bergehend unterkommen können.«

Ein weiteres Kopfschütteln, und Tränen tropften ihr aufs Hemd.

»Sie verstehen das nicht. Ich will nicht bedauert werden.«

»Seien Sie nicht albern. Ein bisschen Mitgefühl wird Ihnen schon nicht schaden.«

Schließlich überredete er sie, bei ihm und seiner Frau zu übernachten, solange ihre Wohnung auf Spuren untersucht wurde. Er ließ sie mit einem Wagen zu sich nach Hause bringen und blieb in der Wohnung, bis er das Ergebnis der Nachbarnbefragung erfahren hatte. Niemand hatte irgendetwas gesehen oder gehört. Allerdings wurde die Katze gefunden; sie ließ sich gerade fröhlich ihr Fressen bei einer Nachbarin schmecken, die beteuerte, von »Sootys« zweitem Zuhause keine Ahnung gehabt zu haben.

Wenn das Opfer nicht eine Polizistin gewesen wäre, die erst kürzlich in einem Vergewaltigungsprozess ausgesagt hatte, hätte Cooper die Sache an die Kollegen von der Abteilung für Bagatelldelikte abgegeben. So jedoch beschloss er, den Fall persönlich zu leiten. Er kam sich blöd vor, dass er die Anzeichen für Nightingales Notlage übersehen hatte, die im Rückblick doch so offensichtlich waren.

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Erst jetzt wurde ihm klar, dass sie in letzter Zeit etwas beinahe vorsätzlich Selbstzerstörerisches an sich hatte, als wäre es ihr gleichgültig, welche Folgen ihr Handeln für ihre eigene Sicherheit haben könnte. Er fragte sich, woran es liegen mochte, dass sie sich selbst für so wertlos hielt.

Am nächsten Morgen erzählte Sergeant Wicklow Fenwick von Nightingales Stalker und kriegte die volle Wut des Chief Inspector ab, der sauer war, dass er nicht schon am Abend zuvor verständigt worden war. Anne, die gleich erkannte, dass Fenwick schlecht aufgelegt war, brachte ihm vorsorglich einen extra starken Kaffee.

»Ein Anruf von Superintendent Quinlan. Er möchte Sie sofort sehen.«

Die Atmosphäre im Büro des Superintendent war noch düsterer als Fenwicks Stimmung.

»Stellen Sie sich vor, Nightingale hat gekündigt! Und dabei habe ich noch in Leeds angerufen, damit sie ihr dort einen roten Teppich ausrollen. Ist mal wieder typisch … Weiber, die sind einfach …«

Er bremste sich gerade noch rechtzeitig, vielleicht weil er Fenwicks finstere Miene gesehen hatte.

»Sie wissen, was gestern passiert ist?«

»Ja, aber das tut nichts zur Sache. So was Dämliches. Und dabei hat sie nicht mal eine Alternative, sie steht dann ohne Job da.«

»Hat sie Ihnen die Kündigung überreicht?«

»Ja, hier ist sie.« Quinlan wedelte mit einem Blatt Papier.

»Nur Ihnen?« Der Unterton in Fenwicks Stimme bewirk-te, dass Quinlan langsam antwortete.

»Ja.«

»Wer außer uns weiß sonst noch Bescheid?«

»Keiner. Worauf wollen Sie hinaus?« Er betrachtete Fen-160

wick argwöhnisch, verwundert, dass sein sonst so geradliniger Mitarbeiter plötzlich so verschwörerisch klang.

»Wir könnten die Sache doch noch für uns behalten, ihr etwas Zeit geben, noch mal drüber nachzudenken. Wenn jemand das verdient hat, dann sie.«

»Aber sie hat gekündigt, Andrew. Und zwar mit unmissverständlichen Worten, das versichere ich Ihnen.« Quinlan war ebenso wütend wie enttäuscht.

»Darf ich?« Fenwick zog den Brief sachte aus der Hand des Superintendent. Der Text bestand aus drei eng getippten Ab-schnitten. Fenwick las ihn und verzog das Gesicht.

»Verstehen Sie, was ich meine?« Quinlan betrachtete ihn mit finsterem Blick.

»Sie war wütend und verängstigt. Wahrscheinlich bereut sie das hier bereits.«

»Die Kündigung oder die Wortwahl?«

»Letzteres mit Sicherheit, Ersteres womöglich auch. Ich denke, wir sollten ihr eine längere Beurlaubung anbieten, bezahlt oder unbezahlt, das müssen Sie entscheiden.«

»Und die Kündigung?«

»Ignorieren.«

»Das kann ich nicht machen. Sie erwartet eine Bestätigung, und in ihrer derzeitigen Stimmung traue ich ihr glatt zu, dass sie eine Kopie an Harper-Brown geschickt hat.«

»Ich spreche mit ihr, vielleicht kann ich sie überreden, mit der endgültigen Entscheidung ein paar Wochen zu warten.«

Quinlans Verärgerung verflog. Er war kein nachtragender Mensch. Er schritt in seinem Büro auf und ab, klopfte sich mit dem zusammengefalteten Brief gegen die Wange.

»Sie gehört zu unseren besten Leuten, aber mir in einem solchen Ton zu schreiben …«

»Sie ist die Beste, finde ich.«

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»Sie hat ein schlimmes Jahr hinter sich.«

»Andere hätten schon längst eine Kur beantragt.« »Hmm.

Also schön. Versuchen Sie’s. Es wäre eine Riesenverschwen-dung – von Steuergeldern sowieso, aber auch sonst.« Fenwick atmete langsam aus. »Ich mach mich sofort auf den Weg.«

»Was sage ich denen in Leeds?« »Ihnen wird schon was einfallen, Sir. Wie immer.«

Als Fenwick sich bei Nightingale angemeldet hatte und im Auto saß, um zu ihr zu fahren, rief Claire Keating ihn auf dem Handy an. Er hatte sie seit über einer Woche weder gesehen noch gesprochen und sein zunehmend schlechtes Gewissen geflissentlich ignoriert.

»Hallo, Claire. Schön, dass du anrufst.« Er zwang sich, herzlich und locker zu klingen.

»Hast du Zeit zum Lunch, Andrew? Ich weiß, es ist ein bisschen kurzfristig, aber ich würde wirklich gern mit dir reden.« Ihr Tonfall klang so dringend, dass er das Gesicht verzog.

Er sah auf die Uhr am Armaturenbrett – Viertel vor zwölf.

Er hatte absolut keine Lust, zu Mittag zu essen. Das Gespräch mit Nightingale würde auch ohne Termindruck schon schwierig genug werden.

»Wie wär’s mit einem späten Lunch, um halb zwei?«

»Nein. Ich hab um zwei einen Termin. Früher ist nicht drin?«

Ihre Hartnäckigkeit war untypisch, und er gab aus schlechtem Gewissen nach.

»Also schön. Ich ändere meine Pläne, und wir sehen uns um zwölf, im Dog and Duck.«

Als er Nightingale anrief, um zu sagen, dass er später käme, klang sie gleichgültig, als hätte sie sich innerlich schon von 162

ihrem Job gelöst. Panik stieg in ihm auf, dass er sie durch die Terminverschiebung vielleicht nicht mehr zum Bleiben wür-de bewegen können, doch er verwarf den Gedanken gleich wieder als übertrieben. Dennoch war er ungeduldig und leicht gereizt, als er Claire in dem fast leeren Pub an dem Tisch sitzen sah, wo sie bisher immer gesessen hatten. Zwei Gläser standen auf dem Tisch: eins mit Tomatensaft und eins mit Weißwein.

Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, nahm Platz und rang sich ein Lächeln ab.

»Schön, dich zu sehen. Gibt es ein Problem? Du hast dich so angespannt angehört.«

Claire hob die Augenbrauen auf eine Art, die ihn allmählich reizte.

»Das kann nicht sein, Andrew, zumindest habe ich mich nicht ›angespannt‹ gefühlt.« Sie hielt inne, ein alter Psycholo-gentrick, aber Detectives wussten noch besser, was Schweigen bewirken konnte, vor allem bei den Schuldigen, und Fenwick sagte nichts. Die anhaltende Stille wurde zunehmend peinlich.

Schließlich blickten sie beide von ihren Gläsern hoch und lachten.

»Also gut.« Claire zuckte die Achseln. »Das bringt uns nicht weiter, und wir sind beide zu beschäftigt, um so unsere Zeit zu vertun.«

»Stimmt, aber ich habe keinen Schimmer, worüber du reden möchtest, also wirst du anfangen müssen.«

»Ich möchte über uns reden, Andrew, na, eigentlich über dich.«

Fenwick spürte, wie seine Gesichtszüge sich verhärteten.

»Verstehe.«

»Wirklich?« Sie hatte einen Ausdruck im Gesicht, als ken-163

ne sie die Antwort schon, was ihn an seine Mutter erinnerte und nicht gerade beruhigte. »Das Problem ist, dass mein Ge-fühle für dich in den letzten Wochen stärker geworden sind.

Ich hab dich schon immer gemocht, aber jetzt ist es mehr, und das macht mir Angst, weil ich immer noch nicht weiß, wie du zu mir stehst. Bevor es mit uns weitergeht, muss ich wissen, was ich dir bedeute.« Ein Hauch Verletztheit hatte sich in ihre Stimme geschlichen, und Fenwick wand sich innerlich.

Sie blickte ihn forschend an, aber jetzt wusste er erst recht nicht mehr, was er sagen sollte. Ihre offensichtliche Verunsi-cherung tat ihm Leid, aber er konnte nichts daran ändern.

»Möchtest du noch eins?« Er deutete auf ihr leeres Glas.

Sie verzog das Gesicht und blickte zum Fenster hinaus. Als er von der Theke zurückkam, starrte sie noch immer entschlossen nach draußen.

»Claire, es tut mir Leid. Was willst du von mir hören?«

»Ich erwarte ja keine fertig ausformulierte Antwort. Aber es wäre schön, wenn du irgendeine Art von Gefühl zeigen könntest, abgesehen von peinlich berührter Verlegenheit –

darin bist du übrigens sehr gut. Ich glaube, du traust dich nicht zu zeigen, wie es wirklich in dir aussieht.« Ihre Stimme wurde scharf. »Aber vielleicht ist da ja auch gar nichts, und du machst dir nur nicht besonders viel aus anderen Menschen.«

Fenwick trank einen Single Malt mit Wasser und bemühte sich, seinen Ärger zu unterdrücken. Er hasste solche Gesprä-

che. So unerwartet es auch kam, die Freundschaft, von der er geglaubt hatte, dass sie für sie beide locker und unverfänglich war, schien Claire jetzt einiges mehr zu bedeuten.

»Ich dachte, wir hätten Spaß miteinander. Ich wusste nicht, dass du uns als ernste Beziehung gesehen hast. Ich wollte dir ganz bestimmt nicht weh tun.«

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»Aber du hast mich doch darin bestärkt!« Sie wandte den Blick vom Fenster ab und fixierte ihn mit Augen, die ihm sein unschuldiges Kopfschütteln nicht abkaufen wollten.

»Doch, das hast du. Im Bett hast du … Wie sollte ich das denn anders verstehen?« Ihre Stimme versagte, und er legte eine Hand auf ihren Arm.

»Ich hatte keine Ahnung …«

»Absolut richtig«, unterbrach sie ihn plötzlich so laut, dass sich ein Pärchen an der Bar zu ihnen umdrehte. »Du hast keine blasse Ahnung. Du bist total verschlossen. Weiß der Teufel, wie du überhaupt deine Arbeit schaffst, wo du die Gefühle anderer Menschen durchschauen musst. Du kennst ja nicht mal deine eigenen.«

Sie leerte ihr zweites Glas Wein mit einem einzigen letzten Schluck, und er beschloss, ihr kein drittes anzubieten.

»Komm«, sagte er, stand auf und bot ihr die Hand an, was sie ignorierte, »gehen wir nach draußen. Ich brauch frische Luft.«

Draußen im Biergarten drang die Sonne durch diesige Wolken, und es war unangenehm schwül. Als sie den Zaun des Parkplatzes erreichten, drehte Claire sich zu Fenwick um.

Erleichtert sah er, dass sie sich beruhigt hatte, obwohl ihre Wangen noch immer gerötet waren.

»Du versuchst es schon wieder, Andrew, aber diesmal lasse ich es nicht zu.«

»Was versuche ich?« Er war ehrlich verwirrt.

»Dem Thema auszuweichen. Sobald du dich mit deinem Privatleben auseinander setzen musst, bist du ein hoffnungsloser Fall.«

Er verkniff sich die bissige Bemerkung, dass er als allein erziehender Vater sehr gut klarkam, vielen Dank.

»Normalerweise durchschaue ich Leute«, sie rieb sich ein 165

wenig ratlos die Stirn, »das ist schließlich mein Beruf. Und ich hab wirklich gedacht, dass ich langsam schlau aus dir werde, aber das war ein Irrtum. Du kannst anderen gut was vormachen.«

Fenwicks Entschluss, die Ruhe zu bewahren, verpuffte.

»Das ist unfair. Ich hasse Tricks und Lügen.«

»Ich sage ja nicht, dass es Absicht ist, aber du bist ein Meister deines Faches. Ich weiß nicht, wer dir das beigebracht hat, aber du bist ein begnadeter Schüler. Du verkörperst diesen harten, aber innerlich gebrochenen Mann, der stark ist und den Schmerz seinen Kindern zuliebe mit stoischer Entschlossenheit erträgt. Du lässt ein warmes Herz erahnen, das nur darauf wartet, die Liebe der richtigen Frau zu erwidern, aber wenn die Frau dann dein Herz erreichen will, was findet sie?«

Fenwick konnte nicht sprechen. Ihr spöttischer Unterton hatte in ihm eine Wut ausgelöst, die er kaum zügeln konnte.

Claire fasste sein Schweigen als Aufforderung auf fortzufah-ren.

»Nichts. Hinter der äußeren Wand ist eine innere, glatt und undurchdringlich.«

»Ich dachte, wir könnten Freunde sein«, sagten seine Lippen kontrolliert, »gute Freunde, die gern zusammen sind.

Mehr wollte ich nicht.«

»Weil du nicht mehr zu geben hast. Du bist wie ein her-vorragend funktionierender Roboter, der sich selbst bemitleidet.«

Er hörte Tränen in ihrer Stimme und streckte instinktiv die Hand aus. Sie zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt.

»Bitte nicht. Du bist den Kummer nicht wert. Wenn du mir nur ein einziges Mal dein wahres Ich gezeigt hättest und nicht immer nur den charmanten Fremden, wär mir das wahrscheinlich nicht passiert.«

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Mit einem verbitterten Kopfschütteln stöckelte sie zu ihrem Wagen und fuhr davon, ohne ihm die Chance zu einer Erwiderung zu geben.

Fenwick sah ihr nach, mit ausdrucksloser Miene. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand sämtliche lebenswichtigen Organe ausgerissen. Sie hatte ihn als herzloses Nichts charakterisiert, als einen hohlen, verlogenen Menschen, der sich mit bedeu-tungslosem Charme umhüllte. Nur weil sie keinen Weg zu seinem Herzen gefunden hatte, unterstellte sie ihm, dass er keins hatte. Er wusste, dass das nicht stimmte. Monique hatte einen Weg durch seinen Panzer gefunden. Jahrelang war er wehrlos gewesen, hatte sich in den Fesseln ihrer Liebe ge-wunden. Jeden Tag durchbrachen Bess und Chris seine Schutzschichten, lösten extreme Gefühle in ihm aus – Freude, Angst, Wut, Liebe, Fürsorglichkeit, manchmal alles auf einmal.

Aber er musste zugeben, dass Claire hellsichtig war. Sie hatte seinen Panzer entdeckt. Moniques zerstörerischer Wahnsinn und ihr langer, langsamer Tod hatten ihnen allen Schmerzen zugefügt. Die Vorstellung, einen solchen Verlust noch einmal zu erleben, lähmte ihn, und er war so ehrlich, sich einzugestehen, dass er erleichtert war, dass Claire ihre Beziehung beendet hatte.

Er kaufte sich an einer Tankstelle ein Sandwich und eine Flasche Wasser und aß ganz bewusst. Die Nahrung pumpte neue Energie durch seinen Körper, vertrieb die Wirkung des Whiskys, den er halb getrunken hatte. Er hatte sich wieder unter Kontrolle, war ruhig, professionell und korrekt, sein Schutzschild war wieder da, wo er hingehörte. Er fühlte sich bereit, mit Nightingale zu sprechen.

Bestimmt zum zehnten Mal rieb Nightingale über einen 167

blassgrauen Fleck, den das Team von der Spurensicherung an der Tapete hinterlassen hatte. Abgesehen davon war ihre Wohnung wieder makellos sauber, und das Warten machte sie wahnsinnig. Er war noch nie bei ihr zu Hause gewesen, und als er angerufen hatte, um seinen Besuch anzukündigen, hatte sie das völlig aus der Bahn geworfen.

Um Viertel vor zwölf mahlte sie Kaffeebohnen, filterte frisches Wasser und wollte gerade die Maschine einschalten, als das Telefon klingelte. Er würde später kommen. Sie ließ alles stehen und liegen und ging joggen.

Der Park war voller Mütter mit Kindern, an denen sie auf jeder Runde vorbeikam, und sie spürte, wie die verhüllte Sonne Feuchtigkeit aus ihrem Körper zog. Auf den Wegen standen noch Pfützen vom Regen am Wochenende, und ab und zu platschte sie in eine hinein, anstatt einen kürzeren Schritt einzulegen oder aus dem Rhythmus zu kommen.

Schließlich lief sie wie von selbst. Das Trommeln des Blutes in ihren Ohren war so beruhigend wie der Herzschlag einer Mutter, und sie passte Arme und Beine dem Takt an, spürte, wie ihr mit jedem Schritt Energie entströmte, um sie dann mit jedem Atemzug wieder einzusaugen.

Manchmal erlebte sie diesen fast magischen, pulsierenden Lauf, der die Kilometer nur so fraß, ohne Seitenstechen oder Krämpfe, als könne sie mühelos einen Marathon schaffen. In der fünfzehnten Runde, nach fast ebenso vielen Kilometern, flog eine Ente flatternd und quakend vom Teich auf, und Nightingales Schwung war dahin. Plötzlich war ihr heiß, und sie war müde und durstig. Der Zauber war verflogen. Sie sah auf die Uhr und merkte entsetzt, dass sie sich verspäten wür-de. Nicht nur das, sie war verschwitzt, verdreckt und völlig zerzaust. Mit einem lauten Fluch machte sie kehrt und lief nach Hause.

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Er wartete im Auto vor dem Haus, als sie angejoggt kam.

»Chief Inspector.« Sie nickte ihm zu, war sich ihrer kurzen Hose und des schweißfleckigen ärmellosen Shirts unangenehm bewusst.

»Nightingale. Ist es ungünstig? Soll ich später wiederkommen?«

Seine Frage verwirrte sie, ebenso wie sein Ausdruck. Er wirkte angespannt. Sie vermutete, dass er wegen ihr die Arbeit an einem schwierigen Fall unterbrochen hatte, und fühlte sich schuldig.

»Nein, nein. Tut mir Leid. Ich war joggen und hab die Zeit vergessen. Kommen Sie rein.«

Sie ging voraus in die Eingangshalle, und sie warteten schweigend auf den kleinen Aufzug. Blut rauschte ihr laut in den Ohren. Sie atmete flach, um ihren eigenen Schweiß nicht zu riechen und sich vormachen zu können, dass er ihn auch nicht roch.

Die Wohnung kam ihr leer vor, zu sauber, um real zu sein.

»Rieche ich da frisch gemahlenen Kaffee?« Der Duft des wartenden Kaffeepulvers hing in der Luft. »Ich hätte gern eine Tasse. Wenn’s geht.«

Zum ersten Mal nahm sie einen Hauch Whisky in seinem Atem wahr.

»Ich springe rasch unter die Dusche, wenn es Ihnen nichts ausmacht zu warten.«

»Kein Problem, ich kann ja den Kaffee machen …«

»Nein! Ich meine, das müssen Sie nicht.«

»Bitte, ich mache einen tollen Kaffee. Ehrlich.«

Er lächelte, und sie gab nach. Sie deutete Richtung Küche und überließ ihn sich selbst.

Zehn Minuten später war sie wieder da, in Jeans und ei-169

nem kurzärmeligen Sweatshirt, die Haare noch handtuch-feucht. Er hatte eine Kanne Kaffee gemacht.

»Ich war mir nicht sicher, ob Sie auch welchen wollten, oder vielleicht lieber was Kaltes – Sie sahen vorhin erhitzt aus, nach dem Joggen, aber jetzt …« Er hielt inne und beschäftigte sich damit, den Deckel der Kaffeedose zu schließen.

Er schwieg, während sie den Kaffee einschenkte. Das war seine übliche Taktik, um sein Gegenüber zum Reden zu bringen, und normalerweise war sie neugierig, wie lange es dauerte. Heute jedoch wollte sie die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Sie hatte keinerlei Erwartung, dass das Gespräch irgendetwas Sinnvolles bringen würde, und schon gar nicht, dass sein Besuch einen persönlichen Grund hatte.

»Sie sind hier, um mit mir über meine Kündigung zu sprechen, Chief Inspector. Was haben Sie zu sagen?«

Ihre Direktheit schien ihn zu verblüffen, aber er fing sich rasch wieder.

»Ziehen Sie sie zurück, ganz einfach. Ich denke, Sie machen einen Fehler.«

»Wirklich? Ich denke das nicht. Es war keine einfache Entscheidung, und ich kann Ihnen versichern, dass ich lange und eingehend drüber nachgedacht habe.«

»Sie stehen seit Monaten unter enormem Druck, und das ist keine gute Voraussetzung, um schwer wiegende Entscheidungen zu treffen.«

»Was für Druck?« Ihre Stimme war ruhig, aber Nightingale spürte, dass seine Unterstellung sie wütend machte.

»Sie wissen, was ich meine – der Prozess, andere Fälle, Ih-re Gesundheit, diese Stalker-Geschichte, furchtbar … und Ihre Eltern. Eine gewaltige Last, die Sie allein tragen müssen.«

»Wer sollte sie denn sonst tragen? Sie haben gerade mein Leben beschrieben. Das kann kein anderer für mich leben.«

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»Nein, natürlich nicht, aber manchmal hilft es, mit anderen über seine Probleme zu sprechen.«

»Und Sie unterstellen, dass ich niemanden habe, mit dem ich darüber sprechen kann – ich finde das ziemlich herablassend.« Sie wandte sich ab und biss sich auf die Zunge, um ihre Wut zu bremsen.

»Ich unterstelle gar nichts. Hören Sie, ich fange noch mal von vorn an. Ich denke, Sie sollten Ihre Kündigung zurück-ziehen. Sie sind eine ausgezeichnete Polizistin und haben eine großartige Karriere vor sich. Sie sollten bleiben. Sie wären ein großer Verlust für uns.«

»Sie hätten mich ohnehin verloren. Ich sollte versetzt werden, haben Sie das vergessen?«

»Steckt das dahinter? Die erste große Versetzung? Na, ich kann das gut nachvollziehen. Mir ging es genauso. Kaum hat man sich einigermaßen eingelebt, soll man schon wieder woandershin. Klar, dass Sie sich ein bisschen unerwünscht fühlen, aber ehrlich, für Ihre Karriere ist es so am besten.«

»Ein bisschen unerwünscht!« Sie hörte das Beben in ihrer Stimme und trank einen Schluck Kaffee, während sie ans Fenster ging und ihm den Rücken zuwandte.

»Hören Sie, ich bin kein großer Redner. Wenn Sie die Polizei verlassen, wird man Sie sehr vermissen.«

»Würden Sie mich vermissen?«

»Ich? Natürlich, wir alle. Ich arbeite sehr gern mit Ihnen zusammen. Sie gelten als gründlich und zuverlässig.«

»Gründlich und zuverlässig. Na, super!« Die Bäume vor ihren Augen verschwammen.

»Nun kommen Sie, Nightingale, fassen Sie nicht jedes Wort von mir negativ auf.«

Fenwick ging zu ihr und legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter.

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»Was möchten Sie lieber hören – professionell, hervorra-gend, scharfsichtig, tapfer, ein großartiges Vorbild für den weiblichen Nachwuchs … das alles trifft gleichermaßen zu, suchen Sie sich was aus.«

»Besten Dank.« Sie hatte den Sarkasmus im Zaum halten wollen, doch ohne Erfolg. Sie hatte Angst, mehr zu sagen, weil ihre Stimme sie verraten könnte.

Wenn er nur gesagt hätte, »netter Mensch«, »sympathische Kollegin« oder auch nur »angenehm«, wäre sie ja schon zufrieden gewesen, Hauptsache irgendetwas, das zeigte, dass sie als Individuum, nicht nur als Polizistin wahrgenommen wurde. Hätte er irgendetwas in der Art gesagt, hätte sie zumindest eine schöne Erinnerung mitnehmen können. Stattdessen hatte er lediglich bestätigt, dass sie für ihn abgesehen von einer praktischen und erfolgreichen Arbeitsbeziehung keinerlei Bedeutung hatte.

Sie blinzelte die Nässe weg, die sich in ihren Augen ange-sammelt hatte, und überspielte ein leises Schniefen mit einem weiteren Schluck Kaffee. Sie drehte sich zu ihm um und geriet kurz aus dem Konzept, weil sie so dicht beieinander standen. Er war über einen Meter achtzig groß, aber sie war eins achtundsiebzig ohne Schuhe, und ihre Augen waren fast auf gleicher Höhe. Einen Moment lang sagte sie nichts, dann brachte sie ein schiefes Lächeln zustande.

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich meinetwegen Gedanken machen, und ich weiß, dass Sie viel um die Ohren haben …«

»Unsinn, das hier ist wichtig.«

»Trotzdem, Sie setzen hier Ihre Zeit ein, was sehr freundlich von Ihnen ist …«

»Sie wollen Nein sagen, stimmt’s? Wieso? Ich verstehe das einfach nicht.«

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»Da gibt es nichts zu verstehen. Tagtäglich treffen Leute berufliche Entscheidungen. Ich habe mich eben so entschieden.« Der Kloß in ihrem Hals drohte sie zu ersticken.

Sein Handy klingelte, und er blickte auf das Display.

»Das Präsidium, einen Moment.«

»Wir sind ohnehin fertig.«

»Nein, sind wir nicht! Warten Sie.« Er trat beiseite und sprach ins Telefon. »Ja? Er ist zu früh … na schön. Nein. Ich weiß nicht genau, wann ich zurück bin … Ja, ich rufe an, wenn ich auf dem Weg bin.«

»Niemand Wichtiges, hoffe ich.«

»Harper-Brown.«

Nightingales Mund klappte erschrocken auf.

»Er will zum Superintendent. Ich stehe nur auf Abruf bereit, falls er mich sprechen will.«

»Trotzdem sollten Sie sofort fahren.« Sie nahm ihm die leere Kaffeetasse aus der Hand. »Ach, bevor ich’s vergesse, ich habe noch einen Pullover von Ihnen. Warten Sie, ich hole ihn.«

Sie brachte ihn, gewaschen und gebügelt.

»Da«, sagte sie zu forsch, »falls wir uns nicht mehr sehen.«

»Den hatte ich ganz vergessen. Danke.« Er sah bedrückt aus. »Nightingale, ich fühle mich einfach nicht wohl dabei.

Ich weiß, das ist völlig unlogisch, und es wird Ihnen nicht gefallen …«

»Nein, reden Sie ruhig weiter.«

»Also, ich habe es mit vernünftigen Argumenten versucht, und Sie sind einfach so dickköpfig wie immer, wenn Sie sicher sind, dass Sie Recht haben und wir Übrigen zu blöd sind, das einzusehen.«

Sie zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Bin ich so schlimm?«

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»Schrecklich. Störrisch wie ein Esel.«

»Das hört sich ja furchtbar an. Mich wundert, dass Sie nicht versucht haben, es mir auszutreiben, oder dass Sie das nicht von Sergeant Cooper haben erledigen lassen.«

»Ich hab dran gedacht, aber«, er hielt inne, zuckte dann die Achseln, als wollte er sagen, was soll’s, »es gefällt mir. Das ist einer Gründe, warum Sie so gut sind.«

»Verstehe. Gibt’s noch andere Charakterschwächen von mir, die Sie zum Abschied erwähnen möchten?« Sie lächelte jetzt, genoss es, ihn auf dünnem Eis zu sehen.

»Wie wär’s mit mangelndem Respekt vor Vorgesetzten, eine Neunmalkluge mit mehr Intelligenz, als ihr gut tut?« Er merkte, dass ihre Stimmung sich geändert hatte, und lächelte jetzt auch. »Übereifrig, aggressiv …«

»Sie meinen bestimmt, im Sinne von dynamisch, energisch.«

»Von mir aus. Soll ich fortfahren?«

»Danke, ich verstehe, was Sie meinen. Und Sie wollen trotzdem, dass ich bleibe? Wieso?«

Er schüttelte den Kopf, als stünde er vor einem Rätsel.

»Ich weiß nicht. Vielleicht gefällt mir die Vorstellung, dass Sie weiter bei der Polizei sind, wenn auch woanders. Wer weiß, vielleicht arbeiten wir ja irgendwann wieder zusammen.«

»Das ist unwahrscheinlich, nicht? Wenn ich versetzt werde, ist damit Schluss, das wissen Sie.«

»Wahrscheinlich. Mir persönlich gefällt es auch nicht, dass Sie versetzt werden, aber es ist zu Ihrem eigenen Besten.«

»Das haben Sie noch nie gesagt, ich meine, dass Sie nicht wollen, dass ich gehe.«

»Nein, tja, und ich hätte es auch jetzt nicht sagen sollen.

Es geht mich nichts an. Aber es interessiert mich nun mal, 174

was aus Ihnen wird.«

»Verstehe.« Das Gespräch war verwirrend, aber es stimmte sie froh. Sie hatte seine Unverschämtheiten genossen. Sie waren etwas Persönliches gewesen und zeigten irgendwie, dass sie ihm am Herzen lag. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich denke nach wie vor, die Kündigung war richtig, ehrlich.«

»Lassen Sie sich Zeit, nehmen Sie Urlaub, bezahlt oder unbezahlt, lassen Sie sich krankschreiben oder was weiß ich.

Fahren Sie eine Zeit lang weg, und denken Sie drüber nach.

Wir halten Ihre Kündigung zurück, bis Sie wieder da sind.

Nutzen Sie einfach die Gelegenheit, sich das Ganze noch mal zu überlegen.«

»Ich werde eine Nacht drüber schlafen. Ich rufe Sie morgen früh an und sage Ihnen Bescheid.«

Fenwick nahm seinen gewaschenen Pullover und wandte sich zum Gehen.

»Chief Inspector … Andrew, danke. Wie ich mich auch entscheiden werde, unser Gespräch bedeutet mir sehr viel.«

Das Kompliment ließ ihn erröten, und er ging ohne ein weiteres Wort.

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Kapitel elf

»Louise Nightingale möchte Sie sprechen.«

»Sie soll reinkommen, Anne.« Fenwick legte die Akte, die er las, beiseite und blickte auf. Sein Lächeln erstarb, als er Nightingales Gesichtsausdruck sah. Instinktiv stand er auf.

Manche Schläge steckte er nicht gern im Sitzen ein.

»Morgen. Kaffee?«

»Nein, danke, Sir. Ich werde Sie nicht lange aufhalten.«

Sie holte tief Luft und sprach weiter. »Ich halte es derzeit für nicht so gut, wenn ich weiter hier arbeite, aber Sie haben Recht, ich sollte so eine Entscheidung nicht übers Knie brechen, und deshalb möchte ich das Angebot annehmen und unbezahlten Urlaub nehmen. Einen Monat oder so, um in Ruhe nachdenken zu können.«

»Und Ihre Kündigung liegt auf Eis?«

»Vorläufig, ja. Sagen Sie dem Superintendent Bescheid?«

»Klar.«

Etwas von der Anspannung wich aus ihrem Gesicht, und sie sah erschöpft aus. Fenwick spürte den unerklärlichen Drang, ihr einen Arm um die Schultern zu legen und sie zu drücken.

Jemand musste sich um sie kümmern, und soweit er wusste, war da sonst niemand. Seine Gefühle mussten ihm anzusehen sein, denn sie wurde rot. Er streckte eine Hand aus.

»Dann viel Glück. Ich hoffe, es wird alles gut.«

Sie gab ihm die Hand und hielt sie fest, während sie zu ihm hochblickte, die Augen voller Fragen.

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»Ja?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nichts, schon gut.«

Fenwick sah ihr nach, als sie sein Büro verließ, mit gera-dem Rücken, fast zackig, und ihn beschlich das Gefühl, dass ihm irgendetwas Wichtiges entgangen war, aber er wusste nicht, was.

»Melden Sie sich zwischendurch mal«, rief er noch, aber sie schien ihn nicht gehört zu haben. Er wollte ihr nach, doch da klingelte das Telefon, und er nahm automatisch den Hörer ab. Es war die Sekretärin des Superintendent, um ihm zu sagen, dass die Besprechung bereits begonnen hatte. Er zuckte die Achseln und machte sich auf den Weg.

Cooper war es nicht gelungen, Nightingales Stalker aufzuspü-

ren. Die Computertechniker hatten nicht herausfinden können, woher die E-Mails stammten, und auch die Erkundi-gungen bei Nightingales Nachbarn im Haus hatten nichts ergeben. Er war Misserfolge gewohnt, welcher Polizist war das nicht, und normalerweise ließ er dergleichen von sich abprallen, aber diesmal bekam er davon Sodbrennen, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihn die Sache wurmte.

Er sprach mit Fenwick darüber.

»Ich ertrage den Gedanken einfach nicht, dass sie terrorisiert wird. Das ist so eine Gemeinheit.«

»Sie wird einen Monat nicht da sein – sie hat Urlaub genommen. Das gibt uns etwas Zeit, den Scheißkerl zu finden.«

Am nächsten Tag erhielt Cooper einen Anruf von einer Nachbarin, die Lärm aus Nightingales Wohnung hörte.

»Ist immer noch was zu hören?«

»Es ist ruhiger, aber ich glaube, es ist immer noch jemand drin.«

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Er sagte der Frau, sie solle ihre Wohnung nicht verlassen, rief dann sofort Fenwick an, und Minuten später fuhren die beiden in einem Streifenwagen durch Harlden, am Steuer ein uniformierter Kollege, den Fenwick bei jedem Abbrem-sen beschwor, er solle schneller fahren. Sie riefen bei Nightingale an, doch sie meldete sich nicht. Auch nicht auf dem Handy.

Fenwick postierte einen Streifenbeamten an der Haustür und lief gefolgt von Cooper und einem weiteren Uniformier-ten die Treppe hinauf. Die Nachbarin, die die Sirene gehört hatte, stand schon mit einem Ersatzschlüssel vor der Tür.

»Ich hab sie gestern zuletzt gesehen, als sie bei mir war, um mir den Schlüssel zu geben, weil sie Urlaub macht. Ich hab Sie sofort angerufen, als der Lärm losging.«

»Jetzt ist es still.«

»Ja, seit zehn Minuten.«

Fenwick bat sie, in ihrer Wohnung zu warten, und wollte Nightingales Tür aufschließen, als er sah, dass sie aufgebrochen worden war. Ein Bild der Verwüstung bot sich ihm.

Die hübsche, aufgeräumte Diele war vom Boden bis zur Decke mit obszönen Graffiti besprüht. Bilder waren aus ihren Rahmen gerissen, Scherben von einem zerschmetterten Spiegel knirschten unter seinen Schuhen, als er eintrat.

Er wies den Polizisten an, vor der Tür zu warten, und winkte Cooper herein. Die Küche war übersät mit zerschla-genem Geschirr und Glasscherben. Im Wohnzimmer waren die Vorhänge und das Sofa mit einem Messer aufgeschlitzt, Möbel zerschlagen und der teure CD-Player demoliert worden. Auch hier waren die Wände vollgesprüht. Nur das Badezimmer war verschont worden. Fenwick tränten die Augen von dem Geruch nach Bleiche, die über einen Berg Kleidungsstücke auf dem Bett geschüttet worden war.

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»Großer Gott, die Spurensicherung soll sofort herkommen. Wir müssen Nightingale finden. Lassen Sie nach ihrem Wagen fahnden und die Flughäfen überprüfen. Wenn sie im Ausland ist, wäre das eine Erklärung dafür, dass sie ihr Handy ausgeschaltet hat.«

Cooper spürte, dass sein Vorgesetzter versuchte, sich durch Reden zu beruhigen. Er hatte ihn noch nie so aufgewühlt erlebt.

»Sie hat einen Bruder. Versuchen Sie, ihn zu erreichen.

Vielleicht weiß er, wo sie ist.«

Cooper fand die Telefonnummer von Simon Nightingale in einem abgegriffenen Adressbuch und wählte sie. Eine Frau meldete sich.

»Was ist denn passiert?«

»In ihre Wohnung ist eingebrochen worden, und wir müssen sie erreichen.«

»Na ja, sie wird auf der Arbeit sein. Wieso rufen Sie bei uns an?«

Er erklärte ihr, dass Nightingale Urlaub genommen hatte.

»Davon hat sie uns nichts erzählt. Tut mir Leid, ich hab keine Ahnung, wohin sie gefahren sein könnte.«

»Wo hat sie denn sonst so Urlaub gemacht?«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

Cooper wollte sich schon bedanken, als ihm noch etwas einfiel.

»Mrs Nightingale, haben Sie irgendwem in letzter Zeit Louises Adresse gegeben?«

»Natürlich nicht! Wie käme ich dazu.«

»Bitte denken Sie genau nach.« Cooper zweifelte zwar nicht an der Integrität der Frau, aber sie gehörte zur zutrauli-chen Sorte. Immerhin hatte sie ihm ohne weiteres Nachfragen geglaubt, dass er von der Polizei war.

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»Tja … ein alter Freund hat nach ihr gefragt, aber das war völlig harmlos.«

»Erzählen Sie.«

»Das war vor ein paar Wochen. Ein Mann, ungefähr in Louises Alter, hat bei uns geklingelt. Er wollte für irgendeinen guten Zweck sammeln, und wir sind ins Plaudern gekommen. Er hat gesagt: ›Sie sind nicht zufällig die Schwägerin von Louise Nightingale? Der Name ist ja nicht so häufig.‹

Ich sagte, doch, und er erzählte mir, dass er mit Louise zur Schule gegangen sei und sie gern mal wieder sehen würde.

Sie waren damals anscheinend gut befreundet gewesen und hatten sich aus den Augen verloren.«

»Sie haben ihm also ihre Adresse gegeben.«

»Ja, und ihre Telefonnummer und E-Mail-Adresse. War das falsch?«

»Das weiß ich nicht, aber irgendjemand macht Louise seit einigen Wochen das Leben zur Hölle, und wir wollen herausfinden, wer.«

»Oh nein.« Mrs Nightingale klang den Tränen nahe. »Aber er hat einen so sympathischen Eindruck gemacht, er war ein richtig netter Mann.«

»Können Sie sich erinnern, wie er aussah?«

»Vage. Attraktiv, groß, nette Augen. Er war schick gekleidet.«

»Ich melde mich später noch mal bei Ihnen wegen einer genaueren Beschreibung. Sollte Louise inzwischen anrufen, geben Sie mir bitte sofort im Präsidium Bescheid.«

Cooper ging zu Fenwick, der in der Küche stand und auf die zertrümmerte Kaffeemaschine blickte.

»Sie hat eine andere Nachbarin gebeten, ihre Blumen zu gießen. Sieht wirklich so aus, als wenn sie schon in Urlaub gefahren ist.«

180

»Dann ist sie in Sicherheit.« Cooper atmete erleichtert auf.

»Fürs Erste, aber wenn die Sache hier mit dem Griffiths-Prozess zu tun hat, wer steckt dann dahinter? Griffiths ist un-verheiratet und hat weder Familienangehörige noch Freunde.« Fenwick tigerte auf und ab. »Angenommen, es gibt doch jemanden, von dem wir nichts wissen, dann könnte dieser Jemand die Wohnung aus Rache demoliert haben, oder?«

»Durchaus möglich. Ich weiß noch, als Griffiths von D.I.

Blite verhört wurde, fand ich es merkwürdig, dass er privat angeblich keinerlei Kontakte hatte.«

»Nehmen Sie sich seine Akte noch mal vor, suchen Sie nach Personen, die Griffiths gekannt haben könnten, und fragen sie bei denen nach. Ich werde dem Mann persönlich einen Besuch abstatten.«

Gefängnisse machten Fenwick nervös. Er hatte immer das Gefühl, dass sich ihm der penetrante Geruch von Hunderten schlecht gewaschener und schwitzender Männerkörper wie feiner Staub auf Gesicht und Kleidung legte. Auf der langen Fahrt nach Norden zur Haftanstalt hatte er sich die Tonbandkassetten mit den Polizeiverhören angehört. Griffiths klang arrogant, ein Mann, der nicht den geringsten Zweifel an seiner überlegenen Intelligenz hegte und die ihn belastenden Indizien als unwesentlich einstufte. Er sprach, als sei er fest davon überzeugt, dass die Beweise gegen ihn so dünn waren, dass er nur schweigen und in Ruhe seine Freilassung abwarten müsse.

Falls Griffiths Freunde oder Verwandte hatte, so war es ihm gelungen, sie geheim zu halten, doch als Fenwick im Gefängnis eintraf, erfuhr er, dass der Häftling Besuch gehabt hatte, von einem Mann, der zweimal da gewesen war und sich mit Tony Troy eingetragen hatte. Es gab Hunderte 181

Anthony Troys in England, aber keinen mit der Adresse, die der Besucher angegeben hatte.

Fenwick war verblüfft, als Griffiths ins Besucherzimmer kam.

Er hatte ihn sich ganz anders vorgestellt. Statt Intelligenz sah er Verstohlenheit und Hinterlist. Der Mann hatte engstehen-de Augen, ein fliehendes Kinn und etwas zu große Schneide-zähne. Er wirkte eher wie ein Aasfresser, nicht wie ein Raubtier, und Fenwick empfand eine große Unruhe.

Griffiths gab sich gelangweilt, um seine Neugier zu ka-schieren, als Fenwick sich vorstellte und ohne Einleitung mit der Befragung begann.

»Haben Sie Familienangehörige?«

»Worum geht’s eigentlich?«

»Beantworten Sie einfach meine Frage. Ja oder nein?«

»Nein.«

»Wer ist Tony Troy?«

Ein Ausdruck echter Ratlosigkeit erschien auf Griffiths’

Gesicht.

»Der Mann, der Sie zweimal besucht hat.«

»Hören Sie, ich muss nicht mit Ihnen sprechen.«

»Es könnte für Sie von Vorteil sein, wenn Sie kooperieren.

Wie ich höre, haben Sie vor, Berufung einzulegen. Es würde nicht gut aussehen, wenn Sie sich weigern, der Polizei Fragen zu beantworten.«

Griffiths überlegte kurz, zuckte dann mit den Schultern.

»Troy ist ein Schwuler, der nicht alle Tassen im Schrank hat. Ich kannte ihn nicht, er hat von dem Fall in der Zeitung gelesen und wollte mein ›Freund‹ sein. Ich hab ihm gesagt, er soll sich zum Teufel scheren.« Griffiths hielt das Gesicht leicht abgewandt, aber offenbar fand er irgendetwas an dem, was er gesagt hatte, lustig.

»Wer ist Agnes? Sie haben Briefe von ihr bekommen.«

182

Ein Hauch Nervosität, dann wieder Gelassenheit.

»Eine frühere Lehrerin von mir. Sie hat sich mit mir an-gefreundet.«

Es war eine Lüge, aber eine gute. Griffiths dachte schnell.

»Und wir können sie über die Adresse erreichen, an die Sie schreiben? Seltsam, dass eine Lehrerin ein Postfach benutzt.«

Eindeutige Verstohlenheit umspielte jetzt seine Augen, sein übriges Gesicht blieb jedoch teilnahmslos.

»Sie ist viel auf Reisen, mit dem Wohnwagen. Ich glaube, sie will vermeiden, dass sich zu Hause die Post stapelt.«

»Könnte ich ihre Telefonnummer haben?«

»Sie hat kein Telefon.«

»Handy?«

Er schüttelte den Kopf.

»Verstehe. Na, ihr vollständiger Name, ihre Anschrift und das ungefähre Alter tun es auch.«

»Um die sechzig, schätze ich. Ihren Nachnamen weiß ich nicht mehr, und ich kenne nur ihre Postfachadresse.«

»Erzählen Sie mir von Ihrer Schulzeit.«

Er schrieb die Antworten auf, sah fasziniert, dass Griffiths plötzlich Schweiß auf der Stirn stand. Er hatte gar nicht in diese Richtung fragen wollen, aber jetzt hatte er ihn bei einer Lüge erwischt, was immer ein vielversprechender Anfang war.

»Und Sie haben wirklich keine Angehörigen?«

»Wie ich schon sagte, nein.«

»Was ist mit Ihren Eltern?«

»Meinen Vater habe ich nie gekannt. Meine Mutter ist abgehauen, als ich klein war. Danach war ich in Heimen.«

»Keine Tanten oder Onkel?«

»Jedenfalls keine, die sich für mich interessiert hätten.« Er 183

sagte es mit echtem Gefühl, und Fenwick vermutete, dass es die Wahrheit war.

»Ich möchte trotzdem ihre Namen, bitte.«

»Kann mich nicht erinnern.«

»Sie müssen sie kennen, wenn es Ihre einzigen Verwandten sind.«

»Nein. Wir hatten keinen Kontakt.«

Fenwick stellte noch andere Fragen, aber da Griffiths nichts weiter zu entlocken war, beschloss er, mit dem Ge-fängnispsychiater zu sprechen.

Batchelor hatte seine Praxis im Nachbarort und empfing Fenwick mit erwartungsfroher Miene. Er redete wie ein Wasserfall, erzählte, wie faszinierend Griffiths sei und was für einen scharfen Verstand er habe. Fenwick fand das Ganze widerwärtig, und er konnte seine wachsende Antipathie gegen den Psychiater nur mit Mühe unterdrücken.

»Halten Sie ihn für fähig, vom Gefängnis aus zu Gewalttä-

tigkeiten anzustiften?«

Batchelor lief vor Empörung rot an.

»Selbstverständlich nicht, das wäre völlig untypisch. Wieso?«

Fenwick erzählte, was Nightingale widerfahren war. Kaum hatte er begonnen, da schüttelte der Psychiater auch schon den Kopf, und als Fenwick zum Schluss kam, saß sein Gegenüber mit verschränkten Armen und Beinen da.

»Ausgeschlossen. So etwas würde er nicht unterstützen.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich. Je länger ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher scheint mir, dass Ihre Mitarbeiterin sich das in ihrer Hysterie alles eingebildet hat.«

»Sie hat das Blut und die Innereien gesehen, das war keine Einbildung, glauben Sie mir.«

184

Ein sensiblerer Mensch hätte den warnenden Unterton in Fenwicks Stimme wahrgenommen.

»Trotzdem. Sie ist nervös. Bei dem Typ Frau kann man nie wissen.«

»Und was genau ist das für ein Typ?«

»Ach, so direkt und korrekt, hat sich stets unter Kontrolle.«

»Sie kennen sie?« Es klang anklagend.

»Ich hab mit ihr telefoniert, bloß einmal. Sie hatte sich bereit erklärt, mir zu helfen.«

»Aus freien Stücken?« Fenwicks Lippen und die Ränder seiner Nasenflügel waren weiß vor Selbstbeherrschung, während er darauf wartete, dass dieser eitle Fatzke sich rechtfertig-te.

»Nun, ähm, ja.«

Das Zögern verriet, dass er log, und Fenwick schüttelte angewidert den Kopf.

»Ich sollte Sie melden.«

»Jetzt reicht’s aber! Das geht Sie gar nichts an. Sie kommen hierher und spielen sich auf. Griffiths ist hinter Schloss und Riegel, können Sie ihn nicht in Ruhe lassen?«

»Er hat seine Strafe verdient, dieser kranke Mistkerl.«

Fenwick stand auf, um Batchelor mit seiner Größe einzuschüchtern. »Meine Mitarbeiterin hat nichts getan, und ihre Strafe ist genauso real, glauben Sie mir. Wenn Sie meinen, Sie kriegen diesen Psychopathen frei, indem Sie ihm durch ein Psycho-Gutachten Berufung verschaffen, dann haben Sie sich geschnitten. Ich und ein Dutzend andere Polizisten werden das zu verhindern wissen.«

»Er ist psychisch gestört, kein Psychopath.«

Fenwick stürmte nach draußen, wütend, dass er die Beherrschung verloren hatte, und deprimiert, dass ein Häftling, 185

der so eindeutig schuldig war wie Griffiths, Mitgefühl erregen konnte. Auf dem Rückweg zum Präsidium rief er vom Auto aus die Gefängnisdirektorin an und bat sie, den nächsten Brief, den Griffiths erhielt, so lange zurückzuhalten, bis er ihn persönlich unter die Lupe genommen hatte. Er konnte zwar nicht beweisen, dass Griffiths irgendetwas mit dem Terror gegen Nightingale zu tun hatte, doch sein Instinkt sagte ihm, dass da eine Verbindung bestand, so unwahrscheinlich es auch schien, und ihn beschlich ein ungutes Gefühl, als hätte er irgendetwas Wichtiges übersehen.

Um zehn Uhr am selben Abend kehrte Superintendent Quinlan nach einem langweiligen Essen ins Präsidium zurück.

Überrascht sah er Licht in einem Büro im zweiten Stock und ging nachsehen.

»Irgendwas, weshalb ich mir Sorgen machen müsste, Andrew?«

»Nein, ich muss bloß ein bisschen Aktenstudium nachho-len.«

Sämtliche Dienstgrade vom Inspector aufwärts leisteten immer mehr unbezahlte Überstunden, aber wer nach zehn Uhr abends noch im Büro war, obwohl keine dringenden Delikte zu bearbeiten waren, der fiel auf.

»Sieht aus, als wäre das eine geschlossene Akte.« Quinlan trat einen Schritt näher, und Fenwick unterdrückte ein Seufzen. Er hatte gehofft, um das Gespräch herumzukommen.

»Es geht um die Griffiths-Geschichte. Ich hab ihn heute im Gefängnis besucht. Ich wollte herausfinden, ob er was mit diesem Terror gegen Nightingale zu tun hat.«

»Und, hat er?«

»Ich weiß nicht.« Fenwick lehnte sich in seinem Stuhl zu-rück und rieb sich müde die Stirn. »Er sitzt hinter Schloss und 186

Riegel, und er hat angeblich weder Bekannte noch Familienangehörige, die in seinem Auftrag handeln könnten.«

Quinlan hob die Brauen, so viel sagend wie ein gesprochenes Wort. Sie kannten einander zu lange, um sich mit einer halben Geschichte abspeisen zu lassen.

»Also schön. Aus irgendeinem Grund hat er mich belogen, und zwar bei einer Bagatelle – Name und Adresse von einer Person, die ihm Briefe ins Gefängnis schickt. Wieso hat er das getan?«

»Weil er was gegen uns hat?« Quinlan setzte sich auf einen der Stühle vor Fenwicks Schreibtisch und verzog das Gesicht, als das Metallgestell sich ihm in die Beine drückte. »Wann lassen Sie die alten Dinger hier endlich ausrangieren, Mensch.

Die Polster sind völlig durch.«

»Wirklich? Ich sitze nie da.« Fenwick verbannte die Stühle aus seinem Kopf und ging zu dem großen Pinnbrett an der Wand gegenüber seinem Schreibtisch. Es war gespickt mit Fotos von Nightingales Wohnung und ausgedruckten E-Mails von ihrem Computer. Auf einer Seite hing ein Foto von Griffiths. »Können wir absolut sicher sein, dass er nicht einen Freund oder Verwandten hat?«

»Sieht zumindest so aus.«

»Keine Eltern oder Geschwister?«

»Nein. Sie haben die Akte gelesen.«

»Trotzdem war er kein sozialer Außenseiter. Er war zwei Jahre bei einer Software-Firma und galt bei seinen Kollegen als, ich zitiere, ›ganz normaler Typ, ein bisschen still, aber in Ordnung‹. Er muss zu irgendwelchen Leuten Kontakt haben.«

»Vielleicht wollten sie nichts mehr mit ihm zu tun haben, als er verhaftet wurde. So was kommt vor.«

»Stimmt, aber warum steht nichts davon in der Akte? Und 187

da ist noch was Seltsames. Er hat es nie lange irgendwo ausgehalten.« Fenwick deutete auf ein weiteres Blatt Papier. »Erst hat er in Telford gearbeitet, dann in Birmingham. Beide Male bei einer Software-Firma und gut bezahlt. Er hat anscheinend was auf dem Kasten, warum hat er dann den Job gewechselt?«

»Da müssen Sie Blite fragen, aber seien Sie feinfühlig, die Ermittlungen waren verdammt heikel. Die Vergewaltigungen gingen fast ein Jahr lang, und es war unglaublich schwierig, eine Anklage vorzubereiten, selbst nachdem wir ihn geschnappt hatten.«

Fenwick horchte auf.

»Klar, Sie waren zu der Zeit nicht hier, aber Sie können sich vorstellen, wie wir kritisiert wurden, als eine Frau nach der anderen vergewaltigt wurde und wir offenbar nicht in der Lage waren, den Täter zu fassen. Nightingale wurde als Lockvogel für Griffiths eingesetzt, weil wir mit unserem La-tein praktisch am Ende waren. Wenn es nicht geklappt hätte, hätten wir nur abwarten und hoffen können, dass ein Freund ihn verpfeift. Es gab nämliche keine Spuren, die gesichert werden konnten. Und er hat dauernd seine Methode geändert. Mal hat er seinen Opfern draußen aufgelauert, mal hat er sie so umgarnt, dass sie ihn mit zu sich nach Hause genommen haben.«

»Aber ihr wart sicher, dass er allein gearbeitet hat?«

»Absolut. Der Täter hat uns anonyme Briefe geschickt, in denen er mit seinen Verbrechen geprahlt und Einzelheiten erwähnt hat, die nur er wissen konnte. Und dann war da noch die Sache mit den Souvenirs. Bei jeder Tat hat die jeweilige Frau ein Stück von einem Finger verloren. Zuerst haben wir gedacht, es seien Abwehrverletzungen, aber dann hat der Mistkerl sie in seinen Briefen erwähnt, und uns wurde klar, dass das ein Indiz war.«

188

»Aber der Staatsanwaltschaft reichte das für eine Anklage nicht aus.«

»Nein, unsere Beweise waren zu dünn. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung haben wir nichts gefunden. Keine Kleidungsstücke mit irgendwelchen Spuren, keinen PC, keinen Drucker, kein Papier, nichts, was mit den anonymen Briefen in Verbindung zu bringen war, und erst recht keine abgeschnittenen Fingerglieder!«

»Was ist mit Speichel an den Briefumschlägen oder Briefmarken?«

»Die Briefe wurde ohne Marken verschickt, und die Umschläge mit Klebeband verschlossen. Deshalb war Nightingales Aussage ja so wichtig. Ohne sie wäre er freigekommen. Es wurde nur in den Fällen Anklage erhoben, die mit dem Überfall auf sie identisch waren. Die anderen sind nach wie vor offen, und das bleiben sie auch, einschließlich des Mordes

– eine arme Frau, die an ihren Verletzungen gestorben ist.

Für die Angehörigen ist es schlimm, aber zumindest hörten die Überfälle auf, als wir ihn geschnappt hatten.«

»Wieso haben die Zeitungen damals nichts über die Souvenirs geschrieben?«

»Es lag in unserem Interesse, die Sache herunterzuspielen, weil die Souvenirs eine Verbindung zu den Taten darstellten, bei denen unsere Beweise nicht für eine Anklage ausreichten, und aus irgendeinem Grund hat die Verteidigung diesen Umstand nicht ausgenutzt. Wir haben die Informationen gar nicht an die Presse gegeben. In dem Ordner da mit vertrauli-chem Material finden Sie mehr darüber.« Er wandte sich zum Gehen. »Gute Nacht. Arbeiten Sie nicht bis in die Puppen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«

Fenwick öffnete den rot geränderten Ordner und holte einen Stoß Fotos und Unterlagen des Gerichtsmediziners her-189

vor. Opfer eins war die Spitze des kleinen Fingers abgeschnitten worden. Die Frau war dabei halb bewusstlos gewesen.

Das zweite Opfer büßte die Spitze des Ringfingers ein.

Ein weiteres Opfer, die arme Frau, die später gestorben war, hatte mehrere Finger verloren. Die fehlenden Finger interessierten Fenwick. Er gab die Suchkriterien in den Polizeicomputer ein und wartete, während sie mit Hunderttausenden von Fällen abgeglichen wurden. Er erhielt zehn Treffer, aber bei acht davon handelte es sich um Verletzungen bei Ehe-streitigkeiten. Er konzentrierte sich auf die Berichte über zwei Frauen, die als Opfer von Sexualdelikten Finger oder Fingerglieder verloren hatten. Eine der beiden war vergewaltigt worden und später an ihren Verletzungen gestorben, sodass aus der Sache ein Mordfall wurde. Sie hatte in einem Dorf fünf Meilen außerhalb von Birmingham gelebt und den Täter mit zu sich nach Hause genommen. Die zweite Frau lebte in Telford und war in einem Naturschutzgebiet vergewaltigt worden.

Angesicht der Probleme, die Blite gehabt hatte, genug Beweise für eine Anklage zusammenzutragen, konnte Fenwick verstehen, warum sein Kollege keine Lust gehabt hatte, ungelösten Fällen außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs nachzugehen, aber das Detail des fehlenden Fingergliedes war eine auffällige Übereinstimmung, und Griffiths hatte ganz in der Nähe der Orte gewohnt, wo die beiden Verbrechen stattgefunden hatten. Er ging die Akte noch einmal durch und fand Notizen über Gespräche, die Blite mit Kollegen der zuständigen Polizei geführt hatte. Darunter hatte er in Groß-

buchstaben getippt:

ABGETRENNTE FINGER BZW. FINGERGLIE-

DER EINZIGE OFFENSICHTLICHE ÜBEREIN-

190

STIMMUNG. ZUSAMMENHANG ÄUSSERST

UNWAHRSCHEINLICH. HABE MATERIALIEN

AN ZUSTÄNDIGE KOLLEGEN IN TELFORD

UND BIRMINGHAM GEFAXT, FALLS SIE DER

SACHE NACHGEHEN WOLLEN.

Es war typisch für Blite, dass er solchen Nebenspuren nicht nachging, weil sie seiner Meinung nach nur ablenkten. Zugegeben, es hatte keinen eindeutigen Zusammenhang gegeben, aber es war zumindest eine interessante Übereinstimmung, die Fenwick auf jeden Fall genauer unter die Lupe genommen hätte. Er druckte die Informationen aus und heftete sie an sein Pinnbrett.

»An keiner der Schulen, die Griffiths laut eigenen Angaben besucht hat, gab es eine Lehrerin, die mit Vornamen Agnes hieß.«

»Dann hat er also gelogen. Warum?«

Cooper wartete mit den gleichen Erklärungen auf wie Superintendent Quinlan einige Tage zuvor, doch Fenwick war nach wie vor nicht überzeugt. Irgendetwas an dem Psychoterror gegen Nightingale und an dem ganzen Fall Griffiths ließ ihm keine Ruhe. Er sprach sogar mit Blite und bat ihn um seine Meinung, aber der Inspector reagierte ungehalten auf Fenwicks Einmischung – so sah er es – in einen seiner Fälle.

»Andrew, Ihr Problem ist«, hatte Blite gesagt, »dass Sie sich langweilen. Ihr Intermezzo bei der Londoner Polizei hat Sie für unsere eher provinzielle Lebensart verdorben.«

Er hatte die spitze Bemerkung lachend als Scherz abgetan, aber sie war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Fenwick langweilte sich tatsächlich. Seine Erfolgsquote war beeindru-ckend, die höchste in der Abteilung, und würde ihm garan-191

tiert eine Belobigung von Harper-Brown einbringen, doch ihm fehlte die intellektuelle Herausforderung. Der Fall Nightingale mit seiner möglichen Verbindung zu Griffiths faszi-nierte ihn genauso, wie er ihn beunruhigte. Wenn es tatsächlich eine Verbindung gab, dann musste es in Griffiths’ Vergangenheit noch immer verborgene Elemente geben.

Er beauftragte Cooper, tiefer zu graben, und studierte die Ausdrucke aus dem Polizeicomputer. Einem Impuls folgend, rief er das Präsidium in Birmingham an und wurde schließlich mit einem Kollegen verbunden, der an den Ermittlungen damals beteiligt gewesen war.

»Wir haben keine Spur von dem Täter entdeckt. Der Leichnam der Frau war gründlich gewaschen worden, was sämtliche Spuren beseitigt hat, und es hatte auch niemand gesehen, wie sie den Pub, in dem sie gewesen war, verließ.

Sie war einfach plötzlich nicht mehr da.«

»Wo wurde die Tote gefunden?«

»Das war das Seltsame, in ihrem eigenen Bett. Der Mörder hatte sie übel verstümmelt, so dass wir dem fehlenden Finger zuerst nicht viel Bedeutung beigemessen haben. Später jedoch habe ich mich gefragt, ob er was mit ein paar älteren anderen Fällen zu tun hatte, aber es war so ein abwegiger Zusammenhang …«

»Was waren das für Fälle?« Fenwick setzte sich kerzenge-rade auf und griff nach einem Stift, um sich Notizen zu machen.

»Wir hatten drei andere Sexualdelikte im Abstand von achtzehn Monaten. In ersten Fall hatte der Täter versucht, der Frau einen Finger abzuschneiden, aber es ist ihm nicht geglückt. Die Sache hatte in der Öffentlichkeit hohe Wogen geschlagen. Dann eine Vergewaltigung in einer Stadtrand-siedlung mit identischen Handverletzungen. Mit dem Fall 192

war ich betraut, und wir haben den Täter nicht erwischt. Ich habe keinen Zusammenhang zum ersten Fall hergestellt, da die Täterbeschreibung eine andere war, aber ich dachte, ich erwähne es trotzdem. Der dritte Fall war ein Mord. Laut Obduktionsbericht waren die Wunden an den Händen des Opfers Abwehrverletzungen. Zwei Finger wurden vollständig abgetrennt, und die Sehnen der übrigen Finger durchtrennt.«

»Könnten Sie mir die Einzelheiten zuschicken? Ich weiß, ihr habt Personalknappheit, aber es wäre eine große Hilfe. Es könnte sein, dass euer Täter hier im Gefängnis sitzt, aber es wird schwierig zu beweisen sein, dass die Fälle zusammenhängen.«

Als er den Hörer auflegte, fragte Fenwick sich erneut, wie Blite so auffällige Parallelen hatte außer Acht lassen können, aber er wusste warum. Blite hatte dafür sorgen wollen, dass die hiesigen Fälle vor Gericht kamen. Das machte die Sache schön einfach, und wenn Blite eines hasste, dann waren das unnötige Komplikationen.

Das Fax aus Birmingham kam um sechs Uhr, und Fenwick rief seine Haushälterin an, um ihr zu sagen, dass er spä-

ter kommen werde. Um sieben hatte er die Fakten zusam-mengefasst. Er studierte seine Notizen, und die Falte zwischen seinen Brauen wurde tiefer, als er entscheidende Über-einstimmungen, aber verwirrende Widersprüche erkannte: Opfer

Ort

B’ham 1 B2

B3

B4

Harlden H2

H3

Telford

1

Ge-

w

w

w

w

w

w

w

w

schlecht

Alter

22

18

23

19

24

26

20

25

193

Größe

175

168

170

168

173

170

178

175

Statur

schlank

zierlich schlank dünn

schlank schmal schlank schlank

Sonstiges höhere

Studen- Prakti-

Stu-

Anges-

Kran-

Studen- Lehrerin

Schule

tin

kantin

dentin tellte

ken-

tin

schwest

er

Delikt

Verge-

Verge-

Mord

Ver-

Verge-

Mord versuch- Mord

walti-

walti-

gewal- walti-

ter

gung

gung

tigung gung

Mord

Methode

Planung/

nein

ja

?

Ja

ja

nein

nein

?

Belästigung

Gewaltmaß

mittel

niedrig hoch

niedrig mittel hoch

mittel? hoch

Waffe

Messer Messer Seil

Messer Seil

Messer Messer Seil

Kontakt/

ja

nein

ja

nein

?

ja

?/ja

ja

Einladung

Ort

Woh-

Park

zu

draußen freie

zu

Woh-

Zim-

nung

Hause

Natur Hause

nung

mer

von

Freun-

din

THE GAME nein

nein

nein

ja

ja

nein

ja

nein

Täterbeschreibung

Größe 188

178

?

?

180

über 180

178

?

Statur

dünn

?

?

untersetzt

korpulent

Durchschnitt ?

Haare

dunkel braun ?

?

blond

schwarz

hellbraun

?

Er umkringelte die Tat in Telford, die erste und dritte in Birmingham und die zweite und dritte in Harlden, die 194

besonders gewalttätig verlaufen waren. Die Opfer hatten den Täter in einem Pub oder Club kennen gelernt und waren nach Hause begleitet worden. Das deutete auf einen Menschen hin, der über ein gesundes Selbstbewusstsein und soziale Kompetenz verfügte. Bei den anderen Taten in Harlden und Birmingham war die Interaktion eingeschränkt gewesen.

Er fuhr nach Hause, aß eine anständige Mahlzeit und schaute dann mit schlechtem Gewissen nach seinen schlafen-den Kindern. Um sechs am nächsten Morgen erwachte er verschwitzt aus einem Traum und zwang sich zu warten, bis seine Kinder aufgestanden waren, damit er ihnen rasch etwas zum Frühstück machen konnte, bevor er zur Arbeit fuhr. Auf der Fahrt ins Präsidium, um kurz vor acht, rief er in Telford an.

Ein erstaunter Constable schrieb Fenwicks Nachricht mit, las sie ihm dann noch einmal vor und sagte, er werde sie wei-tergeben. Um zwölf erhielt er einen Rückruf aus Telford. Ein Detective erklärte ihm, sie hätten eine ganze Reihe von Sexualdelikten, die zeitlich mit den Daten übereinstimmten, die Fenwick ihm gegeben hatte, aber nichts, was den Verbrechen entsprach, an denen Harlden interessiert war. Fenwick legte enttäuscht auf und versuchte, sich auf seine anderen Fälle zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften immer wieder zu Nightingales verwüsteter Wohnung. Vielleicht war es ja doch nur die willkürliche Tat eines Spinners, für den der Prozess zur Obsession geworden war. Obsessives Verhalten war ihm nicht fremd. Schließlich glaubte er fast selbst daran, dass Quinlan richtig lag und dass bloß seine Phantasie mit ihm durchgegangen war. Der Gedanke verschaffte ihm keinen Trost.

195

Kapitel zwölf

Die Fahrt war anstrengend, genauer gesagt, die Fahrt in den Südwesten an einem Tag mit Sturm und hefti-gem Regen zu unternehmen, gehörte nicht gerade zu Nightingales klügsten Ideen. Sie ließ sich Zeit, fuhr nicht Autobahn, sondern Landstraße durch die kleinen Dörfer. Als sie in Dorset war, schickte sie je eine E-Mail an ihren Bruder und Sergeant Cooper und schrieb, dass sie weit weg einen langen Urlaub machen werde.

Sie hatte sich geschworen, ihr letztes Gespräch mit Fenwick nicht noch einmal Revue passieren zu lassen, und konzentrierte sich aufs Fahren. Bei dieser Flucht ging es um mehr als um ihn, doch der bislang bedeutsamste Aspekt ihrer Reise war der, dass Fenwick nicht da war. Statt ihre neue Freiheit auszukosten, empfand sie eine traurige Leere. Zwei Zeilen von Keats kamen ihr in den Sinn:

Einsam sinnend steh ich am Ufer dann der weiten Welt/

Bis Ruhm und Liebe mir in Nichts zerfällt.

Ihr kam der Gedanke, dass ihre eigene Willenskraft das Einzige war, das zwischen Sein und Vergessen stand. Sobald sie aufhörte, sich zu bewegen, würde sie vielleicht aufhören zu existieren, aber sie war erschöpft. Sie brauchte dringend Ru-he und Erholung, und wo konnte man sich besser entspannen als tief im alten England. Ihr Vater hatte behauptet, dass seine Familie von den Kelten abstammte, eine romantische Vorstel-196

lung, die Nightingale eingedenk des Familiennamens für unwahrscheinlich hielt. Allerdings stammte er unbestritten aus einer alten Devonshire-Familie. Seine Schwester hatte hier gelebt und war hier gestorben, auf der Farm, die um die alte Mühle der Familie herum errichtet worden war.

Tante Ruth war Nightingales Lieblingsverwandte gewesen, und als sie von ihrem Tod erfuhr, hatte sie sich einen ganzen Tag lang die Augen ausgeweint. Ihre Tante war erst Mitte vierzig gewesen und hatte die Farm an Nightingales Vater vererbt. Er wiederum hatte sie, wie nicht anders zu erwarten, seinem Sohn vermacht, zusammen mit dem übrigen Besitz; Nightingale war mit einem kleinen jährlichen Einkommen abgespeist worden. Sie würde nie hungern müssen, aber sie war weiß Gott nicht reich. Dass sie kein Vermö-

gen besaß, war ihr nicht wichtig, doch dass ihre Eltern auf diese Weise demonstriert hatten, wie wenig sie ihnen bedeutete, das tat weh.

Sie spähte durch die Windschutzscheibe und den Regen und hielt Ausschau nach Schildern. Mill Farm lag im Wald, nah an der wilden Küste von Nord-Devon. Niemand würde sie hier vermuten. Nur Simon und Naomi wussten überhaupt von der Farm, und die beiden hielten sie für unbewohnbar.

Sie kam an Okehampton vorbei und suchte nach den vertrauten Orientierungspunkten, aber sie erkannte die Landschaft nicht wieder, da der Straßenverlauf geändert worden war. Als sie auf eine verlassene Nebenstraße bog, sah sie eine kleine tropfnasse graue Kirche dicht neben einer Gruppe riesiger Eiben. Sie kam ihr bekannt vor. Ein älterer Mann kam zu Fuß am Straßenrand auf sie zu, den Kopf gegen den Regen gesenkt. Sie hielt neben ihm.

»Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie ich zur Mill Farm komme?«

197

Er drehte sich um, den Kopf noch gebeugt, und trat einen Schritt näher an das Auto heran, eine Hand ans Ohr gelegt. Sie wiederholte die Frage, mit schlechtem Gewissen, weil sie im Trockenen saß, während er im Regen stand. Er hatte sie diesmal auf jeden Fall verstanden, doch statt zu antworten, blickte er sie forschend an. Der Regen fiel auf den Ärmel ihres Ka-schmirpullovers, während sie auf eine Antwort wartete.

»Ist lange her, dass mich jemand nach dem Weg zur Mill Farm gefragt hat. Sind Sie aus der Familie?«

Sie nickte.

»Also eine Nightingale, schön, schön. Sie haben keine Ähnlichkeit mit Ihrer … Tante?« Er wollte ihr Informationen entlocken für seine Hilfe.

»Bei mir ist die Familienähnlichkeit nicht sehr ausgeprägt.«

»Stimmt, aber komisch, Sie erinnern mich an jemanden.«

»Mill Farm?«, wiederholte sie hoffnungsvoll.

»Ja, ja. Ich kann Sie hinbringen, wenn Sie wollen. Der Weg ist schwer zu beschreiben, jetzt wo das Schild abgefallen ist. Ich muss aber vorher in der Kirche nach dem Rechten sehen. Wenn die Tür nicht richtig abgeschlossen ist und was gestohlen wird, kommt die Versicherung nicht dafür auf.

Dauert ein paar Minuten.«

Statt im Auto zu warten, nahm Nightingale ihren Schirm und folgte dem Mann über einen vom Moosbewuchs rut-schig gewordenen Kiesweg. Auf dem Kirchhof drängten sich alte Gräber mit schiefen Grabsteinen, die meisten zum Weg hin geneigt. Manche Grabstellen hatten kunstvoll verzierte Kreuze, die den alten keltischen Stil nachahmten, andere waren traditioneller, mit abgerundeten Gedenksteinen, deren Inschriften im Laufe der Zeit unleserlich geworden waren.

In der Kirche war es dunkel und kalt. Auf dem Altar schimmerten blasse Kerzen, die nicht brannten, wie Gespens-198

ter im schwachen Licht, das durch die schmalen Seitenfenster fiel, und dazwischen funkelte ein silbernes Kruzifix.

»Gut, alles aus. Wir können fahren.«

»Überprüfen Sie denn nicht die Tür zur Sakristei?«

Er murmelte etwas vor sich hin und schlurfte davon, ließ sie im Dunkeln stehen. Sie fröstelte und bekam an den Armen Gänsehaut. Um sich abzulenken, sah sie sich eines der Bleiglasfenster an. Darunter stand ein erstaunliches Taufbecken. Es war aus graugrünem Marmor gemeißelt und hatte ein Relief, dessen Figuren sich überaus lebendig von dem Stein abhoben. Die Darstellung wirkte täuschend echt. Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die Nase eines Rehs und zuckte vor Schreck zusammen, denn durch die kühle Luft in der Kirche fühlte sich die Nase richtig feucht an. Trotz der sakralen Verwendung des Taufbeckens war es eines der heid-nischsten Dinge, die sie je gesehen hatte.

Der Pfarrer kam wieder.

»So, wir können gehen.«

Er folgte ihr nach draußen, machte die Tür hinter sich zu und ging mit forschen Schritten davon.

»Ah, entschuldigen Sie.« Nightingale blieb vor der Holztür stehen. Er drehte sich mit ungeduldiger Miene um. »Wollten Sie denn nicht abschließen?«

Er machte förmlich einen Satz zurück zur Tür, und Nightingale wandte den Kopf ab, um ein Lächeln zu verbergen.

»Jetzt aber, junge Dame. Kommen Sie. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Für sein Alter ging er ziemlich flott, und sie trabte los, um ihn einzuholen. Sobald sie im Auto saßen, beschlugen die Scheiben von der feuchten Kleidung, und Nightingale musste mit voll aufgedrehtem Gebläse und einen Spalt weit geöffneten Fenstern fahren.

199

»Links!« Der Pfarrer streckte jäh die Hand aus. »Links, links, direkt hier!« Er gestikulierte wild mit der Hand. »Da rein und dann den Hügel hoch.«

Nightingale schaltete zurück und bog auf den schmalen Feldweg, der zwischen zwei Steinpfosten hindurchführte. Ein Eisentor lag im Graben, überwuchert von Efeu und Brom-beergestrüpp.

»Soll ich Sie hier rauslassen? Ich glaub, ich komme jetzt allein klar.«

»Ist für mich kein Umstand, fahren Sie zu.« Er klang richtig aufgeregt. »Ich war seit Jahren nicht hier, seit Ruths Tod nicht mehr.«

»Sie war die Schwester meines Vaters.«

»Ist verrückt geworden und hat sich ins Meer gestürzt. Ihr Tod wurde offiziell als Unfall eingestuft, deshalb musste ich sie wohl oder übel bei der Kirche im Familiengrab bestatten.

Ein Jammer. Merkwürdige Frau. Lag in der Familie.«

Nightingale musste gerade einigen Schlaglöchern ausweichen und eine scharfe Kurve nehmen, deshalb hatte sie eine Entschuldigung für ihr Schweigen. Was sie schockierte, war weniger die Gefühllosigkeit des Pfarrers als vielmehr seine unchristliche Einstellung.

»Ich denke, Sie steigen jetzt besser aus.«

»Ja, der Hügel ist steil. Sie kommen direkt zum Haus, nach etwa zwei Meilen. Wir sehen uns dann in der Kirche. Frühgottesdienst ist freitags und sonntags morgens um acht, Hauptgottesdienst um elf und Abendandacht um sechs.«

Er war ausgestiegen, bevor Nightingale etwas erwidern konnte, und stolzierte den Hügel hinab wie eine alte Krähe.

Als Nightingale anfuhr, drehten die Hinterräder im Schlamm durch, bis sie griffen und der Wagen einen Satz nach vorn machte. Nach einer Meile lichtete sich der dichte Wald, und 200

sie näherte sich einem geschlossenen Tor in einer Mauer, die am Waldrand verschwand. Nightingale stieg aus und öffnete mit einem der Schlüssel, die ihr Bruder ihr gegeben hatte, ein rostiges Vorhängeschloss. Dahinter fiel der Weg in eine Senke ab und überquerte einen Bach, stieg dann wieder an und führte durch ein Eschenwäldchen.

Dieser Abschnitt der Strecke war ihr vertraut. Das jähe Gefälle sorgte selbst an einem sonnigen Tag für ein geheimnisvolles Frösteln. Als Kind hatte sie beim Überqueren des Baches immer das Gefühl gehabt, eine andere Welt zu betreten, und einmal hatte sie das auch ihrem Vater gesagt. Er hatte ihr eine ausufernde Phantasie vorgeworfen und ihren Gedanken mit einer typischen Handbewegung als albern abgetan, um sich dann aber selbst ausführlich in Erinnerungen zu ergehen.

»Es war früher nicht nur eine Farm, sondern auch ein Mühlbetrieb«, hatte er gesagt. »Das Rad wurde vom Wasser angetrieben. In meiner Kindheit war der Bach nämlich noch so stark wie heute nur bei Hochwasser. Jetzt hat er nicht mehr die Kraft, das Mühlrad anzutreiben. Die Mühle hat unserer Familie Wohlstand gebracht, weil es hier in der Gegend nur ganz wenige gab. Im neunzehnten Jahrhundert hat sich die Familie dann auf den Einzelhandel verlegt, Geschäfte und Läden gekauft und die Farm hier mehr oder weniger vergessen. Aber ohne die Mühle hätten wir es nicht zu Geld gebracht. Deshalb ist sie so wichtig für uns.«

Nightingale lächelte, als ihr die Worte ihres Vaters einfielen. Es war für seine Verhältnisse eine lange Rede gewesen, aber andererseits waren Geld und die Familie seine Lieblings-themen. Für Nightingale hatte Mill Farm nicht Reichtum bedeutet, sondern etwas viel Wichtigeres – Sicherheit. Jedes Mal, wenn sie die Furt überquerte, gelangte sie an einen ab-201

geschiedenen, geborgenen Ort, wo sie als Kind glücklich gewesen war.

Tante Ruth hatte sie so geliebt, wie sie nie wieder von einem Menschen geliebt worden war. Wenn sie in den Sommerferien hier war, träumte sie manchmal, sie und ihre Tante wären durch Überschwemmungen oder meterhohen Schnee von der Außenwelt abgeschnitten und könnten nur durch Vorräte aus dem Garten, Fischfang und Jagd überleben. Woche für Woche durchstreifte sie die Hügel, ging im Meer schwimmen oder saß an Regentagen mit ihrem Lieblingsbuch gemütlich an dem großen, grünen Ofen.

Das gleiche Abenteuergefühl beschlich sie, als der Wagen erneut in eine Senke zwischen den Hügeln tauchte und dann den letzten Hang erklomm. Nur wenige Meilen hinter ihr drängten sich Menschen unter Regenschirmen in hektischen Städtchen, aber hier war es, als würden sie gar nicht existieren.

Der Regen wurde schwächer, und sie stellte die Schei-benwischer aus. Allmählich machten die letzten Ausläufer des Waldes hohem Gras und Disteln Platz. Dahinter, schwach wie Rauch, konnte man grauen Schiefer erahnen, und ihr Herz machte einen Sprung. Das Dach kam in Sicht, dann ein bedenklich geneigter Schornstein und schließlich das Haus.

Sie fuhr über Unkraut und Brennnesseln, hörte Brombeer-zweige über den Lack ihres Wagens kratzen, bis sie vor der Vordertür hielt. Sie war zu Hause.

Eine Windböe peitschte dicke Regentropfen aufs Dach ihres Wagens, dann war es still. Sie blickte auf das Haus. Ein Fenster im Erdgeschoss war zerbrochen, ein weiteres oberhalb der Haustür hing schief in den Angeln. In der Dachrinne hatten Vögel ihre Nester gebaut, und die Wände unter den Traufen waren mit alten Schwalbennestern übersät. In dem 202

schönen Bauerngarten waren einmal Stockrosen und Sonnenblumen gewachsen. Jetzt kämpfte eine Armee gefährlich grüner Brennnesseln mit Ampfer und einer wilden Rose, deren rosaweiße Blütenblätter zwischen den kümmerlichen Resten von Hagebutten vom letzten Herbst leuchteten.

Ein großer Eisenschlüssel passte genau ins Haustürschloss.

Sie konnte ihn mühelos drehen, aber die Türklinke ließ sich nicht herunterdrücken. Schließlich kletterte sie durch das kaputte Fenster in die modrige, mit Steinplatten ausgelegte Diele, wo sie vorsichtig über Glasscherben auf dem Boden ging. Unter die Klinke der Haustür war ein Stuhl geklemmt, den sie beiseite schob. Gegenüber der Treppe nach oben war ein Kamin, in dem das Skelett eines großen Vogels lag. Weiter hinten führte ein Gang zur Rückseite des Hauses und in die Küche. Irgendwann hatte hier jemand kampiert. Aus den meisten Küchenstühlen war Kleinholz zum Verfeuern gemacht worden, und an der Kaminwand lag eine angeschim-melte, alte Matratze. Trotz der Verwahrlosung fühlte Nightingale sich beschwingt und erkundete den Rest des Hauses.

Wer immer sich hier heimlich eingenistet hatte, er war wählerisch gewesen. Das Esszimmer mit der riesigen, dunklen Eichenanrichte war unberührt. Mit einem Lächeln, das ihre Tante wieder erkannt hätte, sprang sie darauf zu und schob die Finger unter die Abdeckplatte. Mit einer geschickten Drehung löste sie den Verschluss der geheimen Schublade, die sogleich aufsprang. Als Kind war sie in dieses große Geheimnis eingeweiht worden, musste aber versprechen, niemals hineinzuschauen. Und sie hatte es nie getan, bis heute.

Als sie die Schublade aufzog, entwich ein kleiner Seufzer ins Zimmer. Sie fand ein Bündel Briefe, das mit einem ver-blassten, blauen Band verschnürt war, ein Tagebuch, ein Foto und den Rosenkranz ihrer Tante. Zuoberst lag ein Kuvert 203

mit der schrägen Handschrift ihrer Tante. Mit einem Schauder, der ihr die Nackenhaare aufstellte, sah sie, dass der Brief an sie adressiert war. Es war, als hätte der Geist ihrer Tante all die Jahre auf ihre Rückkehr gewartet, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie erst jetzt hergekommen war.

Weil es im Haus zu kalt war, nahm sie den Brief mit in den Wagen. In dem mit Wachs versiegelten Umschlag waren zwei handbeschriebene Blätter.

Meine liebe Louise, (ihre Tante hatte sie stets bei ihrem bevorzugten Namen genannt) ich werde dich wohl nicht noch einmal sehen, und dabei habe ich dir noch so viel zu sagen. Erstens, Du bist ein wunderbares Mädchen, vergiss das nie.

Du hast ganz besondere Begabungen, ich denke da nur an deine Intelligenz, deine Warmherzigkeit und deine Menschenkenntnis. Lass dir niemals einreden, Du seist nicht kreativ, denn das bist Du. Ich weiß nicht, wie sich Deine Kreativität einmal ausdrücken wird, aber sie ist da, keine Frage, denn Du bist deiner Mutter in so vieler Hinsicht ähnlich.

Nightingale hörte erstaunt auf zu lesen. Sie hatte gedacht, dass ihre Tante und ihre Mutter einander nie besonders leiden konnten.

Wenn ich nicht mehr da bin, werden die Leute viel Schlechtes über mich erzählen, aber meine Liebe zu Dir ist stark, und ich werde von dort, wo ich hingehe, auf Dich aufpassen. Ich habe in den letzten Wochen überlegt, wie viel ich Dir von gewissen Dingen verraten soll, von denen Du nicht das Geringste ahnst. Du bist noch zu jung für die ganze 204

Wahrheit, und es wäre Deinem Vater gegenüber nicht fair, Dinge zu enthüllen, die er Dir selbst erzählen sollte. Er hat mir versprochen, dass er mit Dir spricht, wenn du alt genug bist, und darauf muss ich vertrauen.

Trotzdem fürchte ich, dass er sein Versprechen vielleicht bricht oder vergisst. Also habe ich mich für die zweitbeste Lösung entschieden. Zusammen mit diesem Brief findest Du in unserer Schublade einige meiner Tagebücher und Briefe. Falls Du schlau genug bist, und da habe ich keine Zweifel, und wenn Du über genug Lebenserfahrung verfügst, was in einigen Jahren der Fall sein wird, wirst Du Dir alles selbst zusammenreimen können.

Nightingale schüttelte verwirrt den Kopf. Ihr Vater hatte ihr nie ein Geheimnis offenbart. Mit siebzehn war sie auf ein

»Mädchenpensionat« geschickt worden, wie ihre Mutter es gern nannte, doch in Wirklichkeit war es ein Internat für schwierige Mädchen, die woanders keine Chance mehr gehabt hätten. Ihre Volljährigkeit hatte sie dort mit einer heimlichen Schlafsaalparty gefeiert.

Statt sich ihrer Tante näher zu fühlen, hatten der Brief und sein sonderbarer Inhalt sie irgendwie abgestoßen. Um ihrem Unbehagen gegenzusteuern, wurde sie aktiv. Sie fing an, die Küche sauber zu machen, überprüfte, ob das Rauchabzugs-rohr frei war und zündete den Herd an. Drei Stunden später stand Nightingale erhitzt, schmutzig, aber glücklich mitten auf dem feuchten Steinboden und bewunderte mit einer Drehung um die eigene Achse ihr Werk. Etwas Farbe an die Wände, und es wäre wieder ein hübscher Raum.

Nachdem sie einen halben Laib Brot und eine Flasche Orangensaft verputzt hatte, erkundete sie den Rest des Hauses. Das Wohnzimmer wurde von einem offenen Kamin be-205

herrscht, in dem sie als Kind noch aufrecht hatte stehen können. Jetzt war sie dafür zu groß. Eines der Schlafzimmer oben im Haus war derart feucht, dass der Putz von den Wänden gefallen war, aber die anderen drei sahen gut aus. Auch das altmodische Badezimmer befand sich in einem besseren Zustand, als sie befürchtet hatte. Die Treppe ächzte unter ihrem Gewicht, als sie wieder nach unten in die Diele ging, und sie hielt sich am Geländer fest. Das war auch gut so, denn eine Eckstufe bog sich erschreckend weit durch.

Die Sonne lockte sie nach draußen. Das Licht glitzerte auf den Überresten von Frühbeeten im Gemüsegarten, wo der Sommer den Winter in einer unbeobachteten Schlacht besiegt hatte. Dunst stieg von der wuchernden Vegetation innerhalb der Gartenmauern auf. Gleich daneben standen Obstbäume, und an der südlichen Mauer beugte sich eine Weinranke unter der Last ihrer Blüten.

Ein dichter, niedergedrückter Strauch wippte hoch, als sie aus der Tür trat, und ein wunderbarer Duft, der an sonntägliche Mittagessen erinnerte, erfüllte die Luft. Im Kräutergarten kämpften sich lila Schnittlauchköpfe durch Majoran und blauen Salbei. Ein mächtiger Rosmarinbusch okkupierte ein halbes Beet, und die Minze war ihrem Terrakottagefängnis entflohen und strebte der Freiheit entgegen. Sobald sie im Haus fertig war, würde Nightingale sich um den Garten kümmern. Sie würde Salat anpflanzen, den Kräutergarten auf Vordermann bringen und danach den wilden Wein versorgen, überhaupt alles, was aussah, als könnte es liebevolle Pflege gebrauchen.

Und neun Uhr machte sie Feierabend und wusch sich im Bach, wärmte sich dann am Herd auf und machte sich einen Rosmarinaufguss, ein natürliches Antiseptikum gegen ihre Kratzer und Hautrötungen. Sie aß belegte Brote, und als die 206

Sonne unterging, rollte sie ihren Schlafsack auf dem Fußboden aus. Ihr Atem wurde schwer und langsam, und sie stellte sich vor, die klappernden Hufe der Ponys der Schmuggler zu hören, die Kisten mit Alkohol und Seide unten in den Höhlen der Klippen vor den Steuereintreibern versteckten.

207

TEIL ZWEI

Das Schicksal schrieb ihr eine erschütternde Tragödie, und sie spielte sie in Strumpfhosen.

Sir Max Beerbohm

Sanftheit, Fügsamkeit und eine schoßhundhafte Zuneigung werden unentwegt als die

Kardinaltugenden der Frau empfohlen … Sie wurde geschaffen, um dem Manne ein Spielzeug zu sein.

Mary Wollstonecraft

208

Kapitel dreizehn

Lucinda Hamilton hatte einen frustrierenden Tag hinter sich, denn es war ihr nicht gelungen, eine versnobte Illustrierte dazu zu bringen, über die Eröffnungsparty ihres Kunden zu berichten. Bei ihren Kontakten aus der Schulzeit und ihrem familiären Hintergrund war Lucinda davon ausgegangen, dass eine erfolgreiche Karriere in der PR-Branche für sie ein Kinderspiel würde. Sie hatte eine der neueren Agentu-ren mit ihren Referenzen überzeugen können, doch das Be-rufsleben erwies sich leider Gottes als deutlich härter, als sie gedacht hatte. Ihr erster Kunde hatte nach nur einer Woche verlangt, von jemand anderem betreut zu werden. Ihr zweiter hatte sie mit Lob überschüttet … bis ein spontanes Dinner mit einer von Lucindas Schulfreundinnen, inzwischen eine Gesellschaftskolumnistin, zu einem grässlichen Artikel in einer Sonntagszeitung geführt hatte.

Ihr jetziger Kunde war ihre letzte Chance. Er machte ein Erlebnisrestaurant auf und plante, die Eröffnung mit einer rauschenden Party – Lucindas Idee – und entsprechendem Medienrummel zu feiern. Die Kosten lagen schon jetzt weit über dem Budget, doch bislang hatte es auf die Einladungen nur eine klägliche Zahl von Zusagen gegeben.

Wer Lucinda nicht kannte, hielt sie für oberflächlich, eine verwöhnte junge Frau, die zu dem Leben, das die Mehrheit der Bevölkerung führen musste, keinen Bezug hatte. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie war ehrgeizig und wollte zeigen, 209

was in ihr steckte, auch ohne Rückendeckung durch ihre Familie. Was ihr an Intellekt (und, zugegeben, mitunter auch an gesundem Menschenverstand) fehlte, machte sie durch reichlich Charme und eine gewisse Rücksichtslosigkeit wett, die Freunde und Kollegen gleichermaßen verblüffte. Die meisten Bekannten waren ihr wohl gesinnt und bemüht, es sich mit ihr nicht zu verderben, für alle Fälle.

Mit ihrer typischen Unverfrorenheit, die sie durch ein butterweiches Lächeln kaschierte, hatte sie sich am Nachmittag mit ihrem Boss und einer Mitarbeiterin des Kunden zu-sammengesetzt, um über die Vorbereitungen für die Party zu sprechen. Nach zermürbenden dreißig Minuten war es ihr zwar gerade noch gelungen, den Etat und ihre eigene Rolle als Projektleiterin zu retten, doch sie hatte jetzt nur noch fünf Tage Zeit, um eine anständige Gästeliste vorzulegen, die ein entsprechendes Medieninteresse garantierte. Lucinda hatte die Besprechung mit dem Gefühl verlassen, dass sie lieber sterben würde, als sich geschlagen zu geben.

Das Frog and Nightgown in Knightsbridge war zu einem Treffpunkt der Schickeria geworden, die neuerdings gern so tat, als würde sie lieber Bier als Wein oder Cocktails trinken.

Nach Jahrzehnten, in denen für Leute mit Geld nur das Teuerste und Ausgefallenste gut genug gewesen war, galt es nun als cool, zu den einfachen Genüssen zurückzukehren.

Aber das Frog hatte trotzdem Niveau. Die Biersorten waren vom Feinsten, und der Küchenchef hatte schon Angebote von Spitzenrestaurants bekommen. Der Pub war zu einer von Lucindas Stammkneipen geworden.

Sie kam früher als sonst, und die Bar war fast leer. Brian, der Barkeeper, bot ihr einen Cocktail an, doch sie bestellte Champagner. Während sie aus dem hohen, gekühlten Glas trank, dachte sie zum ersten Mal darüber nach, was passieren 210

würde, wenn sie tatsächlich scheiterte. Sie würde sich in der Firma auf keinen Fall degradieren lassen, sondern sich einen neuen Job suchen. Das perlende Getränk besserte ihre Stimmung nicht, aber sie trank das Glas dennoch leer und beschloss zu gehen.

Da erschien ein neues Glas Champagner vor ihr auf der glänzend polierten Holztheke.

»Von dem Gentleman dort drüben«, erklärte Brian. »Er hat gemeint, Sie könnten eine kleine Aufheiterung gebrauchen.

Sie sollen sich aber nicht verpflichtet fühlen, das hat er ausdrücklich gesagt.«

Lucinda blickte zu dem jungen Mann am anderen Ende der Bar. Er rauchte und hatte ein fast volles Schnapsglas mit einer farblosen Flüssigkeit vor sich stehen. Sie sah die Designer-Uhr, das Ralph-Lauren-Hemd und den weichen Pullover, den er sich um die Schultern gelegt hatte. Das blonde Haar war länger, als es Mode war, aber gut geschnitten, und ihr gefiel die gebräunte Haut, eindeutig von der Sonne, nicht von der Sonnenbank. Nach kurzem Zögern hob sie das Glas zu einem, wie sie hoffte, lässigen Gruß und trank einen kleinen Schluck. Er sah, dass sie zu ihm herüber schaute, hob ebenfalls ganz kurz sein Glas und vertiefte sich dann wieder in seinen Evening Standard. Sie wartete auf seinen nächsten Schritt, aber er unternahm keinen. Er blickte sogar kaum noch in ihre Richtung, während sie den Champagner trank.

Die Bar füllte sich allmählich, und zwei Bekannte luden sie an ihren Tisch ein. Sie lehnte freundlich ab und blieb an der Bar, zunehmend verärgert über die offensichtliche Gleichgültigkeit des Mannes. Zwei Gläser Champagner auf nüchternen Magen waren ihrem inneren Gleichgewicht nicht förderlich, und als sie den letzten Tropfen trank, wäre sie 211

trotz seines kühlen Verhaltens beinahe zu ihm hinübergegangen. Beinahe.

Sie konnte einfach nicht entscheiden, ob der Fremde ihre Aufmerksamkeit wert war. Die galante Geste, ihr den Champagner ohne Bedingungen auszugeben, gefiel ihr, doch mit seinem offensichtlichen Desinteresse machte er die gewonne-nen Pluspunkte gleich wieder zunichte. Lucinda war es gewohnt, dass man sich um sie bemühte, nicht umgekehrt, und die Tatsache, dass er attraktiv war, erhöhte ihre Verstimmung nur noch.

Sein blondes Haar war voll und leicht gewellt. Es stieß an seinen Kragen und ließ ihn fast wie einen Künstler wirken.

Auch die Augenbrauen waren blond, fast so wohlgeformt wie bei einer Frau, und die Augen darunter waren schön, dunkelbraun und unergründlich. Sie beobachtete, wie er aus seinem Glas trank. Entweder trank er sehr langsam, oder er hatte sich nachschenken lassen. Seine Hände hatten die langen, elegan-ten Finger eines Künstlers.

Routinemäßig ging sie im Kopf ihre eigenen Stärken durch, wie immer, wenn Selbstzweifel und Unsicherheit sie befielen. Sie war attraktiv – sehr sogar. Normalerweise musste sie sich der Avancen eher erwehren, als sich welche zu erhof-fen. Sie hatte dunkles, langes und seidiges Haar, graue Augen und cremeweiße Haut. Ihre Haltung, ihr Auftreten und ihr Benehmen verrieten, dass sie aus gutem Hause kam. Obend-rein war sie natürlich schlank, fast mager. Kein Wunder, dass einige ihrer Freundinnen ihr nicht immer zugetan waren, aber sie taten ihr Leid und sie verzieh ihnen.

Zwei junge Frauen kamen herein. So aufgemacht und mit Schmuck behängt, wie sie waren, hätten sie genauso gut ein Schild mit der Aufschrift »noch zu haben« um den Hals tragen können. Sie entdeckten den attraktiven Mann, der allein 212

an der Bar saß, und verfielen in klassisches Flirtverhalten. Er blieb ungerührt, hob aber seine geheimnisvollen Augen und lächelte Lucinda an, um sie in seine Verspottung der Frauen mit einzubeziehen, die er bereits als seiner Aufmerksamkeit unwürdig eingestuft hatte. Sie lächelte zurück und verdrängte den Anflug von schlechtem Gewissen, weil sie ihr eigenes Geschlecht verriet.

Spontan hob sie die Hand, um noch etwas zu trinken zu bestellen, doch bevor Brian das sah, stand der Mann neben ihr.

»Darf ich?«

»Nein, jetzt bin ich an der Reihe.«

»Der Satz kommt in meinem Wortschatz nicht vor. Bitte.«

Er war nicht herablassend, deshalb akzeptierte sie die Ga-lanterie, und wunderte sich über sich selbst. Brian bediente sie sogleich und reichte ihnen einen kleinen Teller Oliven zu den Getränken.

»Auf Ihr Wohl.« Er hob sein Glas so förmlich, dass ihre Mundwinkel zuckten.

»Prost.«

»Ich heiße Edmund, Edmund Althorpe.«

»Lucinda Hamilton.« Einen peinlichen Augenblick lang dachte sie, er werde ihr jetzt die Hand geben wollen, aber er tat es nicht. Stattdessen zog er einen Hocker heran und schob seinen langbeinigen Körper darauf. Er hatte wunderbare Schultern, und trotz seiner schmalen Lippen sah er toll aus.

Sie fragte sich, ob er wohl auch unterhalb des Vs, das der offene Kragen seines Hemdes bildete, braun gebrannt war, und errötete bei dem Gedanken.

»Ist Ihnen zu warm? Möchten Sie lieber auf die Terrasse gehen?«

»Nein, alles in Ordnung … Edmund«, sie lächelte, hatte 213

sich wieder unter Kontrolle, »und danke für den Champagner.«

»Es war mir ein Vergnügen. Sie haben es sich verdient. Ich habe Sie hier sitzen sehen, Ihr Gesicht umrahmt von Ihrem herrlichen Haar, und es hat mir gar nicht gefallen, dass Ihre Schönheit von einer finsteren Miene verunziert wurde.«

Sie schmunzelte auf eine Weise, die verriet, dass sie gelun-genere Komplimente gewohnt war.

»Sie müssen entschuldigen, aber Sie sind nun mal schön.

Ein Mann gerät gleich in die Defensive, wenn er eine so hübsche Frau sieht. Am liebsten wäre ich gleich auf Sie zugegan-gen und hätte Sie angesprochen, aber ich wusste nicht, wie.«

Seine jungenhafte Offenherzigkeit war entwaffnend. Allmählich fing sie an, von sich zu erzählen. Es war leicht, er hörte geduldig zu, wie ein alter Freund. Er hatte eine schöne Stimme, und Lucinda fand seine manchmal etwas altmodische Ausdrucksweise reizvoll. Während sie sich angeregt unterhiel-ten, bröckelte die Sprödigkeit, die sie ihrem schlechten Tag verdankte, nach und nach von ihr ab. Wenn er ihr Komplimente machte, wies sie diese nicht schroff zurück, sondern nahm sie an, als würden sie ihr zustehen. Ihre Abwehrhaltung schmolz dahin, als sie ihr drittes Glas leerte und er noch eine Runde bestellte.

»Das klingt, als hätten Sie ein paar schlimme Wochen hinter sich.« Er blickte sie mit aufrichtigem Mitgefühl an, und sie merkte, dass ihr Tränen in den Augen standen.

»Ach, das ist ja noch längst nicht alles.« Ihre Zunge war etwas schwer geworden, aber er schien es nicht zu bemerken.

»Das Restaurant ist eine Mischung aus Science-Fiction und Mystik. Star Wars und König Artus in einem, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Das gibt’s doch nicht.« Er wirkte plötzlich aufgeregt. »Das 214

ist wirklich merkwürdig. Nicht zu fassen, dass ich Sie per Zufall kennen gelernt habe. Ich gebe zu, ich fand Sie auf den ersten Blick attraktiv, aber ich hätte nie gedacht, dass die Be-kanntschaft mit Ihnen so … bedeutsam sein würde.«

Seine Begeisterung war unübersehbar, und sie war leicht irritiert. Er gab sich sichtlich Mühe, ruhiger zu werden, und lächelte sie an, mit blitzenden Augen und blendend weißen Zähnen.

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen?«

»Kennen Sie THE GAME?«

»Natürlich. Zigtausend Leute spielen es. Die Erfinder sind Multimillionäre.«

»Schön wär’s«, murmelte er, ignorierte aber ihren fragenden Blick. »Haben Sie es nie gespielt?«

»Nein, ich bin nicht gut in Computerspielen.«

»Das würde erklären, warum Sie noch nicht auf die Idee gekommen sind, das Spiel für Ihre Party zu nutzen. Das wäre perfekt. Sie könnten alle berühmten Spieler von THE GAME

einladen – und die Erfinder –, das würde garantiert Schlagzei-len machen.«

Lucinda hörte fasziniert zu. Seine Begeisterung und seine Idee waren genau das, was sie brauchte. Als sie ihr viertes Glas Champagner austrank, rumorte es laut in ihrem Bauch, und sie kicherte verlegen, hoffte, dass er es nicht gehört hatte.

Sie wollte, dass er weiterredete. Vielleicht konnte sie ja die Hersteller von THE GAME überreden, ihre Party zu unterstützen – schließlich wäre es auch für die Firma eine tolle Werbung, redete sie sich ein –, und all ihre Probleme wären gelöst.

»Wieso kennen Sie sich mit THE GAME so gut aus? Sind Sie ein As in dem Spiel?«

Er blickte sie an, und tief in seinen Augen flackerte ein 215

Licht, wie Sonne, die zwischen dichten Bäumen auf die Flan-ken eines Tigers fällt.

»Ja, aber nicht nur das.« Er blickte sie ernst an und nahm ihr Kinn so sanft in eine Hand, dass sie sie kaum spürte. »Ich bin einer der Erfinder von THE GAME. Ich habe noch immer das Copyright.«

Das Lächeln auf Lucindas Gesicht war selig.

»Die Party, die Sie da organisieren, ist eine tolle Möglichkeit, um THE GAME bei einem anspruchsvolleren Publikum bekannt zu machen. Ich weiß, wir haben uns eben erst kennen gelernt, aber Sie haben nicht mehr viel Zeit, und ich finde, eine günstige Gelegenheit sollte man nutzen. Darf ich Sie zum Essen einladen? Ich wüsste da genau das richtige Restaurant. Ruhig, nicht zu schick.«

Abzulehnen kam überhaupt nicht in Frage.

»Gern. Ist es weit?«

»Nein. Gehen wir?« Er grinste sie jungenhaft an, und sie war sich nicht sicher, ob ihre weichen Knie mit dem Alkohol zu tun hatten oder eine Reaktion auf ihn waren. Draußen bot er ihr seinen Arm an, genau wie ihr Vater, und sie nahm ihn, lehnte sich bei ihm an.

»Lucinda bedeutet ›die mit der starken Ausstrahlung‹. Ihre Eltern müssen geahnt haben, wie gut der Name zu Ihnen passt.«

»Meinen Sie?« Sie hatte Schluckauf und wäre fast gestolpert, doch er schien es nicht zu bemerken. Sie blickte ihn an, richtig kokett. Er berührte leicht ihre Wange, und sie schauderte in Erwartung seiner nächsten Berührung. Sie schlender-ten die Straße entlang, die sich allmählich leerte.

»Da Sie sich anscheinend so gut mit Namen auskennen, wissen Sie auch, was Edmund bedeutet?«

Er wandte den Kopf, sah ihr tief in die Augen und zog sie dann näher an seinen warmen Körper.

216

»Tja«, sagte er, »wenn das nicht auch ein Zufall ist. Es ist ein alter Name, und er bedeutet ›Hüter des Besitzes‹. Und genau das werde ich für Sie sein.«

Lucinda lehnte sich wohlig gegen seinen stützenden Arm und spürte, wie die Sorgen der Woche von ihr abfielen. Sie glaubte nicht an Gott, aber als sie in eine ruhige Straße ein-bogen, bedankte sie sich innerlich bei der höheren Gewalt, die dafür verantwortlich war, dass sie Edmund kennen gelernt hatte. Sie war sicher, dass der Ärger des Tages bald vergessen sein würde, und in gewisser Weise sollte sie Recht behalten.

217

Kapitel vierzehn

Am Dienstag erhielt Fenwick einen Anruf aus dem Gefängnis. Griffiths hatte an Agnes geschrieben, und man würde ihm eine Kopie des Briefes zufaxen. Als Anne ihm das Fax brachte, bat er sie, es vorzulesen, da er seine Le-sebrille vergessen hatte. Mittendrin hielt sie inne und blickte ihn verwirrt an.

»Das ist alles ein bisschen konfus, finden Sie nicht auch?

Erst lässt er sich über irgendein Buch aus, dann über das scheußliche Leben im Gefängnis und dass er seine Berufung vorbereitet. Das Fax ist schlecht lesbar. Ich ruf im Gefängnis an, die sollen eine Kopie per Post schicken.«

Er war gerade im Büro von Superintendent Quinlan, als die Zentrale anrief, dass jemand von der Londoner Polizei mit dem Chief Inspector sprechen wolle.

Quinlan blickte Fenwick fragend an, doch der schüttelte nur den Kopf.

»Keine Ahnung, worum es geht. Was dagegen, wenn ich das Gespräch hier annehme?«

»Überhaupt nicht, ich bin genauso neugierig wie Sie.«

Quinlan stellte das Telefon laut, damit er mithören konnte.

»Fenwick am Apparat.«

»Hier spricht Superintendent MacIntyre. Sie haben letzten Freitag im Kriminalcomputer nach Gewaltdelikten recherchiert, bei denen den Opfern Finger amputiert wurden.«

Quinlan blickte ihn verärgert an, und Fenwick zuckte halb 218

entschuldigend mit den Schultern. »Darf ich fragen, warum?«

Fenwick erklärte es rasch, wobei er nicht nur Griffiths’

Straftaten in Harlden erwähnte, sondern auch die Informationen, die er aus Telford und Birmingham erhalten hatte.

»Wieso interessieren Sie sich dafür, Superintendent?«

»Ich ermittle hier in einem Mordfall. Eine junge Frau. Ihr wurde ein Zeigefinger abgeschnitten. Sie war nicht zur Arbeit erschienen, und eine Kollegin hat sich Sorgen gemacht und dann die Leiche gefunden. Ich habe noch keinen genauen Todeszeitpunkt, aber sie war seit mindestens achtundvierzig Stunden tot.«

»Sagen Sie, ist sie Mitte zwanzig, dunkles Haar, schlank, vielleicht Studentin oder beruflich erfolgreich?«

»Ja – entspricht das den Opfern in Ihren Fällen?«

»Haargenau. Und wurde sie brutal geschlagen und vor oder nach Eintritt des Todes verstümmelt?«

»Ja …« Fenwick hörte das Zögern in der Stimme des Mannes und konnte sich den Grund dafür denken.

»Bevor wir weitersprechen, sollten Sie mich als Verdächtigen ausschließen können. Ich kann Ihnen eine schriftliche Aussage geben, und ich habe für das Wochenende und für Freitag Alibis.«

»Danke. Es ist lächerlich, ich weiß, aber Ihre Computerre-cherche und der Mord liegen nun mal zeitlich so eng beieinander.«

»Würde mir an Ihrer Stelle genauso gehen. Ich lasse die Aussage hier aufnehmen und sie Ihnen zuschicken, ja?«

»Einverstanden. Dann können wir uns ausführlich unterhalten.«

Fenwick legte den Hörer auf.

»Wieso haben Sie denn das mit der Aussage angeboten, Andrew? Das ist doch völlig überflüssig.«

219

»Wenn ich mich zu der Zeit für die Fälle interessiert hätte, als in ihnen ermittelt wurde, würde ich das auch so sehen, aber ich habe es erst am Freitag getan, möglicherweise nur wenige Stunden, bevor die Frau ermordet wurde. So was muss überprüft werden. Ich würde das auch tun, egal, ob sich jemand auf den Schlips getreten fühlt.«

»Na, dann beeilen Sie sich. Aber kommen Sie wieder her, bevor Sie MacIntyre anrufen. Die Sache könnte einiges nach sich ziehen.«

Nach fünfzehn Minuten war er wieder da. Quinlan hatte seine nächste Besprechung abgesagt und wartete ungeduldig.

Fenwick schilderte ihm im Groben, was er seit dem Einbruch in Nightingales Wohnung unternommen hatte. Quinlan studierte die Tabellen zu Opfern und Methode gründlich. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wechselte von Verärgerung über Wut zu Besorgnis.

»Sie wollen also sagen, dass Griffiths diese früheren Straftaten auf dem Gewissen hat?«

»Vielleicht. Aber wir haben hier zwei eindeutig unter-schiedliche Methoden, trotz der abgetrennten Finger, und Griffiths ist nicht annähernd einen Meter achtzig groß.«

»Vergewaltigungsopfer überschätzen immer die Größe des Täters. Und da sind auch noch die anonymen Briefe, die wir erhalten haben und die alle Taten miteinander verbinden.«

»Wir könnten es trotzdem mit zwei Tätern zu tun haben, die aber zusammenarbeiten. Ich weiß, so was ist selten, aber es ist schon vorgekommen.«

»Ist Ihnen klar, was das bedeuten würde? Wie konnten Sie bloß mit dieser absurden Untersuchung anfangen, ohne sich vorher mit mir zu besprechen?«

Fenwick wusste, dass er nicht gut dastand. Er hatte ja vorgehabt, Quinlan zu gegebener Zeit zu informieren, aber er 220

wollte die Informationen erst gründlich durcharbeiten, um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, solange ihm ausreichende Beweise fehlten. Als er Quinlan das erläutern wollte, fiel der ihm ins Wort.

»Das spielt jetzt keine Rolle. Haben Sie das hier schon an MacIntyre geschickt?«

»Nein, Sir, Ich dachte, das geht nicht ohne ausführliche Erläuterungen.«

»Da haben Sie verdammt Recht. Haben Sie denn wenigstens anstandshalber den Kollegen zu Rate gezogen, der die Ermittlungen geleitet hat?«

»Ich habe mit Inspector Blite gesprochen«, Fenwick hielt inne und seufzte tief, »als Allererstes, aber er war ziemlich abweisend.«

»Was ich ihm nicht verdenken kann. Er hat die anderen Fälle in Erwägung gezogen, aber die Verbindung war so vage, dass wir beide der Meinung waren, der Sache nicht weiter nachzugehen.«

Quinlans polternder Ton, ganz anders als seine normalerweise sachliche Art, ließ Fenwick aufhorchen.

»Was sagten Sie, wessen Entscheidung es war, der Sache nicht weiter nachzugehen?«

»Es war eine gemeinsame, Chief Inspector.«

Fenwick hörte die Warnung heraus und empfand plötzlich Mitgefühl.

»Ein so wichtiger Schritt muss doch von ganz oben abge-segnet werden, daher sollten wir in dieser Frage wohl auch auf die Position von A.C.C. Harper-Brown Rücksicht nehmen?«

Quinlan drehte sich in seinem Sessel zum Fenster und blickte nach draußen. Während er wartete, dass sein Chef sich wieder beruhigte, ließ Fenwick sich das Dilemma durch 221

den Kopf gehen. Harper-Brown und Blite hatten schon immer einen guten Draht zueinander gehabt, zwei vom selben Schlag, eine häufig nicht gerade hilfreiche Allianz. Fenwick konnte sich vorstellen, was nach Griffiths’ Festnahme passiert war. Blite hatte dieselben Anrufe getätigt wie er, doch statt tiefer zu graben, hatte er mit seinem Kumpel Harper-Brown ein Gespräch unter vier Augen geführt. Es galt, eine Entscheidung zu fällen: ein rascher, aggressiver Prozess gegen einen mehrfachen Vergewaltiger, der seit Monaten in der ganzen Region Angst und Schrecken verbreitete, oder langwierige Ermittlungen aufgrund oberflächlich ähnlicher Beweise. Blites Erfolg wäre ungewiss gewesen, da die Staatsanwaltschaft sich sogar weigerte, aufgrund mangelnder Beweise in dem Mordfall und in zwei der Vergewaltigungen Anklage zu erheben.

Quinlan war vermutlich auch befragt worden, doch da sowohl sein Vorgesetzter als auch der Ermittlungsleiter gegen eine komplizierte Ausdehnung der Untersuchung waren, hatte er wohl nur wenig bewirken können. Nach einer entsprechend zerknirschten Pause ergriff Fenwick wieder das Wort.

»Ich hätte da einen Vorschlag.«

»Ich höre.« Quinlan hielt ihm weiter den Rücken zugewandt.

»Folgendes. Nachdem Griffiths sicher hinter Schloss und Riegel war, haben Sie beschlossen, dass die vagen Ähnlichkeiten mit anderen Straftaten außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs näher untersucht werden könnten, wenn in Harlden mal nicht so viel los wäre. Aufgrund der intensiven Arbeit an der Vorbereitung des Falles für den Prozess und natürlich gerade weil die Ähnlichkeiten so vage waren, konnte nicht sofort damit begonnen werden, aber letzte Woche baten Sie mich, die Akte wieder zu öffnen.«

222

»Warum Sie und nicht Blite?«

»Ich hatte Sie um mehr Arbeit gebeten …«

Quinlan lachte abschätzig. Das würde niemand glauben.

»Na schön, ich wollte etwas Anspruchsvolleres. Ich hatte in den letzten Wochen eine erstaunliche Erfolgsquote, und Sie haben gemerkt, dass ich mich langweilte und einen Fall brauchte, der mich herausforderte. Also haben Sie mich mit der Sache betraut … natürlich erst, nachdem Sie vorher Blite gefragt haben, ob er was dagegen hätte, was nicht der Fall war, da er nach einer längeren Erkrankung zu viel aufzuarbei-ten hatte.«

»Blite wird die Geschichte bestätigen müssen.«

»Was bleibt ihm anderes übrig? Er ist nicht gerade in einer starken Position, oder?«

»Und Harper-Brown?«

»Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm, ich sei noch mitten in der Arbeit gewesen und Sie hätten vorgehabt, ihn bei der nächsten Lagebesprechung zu informieren, aber dann sei der Mord passiert.«

Der Superintendent wandte sich ihm wieder zu und blickte Fenwick aus müden Augen an.

»Na schön. Aber ich werde nicht den Ruhm für Ihre Ei-geninitiative einheimsen. Sie sind der Verbindung zwischen den Fällen nachgegangen, ohne mich hinzuzuziehen, und genau das werde ich sagen. Ich rufe Harper-Brown jetzt an.

Sie reden mit den Kollegen in London und kommen anschließend wieder zu mir. Ich will wissen, was die als Nächstes vorhaben.«

Fenwick war schon fast aus der Tür, als Quinlan hinter ihm herrief: »Haben Sie sich wirklich so gelangweilt?«

Offenheit und Diplomatie kämpften in Fenwick gegenei-nander. Ausnahmsweise gewann die Diplomatie.

223

»Ich hatte nur eine Glückssträhne, mehr nicht.«

MacIntyre war erleichtert, als Fenwick, dessen Alibis inzwischen in London angekommen waren, ihn anrief, und er begann sofort mit der Schilderung des Falles. Lucinda Hamilton war vierundzwanzig gewesen und hatte in Knightsbridge gewohnt. Sie war die mittlere Tochter des Geschäftsführers eines der größten Unternehmen in Großbritannien, der noch dazu eng mit dem Innenminister befreundet war. Der Fall hatte höchste Priorität.

Lucinda war am Morgen um zwanzig nach zehn von einer Kollegin tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Sie war geschlagen, vergewaltigt, gewürgt und erstochen worden, und ihr war ein Zeigefinger abgeschnitten worden. Man hatte bislang noch keine Spuren des Täters sichern können. Er hatte die Leiche gewaschen und in der Wohnung den reinsten Frühjahrsputz veranstaltet. MacIntyre hoffte, dass in den Ab-flussrohren Spuren zu finden wären, aber Fenwick hatte seine Zweifel. Auch in den Harlden-Fällen hatte der Täter keinerlei Spuren hinterlassen.

Fenwick schickte seine Analyse der vorherigen Fälle nach London und ging wieder zu Quinlan, der sein Telefonat mit Harper-Brown beendet hatte und entspannter wirkte.

»Wir sollen die Londoner Kollegen unterstützen, wenn wir dafür nicht zu viele Leute abstellen müssen. Harper-Brown ist einverstanden, dass Sie die Zusammenarbeit mit London koordinieren, weil Sie da ja schon gearbeitet haben.«

Als MacIntyre anrief, beschrieb Fenwick die mögliche Amtshilfe der Harldener Polizei bei der anstehenden Ermittlungsarbeit. Er formulierte sehr vorsichtig und betonte wohl-weislich, dass MacIntyre selbstverständlich bei allen Dingen, die mit dem Mord in Knightsbridge zu tun hatten, absolute Weisungsbefugnis habe. Er hatte sich während seines Inter-224

mezzos in London Takt angeeignet, der seine typische Schroffheit mäßigte, jetzt jedoch vergeblich war: Harper-Brown hatte die Londoner Kollegen bereits angerufen, und ein gereizter Unterton in MacIntyres Stimme warnte Fenwick, behutsam vorzugehen.

»Ich wollte Ihnen vorschlagen, dass ich heute und morgen die hiesigen Fälle noch einmal durchsehe und erneut mit den Opfern spreche, falls sie dazu bereit sind. Außerdem werde ich Ihnen eine Akte mit Fotos zusammenstellen, damit Sie die Verletzungen mit denen von Lucinda Hamilton vergleichen können.«

MacIntyre nahm das Friedensangebot an.

»In Ordnung. Wir brauchen außerdem Phantombilder von dem Verdächtigen. Zeugen haben gesehen, wie Lucinda am Freitagabend zusammen mit einem Mann, der in der Gegend unbekannt war, einen Pub verlassen hat.«

Eine halbe Stunde später brachte Anne ihm einen Briefumschlag aus dem Gefängnis.

»Die Fotokopie von Griffiths’ Brief ist gekommen.«

Sie zeigte ein ungewöhnliches Interesse an diesem Schreiben und errötete, als Fenwick sie anblickte.

»Möchten Sie mir irgendwas sagen, Anne?«

Sie wich seinem Blick aus und starrte weiter auf den Brief.

»Was halten Sie von Graphologie?«

»Ich weiß gar nicht genau, was das ist.«

»Handschriftendeutung.« Sie sprach rasch weiter, bevor er etwas sagen konnte. »Ich mache gerade einen Kurs darin. Ich bin zwar noch Anfängerin, aber meine Lehrerin ist fantastisch.

Sie könnte sich den Brief doch mal ansehen.«

»Nein, nein. Ich möchte nicht, dass Außenstehende das lesen. Ich bezweifle, dass sie uns helfen könnte.«

»Sie könnte Ihnen sicher mehr über Griffiths’ Charakter 225

erzählen. Ich weiß, es ist eine ausgefallene Idee, aber es könn-te was bringen.«

Es kam selten vor, dass sie sich in seine Ermittlungen einmischte, daher lehnte er nicht gleich rundweg ab.

»Ich denk drüber nach. Haben Sie der Gefängnisleitung gesagt, dass alle eintreffenden Briefe für mich zurückgehalten werden sollen?«

»Dazu ist ein offizieller schriftlicher Antrag nötig, hat irgendwas mit den Rechten des Häftlings zu tun.«

»Und der Briefumschlag. Ich möchte, dass er vorsichtig angefasst wird, damit keine Fingerabdrücke zerstört werden.

Den Antrag schreibe ich heute noch.«

Voraussetzung für die Bewilligung des Antrags war der hinlängliche Verdacht, dass Griffiths einen Bekannten hatte und dass diese Person Nightingales Stalker war und eine Gefahr für sie darstellte. Doch das war nach wie vor bloße Theorie. Er würde damit nicht durchkommen. Vielleicht würde ihm die Analyse von Griffiths’ Handschrift ja wirklich neue Erkenntnisse bringen. Der Gedanke war absurd, und irgendwelche sich daraus ergebenden Informationen wären nicht verwertbar, doch er brachte Fenwick auf eine andere Idee: Wenn er MacIntyre überreden könnte, den Mord an Lucinda von Profilern analysieren zu lassen, könnte deren Analyse seine Hypothese vielleicht erhärten.

Zunächst würde er sein Verhältnis zu MacIntyre pflegen müssen, und er fürchtete, dass seine Chancen diesbezüglich nicht zum Besten standen, dank Harper-Browns anmaßendem Auftreten. Ein Besuch in London wäre ein idealer Vorwand, die Beziehungen zu verbessern. Er würde alle Informationen mitnehmen, die er hatte, und seinen ganzen Charme spielen lassen.

Die Fahrt nach London ging mit dem Zug normalerweise 226

schneller als mit dem Auto, aber wegen eines defekten Signals hatte Fenwick fast fünfundvierzig Minuten Verspätung. Er wollte sich entschuldigen, doch MacIntyre winkte ab.

Es war Mittwoch. Lucindas Leiche war vor vierundzwanzig Stunden gefunden worden.

»Die Obduktion hat ergeben, dass der Tod vor sechzig bis zweiundsiebzig Stunden eingetreten war. Was sie zwischen einundzwanzig Uhr am Freitag, als sie das Frog and Nightgown verließ, und Samstagabend oder Sonntagmorgen, als sie starb, getan hat, ist bislang unklar. Doch wir haben einen Verdacht.«

MacIntyre hielt inne und öffnete den Obduktionsbericht vor sich. »Es gibt Anzeichen dafür, dass sie vor ihrem Tod gefoltert wurde, und sie wurde mehrfach vergewaltigt, auch anal.«

»Wollen Sie damit sagen, dass er sie am Leben gehalten hat?«

»Sieht ganz so aus. Ich habe es ihrem Vater noch nicht er-zählt, aus nahe liegenden Gründen. Ich möchte erst möglichst sicher sein.«

Fenwicks Blick wanderte automatisch zu den Pinnbrettern an der Wand des Einsatzraumes, an denen Fotos vom Tatort hingen.

»Großer Gott.«

»Passt das zu den anderen Fällen?«

»In Harlden gab es einen Mord, aber die Staatsanwaltschaft hat nicht zugelassen, dass wir einen Zusammenhang zu den Vergewaltigungen herstellen. Die Methode ist ähnlich, obwohl der Täter in dem Fall hier noch brutaler vorgegangen ist. Irgendwelche Spuren?«

»Nichts. Er hat die Leiche gründlich gewaschen und die Wohnung sauber gemacht. Anschließend hat er Bleichmittel 227

in den Abfluss gegossen. In der Küche hat er sämtliche Utensilien, die er benutzt hat, in die Spülmaschine getan, und wir haben nichts.«

»Er hat in der Wohnung gegessen?«

»Offenbar. Er war mindestens einen Tag dort. Wir durchsuchen den Müll, vielleicht haben wir Glück und finden was.

Das einzig Konkrete, was wir haben, sind Zeugenbeschrei-bungen von dem Mann, der mit ihr zusammen die Kneipe verlassen hat.« Er reichte Fenwick ein Phantombild. »Kommt er Ihnen bekannt vor? Er ist groß, etwa einen Meter achtzig, schlank, welliges blondes Haar, braune Augen.«

»Ziemlich allgemein. Irgendwelche besonderen Kennzeichen?«

»Nein, das ist ja mein Problem. Die Zeugenbeschreibun-gen weichen voneinander ab. Das Phantombild, das Sie da haben, ist anhand der zuverlässigsten gemacht worden.«

»Wie hat er sich in der Kneipe verhalten?«

»Charmant und diskret, nach Aussage einer jungen Frau, die neben ihm an der Bar gestanden hat. Der Barkeeper sagt, er habe nicht viel getrunken.«

»Fingerabdrücke?«

»Die Theke wurde nach Feierabend abgewischt und die Hocker hochgestellt, wir wissen also nicht mal, auf welchem er gesessen hat. Wir haben über siebzig individuelle Abdrücke gesichert. Keinen davon haben wir im Computer. Das wird eine langwierige Sache, Chief Inspector. Ich bin Ihnen für Ihre Unterstützung dankbar, und wenn Ihre Ermittlungen irgendetwas ergeben, das uns hier weiterbringt, umso besser, aber im Augenblick rate ich von allzu großen Hoffnungen auf ein baldiges Ergebnis ab.«

Fenwick wusste, dass er hinauskomplimentiert werden sollte, doch er hatte noch etwas auf dem Herzen.

228

»Ich hätte da noch einen Vorschlag – und ich entschuldige mich, falls Sie selbst auch schon daran gedacht haben. Haben Sie einen guten Profiler? Es wäre nämlich durchaus möglich, dass der Mörder von Lucinda und unser Häftling Griffiths etwas miteinander zu tun haben. Oberflächlich betrachtet, sehen die Verbrechen auf meiner Liste aus wie das Werk von zwei Männern. Wenn wir diese Vermutung erhärten könnten, bestünde die Möglichkeit, dass die beiden einander kennen, und dann wäre Griffiths eine echte Spur für Sie. Bei den Möglichkeiten, die Sie hier haben, könnten Sie eine intensive Nachforschung einleiten, in die wir uns einklinken könnten.«

MacIntyre runzelte die Stirn, und Sorgenfalten rutschten ihm bis hinauf in sein schütteres blondes Haar.

»Die Suche nach dem Mörder von Lucinda Hamilton hat für mich Priorität, so einfach ist das. Ich sag Ihnen ganz ehrlich, ich bin nicht überzeugt davon, dass der Mörder etwas mit Ihrem Häftling zu schaffen hat, aber ich bin für alles auf-geschlossen.«

»Danke …«

MacIntyre hob eine Hand. Er war noch nicht fertig.

»Wenn meine derzeitige Ermittlungsmethode nichts bringt, bin ich gezwungen, mir eine andere Strategie zu überlegen. Ich habe bereits eine Profilerin vom Innenministerium angefordert, und der Innenminister hat das FBI um Unterstützung gebeten – weiß der Teufel, warum. Bis dahin schlage ich vor, die Sache nicht zu verkomplizieren.«

Eine Woche verging, ohne dass MacIntyre von sich hören ließ. Fenwick widmete sich wieder verbissen seiner übrigen Arbeit. Seine Sekretärin, Cooper und der Rest seiner Mitarbeiter gingen ihm möglichst aus dem Weg und wünschten sich nichts sehnlicher, als dass seine gute Laune endlich wie-229

derkam. Zehn Tage nachdem er bei MacIntyre gewesen war, rief das Gefängnis an, dass Griffiths wieder einen Brief von Agnes erhalten hatte. Er wurde in einem Plastikbeutel nach Harlden geschickt, wo Fenwick ihn sofort ins Labor gab.

Am Freitag hatte er bis auf die DNA-Analyse sämtliche Ergebnisse von der Untersuchung des Briefumschlags vorliegen und rief Cooper in sein Büro.

»Wir haben einen Satz Fingerabdrücke auf dem Brief gefunden, zwei auf dem Kuvert. Keiner davon passt zu einem in der landesweiten Computerdatei, aber«, er hielt inne, und die Aufregung war ihm anzumerken, »die von dem Brief sind identisch mit einem Teilabdruck aus Nightingales verwüsteter Wohnung.«

Er hatte seit Wochen die Theorie verfolgt, dass es zwischen Nightingales Stalker und Griffiths eine Verbindung gab, ohne einen Beweis dafür zu haben. Dank der Fingerabdrücke sah die Sache nun anders aus.

»Der Brief wurde vor zwei Tagen in Birmingham aufgegeben, und wie wir wissen, ist das Postfach, an das Griffiths schreibt, auch in Birmingham. Das sollte wohl genügen, es überwachen zu lassen. Bisher ist mir die Genehmigung verweigert worden, jetzt können sie mir keine Steine mehr in den Weg legen.«

Er erwähnte nicht, dass er Anne tags zuvor Kopien von den Briefen gegeben und dann extra weggeschaut hatte, als sie sie in ihre Handtasche steckte. Irgendwie glaubte er, dass Cooper dafür kein Verständnis aufbringen würde.

»Was steht drin?«

»Wieder irgendwelcher Unsinn. Zitate aus den Büchern, der eine oder andere Halbsatz. Ungereimtes Zeug. Ich bitte die Gefängnisleiterin, Griffiths beobachten zu lassen, wenn er den nächsten Brief kriegt, mal sehen, was er macht. Ein zwei-230

tes Mal lass ich mich nicht mehr mit dem Argument ›Schutz der Privatsphäre‹ abspeisen.«

Sobald Cooper gegangen war, kam Anne herein. Ihr Gesicht war gerötet, aber nicht vor Verlegenheit.

»Zuerst der Brief von Griffiths. Hier hab ich die Analyse von meiner Graphologielehrerin.«

Während Fenwick das einzelne Blatt durchlas, wurde seine Skepsis von Argwohn verdrängt.

»Was haben Sie ihr erzählt, Anne?«

»Überhaupt nichts, ich hab gesagt, es sei die Schrift von einem Bewerber bei der Polizei, mehr nicht.«

Er glaubte ihr, aber was die Graphologin schrieb, war unheimlich.

Der Bewerber hat eine interessante und komplexe Persönlichkeit. Er existiert gleichzeitig auf mehreren Ebenen. Er wirkt äußerlich ruhig und mag den Eindruck erwecken, fleißig und engagiert zu sein, wozu er durchaus imstande ist, doch er ist schnell gelangweilt. Hinter seiner gespielten Anpassungsfähigkeit verbirgt sich ein unsicherer Charakter mit extremen Stimmungsschwankungen. Er misstraut anderen Menschen, kann aber dazu neigen, sich leicht lenken zu lassen. Er hat ein Faible für Spiele und Beschäftigungen, die rasche Befriedigung verschaffen. Eine Einstellung sollte gründlich überdacht werden.

»Das hat sie aus einem einzigen Brief geschlossen?«

»Ja. Mit dem Original hätte sie noch mehr anfangen können.« Sie reichte ihm ein weiteres Blatt Papier. »Und das ist die Analyse des Briefes, den Griffiths erhalten hat.«

Fenwick las mit ausdrucksloser Miene.

231

Es handelt sich hier um einen schwer fassbaren Charakter, was die Beurteilung schwierig macht. Dennoch lässt sich – mit großem Vorbehalt! – sagen, dass die betreffende Person sehr viel Charme besitzt, redegewandt und schlagfertig ist. Es ist von einer beträchtlichen Intelligenz auszugehen, gepaart mit Waghalsigkeit. Die Person hat Mut und den Drang, Dinge zu tun, die sie an ihre Grenzen bringen. Sie ist völlig auto-nom, hat eine Antipathie gegen Autoritäten und neigt zu Arroganz. Sie hält sich wahrscheinlich für intelligenter als andere.

Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass diese Person andere Menschen manipulieren kann. Auch hier scheinen mehrere Persönlichkeitsebenen vorzuliegen, doch sie sind besser versteckt. Die Person besitzt Leidenschaft, starke sexuelle Energie und neigt eventuell zu Gewalt, obwohl für diese Aussage eine gründlichere Analyse erforderlich wäre.

»Danke, Anne.« Fenwick ließ sich seine tiefe Besorgnis nicht anmerken. Dieser unbekannte Mann war um einiges intelligenter als Griffiths, und er war auf freiem Fuß. Fenwick hatte nicht viele Möglichkeiten, aber eine lag auf der Hand: Er musste dem Gefängnis einen weiteren Besuch abstatten.

Während Griffiths mit Cooper sprach, würde Fenwick die Zelle des Häftlings durchsuchen. Der Besuch müsste auf einen Zeitpunkt gelegt werden, an dem die Insassen beschäftigt waren. Wenn die Aufseher den Mund hielten, würde niemand die Durchsuchung bemerken.

Griffiths hatte noch immer eine Einzelzelle, da Dr. Batchelor ihn für suizidgefährdet hielt. Für die Durchsuchung war das ein Vorteil. Die Zelle war klein und spärlich möbliert: ein Bett, Toilette, Waschbecken, Tisch und Stuhl, ein Regalbrett 232

für die persönliche Habe. Fenwick bat den Aufseher, das Bett zu durchsuchen und unter der Matratze nachzusehen, während er das Regal und den Tisch unter die Lupe nahm. Er fand drei Bücher. Er notierte sich die Titel, überprüfte die Seiten auf Markierungen hin und hielt sie dann auf den Kopf, um zu sehen, was herausfiel. Hinten in einem Reiseführer über die britischen Inseln fand er ein gefaltetes Blatt Papier, das er zum Fotokopieren schickte. Dann setzte er seine Suche fort. Als er eines der Sammelalben aufschlug, schnappte er schockiert nach Luft.

»Um Himmels willen!«

Das Bild war mit schwungvollen Strichen gezeichnet: eine junge Frau in einem zerrissenen Kleid. Die Hände waren so straff um einen Pfahl gebunden, dass die Schultern nach hinten gezogen und der Rücken durchgedrückt war. Das Kleid war vorn aufgerissen und zeigte, dass die Frau darunter nackt war. Den Kopf hatte sie zur Seite geworfen, den Blick von einer dunklen, formlosen Gestalt vor sich abgewandt.

Es war Nightingale, mit fast fotografischer Deutlichkeit gezeichnet, zweifellos nach der Vorlage eines der vielen Zeitungsausschnitte in dem anderen Album. Fenwick setzte sich und schaute sich die nächste Zeichnung an. Wieder Nightingale. Sie sah aus wie eine Puppe. Griffiths hatte sie nackt gezeichnet, ausgestreckt auf einem steinernen Altar, die gefessel-ten Arme und Beine gespreizt. Die anatomische Genauigkeit trieb Fenwick die Röte ins Gesicht. Er fand die Vorstellung widerlich, dass Griffiths diese Bilder zeichnete und sich dann daran aufgeilte.

»Wieso dürfen Häftlinge so etwas zeichnen?«

»Das gehört zur Therapie. Dr. Batchelor überwacht ihn.«

Fenwick schüttelte angeekelt den Kopf und legte das Album wieder an seinen Platz zurück.

233

»Wissen Sie, was er mit dem letzten Brief gemacht hat, den er erhalten hat?«

»Ich hatte Dienst und hab ihn beobachtet. Er hat den Brief gelesen, sich was aufgeschrieben, dann in seinen Büchern gelesen, wieder was geschrieben, und dann wurde das Licht ausgemacht.«

»Was macht er sonst so in der Zelle?«

»Spielt stundenlang das Spiel da drüben. Da gibt’s andere, die blödere Sachen machen.«

Fenwick öffnete die Schachtel und prägte sich ein, wie die Steine, das Brett und die Karten lagen. Er packte alles aus und schüttelte den Kopf.

»Kann ich nichts mit anfangen.« Doch als er alles wieder einpackte, sah er, dass das Brett verformt war. Er dachte, dass er es nicht richtig zusammengeklappt hatte, öffnete es und versuchte es erneut, ohne Erfolg. Er fuhr mit den Fingern über die Fläche und an den Kanten entlang.

»Da steckt was drin.«

Der Wärter merkte auf.

»Wahrscheinlich sein Drogenversteck.«

»Das glaub ich nicht.« Er drückte den Spalt in der Brett-kante so weit auseinander, dass er das gefaltete Papier heraus-ziehen konnte. Zwei weitere Bilder, beide von Nightingale.

Auf dem ersten war an der Stelle, wo das Herz gewesen wäre, ein Loch in das Papier gestochen. Das zweite Bild war noch brutaler. Es zeigte eine nackte Frau mit Nightingales Gesicht. Sie lag gefesselt auf einem Altar und hatte eine Wunde in der Brust. Alle Finger waren abgetrennt. Über ihr war eine graue Gestalt gezeichnet. Der Dämonenkönig: schwarze Flügel, Schuppenkleid, ein langer, gegliederter Schwanz und ein aufgerissener roter Mund. Er hielt ein dampfendes blutiges Herz hoch.

234

Fenwick schauderte beim Anblick der überdeutlichen Details, die ihn an den Mord an Lucinda erinnerten.

»Der ist schwer krank.«

Der Aufseher lachte, ein zynischer Klang, der den Detective ärgerte.

»Da ist der gute Doktor aber anderer Meinung. Er denkt, Griffiths geht es allmählich besser.«

»Blödsinn!«

»Das sagen Sie, und ich gebe Ihnen sogar Recht, aber Batchelor ist nun mal der Fachmann. Wer hört schon auf uns?«

Er blickte auf das Bild in Fenwicks Händen. »Aber zeichnen kann er, was? Wer wohl die Modelle sind?«

Fenwick blickte den Aufseher an, dann wieder auf das Bild. Erst jetzt sah er, dass das Gesicht des Dämonenkönigs gar nicht das von Griffiths war.

»Haben Sie hier einen Farbkopierer?«

»Vielleicht im Sekretariat, aber ich glaub nicht.«

»Dann muss ich es mir ausleihen, um eine Kopie zu machen, aber Griffiths darf nicht merken, dass es weg ist. Haben Sie eine Idee?«

»Wir könnten das Spiel für ein paar Tage konfiszieren. Er wird durchdrehen, und Batchelor wird uns aufs Dach steigen, aber was soll’s«, er lächelte, »geschieht dem perversen Dreck-sack ganz recht.«

Auf dem Parkplatz erzählte Fenwick Cooper, was die Durchsuchung der Zelle ergeben hatte, und zeigte ihm das Bild. Der Sergeant wurde rot.

»Erkennen Sie das Gesicht – das von dem Mann, meine ich?«

»Nein.« Er faltete das Bild peinlich genau zusammen und gab es Fenwick zurück.

»Ich aber, glaube ich zumindest. Wir brauchen eine gute 235

Kopie davon, möglichst schnell, damit wir das Original zu-rückbringen können – machen Sie das? Ich schaue in der Zwischenzeit noch mal bei dem guten Doktor vorbei.«

Dr. Batchelor hatte gerade eine Patientin bei sich, so dass Fenwick zehn Minuten warten musste. Als die Patientin durch eine Seitentür die Praxis verließ, hörte Fenwick Schluchzen aus dem Treppenhaus.

Batchelor öffnete die Tür und verzog das Gesicht, als er Fenwick warten sah.

»Sie schon wieder. Ich dachte, ich hätte Feierabend, Cynthia.«

»Ich muss noch einmal mit Ihnen über Wayne Griffiths sprechen.«

Batchelors Mund wurde zu einer dünnen Linie.

»Der Mann ist im Gefängnis. Können Sie ihn nicht endlich in Frieden lassen?«

»Bitte, Doctor, ich bin einer von den Guten. Bei unserer Personalknappheit möchte ich auch nicht länger Zeit und Energie für einen Mann verschwenden, der bereits verurteilt ist. Ich hoffe, durch das Gespräch mit Ihnen die Sache endlich ad acta legen zu können.«

»Hmm.« Batchelor beäugte ihn misstrauisch, »Ich gebe Ihnen fünf Minuten. Cynthia, gucken Sie auf die Uhr und sagen Sie mir Bescheid, wenn die Zeit um ist.«

Fenwick brauchte einen Augenblick, um sich einen Eindruck von der Umgebung zu verschaffen, denn er war zum ersten Mal im Sprechzimmer des Psychiaters. Der Teppich war aus warmer, burgunderroter Wolle, die Couch und der Stuhl des Arztes aus farblich passendem Leder. Die Wände waren in einem dunklen Cremerosa gestrichen und mit ab-strakten Bildern behängt, die Spiralen und Röhren zeigten 236

und aussahen, wie auf dem Flohmarkt erstanden. Doch der Schreibtisch überzeugte Fenwick vollends davon, dass er es mit einem Egozentriker zu tun hatte, der sich anmaßte, die Welt erretten zu können. Die Platte war aus dickem Rauch-glas auf vier Stahlbeinen mit Querverstrebungen zur Verstärkung. Und sie war völlig leer. Sogar das dunkelrote Telefon stand auf einem Schränkchen daneben.

Er nickte anerkennend mit ausdrucksloser Miene.

»Ist das Gefühl, in den Mutterschoß zurückzukehren, eine Hilfe für Ihre Patienten?«

»Scharfsichtig, Chief Inspector, aber das bringt mich nicht dazu, Ihnen was zu erzählen.«

»Mich würde bloß interessieren, wie Sie Griffiths als Menschen einschätzen, nicht als Kriminellen. Seine Stärken, Interessen, sein Charakter, wenn Sie so wollen.«

Batchelor sagte lange nichts. Er hatte Fenwick nicht aufgefordert, Platz zu nehmen, sondern hatte sich in seinen Leder-sessel hinter dem Schreibtisch gesetzt, die Hände flach aneinander gelegt und erhoben, die Fingerspitzen an den Lippen.

»Ich werde Ihnen nicht meine klinische Einschätzung des Patienten verraten.«

»Natürlich nicht.«

»Aber ich bin bereit, bestimmte Fragen zu beantworten, wenn ich finde, dass sie hinlänglich allgemein gehalten sind.«

Fenwick verbarg seine Verärgerung über das Machtspiel-chen des Mannes mit einem einwilligenden Nicken.

»Also gut. Ist er intelligent?«

»Ja.«

»Ist er künstlerisch begabt?«

»Oh ja.«

»Das ist sicherlich hilfreich für die Therapie.«

»Kein Kommentar.«

237

»Hat er viel Phantasie?«

»Eigentlich nicht.«

»Wenn er etwas zeichnet, dann malt er also praktisch das nach, was er kennt?«

»Könnte man so sagen. Ich weiß wirklich nicht, was das hier soll.«

»Es ist hilfreich, glauben Sie mir. Dann würden Sie also sagen, dass er gut aus dem Gedächtnis zeichnen kann?«

»Ja.« In seiner Stimme schwang ein gereizter Unterton mit.

»Ein anderes Thema. Hält er sich an Regeln?«

»Ja. Er hält Regeln für sehr wichtig. Deshalb ist er auch in THE GAME so gut, und deshalb ist er noch nicht verrückt geworden, obwohl er zu Unrecht im Gefängnis sitzt.«

»Sie glauben also, dass die Geschworenen sich getäuscht haben?«

»Meiner Meinung nach hat die Polizei ihn eindeutig in ei-ne Falle gelockt.«

»Und was ist mit dem Überfall auf meine Kollegin?«

»Ich gebe zu, dass Griffiths ein paar Probleme hat, er kann nicht gut mit Enttäuschungen umgehen.«

»Macht er in der Therapie Fortschritte?«

»Ausgezeichnete Fortschritte. Sollte es in seinem Fall zu einer Berufung kommen, hätte ich keine Bedenken, zu seinen Gunsten auszusagen.«

Es klopfte an der Tür. Fenwick reagierte sofort.

»Bin schon weg. Danke, Doctor«, er hielt inne, »Sie haben mir sehr geholfen.« Aus den Augenwinkeln konnte er Batchelors konsternierten Gesichtsausdruck sehen, und er gönnte sich ein lautloses Lachen.

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Kapitel fünfzehn

Einer der wenigen Fahrgäste im verspäteten Nachtzug nach Birmingham döste vor sich hin, als der Schaffner ihn sachte an der Schulter rüttelte. Der Mann schreckte auf, und seine Hand packte das Handgelenk des Schaffners.

»He, immer mit der Ruhe Ich will ja bloß Ihre Fahrkarte sehen.« Die sanfte walisische Stimme klang harmlos und das gefährliche Licht in den Augen des Fahrgastes erlosch.

Der Schaffner knipste die Fahrkarte ab und ging weiter, ohne zurückzuschauen, aber er spürte den Blick des Mannes im Rücken, sodass die Stelle zwischen seinen Schulterblättern juckte. Sobald er das Abteil verlassen hatte, eilte er durch die übrigen leeren Waggons und schloss sich in seinem Dienstabteil ein. Er sprach über Funk mit dem Lokführer, bloß um eine freundliche Stimme zu hören, und rutschte dann auf der Bank ein Stückchen weiter, sodass er den schweren Feuerlö-

scher in Reichweite hatte. Der Schaffner, Eddie, wie seine Freunde ihn nannten, war in jüngeren Jahren ein ganz passab-ler Mittelgewichtsboxer gewesen. So bedroht hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er in seinem letzten Kampf zu Brei geschlagen worden war. Ihn schauderte.

Er sah, wie der Mann an der Endstation ausstieg. Statt direkt nach Hause zu fahren, wo eine vorgekochte Mahlzeit, eine Flasche Bier und das Bett auf ihn warteten, setzte Eddie sich auf einen kalten Metallstuhl im Bahnhof und notierte 239

sich eine Beschreibung des Fahrgastes. Der Mann war groß, gut einen Meter achtzig, hatte blondes, leicht welliges Haar, markante Gesichtszüge und trug ein teures Sakko zu einer schicken Hose. Der Rucksack hatte ein Logo, das er nicht kannte, deshalb machte er eine Zeichnung davon. Eddie faltete das Blatt Papier zusammen und steckte es sich in die Tasche. Im Fall der Fälle würde er sich nicht auf sein unsicheres Gedächtnis verlassen müssen. Durch die vielen Schläge, die er als Boxer eingesteckt hatte, war es unzuverlässig geworden, weshalb er sich ständig Notizen machte. Sein größtes Problem war, sich daran zu erinnern, dass er sich welche gemacht hatte.

Am nächsten Morgen stieg der Mann mit dem Rucksack ein paar Meilen von der walisischen Grenze entfernt aus einem Bus und atmete tief die saubere Luft ein. Er hatte Einkaufstü-

ten dabei, deren Gewicht ihn nur wenig störte, während er zu Fuß die drei Meilen zum Rand eines vertrauten Dorfes ging, von wo aus er über einen Pfad in den Wald gelangte.

Die Ferien-Cottages hier in der Gegend stammten aus den sechziger Jahren. Sie lagen weit auseinander, so dass man ungestört war, und boten Aussicht auf einen See in der Ferne.

Ein Cottage lag ein gutes Stück abseits vom Weg. Er nutzte es als Unterschlupf, wenn er Ruhe brauchte und wieder zu sich finden musste, normalerweise nach einem »Ereignis«, wie er seine Arbeit nannte. Er war etwa zweimal im Jahr hier, aber zu keiner festen Jahreszeit.

Das Cottage war eigentlich ein Bungalow mit einem zu-sätzlichen Schlafraum unter dem Dach. Im Laufe der Jahre hatte er die alte Einrichtung ausrangiert und neue Möbel gekauft: Feldbett, einen einfachen Kleiderschrank, Schreibtisch, Kommode, Fernseher und einen Sessel. Nur die Küche war 240

unverändert. Er konnte weder Wasser- noch Elektroleitungen verlegen und hatte deshalb alles beim Alten gelassen, trotz der Erinnerungen, die in jeder Ecke lauerten.

Er machte sich Tee und holte dann das Haschisch hervor, das er im Brotkasten versteckt hatte. Die mäusesichere Verpackung war intakt, und er drehte sich einen Joint. Er ging mit der Tasse Tee und dem Joint ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. In einer Schublade hatte er eine Sammlung Videos mit Gewaltpornos. Er suchte seinen Lieblingsfilm heraus und überließ sich eine Stunde lang seinen Phantasien, wobei das fiktive Geschehen auf dem Bildschirm mit den frischen Erinnerungen an tatsächlich Passiertes verschmolz.

Er fiel in einen zufriedenen Schlaf und wachte um fünf am nächsten Morgen auf. Das Frühstück bestand aus reichlich Schinken mit Eiern aus seinen neuen Vorräten. Er fühlte sich gestärkt, aber ruhelos, brannte darauf, wieder so zu leben wie vorher, doch das war unmöglich. Es war idiotisch von Griffiths gewesen, sich schnappen zu lassen, und er war enttäuscht von ihm.

Jahrelang hatten sie in einer lockeren Partnerschaft zusammengearbeitet, mit wachsendem Selbstvertrauen, je geschickter und einfallsreicher sie wurden. Es hatte sie regelrecht süchtig gemacht, offen über ihre Erlebnisse zu sprechen und doch völlig unabhängig zu operieren. Er war von ihnen beiden der Klügere, Kühnere und Originellere. Griffiths bewunderte ihn zu sehr, um ein würdiger Partner zu sein, aber man konnte sich mit ihm arrangieren. Im Unterbewusstsein war Griffiths’ Heldenverehrung eines der Dinge, die der Mann vermisste.

Und nun musste er ihn irgendwie aus dem Gefängnis holen. Es war zu ärgerlich. Die Spielerei mit Verschlüsselungen und Büchern war ja ganz amüsant gewesen, aber der Reiz 241

verschwand allmählich, und die Polizei hatte zwischen dem Tod der Frau in London und den Taten, die Griffiths ins Ge-fängnis gebracht hatten, keine Verbindung hergestellt. Er hatte ihr einen Finger abgeschnitten und ihn später von einer Brücke in die Themse geworfen, weil er keinen Wert für ihn hatte. Selbst der dümmste Bulle hätte sich doch denken können, dass da eine Verbindung bestand!

Er scheute davor zurück, einen Brief zu schicken. Erst letzte Woche hatte er in einem Krimi im Fernsehen gesehen, wie ein Mann erwischt wurde, weil er Briefe geschickt hatte, obwohl er vorsichtig vorgegangen war. Er wollte kein unnö-

tiges Risiko eingehen. Und wenn er anrief? Das wäre eine Möglichkeit, aber es kam ihm unbeholfen vor, und er wollte, dass seine Methoden elegant waren. Wie der Psychoterror, den er bei der Polizistin angewandt hatte. Bloß dass sie nicht mehr in ihrer Wohnung gewesen war, als er beschlossen hatte, der Sache ein Ende zu setzen. Der Vogel war ausgeflogen.

Jetzt musste er mit der Suche nach ihr ganz von vorn anfangen, aber er fand, dass sie es wert war. Normalerweise war er kein Freund davon, Pläne machen zu müssen, denn er verließ sich lieber auf seine Inspiration, wie am letzten Wochenende.

Er musste lächeln bei der Erinnerung. Er hatte sich über vierundzwanzig Stunden mit ihr amüsiert, bis ihre Freundinnen anriefen, die sie auf einer Party vermissten, und er dem Spaß ein Ende bereitete.

Seine Ruhelosigkeit rührte zum Teil daher, dass er nicht recht wusste, wie es weitergehen sollte. Das kam selten vor, und es musste schnell aufhören. Er sah auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass es Zeit war aufzubrechen. Er blieb selten sehr lange an einem Ort. Sein Motorrad stand hinter dem Cottage, abgedeckt mit einer Plane. Es war eine unauffällige, aber starke Maschine. Er gab Gas und fuhr vorsichtig 242

zu dem Parkplatz des Naturschutzgebietes, wo er verabredet war.

Sie wartete auf ihn, und ihr Gesicht sah angespannt und nervös aus. Seine Wut wallte auf wie immer, wenn er sie nach einer längeren Trennung wieder sah. Sie war nutzlos.

Wie sie schon wieder aussah, in ihrer unmodischen Kleidung, die das, was von ihrer Figur noch übrig war, in keiner Weise günstig beeinflusste. Ihr Gesicht sagte alles, der ängstliche, verhuschte Blick, die rissigen Lippen. Er verachtete die Angst ihn ihr, trotzdem war sie gerade deshalb seine ideale Gefähr-tin.

Er hielt ein Stück von ihrem Wagen entfernt und stieg von der Maschine. Seine Ledermontur knarrte, und sein Gesicht war teilnahmslos, doch ihre Miene verriet jeden Gedanken, während sie seinen Ausdruck musterte, hoffnungsvoll und furchtsam zugleich. Sie versuchte abzuschätzen, ob er in guter oder schlechter Stimmung war. Tja, er würde sie raten lassen.

In drei großen Schritten war er bei ihr. Mit der linken Hand packte er ihre langen, blonden Haare und drehte sie so, dass sie gezwungen war, das Gesicht zu seinem zu heben. Er beugte sich vor und küsste sie, presste seinen Mund fest auf ihren, bis er ihre Zähne knirschen spürte und süß-salziges Blut in ihrem Speichel schmeckte. Mit der freien Hand griff er unter ihre Jacke und drückte ihre Brüste, bis sie vor Schmerz, vermischt mit Lust, wimmerte.

Der Laut erregte ihn, und er zog ihr die Jeans herunter, öffnete dann seinen Hosenschlitz. Er nahm sie rasch und heftig auf der Motorhaube des Wagens. Später am selben Abend würden ihn die Blutergüsse an ihrem Gesäß erneut erregen, und er würde sie noch einmal nehmen.

Als er fertig war, machte er seine Hose wieder zu, trat zu-243

rück und zündete sich eine Zigarette an, während sie ihre Jeans von dem dreckigen Schotterboden hochzog. Erst als er aufgeraucht hatte, sprach er mit ihr.

»Ich übernachte heute in der Wohnung.«

»Warst du bei Wayne?«

»Was geht dich das an?« Vor Wut über ihr Interesse klang seine Stimme hart. »Er ist ein Nichts. Ich bin deine einzige Familie. Vergiss das nie, Wendy.« Er benutzte selten ihren Namen, und sie musste trotz seines schroffen Tonfalls lä-

cheln.

»Entschuldige, Dave.« Sie senkte unterwürfig den Kopf.

»Zeit, dass wir hier wegkommen.«

Er fuhr bis nach Birmingham hinter ihr her, wobei er immer ein paar Fahrzeuge zwischen ihnen ließ, und er war sicher, dass sie genauso fügsam bleiben würde, wie er es brauchte.

Wendy schlief, und es war noch dunkel draußen, als er wach wurde. Er hatte von Lucinda geträumt, wie sie ans Bett gefesselt war, und es hatte ihn wieder erregt. Ohne Wendy zu wecken und ohne irgendein Vorspiel rollte er sie auf die Seite und nahm sie. Sie schrie auf, doch die Laute veränderten sich von Schmerz zu Lust, während er weitermachte. Sobald er fertig war, stand er auf. Sie streckte die Hand aus, um ihn zurückzuziehen, doch er achtete nicht auf sie.

Das zweite Zimmer in der Wohnung war sein Reich. Sie durfte darin weder Staub wischen noch saugen, und er hielt die Tür abgeschlossen, wenn er nicht da war. Er hatte den einzigen Schlüssel, und der Computer war durch ein Passwort geschützt. Trotzdem blieb er kurz an der Schwelle stehen und überprüfte, ob im Zimmer alles so war, wie er es zurückgelassen hatte. Er meinte, dass der Stuhl ein wenig anders stand, doch alles andere war genau, wie es sein sollte, 244

und er gab sich damit zufrieden. Bevor er sich setzte, machte er weit das Fenster auf und klemmte die angelehnte Tür fest, damit sie nicht zufiel.

Sein Computer war ein neues Modell mit Internetzugang.

Er loggte sich rasch ein und überprüfte die Mailbox. Es war keine Nachricht von ihr gekommen, und er fluchte laut. Seit der Gerichtsverhandlung hatte er sie nicht mehr zu einer Partie THE GAME verlocken können. Er und Wayne hatten gut verdient, als sie beide an der Entwicklung des Computerspiels mitgearbeitet hatten, und sie würden auch jetzt noch Geld scheffeln, wenn sie die Firma nicht hätten verlassen müssen. Daran war Griffiths schuld gewesen. Er neigte nun mal dazu, sich zu sehr auf jemanden zu versteifen, bis das Objekt seiner Aufmerksamkeit sich irgendwann beschwerte. Janie, das Miststuck, hatte offiziell gegen sie beide Beschwerde eingereicht. »Sexuelle Belästigung« stand in Waynes Kündi-gungsschreiben. Eine verdammte Überreaktion.

Nachdem sie gefeuert worden waren, wollte Wayne Janie eine Lektion erteilen, aber das hatte er ihm ausreden können.

Stattdessen hatten sie sich ihre Schwester vorgenommen, die noch die Oberstufe besuchte. Wayne hatte sie in einem Park vergewaltigt, und als er zurückkam, hatte er noch ihr jung-fräuliches Blut an sich, was gegen die Regeln verstieß. Drei Wochen später hatten sie Janie heimlich verfolgt, als sie am Samstagabend mit einer Gruppe Freundinnen ausging. Eines von den jungen Mädchen war besonders attraktiv, und er war ihr nach Hause gefolgt. Sie hatte ein möbliertes Zimmer irgendwo am Rande von Birmingham, und nachdem er das Haus eine Stunde lang beobachtet hatte, war er sicher, dass sie allein war. Er hatte sich aus weißem Papier einen steifen Priesterkragen gefaltet und in einem Kiosk an der Ecke ein paar Ausgaben der Kirchenzeitschrift »The Big Issue« gekauft.

245

Dann hatte er mit den Zeitschriften unterm Arm bei ihr an die Tür geklopft.

In der Woche darauf war überraschend die Polizei bei ihm aufgetaucht. Zum Glück war Wendy zu Hause gewesen und hatte für ihn gelogen, wie er es von ihr erwartete. Er war ruhig geblieben, und das nicht nur, weil er wusste, dass er in der Wohnung der jungen Frau keine belastenden Spuren hinterlassen hatte. Der Detective Sergeant, der ihn befragte, wollte nicht sagen, wie sie auf seinen Namen gekommen waren, aber er konnte es sich denken, als sie Fragen nach Wayne stellten. Janie hatte ihnen einen Tipp gegeben, klar.

Sobald die Polizei gegangen war, hatte er Wayne auf dem Handy angerufen und ihm gesagt, er solle sich aus dem Staub machen und bloß den Mund halten, falls sie ihn erwischten.

Er hatte gepackt und war am selben Tag abgehauen, nicht ohne Wendy vorher noch kurz für ihre Loyalität so zu be-lohnen, wie sie es am liebsten hatte. Seitdem kam er nur noch nach Birmingham, um sie bei Laune zu halten.

Er klickte sich bei den speziellen Websites ein, die ihm immer die größte Entspannung verschafften. Auf einigen waren Folterszenen zu sehen, auf anderen Kriegsgräuel, doch die meisten zeigten Verletzungen, die Kindern zugefügt wurden. Für Letzteres hatte er nicht besonders viel übrig, sie machten ihn einfach nicht an.

Es klopfte zögernd an der angelehnten Tür, als die schwarze Dunkelheit hinter den Gardinen langsam grau wurde.

»Ich hab dir Tee hingestellt.« Wendy traute sich nie, die Tür weiter zu öffnen.

»Ich will Kaffee.«

Wendys Klopfen hatte ihn aus seinen Träumen gerissen.

Er richtete seine Gedanken wieder auf das Problem, die Polizistin ausfindig zu machen. Es gab eine Möglichkeit, sie übers 246

Internet aufzuspüren, wenn er Glück hatte und sie online ging. Er könnte ihr per E-Mail einen Virus schicken, der sich an Informationen in ihrem Computer heftete und sie zu seinem zurückschickte. Das war zwar nicht einfach, aber er kannte einen genialen Programmierer, der noch immer in der Firma arbeitete. Iain würde ihm helfen, weil er einen Hang zu Kinderpornos hatte und von ihm mal welche bekommen hatte.

Aber vor acht war Iain nie im Büro, also musste er die Zeit bis dahin totschlagen. Er könnte in der Zwischenzeit ein bisschen nett zu Wendy sein, nur um sie daran zu erinnern, was für ein lieber Junge er sein konnte, wenn er wollte. Sie föhnte sich gerade vor der Frisierkommode die Haare, als er hinter sie trat und ihr Kamm und Föhn aus den Händen nahm. Er bürstete ihr das dünne, blonde Haar, bis es glänzte.

Anschließend legte er sich aufs Bett und schaute zu, wie sie in ritueller Abfolge eine dicke Strumpfhose, ein billiges gestreiftes Baumwollkleid, einen Gummigürtel und bequeme Schuhe anzog. Ihre frisch gewaschene Haube hatte sie sicher schon in der Tasche. Er hatte sie einmal fast hübsch gefunden, jetzt war sie lediglich praktisch. Dass sie ihn liebte, wusste er. Dass Griffiths sie liebte, fand er zum Lächeln. Dass sie beide ihn fürchteten, fand er zum Lachen.

In der berauschenden Zeit des Hightech-Booms hatte er Wayne überredet, Wendy die Wohnung zu vermieten. Dadurch war sie an sie beide gebunden, und es war praktisch.

Wenn er großzügig gestimmt war, zahlte er ihr einen Teil der niedrigen Miete. Weder er noch Griffiths hatten ihr je was von ihrem Geld abgegeben, sie musste also mit ihrem Kran-kenschwesterngehalt auskommen. Er hatte den größten Teil seines Vermögens bei einer Privatbank auf der Isle of Man angelegt. Der Rest lag auf einem Konto, das er zusammen 247

mit Wendy hatte. Theoretisch hätte sie das Konto plündern und mit dem Geld verschwinden können, aber er wusste, das würde sie nie wagen.

Sie beugte sich nach unten, um ihm einen Kuss zu geben, doch er drehte das Gesicht weg, so dass ihre Lippen sein Ohr streiften. Er streckte den Arm aus, packte sie am Nacken und zog sie aufs Bett. Er küsste sie so fest auf den Mund, dass sich der rote Lippenstift wie eine offene Wunde auf ihrer Wange verschmierte.

»Komm nicht zu spät wieder«, wies er sie an.

»Bist du dann noch da?« Er sah Hoffnung in ihren Augen und genoss das kurze Gefühl von Macht.

»Vielleicht.«

Er küsste sie wieder und spürte ihre leidenschaftliche Reaktion. Sie mochte es, wenn er sie unsanft anfasste, bis zu einem gewissen Punkt. Er ging stets über diesen Punkt hinaus, damit er sehen konnte, wie sich die Lust in ihren Augen in Furcht verwandelte. Irgendwann würde er bis zum Schluss gehen. Das würde phantastisch werden. Etwas von seinem Verlangen musste sich in seinem Gesicht widerspiegeln, denn Wendy presste ihre Hand gegen ihn, auffordernd, aber er wollte sie nicht so schnell und so leicht.

»Geh jetzt. Und sieh nach, ob ich was im Postfach habe.«

Iain würde erst später ins Büro kommen, sagte man ihm, als er in der Firma anrief. Er verließ die Wohnung, um irgendwo zu frühstücken.

Wendy wartete um die Ecke, bis sie Dave in Richtung Stadt verschwinden sah. Ihre Schicht im Krankenhaus fing erst in zwei Stunden an, aber das wusste er nicht. Sobald er außer Sicht war, lief sie zurück in die Wohnung. Das Herz hämmerte ihr schmerzhaft gegen die Rippen, und ihr zitterten die Hände, als sie den Schlüssel aus der Tampax-Packung 248

nahm, wo sie ihn versteckt hatte. Wenn er dahinterkam, dass sie einen Zweitschlüssel hatte, würde er sie umbringen. Seit Wayne ins Gefängnis gekommen und Dave auf Reisen gegangen war, hatte er ungenutzt in ihrem Badezimmerschrank gelegen. Bis die arme Frau am Wochenende umgebracht worden war.

Sie gab leise, wimmernde Laute von sich, als sie den PC

einschaltete, entsetzt über das Risiko, das sie einging, aber sie musste es wissen. Seit Waynes Verhaftung wurde sie von Zweifeln geplagt. War Dave beteiligt gewesen? Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Wayne auf eigene Faust gehandelt hatte, aber genauso wenig konnte sie sich damit abfinden, dass Dave in die Verbrechen verwickelt war.

Lucinda Hamilton. Dave war an dem Wochenende, an dem sie starb, in London gewesen. Die Hochstimmung, in der er gewesen war, als sie sich mit ihm in Shropshire getroffen hatte, und die Art, wie er sie auf dem Parkplatz zum Sex gezwungen hatte – genauso war er immer gewesen, wenn er von seinen Spritztouren mit Wayne zurückkam. Sie musste einfach wissen, ob ihre Befürchtungen zutrafen. Sie wusste selbst nicht, warum sie das ausgerechnet tat, während er in der Stadt war, aber sie wollte sich nicht noch eine schlaflose Nacht oder einen Tag ohne Appetit zumuten. Sie wollte ihren Verdacht ein für allemal ausräumen, nur deshalb spionier-te sie in seinem Computer. Während der PC hochfuhr, fiel ihr ein, dass sie ja Gummihandschuhe gekauft hatte, und sie ging sie holen.

Nach einem Schinkensandwich kaufte er sich eine Zeitung und ging damit in ein Café, wo es seiner Meinung nach den besten Kaffee in ganz Birmingham gab. Eine hübsche Studentin, höchstens neunzehn, kam herein, und da kein Tisch 249

mehr frei war, fragte sie ihn, ob sie sich dazusetzen könne. Sie hatte lange Beine, schöne Haut und Augen so braun wie Kaffeebohnen. Ab und zu blickte sie kurz zu ihm hoch, dann rasch wieder weg. Ein ziemlich typisches Verhalten. Frauen fanden ihn attraktiv.

Er spielte mit dem Gedanken, sie anzusprechen und mit ihr irgendwo hinzugehen, wo er sich richtig mit ihr verlustie-ren könnte, aber sein geübtes Auge sagte ihm, dass sie wahrscheinlich im Studentenheim wohnte. Außerdem frönte er seinen Interessen nicht mehr so nahe bei sich zu Hause, seit die Polizei ihn fast geschnappt hätte. Während der Kaffee abkühlte und er die Zeitung las, wurde die Vorstellung, sie zu nehmen, jedoch immer reizvoller, und er malte es sich in allen Einzelheiten aus. Als sie sah, dass er sie anlächelte, lä-

chelte sie ebenfalls, und er war drauf und dran, es sich doch anders zu überlegen. Sie forderte ihn ja geradezu auf, und er spürte, dass sie gut sein würde. Sie würde sich wehren. Und er musste ohnehin bald wieder zuschlagen, sonst würde die Polizei noch denken, der Mord an Lucinda wäre ein Einzel-fall, was Griffiths’ Berufung gefährden könnte. Vielleicht konnte er dieses eine Mal das Risiko eingehen. Er beugte sich vor.

»Beverly! Da bist du ja. Ich such dich schon überall.« Eine pummelige junge Frau mit Nickelbrille und Kraushaar dräng-te sich zu ihrem Tisch durch.

»Ich hab doch gesagt, wir treffen uns hier.« Die junge Schönheit ihm gegenüber zog plötzlich eine Schmollmiene, und die Vorstellung, fest auf ihre volle Unterlippe zu beißen, war köstlich.

»Du hast gesagt, bei Starbucks, nicht hier. Egal, mir ist ja noch eingefallen, dass das hier dein Lieblingscafé ist. Los, wir sind schon spät dran.«

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Beverly schaute ihn mit einem enttäuschten Lächeln an, und er hob die Augenbrauen, um sie zum Bleiben zu bewegen. Sie zögerte einen Augenblick. Doch ihre dralle Freundin zog sie weg. Er blickte ihnen nach, leicht frustriert. Es war ohnehin Zeit, Iain anzurufen, und das tat er am besten von zu Hause aus. Er brachte das Tablett mit seiner Tasse wie ein braver Bürger weg und machte sich auf den kurzen Fußweg nach Hause.

Wendy durchsuchte den Schreibtisch nach Daves Passwort.

Sie förderte etwas Dope, ein paar Pornohefte und Unterlagen über ein Konto auf der Isle of Man zutage, von dem sie nichts gewusst hatte, aber keine Spur von dem, was sie sich erhoffte.

Jetzt, da sie tatsächlich an seinem Schreibtisch saß, hatte sie das Gefühl, die schwierigste Entscheidung bereits getroffen zu haben. Das Problem war nur, dass sie schon zweimal ein falsches Passwort eingeben hatte. Beim dritten Fehlversuch würde der PC streiken. Das hatte sie einmal im Krankenhaus erlebt, und dann musste das Passwort zurückgesetzt werden.

Das Risiko konnte sie nicht eingehen – Dave würde es merken, wenn er das nächste Mal an den Computer ging, und dann wäre ihr Leben nicht mehr lebenswert.

Eine leise Stimme riet ihr aufzuhören. Sie hatte sowieso nicht mehr viel Zeit. Wenn sie zu spät zur Arbeit kam, würde das Krankenhaus anrufen und Dave würde merken, dass sie ihn angelogen hatte. Ihre Handflächen waren so nass wie ihre Wangen.

»Ich muss es jetzt machen«, sagte sie sich laut, weil sie wusste, dass sie nie wieder den Mut aufbringen würde.

Sie starrte auf die Buchstaben, die sie notiert hatte, nachdem sie einmal durch den Spalt in der Tür spioniert hatte.

Seine rechte Hand war sichtbar gewesen, und sie hatte ganz 251

deutlich _OU_I_I erkannt. In den Wochen danach hatte sie recherchiert. Im Lexikon hatte sie nur drei Wörter mit den passenden Buchstaben gefunden, und die ersten beiden waren falsch gewesen. Jetzt blieb ihr nur noch eine Chance. Wendy schaute auf den schweißfeuchten Zettel in ihrer Hand und sprach ein stilles Gebet, bevor sie die fehlenden Buchstaben eintippte: H, D, N. Ihr Finger verharrte über der Enter-Taste, dann drückte sie sie mit einem hörbaren Aufschluch-zen.

HOUDINI, der berühmte Entfesslungskünstler. Sein Gesicht tauchte auf dem Bildschirm auf und lächelte sie an. Sie war drin. Sie öffnete den Internet-Explorer und fand seine Web-Favoriten. Dave hatte keine Ahnung, dass sie sich mit Computern auskannte, dass sie heimlich einen Kurs belegt hatte, mit Geld, das sie aus der Haushaltskasse abzweigte. Sie bewegte die Maus auf die Adresse, die er zuletzt aufgerufen hatte. Auch sie war durch ein Passwort geschützt, und als HOUDINI nicht klappte, wählte sie die nächste Website. Bei der fünften hatte sie Glück. Auf der Seite waren sadomaso-chistische Sexfotos, die sie sich ungerührt anschaute. Was sie da sah, war harmlos im Vergleich zu den Realitäten ihres Lebens.

Die Zeit wurde knapp. Sie öffnete die nächste Site, und sah mit Entsetzen Großaufnahmen von Zugunglücken und Naturkatastrophen, die schauerliche Blutbäder angerichtet hatten. Auf einem Bild lag ein abgetrennter Fuß neben einer roten Masse, die aussah wie Tomatenmark mit weißen Bohnen darin. Als sie erkannte, dass es sich um ein zerschmettertes Gesicht handelte, schaffte sie es gerade noch ins Bad. Sie reinigte die Kloschüssel gründlich von ihrem Erbrochenen und sprühte Parfüm in die Luft, um den Geruch zu übertünchen.

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Es kostete sie Überwindung, sich anschließend wieder vor den Bildschirm zu setzen, und sie hatte auch kein großes Verlangen, die Fotos zu sehen, die durch ein Passwort geschützt waren. Sie waren bestimmt noch schlimmer, und schon bei der Vorstellung wurde ihr schlecht. Während sie sich konzentriert ausloggte, damit Dave ihr nicht auf die Schliche kam, versuchte sie vergeblich, alle anderen Gedanken zu verdrängen. Dave mochte diesen Mist, er hatte im Internet danach gesucht und ihn gefunden. Was mochte er sonst noch?

Musste sie sich eingestehen, dass er ein Sadist war, den Schmerz und Gewalt anmachten? Sie kannte die Antwort längst, aber trotz ihres Entsetzens verspürte sie auch Erleichterung. Nichts, was sie entdeckt hatte, deutete darauf hin, dass er zu einem Mord fähig war.

Als Wendy den PC ausschaltete, musste sie sich wirklich sputen. Sie schlüpfte gerade in ihre Schuhe, als sie unten die Haustür ins Schloss fallen hörte. Ihre Nachbarn waren schon zur Arbeit, es konnte sich also nur um Dave handeln. Sie stieß ein Wimmern aus und suchte verzweifelt nach einem Versteck, aber die Wohnung war eine Falle. Ihre einzige Möglichkeit war, durch das Badezimmerfenster nach draußen auf das Flachdach im Erdgeschoss zu klettern. Von dort müss-te sie runterspringen können.

Wendy war kein mutiger Mensch und weder sportlich noch gelenkig, doch der Gedanke, dass Dave sie erwischte, während der PC noch warm war, weil sie ihn benutzt hatte, war entsetzlicher als jede körperliche Anstrengung. Das Risiko mit dem PC würde sie eingehen müssen, vielleicht glaubte er ja, dass das Gerät sich noch nicht abgekühlt hatte, nachdem er es vorhin benutzt hatte. Sie hörte Schritte auf dem Flur im Treppenhaus und sah gleich darauf eine Silhouette in der Milchglasscheibe der Wohnungstür. Sie schnappte sich ihre 253

Tasche, lief ins Bad und schloss die Tür hinter sich, als Dave den Schlüssel ins Schloss steckte. »Bitte Gott, mach, dass er nicht ins Bad kommt«, dachte sie, als sie das Fenster öffnete und die Tasche hindurchschob. Es war schmal, aber vom Klodeckel, auf dem sie stand, konnte sie sich hindurchzwängen und auf das Dach gut einen Meter darunter steigen.

Als sie gerade das Fenster zudrückte, ging die Badezimmertür auf. Wendy tauchte ab, presste sich gegen die Hauswand und betete. Sie hörte, wie der Klodeckel hochgeklappt wurde, und dann ein langes Pinkelgeräusch. Als die Spülung rauschte, zählte sie bis zehn und riskierte dann den Sprung nach unten auf den asphaltierten Hof. Sie blickte sich nicht um, als sie das Tor öffnete und zu ihrem Wagen lief, den sie drei Straßen weiter versteckt hatte.

Während der Fahrt durch den dichten Stadtverkehr ging sie die Bilder in ihrem Kopf noch einmal durch. Als sie beim Krankenhaus eintraf, hatte sie ihre Gedanken unter Kontrolle, Entschuldigungen und Erklärungen parat. In so etwas war sie geübt. Selbstbetrug war verhältnismäßig leicht, wenn die Alternativen undenkbar waren.

Nachdem sie sich einen ganzen Arbeitstag lang um die Traumata anderer Menschen gekümmert hatte, hatte sie wieder halbwegs in ihr altes Schema zurückgefunden, in dem sie in erster Linie darüber nachdachte, ob Dave noch da sein würde, wenn sie nach Hause kam, und falls ja, was sie ihm zum Abendessen kochen sollte.

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Kapitel sechzehn

Nightingale lag im Dunkeln, noch halb im bösen Griff eines schlechten Traums. Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie wieder Albträume hatte, aber nach einem wunderbar tiefen Schlaf in der ersten Nacht hatte sie wiederholt von Griffiths geträumt. Er verfolgte sie nachts durch einen Wald, während ein großer Vogel durch die Bäume flog und Zweige und Blätter auf sie niederregnen ließ. Sie trug ein durchsichtiges grünes Kleid mit nichts darunter. Griffiths war maskiert und viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte.

Jede Nacht wachte sie auf, wenn seine Finger ihr Haar packten und es nach hinten zogen. Als sie sich heute Nacht aus den Tiefen des Schlafes emporkämpfte, hatte sie seinen heißen Atem an ihrem Hals gespürt, Sekunden, bevor sie erschreckt die Augen aufriss. Sie zog sich einen Pullover über das T-Shirt und ging Holz für den Herd suchen, um sich eine Tasse Tee zu machen. Während sie wartete, bis das Feuer das Wasser erhitzte, zündete sie eine Gaslampe an und breitete die Unterlagen aus dem Geheimfach ihrer Tante aus. Sie hatte das schon mehrmals getan, aber sie war noch immer nicht hinter das Geheimnis gekommen.

In einem Tagebuch aus ihrem Geburtsjahr waren Woche-nendbesuche von Freunden erwähnt, die regelmäßig mit einem heftigen Streit zwischen ihren Eltern geendet hatten.

Nightingale sah sich an, wer alles dabei gewesen war. Abgesehen von ihrer Tante und ihren Eltern tauchten jedes Mal 255

drei Namen auf: ein Ehepaar namens George und Amelia Mayflower und eine Frau namens Lulu Bullock, die offenbar ständiger Gast im Hause ihrer Tante gewesen war. Im August fand sie den Eintrag, dass ihr Vater mit seiner hochschwange-ren Frau nur unter der Bedingung zu Besuch käme, dass Lulu während der Zeit woanders wohnte. Tante Ruth konnte Amelia überreden, ihre Freundin solange bei sich unterzub-ringen.

Nightingale sah sich einen Packen Fotos an, während sie den Tee trank, und versuchte, Namen mit Gesichtern zu-sammenzubringen. Die junge Frau, die sie für Lulu hielt, kam ihr irgendwie bekannt vor, und während sie noch überlegte, an wen sie sie erinnerte, fiel sie langsam in einen traumlosen Schlaf.

Ein leises Klopfgeräusch draußen vor dem Fenster weckte sie bei Tagesanbruch. Eine Drossel hatte eine Schnecke im Schnabel und schlug sie entschlossen gegen die Fensterbank.

Die Luft war erfüllt von Vogelgezwitscher, das nach der ver-regneten Nacht triumphierend klang. Die Sonne stand tief und schien durch eine Lücke in den Bäumen. Am Vormittag machte sie oben das Schlafzimmer sauber, das sie sich ausgesucht hatte, und schnitt einen Strauß Heckenrosen, den sie in einem cremefarbenen Tonkrug auf die Frisierkommode stellte.

Sie entschied sich gegen Vorhänge. Ihr gefiel die Vorstellung, im Rhythmus der Sonne aufzuwachen und zu schlafen. Sie war auf dem Weg nach unten, als es an der Haustür klopfte.

»Miss Nightingale, guten Morgen.« Der alte Pfarrer tippte gegen die Krempe seines Hutes. »Ich wollte Sie zur Kirche einladen. Den Frühgottesdienst haben Sie verpasst, aber um elf ist noch einer, falls Sie den Ruhetag des Herrn ehren möchten.«

Er starrte viel sagend auf Schrubber und Eimer in ihren 256

Händen, und in seinen letzten Worten lag deutlicher Nachdruck. Der Pfarrer ging ihr schon wieder auf die Nerven, dennoch verspürte sie plötzlich Lust, in die Kirche zu gehen.

Sie war einfach schon zu lange allein, und es würde ihr gut tun, mal wieder unter Menschen zu kommen.

»Mal sehen, ob ich rechtzeitig fertig werde.« Sie wollte es ihm nicht zu leicht machen.

Er nickte und spähte über ihre Schulter.

»Alle Achtung, das Haus ist ja nicht mehr wieder zu erkennen. Haben Sie das alles allein gemacht?«

»Ich bin allein hier, wenn Sie das meinen.«

»Und nicht nur das Haus. Der Garten ist ja schon wieder so gut wie gezähmt, und Sämlinge haben Sie auch schon gepflanzt, wie ich sehe. Bis später dann.«

Nightingale sah ihn auf dem zerfurchten Weg davonge-hen, den Rock wegen der Pfützen ein Stück hochgezogen und ordentlich unter den Gürtel geklemmt. Wenn der Gottesdienst um elf anfing, musste sie sich beeilen. Sie machte Feuer unter dem Kupferkessel in der Spülküche und füllte ihn mit Wasser vom Bach. In den zwanzig Minuten, bis das Wasser lauwarm war, goss sie das Kräuterbeet. Die Rosmarinbü-

sche waren ausgedünnt, der Zitronen- und Gartenthymian in Form geschnitten und der Salbei auf fast normale Größe ge-trimmt. Während sie arbeitete, erfüllte ein Gemisch von Düften die warme Luft.

Sie schnitt etwas Lavendel ab und warf ihn ins Wasser, dann zog sie ihre Sachen aus, um sich in der Spülküche zu waschen. Als sie fertig war, prickelte ihre Haut und war ganz rosa, ihr Haar glänzte nass, trocknete aber rasch in der zu-nehmenden Wärme. Die Bluse, die sie aus ihrem Koffer nahm, war ein wenig zerknittert, aber der lange geblümte Rock fiel faltenfrei. Sie steckte ihre Perlenohrringe an, 257

schminkte sich die Lippen und legte etwas Parfüm auf. Sie repräsentierte ja schließlich die Nightingales.

Die Glocken läuteten schon, als sie den Wagen parkte. Ei-ne alte Dame, schwer auf einen Stock gestützt, humpelte hastig zur Tür, und Nightingale folgte ihr den Weg entlang. Eiben standen um das Tor Spalier und warfen Schatten auf das von Flechten bedeckte Gras. Eichen und Ebereschen im stol-zen Sommerkleid umringten die Kirche.

Die Kirchentür quietschte laut, als die alte Dame sie aufdrückte, und ein Dutzend Köpfe drehte sich um. Zwei Dutzend Augen wurden vor Verblüffung größer, als sie hinter der Alten eine Fremde hereinkommen sahen. Nightingale ging ein kurzes Stück den Mittelgang hinunter, bekreuzigte sich und kniete kurz nieder, eine Bewegung, die sie in der Kindheit verinnerlicht hatte. Vor sich nahm sie das Raunen alter Menschen wahr, wie trockenes Rascheln. Der Pfarrer kam mit einem Chor herein, der das Durchschnittsalter schlagartig senkte und die Zahl der versammelten Gemeindemitglieder auf zwanzig erhöhte.

Die Organistin spielte die Eröffnungstakte des ersten Kir-chenliedes, und Nightingale fiel ungehemmt mit ein, fest davon überzeugt, dass ihre Altstimme gut ankommen würde.

Während sie sang, beobachtete sie die Organistin, eine Frau etwa im Alter von Nightingales Mutter, die energisch die Register und Tasten bearbeitete und die wenigen Stimmen animierte, ihr Bestes zu geben. Der Gottesdienst verlief traditionell, die Lieder waren dieselben, die sie schon als Kind gesungen hatte. Niemand klatschte, niemand stieß Freuden-rufe aus und niemand schlug ein Tamburin. Es war durchaus möglich, dass dieser Gottesdienst in genau der Form schon vor fünfundzwanzig Jahren abgehalten worden war und jetzt bloß wieder aufgewärmt wurde.

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Als sie ging, wartete der Pfarrer an der Tür, um ihr die Hand zu schütteln. Hinter ihm stand die Gemeinde in kleinen Grüppchen beisammen, scheinbar, um ein wenig zu plaudern, aber Nightingale ließ sich nichts vormachen.

»Ein schöner Gottesdienst. Danke.«

»Danke, dass Sie gekommen sind, Miss Nightingale. Sehen wir Sie nächste Woche?«

»Ich hoffe doch.« Sie schüttelte ihm die Hand, und er wandte sich zum Gehen. »Ach, entschuldigen Sie, könnten Sie mir vielleicht das Grab meiner Tante zeigen?«

Der Pfarrer wurde rot und hielt nach Rettung Ausschau.

»Ich mach das schon, Father Patrick«, meldete sich eine Stimme hinter Nightingale, und als sie sich umdrehte, sah sie die Organistin näher kommen.

»Ach ja, das ist nett, danke, Amelia. Dann überlasse ich Miss Nightingale Ihrer Obhut …« Er flüchtete sich zu den weniger schwierigen Schäfchen seiner kleinen Herde.

»Ich bin Amelia Mayflower. Sie müssen Henrys Tochter sein. Sie haben genau seine Augen. Wirklich erstaunlich«, sie kniff die Augen zusammen und musterte Nightingale unverhohlen, »die Ähnlichkeit ist verblüffend.«

Nightingale behagte es nicht, so in Augenschein genommen zu werden.

»Finden Sie? Normalerweise heißt es, dass mein Bruder Simon meinen Eltern ähnlicher sieht.«

Die Frau wandte sich von ihr ab hob einen dicklichen Arm.

»Das Grab Ihrer Tante ist da drüben.« Sie marschierte los, und Nightingale folgte ihrem breiten Hinterteil in den Schatten der Kirche. Sie fröstelte.

»Da.« Der energische Tonfall wurde sanfter. »Ich lasse Sie einen Augenblick allein.«

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Nightingale traute ihren Augen kaum. Der Grabstein war aus graugrünem Marmor und zeigte keinerlei Altersspuren. Es war die Skulptur einer jungen Frau, die auf einem moosbewachsenen Stein kniete, auf dem wilde Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht wuchsen. Hinter ihr stand eine zweite Frau, die eine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte. Man hätte sie für einen Schutzengel halten können.

Es gab keine Inschrift als Ausdruck von Trauer über das Ableben ihrer Tante, nur ihren Namen und das Geburts-und Todesdatum. Am Fuß der Skulptur waren die Initialen L.B. eingemeißelt. Nightingale merkte, wie ihr die Tränen kamen.

»Sie mochten sie wohl sehr?«

Nightingale blinzelte einmal kräftig, bevor sie sich zu Amelia umdrehte. »Ja. Wir standen uns sehr nahe.«

»Sie hat Sie über alles geliebt. Wie eine eigene Tochter.«

»Haben Sie sie gut gekannt?« Es war eine Testfrage. Sie kannte die Antwort bereits durch die Tagebücher und Fotos, aber sie war neugierig, ob die Frau ehrlich antworten würde.

»Früher einmal sehr gut. Weniger gut, als wir älter wurden. Ich hatte drei Kinder und einen Mann zu versorgen, der immer sehr kränklich war. Ich habe es durchgesetzt, dass das Grabmal aufgestellt wurde. Der Pfarrer war vehement dagegen, aber ohne mich würde er die Gemeindearbeit nicht schaffen, und als ich drohte, in eine andere Kirche zu wechseln, hat er klein beigegeben.«

»Danke.« Nightingale streckte die Hand aus, um die Frau richtig zu begrüßen. »Ich bin Louise, und ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen.«

»Dann haben Sie den Namen also behalten, was? Na ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.« Sie lachte wie über 260

einen Scherz, den nur sie verstand, und ließ Nightingales Hand los. »Möchten Sie noch etwas allein sein?«

»Nein, nein. Ich werde später noch mal mit Blumen herkommen.«

Während sie gemeinsam zurückgingen, plauderte Amelia munter drauflos und erzählte, dass sie mit Louises Tante zur Schule gegangen war.

»Wir waren unzertrennlich, wir drei.«

»Drei?«

»Ihr Vater, Ruth und ich. Es war eine herrliche Zeit. Wie geht es Henry? Er hat schon so lange nichts von sich hören lassen.«

Nightingales Miene verriet ihr wohl, dass etwas nicht in Ordnung war.

»Hab ich ins Fettnäpfchen getreten, was? Wieder mal typisch. Mein verstorbener Mann hat immer gesagt, das sei mein einziges besonders Kennzeichen! Haben sie sich getrennt? Ich hab gewusst, dass das irgendwann passieren würde …«

Nightingale räusperte sich. Sie waren am Friedhofstor angekommen.

»Er ist tot. Er ist Anfang des Jahres gestorben, im Januar.«

Es war, als hätte sie Amelia einen Schlag in den Magen gegeben. Sie bekam keine Luft mehr und sank kraftlos gegen den Torpfosten.

»Oh Gott. Das hab ich nicht gewusst. Henry ist tot …« Sie sprach die Worte aus, als wollte sie ausprobieren, wie sie klangen, und Nightingale sah Tränen in ihren Augen. Instinktiv legte sie der Frau tröstend einen Arm um die breiten Schultern. »Ich hab immer gedacht, ich würde es irgendwie merken, wenn er nicht mehr ist. An welchem Tag genau ist er gestorben?«

»Am 27. Januar.«

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Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das sagt mir nichts. Und ich hab die ganze Zeit gedacht …« Sie schüttelte sich und entzog sich Nightingales schützendem Arm.

»Sie müssen ihn sehr gern gehabt haben.«

»Oh ja, das hab ich. Früher hab ich mal gedacht, wir würden heiraten. Aber da war ich ein dummes Mädchen von achtzehn Jahren. Er ist auf die Universität gegangen und kam mit einem Abschluss und Ihrer Mutter wieder.«

»Und Sie haben auch geheiratet und Kinder bekommen.«

Sie hakte nach, hoffte, mehr zu erfahren.

»Natürlich. George hatte mich immer gewollt. Seine Familie war die reichste in der Gegend, und er war eine gute Partie. Sie hätten sehen sollen, was seine Eltern uns zur Hochzeit geschenkt haben!«

»Was denn?«

»Das Haus, in dem ich noch heute wohne. Stellen Sie sich das vor. Da ist das eigene Schicksal mit einundzwanzig besiegelt. Schwer zu glauben, nicht wahr.«

Nightingale, die noch immer nicht genau wusste, wer sie eigentlich war, geschweige denn, was ihre Bestimmung war, konnte nur nicken. Irgendetwas in ihrer Miene holte Amelia auf den Boden der Tatsachen zurück.

»Aber was plappere ich denn da! Sagen Sie lieber, wie kommt Ihre Mutter denn jetzt klar? Henrys Tod muss ein schwerer Schlag für sie gewesen sein.«

»Sie ist auch tot. Die beiden hatten einen Autounfall. Sie sind zusammen ums Leben gekommen.« Nightingale hatte sich um einen sachlichen, gefassten Tonfall bemüht, doch irgendetwas in ihrer Stimme musste verraten haben, wie stark sie noch darunter litt.

»Um Gottes willen. Sie Ärmste. Und jetzt sind Sie hier ganz allein mit all den Erinnerungen. Sie kommen zum Mit-262

tagessen mit zu mir, nein, ich bestehe darauf. Fahren Sie mit Ihrem Wagen hinter mir her, es ist nicht weit.« Jeder Widerstand war zwecklos.

Mrs Mayflower lebte mitten im Dorf in einem kleinen georgianischen Haus neben dem alten Postamt. Tolles Hoch-zeitsgeschenk, dachte Nightingale, als sie den Wagen abstellte.

Der Duft von Lammbraten begrüßte sie, als ihre Gastgeberin die Tür öffnete.

»Es ist schon alles fertig, bis auf die Soße und das Gemüse.

Schenken Sie sich doch einen Sherry ein, er steht auf der Anrichte. Mir bitte auch. Ich denke, wir können beide einen gebrauchen.«

Sherry war eigentlich nicht nach Nightingales Geschmack, doch als sie die bernsteinfarbene Flüssigkeit für Amelia in ein Glas goss, merkte sie, dass er köstlich nach gerösteten Mandeln duftete. Also füllte sie noch ein zweites Glas und ging mit beiden in die Küche. Ihre Gastgeberin trank, sprach aber nicht, während sie Erbsen kochte und anschließend die Soße anrührte.

»Besteck ist in der oberen Schublade. Die Sets liegen neben ihnen, und Servietten finden Sie im Esszimmer. Gehen Sie doch mit Ihrem Sherry schon mal rüber und decken Sie für sich den Tisch. Ich bin gleich so weit.«

Sie servierte das Essen auf die Teller verteilt, sodass es schön heiß war. Es gab frische Minzsoße, und die Kartoffeln waren knusprig braun.

»Ich gönne mir jeden Sonntag einen Braten, und ich mache immer reichlich, falls eins meiner Kinder unangemeldet auftaucht. Einen Schluck Wein? Ich weiß, Sie müssen noch fahren, aber es gibt einen Schleichweg zur Mill Farm.«

Sie goss sich ein sehr großes Glas ein und ein ebenso gro-

ßes für Nightingale. Während sie aßen, redete Amelia pau-senlos, außer wenn sie kaute und schluckte. Nightingale sah 263

über die Geschwätzigkeit ihrer Gastgeberin hinweg, denn sie fand sie sehr unterhaltsam. Und auch wenn sie hin und wieder etwas Gedankenloses sagte, war es rasch vergessen, denn in ihrem steten Redefluss steckte nur wenig offensichtliche Gehässigkeit.

Amelia entkorkte bereits die zweite Flasche Wein. Nightingale hatte gerade ihr erstes Glas geleert und sah mit einem Stirnrunzeln zu, wie ihre Gastgeberin es großzügig auffüllte.

Bei Käse und selbst gebackenen Keksen erzählte Amelia vom frühen Tod ihres Mannes nach langjähriger Krankheit. Dank eines finanziellen Polsters hatte sie den Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen können, und sie selbst erhielt eine kleine Witwenrente, mit der sie gut über die Runden kam.

Nightingale konnte nachvollziehen, dass eine so resolute und fleißige Frau wie Amelia sich mit Tatkraft für die Dorfge-meinschaft: und die Kirche engagierte.

Beim Kaffee, zu dem Amelia weiterhin emsig dem Wein zusprach, sprachen sie über Tante Ruth.

»Sie war eine gute Freundin. Sie hat mich sehr unterstützt, als George krank war, und auch nach seinem Tod.«

»Ich glaube, die Seite an ihr hat mein Vater gar nicht gekannt.«

»Ihr Vater!« Amelia schüttelte den Kopf und stand auf, um das letzte Geschirr abzuräumen.

»Was ist denn mit meinem Vater? Ich hab ihn eigentlich nie so richtig gekannt.«

Amelia hielt Nightingale den Rücken zugewandt, während sie die Spülmaschine einräumte.

»Ich denke, wir sollten ihn in Frieden ruhen lassen.« Amelia, die vorhin noch schwatzhaft gewesen war, wurde auf einmal verschlossen. Trotz des vielen Weins, den sie getrunken hatte, wollte sie kein Wort mehr sagen.

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Sie tranken Tee im Garten, und nachdem Nightingale die gepflegten Beete gebührend bewundert hatte, unternahm sie einen neuen Anlauf, mehr über ihre Familie zu erfahren.

»Sie haben es wunderschön hier. Ich fühle mich fast wie zu Hause.«

»Kein Wunder. Sie sind ja hier geboren.«

»In diesem Haus?«

Ihre Gastgeberin sah aus, als wäre sie in eine Falle getappt, lachte dann wie ein Schulmädchen.

»Aber nein. Sie sind auf der Mill Farm geboren, mit Ihrem Bruder Simon.«

Sie fächelte sich Luft zu, während Nightingale sie verstohlen beobachtete.

»Und Lulu Bullock, welche Rolle spielt sie in der Geschichte?«

Amelia saß ein Stückchen vor ihr, daher konnte Nightingale ihr Gesicht nicht genau sehen, aber die Wirkung der Frage war auch so zu erkennen. Die Frau erstarrte, die Tee-tasse fiel ihr beinahe aus der Hand. Nach einer längeren Pause sagte sie: »Woher kennen Sie eigentlich Lulus Namen?«

»Nur aus Briefen, die ich im Haus meiner Tante gefunden habe, aber als ich vorhin ihre Initialen auf der Statue am Grab gesehen habe, bin ich neugierig geworden.«

»Sie war eine alte Freundin Ihrer Tante.«

»Soviel ich weiß, hat sie im Jahr meiner Geburt bei ihr gewohnt. Sie war Bildhauerin?«

»Ja, das war sie. Und zwar eine sehr gute.« Amelias Erleichterung über den Themenwechsel war deutlich spürbar.

»Sie hat den Auftrag bekommen, das neue Taufbecken für unsere Kirche zu machen. Das alte aus dem fünfzehnten Jahrhundert war von Vandalen zerstört worden, und wir haben Geld für ein neues gesammelt. Lulus Onkel, der früher hier 265

im Kirchenchor war, hatte versprochen, die Summe, die das Dorf zusammenbrachte, zu verdoppeln, wenn er den Künstler aussuchen dürfte. Alle waren einverstanden, aber dann entschied er sich für Lulu, und die Hölle brach los.«

»Wieso denn das?«

»Na, weil sie eine praktizierende Buddhistin war, die in einer Kommune bei Glastonbury lebte. Stellen Sie sich das bloß vor!«

»Und sie und meine Tante standen sich mal sehr nahe, nicht?«

Amelia wurde knallrot im Gesicht. Dann hatte sie richtig vermutet; Lulu und Tante Ruth waren ein Paar gewesen, und der konservativen Frau da vor ihr war das peinlich.

Durch die Frage schlug die Stimmung des Nachmittags um, und Nightingale beschloss, nach Hause zu fahren. Sie bedankte sich und nahm Amelias Einladung zum Mittagessen am folgenden Sonntag an, um die Verlegenheit, in die sie ihre Gastgeberin unbeabsichtigt gebracht hatte, wieder gutzuma-chen.

Nach dem Gottesdienst am nächsten Sonntag wartete sie innen vor der Kirchentür auf Amelia. Um sich die Zeit zu vertreiben, schaute sie sich das Taufbecken an, das von der Hand der Geliebten ihrer Tante stammte. Das Lamm Gottes stand auf einem Dornenfeld. Dahinter war eine kunterbunte Schar prächtig gestalteter Vögel, Tiere und Fische. Davor erhob sich ein großer und bedrohlicher Wolf, eine Schreckensgestalt mit mächtigen Schultern, heraushängender Zunge, mit Beinen, die so kräftig waren, dass sie endlose Strecken auf der Suche nach Beute zurücklegen konnten, und mit einer empfindlichen Nase, die jedes Tier aufspüren konnte, wo auch immer es sich verbarg.

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Seine Augen waren auf das Gewimmel hinter dem Lamm gerichtet. Und in ihnen las Nightingale einen ewigen Hunger, so groß, dass er die Welt verschlingen konnte. Das war der Teufel, der auf Erden wandelte. In diesen Wolfsaugen erkannte Nightingale die maßlose Lust, Verdorbenheit und Gier all der Menschen wieder, die sie je verhaftet hatte. Einen erschreckenden Augenblick lang fühlte sie sich verwundbar.

Wenn der Wolf endloses Entsetzen bedeutete, so verrieten die Augen des Lammes ewigen Frieden. Sein Blick war das Wesen der Erlösung und der Liebe schlechthin. Doch das Gesicht war traurig, als wüsste es, welches Opfer zur Erret-tung derjenigen, die hinter ihm Zuflucht gesucht hatten, gebracht werden musste.

»So, wir können.«

Nightingale riss sich nur widerwillig los, als würde sie im letzten Moment daran gehindert, eine wichtige Entdeckung zu machen.

Bei Amelia zu Hause wurde sie sofort mit dem Einschen-ken des Sherry beauftragt, während die ältere Frau das Gemü-

se zubereitete.

»In zehn Minuten können wir essen«, rief sie, und Nightingale schlenderte ins Wohnzimmer auf der anderen Seite der Diele. Das hintere Ende des Raumes war in goldenes Sonnenlicht getaucht. Im Schatten an der Tür stand ein Stutzflügel mit aufgeschlagenen Noten. Ein Nocturne von Chopin. Sie erkannte die Melodie, und ihre Kehle schnürte sich zusammen.

Das hatte sie ausgerechnet in der achten Klasse gespielt, als sie vierzehn war, in dem Winter, bevor sie zum ersten Mal von zu Hause weggelaufen war. Sie trank einen weiteren Schluck Sherry und setzte sich an das Instrument.

Ihre Finger waren steif, und sie spielte unsicher die ersten Arpeggios, dann fand sie ihren Rhythmus, langsamer als frü-

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her, aber noch immer sicher. Die Musik legte sich über sie wie ein sanftes Netz, umfing sie mit seidenen Tönen. Die Musik, das Gefühl, Teil von ihr zu sein, die wunderbare Wärme in ihrem Rücken und die Erinnerung an das kunst-volle Taufbecken in der Kirche verschmolzen, bis sie die Verbindung zwischen allem spüren konnte. Alles war, wie es sein sollte, und zum ersten Mal wusste sie, welchen Platz sie darin einnahm.

Sie hob die Augen und sah, dass Amelia sie anstarrte.

»Sie spielen sehr gut.« Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas hinzufügen, doch dann sagte sie bloß: »Wir können essen.«

Während Nightingale es sich schmecken ließ, fragte sie Amelia erneut nach ihrer Familie aus, aber die Gastgeberin parierte die Fragen geschickt, manchmal offen und ausführlich, dann wieder zurückhaltend, indem sie vorgab, etwas nicht zu wissen oder vergessen zu haben. Beim Apfelstrudel mit Eiscreme wechselte Nightingale das Thema und kam wieder auf ihre Tante und Lulu Bullock zu sprechen.

»Ich weiß, dass sie ein Liebespaar waren. Das geht aus dem Tagebuch meiner Tante glasklar hervor. Das muss doch damals ein Skandal gewesen sein.«

Amelia seufzte resigniert auf, während sie sich und Nightingale aus einer frisch geöffneten Flasche Wein nachschenk-te. Sie hatte noch mehr getrunken als die Woche zuvor.

»Ein großer Skandal. Ein Riesenskandal.« Sie drehte ihr Glas zwischen den Fingern und lächelte. Es war kein angenehmes Lächeln. »Aber wenn man in einer so kleinen Gemeinde zur gehobenen Schicht gehört, hat man den Vorteil, dass die Leute einem einiges nachsehen. Ihre Tante, alle Nightingales, genossen großes Ansehen. Und Lulus Onkel war sogar Friedensrichter, noch dazu sehr vermögend.«

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»Die beiden wurden also höflich ignoriert?«

»So könnte man es sagen. Irgendwann fingen die Leute wieder an, mit ihnen zu sprechen.«

»Wieso haben sie sich getrennt?«

Es war eine arglose Frage, aber Amelia wurde rot und nahm einen kräftigen Schluck Wein.

»Manche Beziehungen scheitern nun mal.«

»Und mein Vater? Wie war er eigentlich?«

»Er war ein Nomade, hielt es nirgendwo lange aus und liebte seine Freiheit, bis er Ihre Mutter kennen lernte.« Sie verstummte, blickte sich nach dem Wein um und hob in einer fragenden Geste die Flasche, doch Nightingale schüttelte den Kopf. Irgendetwas stimmte nicht mit Amelia. Sie war freundlich und nett, aber auch ausweichend, als ob sie ihr nicht traute oder etwas zu verbergen hätte.

Was mochte damals geschehen sein, das vielleicht noch skandalöser war als eine lesbische Beziehung? Sie würde ein anderes Mal versuchen müssen, es herauszufinden. Amelia war wieder in die Defensive gegangen, und heute würde sie ihr nichts mehr entlocken können. Nightingale gab der älteren Frau den erwarteten Kuss auf die Wange und lud sie für das folgende Wochenende zum Mittagessen bei sich ein.

Vielleicht würde ja Mill Farm ihr Gedächtnis auf Trab bringen.

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Kapitel siebzehn

Es war Montag, der 15. Juli. Die Schulferien hatten begonnen, und an der Nordküste von Wales tummelten sich die ersten Touristen. Der Campingplatz »Sea View«, dessen Name zwar nicht originell, aber zutreffend war, weil er tatsächlich Aussicht aufs Meer bot, war zur Hälfte belegt. In einer Woche würde er aus allen Nähten platzen. Die Familie Mackie war extra früh hergekommen, um die relative Ruhe wenigstens noch ein paar Tage genießen zu können, obwohl ihre Kinder, alle drei im Teenageralter, gerade diesem Umstand wenig abgewinnen konnten.

Die Älteste, Tasmin, von ihren Freundinnen Taz genannt, war sechzehn, gab sich älter und vermisste schon jetzt schrecklich ihre Freundinnen. Ihre Schwester Dawn war gerade dreizehn geworden und die Jüngste in der Familie, übte aber schon gern mit den Makeup-Sachen ihrer großen Schwester. Der vierzehnjährige Nathan war schlaksig, schmierte sich Gel in die Haare und hatte kräftige Schultern. Als einziger Junge und mittleres Kind war seine Position in der Familie paradox: Er wurde sowohl verwöhnt als auch übersehen.

Die Familie war zum zweiten Mal auf dem Campingplatz.

Mrs Mackie, Irene, war gern hier, weil es ganz in der Nähe zwei Restaurants, ein Café und einen chinesischen Imbiss gab. Das hatte den Vorteil, dass die Familie öfter essen gehen würde, wenn ihr Mann Hugh nach ein paar Tagen nicht mehr so aufs Geld achtete. Und dann würde auch für sie der 270

richtige Urlaub anfangen. Aber jetzt waren sie erst den zweiten Tag da, ein heikler Tag. Die Kinder waren zänkisch, weil sie auf dem Campingplatz noch niemanden in ihrem Alter kennen gelernt hatten, und Hugh war noch immer gestresst, weil die Erinnerungen an die Arbeit frisch waren und ihm die Müdigkeit nach der langen Autofahrt vom Vortag in den Knochen steckte. Irene war reizbar, weil sie, obwohl auch berufstätig, in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht nur alles gepackt und wieder ausgepackt hatte, sondern auch noch als Friedensstifterin, Hundegassiführerin, Krankenschwester, Köchin und Sozialarbeiterin tätig gewesen war, und dabei hatte sie doch auch Urlaub! Wenigstens das Wetter war schön.

Taz zog sich einen winzigen Bikini an, darüber ein träger-loses Oberteil und extrem kurze Shorts, und verdrückte sich mit einem Badetuch zum Strand, sobald sie mit dem Ge-schirrabtrocknen fertig war. Dawn quengelte, weil sie mit-wollte, doch Taz war schon verschwunden.

»Wir essen um halb eins, junge Dame!«, rief Irene ihr noch nach und schickte Nathan dann mit Dawn auf den Spielplatz.

Der Hund trottete an einer langen Leine glücklich hinterher.

Nathan fand sich mittlerweile zu alt für Rutschen, Schaukeln und Klettergerüste, musste aber wohl oder übel gehorchen.

Am Strand zog die schlanke, langbeinige Taz schon bald die Blicke auf sich. Um elf hatte sie bereits zwei neue Freundinnen, Chloe aus der Nähe von London, und ein Mädchen, das den Spitznamen Boo hatte, aber ihren richtigen Namen nicht verraten wollte, weil er beknackt sei. Chloe und Boo war gleichaltrig und mit ihrer frischen Ausstrahlung auf andere Weise hübsch. Ganz in der Nähe spielten ein paar Jungs Fußball und strengten sich besonders an, als die Mädchen ihnen zuschauten.

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»Mir ist heiß. Gehen wir ’ne Runde schwimmen?« Boo stand auf und wischte sich den Sand von den Waden.

»Ja klar.« Chloe sprang auf und lief zum Wasser. Taz blieb, wo sie war.

»Kommst du?«

»Nee, keine Lust.«

Boo zuckte die Achseln und sprintete mit schwingenden Hüften zum Wasser. Taz atmete erleichtert aus. Sie hatte Angst, wenn das Meer so hohen Wellengang hatte, und traute sich noch immer nur an der Hand ihres Vaters ins Wasser.

Sie hatte nie schwimmen gelernt, und ihre größte Panik war, mit dem Kopf unterzutauchen. Sie fröstelte schon, wenn sie nur mit Wasser bespritzt wurde.

Die drei neuen Freundinnen trennten sich, um mit ihren jeweiligen Familien zu Mittag zu essen, und als sie sich auf den Rückweg machten, verfolgten die meisten Männer am Strand sie mit Blicken. Besonders einer sah ganz genau hin.

Um zwei trafen sie sich wieder am Strand und widme-ten sich ernsthaft der Bräunung ihrer Haut. Taz ging den ganzen Nachmittag nicht einmal schwimmen und musste Boo schließlich gestehen, dass sie Angst vor dem Wasser hatte.

Als sie zum Campingwagen zurückkam, früh, weil sie sich noch umziehen wollte, half sie ihrer Mutter unaufgefordert bei der Zubereitung des Abendessens und räumte auch die Unordnung ihrer Geschwister auf. Irene wusste gleich, dass ihre Tochter irgendetwas auf dem Herzen hatte, und wartete mit einer Mischung aus Gereiztheit und Belustigung auf die Frage, die da kommen sollte. Die Familie aß gerade Eis zum Nachtisch, als es soweit war.

»In der ›Scheune‹ ist heute Abend Disco.«

»Nein.« Hugh schaute nicht einmal auf.

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»Ich würde mit Chloe und Boo hingehen. Chloe ist fast achtzehn.«

»Ich habe Nein gesagt.«

»Ich trinke auch den ganzen Abend nur Wasser und Saft, versprochen.«

Schließlich hob Hugh den Blick.

»Bist du schwerhörig? Nein.«

»Letztes Jahr hast du Ja gesagt, und da war ich jünger.«

Jetzt blickte er verwirrt.

»Hab ich das?« Er blickte Irene fragend an.

»Ja, hast du. Mit der strengen Auflage, dass sie spätestens um elf wieder da ist. Und das war sie.«

»Oh.«

Taz wartete schweigend.

»Wo soll das sein?«

»In der ›Scheune‹, so heißt die Disco. Nur zehn Minuten zu Fuß von hier. Und da ist sowieso um halb zwölf Schluss.«

»Also schön.« Hugh wurde mit einer Umarmung und einem Kuss belohnt. »Aber ich bin Punkt elf da, um dich abzu-holen, keine Minute später.«

Taz öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber sie fing den Blick ihrer Mutter auf und schwieg.

»Kommen deine Freundinnen dich hier abholen?« Irene wollte sie gern kennenlernen.

»Nein. Wir treffen uns um halb acht am Haupteingang zum Campingplatz.«

»Du warst dir deiner Sache ja ganz schön sicher.« Ihr Vater hob die Augenbrauen.

Taz verkniff sich eine vorwitzige Antwort, um ihn nicht zu verärgern.

»Wir haben ausgemacht, dass sie ohne mich reingehen, 273

wenn ich nach zehn Minuten nicht da bin, falls du Nein gesagt hättest.«

»Du musst dich beeilen, Taz. Es ist schon nach sieben.«

Irene wusste, wie lange ihre Tochter brauchen würde, um sich hübsch zu machen.

»Darf ich mitgehen?«

»Nein, kommt nicht in Frage, Nathan. Aber Dad und ich gehen nach dem Abwasch ein Bier trinken, und du und Dawn, ihr dürft mit.«

Es war fünf Minuten vor halb acht, als Taz endlich die passenden Schuhe und Ohrringe gefunden hatte. Sie verabschiedete sich und rauschte davon, ehe sie sich einen kriti-schen Elternblick und entsprechende Bemerkungen einhan-deln konnte. Ihr Rock hatte kaum mehr Stoff als ihre Shorts, und ihre Bluse war so dünn, dass der lila BH durch-schien.

In ihrer Hast, möglichst pünktlich zu sein, verlief sie sich und gelangte zum falschen Ausgang des Campingplatzes. Fluchend versuchte sie die Orientierung wiederzufinden. Es war schon nach halb acht, und sie wusste, dass Chloe und Boo nicht lange warten würden. Nachdem sie zwei-, dreimal falsch abgebogen war, kam sie auf den asphaltierten Haupt-weg, der mitten durch den Platz verlief, und folgte ihm, so schnell ihre hohen Absätze es zuließen und ohne auf die Pfiffe von irgendwelchen Jungs zu achten. Als sie endlich zum Haupteingang kam, waren Chloe und Boo natürlich schon weg. Das Problem war, dass sie nicht genau wusste, wie man zur »Scheune« kam.

»Verlaufen?«

Der Mann hatte sich lautlos von hinten genähert, und seine Stimme ließ sie zusammenfahren.

»Ich überleg bloß, wie ich zur ›Scheune‹ komme.«

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»Oh, das liegt in meiner Richtung. Ist nicht weit, komm, wir gehen zusammen.«

Taz zögerte. Er war ein fremder Mann, aber er sah sehr gut aus. Er war groß, hatte glänzendes, dunkelbraunes Haar und strahlend blaue Augen, die sich von seiner gebräunten Haut abhoben. Als er lächelte, waren seine Zähne blendend weiß. Und schließlich sollte sie ja nicht zu ihm ins Auto steigen.

»Na gut.« Sie folgte ihm, und er achtete wie ein Kavalier darauf, dass sie nicht an der Straßenseite ging.

Er sagte, sein Name sei Des und dass er mit Freunden Urlaub mache. Ihr fiel auf, dass seine Fingernägel gepflegt und sauber waren, wie sein weißes Hemd und die hellbraune Ho-se. Er hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken, und er brachte sie mit seinen Scherzen zum Lachen.

Irgendwann auf der menschenleeren Straße bog er nach rechts auf einen Pfad.

»Eine Abkürzung. Damit sparen wir ein paar Minuten.

Vielleicht holst du deine Freundinnen sogar noch ein.«

Sie folgte ihm nach kurzem Zögern. Der Pfad war gerade breit genug, um nebeneinander zu gehen, wenn sie den Arm vor sich hielt, weg von den Brennnesseln, die entlang einer Hecke am Wegesrand wuchsen. Sie sah, dass die Brombeer-sträucher dazwischen kleine grüne Früchte trugen.

Als sie hart auf dem Rücken landete, dachte sie zuerst, sie sei gestolpert, doch dann merkte sie, dass er auf ihr saß, mit den Knien auf ihren Armen, und sie öffnete den Mund, um zu schreien. Irgendetwas wurde so tief hineingestopft, dass es ganz hinten auf ihre Zunge drückte und einen Würgereiz auslöste. Bevor sie es ausspucken konnte, klebte er ihr den Mund mit Klebeband zu, drehte sie auf den Bauch und fesselte ihr die Hände auf dem Rücken.

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Er zog sie so grob auf die Beine, dass irgendetwas in ihrer Schulter nachgab, und stieß sie durch ein hüfthohes Weizen-feld vor sich her. Sie entfernten sich von dem Pfad und gelangten auf ein anderes Feld, das mit Stacheldraht abgetrennt war. Am Zaun hob er den oberen Draht ein Stück an, und sie musste hindurchsteigen. Sie kratzte sich den Oberschenkel am unteren Draht auf, und die Waden brannten ihr von den Brennnesseln, aber vor lauter Angst merkte sie es kaum.

Nacktes Entsetzen überkam sie, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Irgendwann registrierte sie, dass sie weinte und ihr Rotz aus der Nase lief. Erst da riss sie sich am Riemen. Sie benahm sich ja wie ein jämmerliches Opfer, das die unausgesprochenen Befehle des Mannes blind befolgte. Er hatte sie entführt und brachte sie irgendwohin, wo niemand sie würde retten können. Männer entführten Frauen nur aus einem Grund. Ihr Verstand schreckte vor dem Wort Vergewaltigung zurück, während er es gleichzeitig näher zu bestimmen versuchte. Wie würde es sein?

Sie hatte erst wenige Tage zuvor zum ersten Mal mit einem Jungen geschlafen, nach der Jahresabschlussdisco ihrer Schule, ein unbeholfenes Gefummel, schmerzhaft und verwirrend. Wenn sie so tat, als würde ihr das gefallen, was der Mann mit ihr machte, kam sie vielleicht mit dem Leben davon. Sie riskierte einen Blick nach hinten in sein Gesicht. Als sie seine Augen sah, stockte ihr das Herz von dem Adrena-linstoß, der durch ihren Körper jagte. Der nette junge Mann, der vorhin noch mit ihr geflirtet hatte, war verschwunden.

An seiner Stelle, in demselben vollkommenen Körper, ging jetzt ein Monster mit Augen, in denen die blanke Lust stand, ein Ungeheuer mit einem zähnefletschenden Grinsen im Gesicht, als habe es Blut geleckt. Instinktiv wusste sie, dass er sich an ihrer Angst weidete und dass er erst recht gewalttätig 276

werden würde, wenn sie irgendwie die Bereitschaft signalisierte, sich auf ihn einzulassen. Die Tränen, die aufgehört hatten, während sie nachdachte, kamen erneut. Als sie so laut aufschluchzte, dass es durch den Knebel zu hören war, lachte er.

Sie hatten das zweite Feld überquert, und er blieb stehen, um sich umzuschauen. Sie konnte die Brandung in der Ferne hören. Der Campingplatz musste rechts von ihnen sein. Da er in einer Senke lag, war nichts von ihm zu sehen, aber sie würde hinfinden, wenn sie die Chance dazu bekam.

Als der Mann sich bückte, um durch den Zaun zu steigen, lockerte er den Griff um ihren Arm. Taz nutzte die Chance und riss sich los. Zuerst versuchte sie, schnell zu laufen, was nicht ging, weil ihre Arme nach hinten gebunden waren, daher verfiel sie in einen schlurfenden Trab. Natürlich war sie nicht schnell genug. Er fing sie mühelos ein und verpasste ihr einen Schlag gegen die Schläfe, der sie zu Boden streckte.

»Das wirst du mir büßen, du verdammtes Miststück.«

Er riss sie auf die Beine, und erneut jagte ihr ein stechender Schmerz durch die Schulter. Diesmal hielt er sie so fest gepackt, dass die Haut an ihrem Arm unter seinem Griff brannte, wenn sich seine Hand wegen ihrer ungleichen Schritte hin und her schob.

Er zerrte sie durch einen weiteren Stacheldrahtzaun, der ihr Arme und Rücken zerkratzte. Sie begriff, dass sie ihm nicht würde entkommen können, und zum ersten Mal fragte sie sich, ob er vorhatte, sie zu töten. Bei dem Gedanken gaben ihre Knie nach, sodass er sie halb schleppte, halb trug, als er endlich fand, was er suchte, nämlich einen alten Unterstand für Schafe, der jetzt nur noch aus einem bröckelnden Kreuz aus Bruchsteinmauern bestand und überwiegend von Bäumen verdeckt wurde.

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Der Mann warf sie in dem Unterstand auf den Boden und bedachte sie mit einem Blick, der sagte: Rühr dich nicht von der Stelle. Taz war wie gelähmt vor Angst. Sie blieb so liegen, wie sie hingefallen war, und sah zu, wie er ein seltsames Ritual vollzog. Zuerst zog er sie von der Taille abwärts nackt aus. Dann holte er Stricke aus seinem Rucksack, band je einen um jeden Fuß und schlang die freien Enden um dicke Steine in der Mauer, sodass sie mit gespreizten Beinen dalag.

Ihre Arme blieben weiterhin auf dem Rücken gefesselt. Trotz ihrer hoffnungslosen Lage begann Taz, sich aus Leibeskräften zu wehren, und er verpasste ihr eine klatschende Ohrfeige.

»Dreckiges Miststück.«

Er riss ihr die Bluse mit einer Hand auf, schob den BH

hoch an ihren Hals und zog eine große Thermosflasche aus seinem Rucksack. Er öffnete sie und goss etwas von dem Inhalt über sie, wusch sie mit kochend heißem Wasser.

Sie war bereit für ihn. Er lächelte in freudiger Erwartung und griff zielsicher in eine seiner Hosentaschen, sicher, dort das zu finden, was er haben wollte. Er stockte kurz, tastete dann die andere Tasche ab und fing schließlich an, hektisch herumzusuchen.

»Scheiße!« Er kippte den Rucksack aus und kramte erneut in den Hosentaschen, aber das, was er suchte, blieb verschwunden. Der Verlust brachte ihr einen Tritt in die Rippen ein.

»Mach dir nichts draus, ich hab noch genug Fantasie, um mich zu amüsieren, Kleines. Wer hat denn da heute zu viel Sonne abgekriegt?« Er fuhr ihr mit dem Finger über die wei-

ße Bikinilinie auf der Haut. »Ich hab dich da liegen sehen, wie du allen Typen gezeigt hast, was du zu bieten hast. Und die ganze Zeit hab ich mir vorgestellt, was ich später mit dir anstellen würde. Die Zeit ist wie im Flug vergangen.«

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Er sprach fast im Plauderton weiter, während er sie streichelte wie ein Liebhaber. Die Normalität seiner Stimme und seiner Handlungen überzeugten sie mehr als alles andere davon, dass er sie töten würde, doch trotzdem wurde ihr Atem langsamer und die Panik wich aus ihren Gliedern. Dann schlug er sie so brutal, dass sie Sterne sah, und bevor sie die Augen wieder öffnete, schlug er auf sie ein und biss sie. Als das erste Blut floss, stand er auf und zog sich aus, starrte sie dabei unentwegt an. Er zog die hellbraune Hose aus, dann die Unterhose, und als sie die Augen schloss und den Kopf abwandte, lachte er.

»Ja, so reagieren die meisten Mädchen. Also, mal sehen, es ist erst acht Uhr … und vor zehn wird es nicht dunkel, wir haben also jede Menge Zeit. Ich werde dich nämlich nicht hier lassen, weißt du. Normalerweise würde ich dich ja hinterher gründlich waschen, aber im Freien muss ich improvi-sieren, daher wird das Meer reichen. Schüttele nicht so den Kopf. Ich weiß, du kannst das Meer nicht ausstehen, ich hab gehört, wie du das heute deiner Freundin erzählt hast, deshalb freue ich mich schon richtig drauf, dich später zu ersäufen.

Aber bis dahin …« Er beugte sich über sie und biss ihr brutal in die Brust. »Kann’s losgehen?«

Er saß oben auf der Klippe, rauchte eine Zigarette und schaute zu, wie die Flut langsam stieg. Seine nassen Sachen lagen ausgebreitet neben ihm im Gras, er hatte die Ersatzhose aus dem Rucksack an. Zwei Stunden hatten ihm nicht ganz gereicht, aber er war dennoch einigermaßen auf seine Kosten gekommen. Um die Verbindung zu Griffiths herzustellen, hatte er diesmal im Freien gearbeitet. Anscheinend hatte die Polizei den Mord an Lucinda nicht mit den Verbrechen in Zusammenhang gebracht, für die Wayne im Gefängnis saß, 279

und sein Freund beschwerte sich langsam, dass die Taten nicht ähnlich genug seien, trotz der fehlenden Finger. Diese Einzelheit war wahrscheinlich zu klein, als dass sie den Stümpern auffiel.

Er sog tief den Rauch ein und dachte an das Mädchen. Sie war jünger, als die, die er sonst bevorzugte, aber ihr Körper war für seinen Geschmack reif genug gewesen, und sie hatte genügend Angst gehabt. Ja, eigentlich hatte sie genau so reagiert, wie er es tagsüber am heißen Strand erhofft und sich ausgemalt hatte.

Die Flut stieg weiter. Er konnte es daran sehen, dass die aus dem Wasser ragende schwarze Spitze eines Felsens direkt vor der Höhle kleiner wurde. Es hatte Überwindung gekostet, die Sache nicht gleich in dem Schafpferch zu Ende zu bringen, aber die Vorstellung, wie panisch sie werden würde, wenn er sie bei Bewusstsein und mit offenen Augen unter die Wellen drückte, hatte seiner Hand Einhalt geboten. Und es war erregend gewesen, sie kämpfen zu sehen, während die Luftblasen aufstiegen und ihr Meereswasser in die Lunge drang.

Er hatte sie dreimal untergetaucht, jedes Mal bis sechzig gezählt und sie dann würgend und nach Luft schnappend hochgezogen, um sie dann wieder unter Wasser zu drücken.

Beim vierten Mal hatte er bis hundert gezählt, und als er sie hochzog, waren ihre Augen geschlossen geblieben. Aber nachdem er sie in ihr Felsengrab gesteckt hatte, meinte er, er habe sie husten gehört. Das hatte ihn nicht gestört, im Gegenteil, die Vorstellung, dass sie bei Bewusstsein war, während das Wasser um sie herum stieg, erregte ihn erneut. Er stellte sich ihre Klaustrophobie vor, während das Wasser ihr langsam über die Knie bis zur Taille stieg und schließlich in Nase und Mund drang. Er musste plötzlich an den Tod seiner 280

Mutter denken, und die Verbindung zwischen den beiden Frauen bescherte ihm ein neues Szenario für seine Phantasien.

Das Wasser stand jetzt ein gutes Stück über der Höhlen-

öffnung, und es wurde Zeit, dass er verschwand. Das Mädchen würde bald vermisst werden, und man würde noch im Laufe der Nacht mit der Suche beginnen. Dann musste er weit weg sein. Seit seiner einzigen ernsthaften Begegnung mit der Polizei war er übervorsichtig geworden. An dem Mädchen würden keine Spuren zu finden sein, und an ihm sicherlich auch nicht, aber an einen einzelnen Mann, der abends noch mit Rucksack unterwegs war, könnten sich vielleicht manche erinnern.

Es war wirklich ein Jammer, dass er sein Messer verloren hatte, und er verfluchte Griffiths erneut. Sein Talisman war verschwunden. Es hatte ihm immer Glück gebracht. Und er war abergläubisch genug, den Verlust als schlechtes Omen zu sehen.

Die Spitze des Felsens verschwand, und er stand mit einem zufriedenen Seufzer auf. Er stopfte seine Sachen in eine Plastiktüte und packte sie in den Rucksack, drückte seine Zigarette aus, steckte die Kippe in die Tasche und wandte dem Meer den Rücken zu.

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Kapitel achtzehn

Nightingale war trotz ihrer einfachen Küchenaus-stattung ein üppiges Sonntagsmahl gelungen. Es gab reichlich Wein, und Amelia nahm von allem nach. Anschließend schlug Nightingale einen Verdauungsspaziergang vor. Der Sommer war zurückgekehrt, und laut Wettervorhersage sollte er auch vorerst bleiben. In dem ummauerten Garten lag die Temperatur um die dreißig Grad.

»Wirklich erstaunlich, dass Sie erst sechs Wochen hier sind. Was Sie in der Zeit alles geschafft haben. Ach, was für eine wunderschöne wilde Orchidee.«

Ihr Gast schlenderte ein Stück vor ihr her, mit einem breiten, nostalgischen Lächeln im Gesicht. Nightingale beobachtete sie und ließ ihren Erinnerungen Zeit.

»Es muss herrlich hier gewesen sein, vor dreißig Jahren.«

»Oh ja, das war es.« Amelias Stimme klang wehmütig.

»Warum meine Großeltern das Haus wohl meiner Tante und nicht meinem Vater vermacht haben?«

»Er wollte hier nicht leben. Das Dorf war ihm zu klein.«

Amelia pflückte an der Mauer einen langen Halm wildes Gras und kaute nachdenklich darauf herum. »Es war Zeit für ihn, von hier wegzugehen.«

»Warum?«

Amelia blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an.

»Na gut, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen, Ihr Vater hatte eine Schwäche für hübsche Frauen. Er hat es vor seinen 282

Eltern jahrelang verborgen, aber irgendwann geriet es außer Kontrolle, und er hat sich eine Reihe Feinde gemacht. Als Ihre Großeltern in die Stadt zogen, haben sie Ihre Tante gebeten, sich um Mill Farm zu kümmern. Wogegen Ihr Vater nichts einzuwenden hatte. Seine Schwiegereltern hatten ganz in ihrer Nähe ein sehr hübsches Haus für die Jungvermählten gemietet.«

»Haben Sie ihn sehr geliebt?«

Amelia tat einen raschen, kurzen Atemzug und schwieg.

Nightingale ließ die Stille tiefer werden, weil sie hoffte, dass ihr Gast dem Bedürfnis nachgeben würde, sich nach all den Jahren jemandem anzuvertrauen. Schließlich sprach Amelia.

»Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Alle Mädchen wollten mit ihm gehen, aber er entschied sich für mich. Wir waren einen ganzen Sommer zusammen. Im Herbst hatte er eine andere Freundin, und das ging bis zum Weihnachtsball.

Die dritte Beziehung dauerte bis Ostern und die vierte, bis er zu irgendeinem Festival getrampt ist.

Als er wiederkam, brachte er drei Mädchen mit, die oben an den Klippen zelteten. Sie waren älter, achtzehn oder neunzehn, aber Ihr Vater war nun mal ein frühreifer Bursche.

Er hat sich von zu Hause weggeschlichen und bei ihnen im Zelt übernachtet.

Und so ging das immer weiter, bis er eine Affäre mit der Frau von einem seiner Lehrer hatte. Es gab einen Skandal, und Ihr Vater musste sein Abitur an einer anderen Schule machen. Schließlich ging er auf die Universität.«

»Wo er dann meine Mutter kennen lernte?«

»Ja, aber das hat er jahrelang geheim gehalten, bis nach seinem Examen. Wenn er in den Semesterferien nach Hause kam, war ich für ihn da. Heute weiß ich, dass ich für ihn eine praktische Lückenbüßerin war, aber damals dachte ich, ich sei 283

seine große Liebe.« Sie lachte über sich selbst, aber Nightingale hörte den kummervollen Unterton heraus.

»Es muss Ihnen furchtbar weh getan haben, als er sich mit meiner Mutter verlobt hat.«

»Es war schrecklich, aber ich war überzeugt, dass das mit den beiden nicht lange halten würde. Sie war ganz anders als seine anderen Frauen.« Sie zögerte, sprach dann mit entschlossener Miene weiter. »Sie war nicht gerade nett, wie ich leider sagen muss. Direkt nach der Hochzeit haben sie sich fürchterlich gestritten und gleich wieder getrennt.«

»Weswegen haben sie sich gestritten?«

Amelia blickte weg.

»Erzählen Sie es mir, bitte, ich muss es wissen.«

»Ihr Vater hatte in den Monaten vor der Hochzeit eine letzte Affäre. Irgendjemand aus dem Dorf hat seiner frisch Angetrauten einen Brief geschickt, der auf sie wartete, als sie aus den Flitterwochen zurückkamen. Sie hat ihn verlassen und ist zu ihren Eltern gezogen.«

»Ganz schön gemein, einer Braut so einen Brief zu schreiben. War mein Vater so unbeliebt?«

»Ein bisschen schon, aber im Grunde ging es um die Frau, mit der Ihr Vater die Affäre hatte, sie war den Leuten im Dorf ein Dorn im Auge. Einmal wurde sie mit dem Sohn des Kneipenwirts erwischt, beide splitterfasernackt auf einem Grab auf dem Friedhof. Ein anderes Mal ist sie mit einer Hand voll Männern nackt im Meer schwimmen gegangen.

Mag sein, dass die Geschichte von der anschließenden Orgie erfunden war, aber ihr Ruf war damit besiegelt. Dafür, dass sie nur knapp anderthalb Jahre hier gelebt hat, hat sie eine Menge Erinnerungen und Legenden hinterlassen. Sie hat zu viele Herzen gebrochen, bis Ihr Vater ihr das Herz brach.«

»Wie hieß sie?«

284

»Na, es war Lulu, ich dachte, das wüssten Sie. Sie hat es mit Männlein und Weiblein getrieben, wie wir damals sagten.«

»Ich hatte keine Ahnung. Dann ist mein Vater also wieder zu Lulu gegangen, als meine Mutter ihn verlassen hat?«

»Vermutlich. Sie lebte damals mit Ihrer Tante zusammen, auf Mill Farm, und Ihr Vater war immer übers Wochenende da. Dann hat seine Frau sich wieder mit ihm versöhnt, sie war schließlich schwanger, und sowohl ihre als auch seine Eltern haben die beiden unter Druck gesetzt. Aber genug von der Vergangenheit. Ich würde mir gern den alten Obstgarten ansehen.«

Als die Schatten länger wurden, verabschiedete Amelia sich. An der Haustür stellte Nightingale doch noch die Frage, die ihr schon den ganzen Nachmittag nicht mehr aus dem Kopf ging.

»Dann bedauern Sie es also, meinen Vater gekannt zu haben?«

Amelia blickte entsetzt.

»Natürlich nicht.«

»Aber Sie haben gesagt, Sie hätten ihn all die Jahre geliebt.

Wenn Sie ihm nie begegnet wären, hätte Ihnen das nicht viel Kummer erspart?«

Amelia schüttelte den Kopf, als hätte Nightingale etwas Dummes gesagt.

»Einen ganzen Sommer lang, als ich fünfzehn war, hat er mich geliebt.«

»Aber das muss doch noch schlimmer sein. Zu wissen, wie es ist, vom Objekt seiner Begierde geliebt zu werden, wenn auch nur kurz, ist doch bestimmt viel schlimmer, als wenn man es nicht weiß.«

»Nein. Für mich war es auf jeden Fall besser, jemanden 285

geliebt und wieder verloren zu haben, als überhaupt nie geliebt zu haben. Banal, aber wahr.«

Nightingale schüttelte heftig den Kopf.

»Ich stell mir das grausam vor. Wie jemand, der von Geburt an blind ist, der lernt, damit zu leben, und nicht weiß, was ihm entgeht. Dann wacht er eines Morgens auf und kann sehen! Die Farben, das Sonnenlicht, die Bäume, das Lächeln auf den Gesichtern der Menschen, die Augen seiner Lieben.

Dann geht er ins Bett und wacht am nächsten Morgen wieder blind auf. Jetzt muss er aber mit dem Wissen weiterleben, was es für schöne Dinge auf der Welt gibt, die er nicht sehen kann.«

Amelia legte Nightingale eine Hand auf den Arm.

»Die Menschen sind verschieden, Louise. Für mich war jener Sommer ein Segen. Für Sie wäre er vielleicht ein Fluch gewesen, aber ich fände diese Sichtweise traurig. Das bedeutet doch, dass man sein Leben lang allen Freuden aus dem Weg geht, nur damit man nicht leidet, wenn man sie wieder verliert. Möchten Sie wirklich so leben?«

Nightingale versuchte, Amelias letzte Worte zu vergessen.

Bis zum Nachmittag war sie hier zufrieden gewesen. Ihr Rückzug, der als Flucht begonnen hatte, war zu einem Neuanfang geworden. Diese neu gewonnene Zufriedenheit war jetzt in Frage gestellt, und sie musste unweigerlich an Fenwick denken. Sie fragte sich, was er wohl machte. War er immer noch mit dieser Claire Keating zusammen? Dachte er manchmal an sie, Louise?

Der Abend dämmerte, aber sie war noch immer zu rastlos, um sich schlafen zu legen, und streifte stattdessen durchs Haus. Mit einer Taschenlampe bewaffnet, stieg sie die schiefe Treppe hoch, die von der Küche in den oberen hinteren Teil des Hauses führte. Schatten huschten vor ihr über die Wand, 286

bis das Licht auf den Geländerpfosten fiel, den ein entfernter Vorfahre von ihr in irgendeinem langen Winter mit Schnitze-reien verziert hatte. Die geschnitzten Gesichter waren grob gestaltet und übereinander angeordnet wie bei einem Totem-pfahl.

Ohne nachzudenken, berührte sie die Nase in jedem Gesicht und flüsterte das Losungswort, das sie sich als Kind zum Schutz ausgedacht hatte.

Ein guter Orientierungssinn war schon erforderlich, um sich hier oben zurechtzufinden. Angeblich hatten Besucher früher um Hilfe gerufen, weil sie das Bad nicht finden konnten, obwohl sie keine vier Schritte davon entfernt waren. Die Küchentreppe hatte Nightingale direkt in den ehemaligen Bedienstetenraum gebracht, zwei kleine Zimmer, aus denen eins gemacht worden war.

Auf den ersten Blick hatte es den Anschein, als sei der Raum mit dem kleinen Flur davor völlig getrennt vom Rest des Hauses, doch Nightingale wusste, dass es eine Verbindung gab. In dem Mansardenzimmer, wo sie als Kind geschlafen hatte, gab es in der Wand eine niedrige Klappe, die man übertapeziert hatte und die darum kaum zu erkennen war.

Durch sie gelangte man zum Dach über dem Melkhaus.

Nightingale betrat ihr altes Schlafzimmer und öffnete die Klappe zu dem verborgenen Gang, der zwischen Dachschräge und Wand verlief. Er war dunkel und unheimlich, und da sie ihre Sonntagssachen trug, schloss sie die Klappe gleich wieder und schob das Bett davor. Ihre Erkundungslaune war verflogen, und sie suchte sich ein Buch, ging ins Bett und las, bis sie einschlief.

Das warme Wetter, das am Sonntag eingesetzt hatte, verwandelte sich in eine brütende Hitze. Statt am Montag in die Stadt zu fahren, arbeitete sie im Garten, las und sonnte sich 287

nackt, bis sie es vor Hitze nicht mehr aushielt und im Meer schwimmen ging. Den Rest der Woche verbrachte sie nach demselben Muster und war erstaunt, wie gut es ihr tat, die Zeit zu vertrödeln.

Die Idylle fand ein Ende, als ihr am Freitag die Lebensmittel ausgingen und sie das Bedürfnis verspürte, mal wieder unter Leute zu kommen. Sie fuhr nach Clovelly, um irgendwo etwas zu trinken. Im Zentrum fand sie einen netten Pub mit einem Gewimmel von Touristen davor, die draußen in der Sonne ihr Bier tranken. Entsprechend leer war es drinnen, wie sie erfreut feststellte, nachdem sie sich einen Weg durch das Gedränge vor der Tür ins düstere Innere gebahnt hatte.

Eine dunkle Eichentheke verlief im Bogen zu einem Bunt-glasfenster. Zwei ältere Männer, ihrem selbstbewusst-neugierigen Blick nach zu urteilen Einheimische, saßen an einem Tisch vor dem Fenster und spielten Domino.

Der Wirt, der mit dem Rücken zu ihr ein Glas polierte, drehte sich erst um, als die Tür zufiel.

»Guten Tag, was … Das gibt’s doch gar nicht! Seit wann sind Sie denn wieder hier?«

Nightingale trat mit einem erstaunten Lächeln näher. Als das Licht vom Fenster auf ihr Gesicht fiel, verwandelte sich die verblüffte Miene des Mannes in Verwirrung.

»Oh Entschuldigung, ich hab Sie verwechselt.«

»Mit wem denn?«, fragte sie schmunzelnd.

»Egal. Jemand von früher, ist lange her. Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Einer von den Domino-Spielern am Fenster blickte auf und nickte.

»Und ob«, sagte er und wandte sich wieder dem Spiel zu.

Doch Nightingale spürte weiterhin ihre Blicke auf sich.

»Ein kleines Glas Cider, bitte.«

288

Sie trank ihren Apfelwein auf einem Hocker an der Bar, und ihre nackten Beine schimmerten goldbraun im gedämpften Sonnenlicht. Sie bestellte ein Schinkensandwich, das sie im Handumdrehen bekam, und während sie es verzehrte, unterhielt sie sich ein bisschen mit dem Wirt, der ihr von der Gegend erzählte und sagte, dass er den Pub von seinem Vater übernommen hatte.

Sie bestellte sich noch einen Cider, und als er serviert wurde, stellte sie dem Wirt die Frage, die schon die ganze Zeit an ihr nagte.

»Mit wem haben Sie mich vorhin verwechselt?« Sie lächelte ihn an, und ihr Charme, den sie nur selten einsetzte, zeigte seine gewohnte Wirkung.

»Eine alte Freundin, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen.«

»Ich fühle mich geschmeichelt.«

»Sie könnten ihre Zwillingsschwester sein, nur die Augenfarbe ist anders. Ihre waren fast lila.«

»Ich hab die Augen von meinem Vater, das haben jedenfalls immer alle gesagt.«

»Sie haben ja auch hübsche Augen, verstehen Sie mich nicht falsch.«

Sie lachte, erfreut über die Anerkennung. Plötzlich fühlte sie sich sexy, ob von der Hitze oder dem Cider, konnte sie nicht sagen.

»Darf ich fragen, was Sie in unsere schöne Gegend führt?«, fragte der Wirt.

»Ich mache Urlaub.« Es war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber sie wollte nicht über sich sprechen. »Erzählen Sie mir mehr über Ihre Freundin.«

»Sie war nicht von hier. Hatte Verwandtschaft, ich glaube, einen Onkel, im Nachbarort. Hat ungefähr ein Jahr hier gewohnt.«

289

»Fast zwei«, warf einer von den Domino-Spielern ein.

»Hören Sie nicht auf George. Der konnte sie nie leiden.«

»War kein guter Umgang für dich, Junge. Sie hat unserem Dorf kein Glück gebracht.«

»Was hat sie hier gemacht?«

»Sie war Künstlerin. Hatte hier einen Auftrag.«

»Malerin?«

»Nein, Bildhauerin.«

Jetzt fiel bei Nightingale der Groschen.

»Hieß sie Lulu?«

Der Wirt ließ das Geschirrtuch fallen. George rutschten Dominosteine aus der Hand. Nightingale lächelte.

»Woher wissen Sie das?«

»Amelia hat mir von ihr erzählt. Ich hab’s mir gedacht.«

Eine einfache Antwort, aber weder George noch der Wirt begnügten sich damit.

»Und woher kennen Sie Amelia?«, fragte der Wirt.

Nightingales Instinkt war stärker als der Cider.

»Von der Kirche. Eine sehr nette Lady.«

»Wenn Sie meinen.« Der Wirt wandte sich ab und verschwand in der Küche.

Die Partie Domino war zu Ende, und Georges Partner erhob sich steifbeinig, um nach Hause zu gehen, bevor »meine Alte mich holen kommt«. Sobald die Kneipentür hinter ihm zufiel, gesellte George sich zu Nightingale an die Bar.

»Er war in sie verliebt. Hat ihretwegen mit dem Fischen aufgehört und was weiß ich nicht alles. Hat ihr sogar gesagt, er würde sie heiraten. Alles umsonst. Sie hatte schon einen andern im Auge, der mehr hergemacht hat. Aber Sie sehen ihr wirklich zum Verwechseln ähnlich. Bis auf die Augen und die Haare. Die von ihr waren so lang, dass sie drauf sitzen konnte. Aber weich wie Seide.«

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Nightingale sagte nichts, um den alten Mann nicht aus seinen Erinnerungen zu reißen. Lulu musste wirklich eine Herzensbrecherin gewesen sein. Alle möglichen Männer waren ihr offenbar verfallen.

Sogar ihr Vater.

Der Wirt kam aus der Küche zurück. George nannte ihn Dan. Sie plauderten über Kricket, die schlechte Fischfangsai-son und den spärlichen Fremdenverkehr im Spätsommer.

Nightingale ging kurz zur Toilette. Als sie wiederkam, spürte sie deutlich, dass die beiden Männer über sie gesprochen hatten. Sie trank ihren Cider aus und zog ihre Brille von der Stirn vor die Augen.

»Sie gehen?« Dan nahm sein Geschirrtuch und polierte energisch ein Glas. Keiner der beiden schenkte ihr einen Blick.

»Ja, ich muss zurück.«

»Zurück wohin, wenn ich fragen darf?«

Er brannte darauf, mehr zu erfahren, das spürte sie. Vielleicht lag es am Cider, aber aus irgendeinem Grund warf sie ihre sonstige Diskretion über Bord.

»Mill Farm, oben auf dem Hügel. Hat früher meiner Tante gehört.«

Die Männer reagierten, als hätten sie einen Stromschlag bekommen.

»Sie sind Ruth Nightingales Nichte?«

»Dann müssen Sie die Tochter sein.«

Sie sagten es wie aus einem Munde.

»Ja. Kannten Sie meine Familie?«

Aber die Männer hörten schon nicht mehr zu. Sie wech-selten einen wissenden Blick, bevor George eine Zeitung aufschlug und Dan sich mit einem weiteren Glas beschäftigte.

»Ähm, dann geh ich mal.«

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»Einen schönen Tag noch, Miss«. Dan untersuchte das schimmernde Glas auf Flecken.

»Auf Wiedersehen.« George blätterte um.

Enttäuscht über die plötzliche Gleichgültigkeit der beiden verließ Nightingale den Pub und trat nach draußen auf die heißen Pflastersteine. Die Menge teilte sich und schloss sich wieder hinter ihr, als wäre sie nie da gewesen. Sie fühlte sich einsam und konfus, und alles nur, weil zwei missmutige alte Einheimische ihr die kalte Schulter gezeigt hatten.

Die steil abschüssige Straße führte zum Hafen. Sie spazierte sie hinunter, schaute sich die Boote an und machte wieder kehrt. Sie nahm ihr Handy und versuchte wiederholt, ihren Bruder anzurufen, doch sie bekam keinen Empfang und der Akku war bald leer. Vor der Telefonzelle hatte sich eine Schlange gebildet. Sie ging weiter und entdeckte zufällig in einer Seitenstraße ein kleines Internetcafé, wo es auch Veil-chenpastillen und lustige Figürchen zu kaufen gab, Elfen und Gnome, die dem Volksglauben nach in der Gegend gehaust hatten. Da die wenigen Plätze besetzt waren, wartete sie geduldig, bis sie endlich online gehen konnte.

Sie hatte Mails bekommen. Sie beschimpfte sich innerlich als Idiotin, als sie ihre Mailbox öffnete. Sie hatte E-Mails vom Präsidium, zwei von Fenwick persönlich, und welche von Pandora. Mit einem mulmigen Gefühl blickte sie auf den Bildschirm, der voll mit ihrem anderen Leben war. Dass Pandora ihr immer noch schrieb, machte sie wütend, und die E-Mails aus Harlden empfand sie als aufdringlich. Wieso meldeten die sich bei ihr, wo sie doch klipp und klar gesagt hatte, dass selbst ein unbezahlter Urlaub ein Zugeständnis ihrerseits war. Sie löschte die Mails ungelesen mit ein paar wütenden Tastenanschlägen, brachte es aber nicht über sich, auch die von Fenwick zu löschen, und öffnete die erste: 292

Nightingale, ich will Sie nicht beunruhigen, aber es könnte sein, dass es jemand auf sie abgesehen hat, der denkt, dass Griffiths zu Unrecht im Gefängnis sitzt. Seien Sie ganz besonders vorsichtig. Trauen Sie keinem Fremden. Bitte rufen Sie mich an. Meine Privatnum-mer in Harlden ist 526592. Oder rufen Sie im Präsidium an.

Grüße Andrew Fenwick

Die Mail war zwei Tage nach ihrer Abreise aus Harlden abgeschickt worden. Seitdem hatte sie nur mit Fremden gesprochen und sich nie sicherer gefühlt. Die Warnung war also wirklich unnötig. Sie löschte sie und öffnete die zweite, die erst eine Woche alt war:

Liebe Nightingale, die Sache ist sehr ernst. Es ist jemand hinter Ihnen her, der Griffiths rächen will. Sie könnten in akuter Gefahr sein. Rufen Sie mich unbedingt an oder schicken Sie mir wenigstens eine Mail.

Ich muss wissen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist und wo ich Sie erreichen kann. Andrew

Er hörte sich wirklich besorgt an, aber Griffiths hatte keinen Komplizen gehabt. Fenwick irrte sich. Sie wusste nicht, wie sie auf die Warnung reagieren sollte, und öffnete stattdessen die erste Nachricht von Pandora.

LUST AUF EIN SPIELCHEN?

Sie tippte: Rutsch mir doch den Buckel runter! und schickte die Nachricht grimmig lächelnd ab, bevor sie die nächste öffnete.

293

DU KANNST MICH NICHT IGNORIEREN. ICH

BIN JETZT IN DEINEM LEBEN. NENN DEINE

STRAFE, SONST MACHE ICH DAS. WENN ICH

SPIELE, SPIELE ICH RICHTIG.

Pandora war es endlich zu langweilig geworden, immer die gleiche Nachricht zu wiederholen, und die Frustration war spürbar. Sie ignorierte die verschleierte Drohung und wollte schon die andere, zwei Tage alte E-Mail ungelesen löschen, als sie doch noch neugierig wurde, wie wütend Pandora inzwischen war. Sie öffnete die Mail. Im Nachhinein war es eine dumme Entscheidung.

ICH HABE DEINE STRAFE FESTGELEGT. DIE

TODESSTRAFE. OHNE RECHT AUF BERU-

FUNG. WIE UND WANN SIE VOLLSTRECKT

WIRD, ENTSCHEIDE ICH, VÖGELCHEN. WO

DU AUCH BIST, WO DU DEIN NEST AUCH

VERSTECKT HAST, ICH WERDE DICH FIN-

DEN. ICH WERDE DICH ZU BODEN SCHLEU-

DERN UND DIR DIE KNOCHEN ZERMAL-

MEN. DU KANNST MIR NICHT ENTKOM-

MEN, DENN ICH BIN ÜBERALL.

Plötzlich stand Nightingale Schweiß auf der Stirn. Die Härchen auf den Armen stellten sich auf, als ein Schauder sie durchlief. Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass die Nachricht ja schon seit Tagen in ihrer Mailbox steckte und sie noch immer putzmunter war. Warum sollte sie jetzt etwas zu befürchten haben? Dennoch war es eine Todesdrohung.

Vielleicht hatte Fenwick ja genau das mit seiner Warnung gemeint. Die Polizistin in ihr erinnerte sie daran, dass es sich 294

bei der Mail um ein Beweismittel handeln könnte, also druckte sie sie aus, stand schützend vor dem Drucker, während das Blatt ausgespuckt wurde. Der Café-Betreiber beobachtete sie lächelnd. Als das Lächeln sich in ein anzügliches Grinsen verwandelte, wandte sie sich ab und steckte das ausgedruckte Blatt in die Tasche ihrer Shorts. Sie wollte eben eine Antwort an Fenwick formulieren, als die freundliche elektronische Stimme aus dem Computer ihr mitteilte, dass sie eine neue Mail erhalten hatte. Neugierig öffnete sie die Nachricht, die Sekunden zuvor angekommen war. Sie war von Pandora:

DANKE! DER COUNTDOWN HAT BEGON-

NEN, SING-VÖGELCHEN. JETZT IST ES NUR

NOCH EINE FRAGE DER ZEIT.

Sie verstand nicht, was gemeint war. Wofür bedankte Pandora sich? Sie löschte die Mail und brauchte viel zu lange für die kurze Antwort an Fenwick:

Andrew,

danke für Ihre Nachrichten. Mir geht’s gut. Ich kriege seit einiger Zeit Drohungen per E-Mail und schicke Ihnen die schlimmste zu, aber keine Angst, da wo ich mich verkrochen habe, bin ich sicher.

Machen Sie sich um mich keine Sorgen.

Nightingale

Auf der Rückfahrt spürte Nightingale, dass die Begegnung mit ihrer alten Welt sie durcheinander gebracht hatte. Sie hatte gedacht, selbst entscheiden zu können, wann sie sich ihr wieder stellte, aber das war ein Trugschluss gewesen. Sobald 295

sie zu Hause war, machte sie eine Tasse Kräutertee und setzte sich damit in einen alten Liegestuhl im Garten. Sie musste nachdenken.

Vor dem Prozess gegen Griffiths hatte sie ein Buch über Stalking im Internet gelesen. Die meisten Stalker begnügten sich damit, ihre Opfer per Computer zu verfolgen. Nur ganz wenige lauerten ihnen auch persönlich auf. Griffiths war eine Ausnahme gewesen, nicht die Regel, und sie wollte sich auf keinen Fall von Pandora einschüchtern lassen. Sie würde in Zukunft einfach sämtliche E-Mails ungelesen löschen.

Die Nachrichten von Fenwick waren beunruhigender. Er neigte normalerweise nicht zu grundlosen Befürchtungen, und seine Warnung zeugte von ernsthafter Sorge, dennoch fand sie es übervorsichtig. Griffiths saß schließlich hinter Schloss und Riegel, was konnte er ihr da schon anhaben.

Selbst wenn Griffiths jemanden kannte, der an ihr Rache üben wollte, er würde sie nie im Leben finden. Hier auf Mill Farm war sie sicher, und niemand aus ihrem anderen Leben wusste, dass sie hier war. Sie trank ihren Tee aus und döste ein.

Er saß in seinem Zimmer in Wendys Wohnung und ging ins Internet. Nach Wales hatte er ein paar Tage in dem Ferienhaus in den Hügeln abgewartet, wo er sich inzwischen am sichersten fühlte. Nicht einmal Griffiths wusste, dass er das Haus noch hatte.

Die sinnliche Computerstimme informierte ihn, dass er ei-ne neue E-Mail bekommen hatte, und sein Puls beschleunigte sich, als er die Mailbox aufrief. Ja! Sie war im Internet gewesen, hatte seine letzte E-Mail geöffnet und sich damit die kleine Überraschung eingefangen, die er für sie parat gehalten hatte. Tagelang hatte es gedauert, bis er den Virus mit Iains 296

Hilfe fertig hatte. Er hatte ihn dann in seiner letzten Nachricht versteckt. Durch das Öffnen der Nachricht hatte der Virus gierig alle ihre Dokumente aus dem Computer einge-sammelt. Es würde Tage dauern, bis er alles durchgesehen hätte und einen Hinweis fände, wo sie sich befand. Aber das war die Mühe wert. Sie hatte eine Schwäche gezeigt, und er würde sie finden, es war nur noch eine Frage der Zeit.

Während der Computer die gestohlenen Informationen speicherte, beschloss er, sich mit einer seiner spezielleren Zeitschriften zu amüsieren. Er hatte sie tags zuvor erhalten und für eine besondere Gelegenheit aufgespart. Die Fotos darin entlockten selbst ihm trotz seiner Abgestumpftheit ein Keuchen.

»Ach du Schande!«

Er hörte hinter sich ein Knarren und fuhr aufgeschreckt herum.

»Was ist?«

»Entschuldigung. Ich dachte, du hättest gerufen.« Wendys Gesicht lugte durch die Tür, ihre Füße standen noch fest auf dem Teppich im Flur.

»Du weißt genau, dass du hier nicht reinschauen sollst. Das hab ich dir streng verboten.« Er stand auf, mit gleichgültiger Miene.