommen Sie, ich fahr Sie nach Hause.«

»Nein.« Er konnte sie kaum verstehen. »Ich bin selbst mit dem Wagen da. Bitte«, sie blickte ihm nicht in die Augen, aber er spürte, wie eindringlich sie ihn anflehte, »es wäre besser, Sie lassen mich allein.«

»Dann bringe ich Sie wenigstens zu Ihrem Wagen. Wo steht er?«

»Am Ende vom Devil’s Run.«

»Das ist ja meilenweit weg. Sind Sie das alles gelaufen?« Er bemühte sich, nicht vorwurfsvoll zu klingen. »Sie müssen völlig erschöpft sein. Mein Auto steht auf einem Parkplatz nicht weit von hier. Wir fahren Sie zu Ihrem Wagen.«

»Nein, ich …«

»Müssen wir dann schon heim?« Chris hielt mit seiner Enttäuschung nicht hinterm Berg.

»Chris.«

»Da sehen Sie, es macht nur Umstände. Ich schaff das schon allein.«

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»Kommt gar nicht in Frage. Christopher, wenn wir sofort fahren, haben wir noch Zeit, auf dem Nachhauseweg ein Eis zu essen.«

Chris strahlte sofort übers ganze Gesicht. Nightingale seufzte schwer und zuckte die Achseln. Fenwick war zu geschickt, um eine schwache Sekunde ungenutzt verstreichen zu lassen, und half ihr auf die Beine. Die Kinder liefen voraus, und Fenwick passte sich Nightingales langsamem Schritt an.

»Möchten Sie drüber reden?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Manchmal hilft es, so schwer einem der Anfang auch fällt.«

»Lieber nicht.«

Sie gingen schweigend nebeneinander her, ihre Schritte synchron, das Rascheln ihrer Füße auf dem Laub im gleichen Rhythmus. Fenwick warf einen Blick auf ihr Gesicht, während sie auf den Boden vor ihren Füßen blickte. Sie wirkte angeschlagen und erschöpft. Ihre Verletzlichkeit rührte ihn, und er spürte, wie sich seine Kehle schmerzhaft zusammen-schnürte. Er hatte sie noch nie so gesehen. Bei der Arbeit war sie knallhart und zuverlässig, so sachlich und kühl. Ihre emotionale Aufgewühltheit überraschte ihn.

Er fing an, über den Wald zu sprechen, durch den sie gingen, genau so, wie er mit Chris und Bess geredet hätte. Seine Worte waren sorgsam gewählt, seine Sätze gewürzt mit Anekdoten und Legenden, während er ihr von kuriosen und geheimnisvollen Dingen erzählte.

Sie gelangten an einen Bach, in dem die Kinder spielten.

»… Und hier hat ein bedeutender viktorianischer Gentleman angeblich Feen gesehen, das hat er zumindest auf die Bibel geschworen.«

»Glauben Sie an Feen?«, fragte Bess unvermittelt.

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Nightingale blickte sie verwirrt an. Der Hauch eines Lä-

chelns spielte um ihre Lippen.

»Du denn?«

»Ich hab zuerst gefragt.«

»Vielleicht glaub ich dran. Könnte ja sein, dass es welche gibt. Wer weiß?«

Die Antwort schien Bess zu gefallen.

»Ist bei mir genauso. Glauben Sie dann auch an Geister?«

Nightingale rutschte auf einem moosbewachsenen Stein am Ufer aus, und Fenwick hielt sie am Arm fest, damit sie nicht stürzte. Als sie auf der anderen Seite des Bachs waren, wartete er, dass sie sich ihm entzog, aber sie machte keine Anstalten, und er ließ seine Hand, wo sie war.

»Ich finde, wir sollten jetzt nicht über Geister sprechen, Bess. Das ist kein gutes Thema, wenn jemand traurig ist.«

»Warum sind Sie traurig?«